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Es hatte seine Richtigkeit mit dem Schnee, wie es der Großhändler erzählt hatte. Obschon kaum erst Winters Anfang war, fiel doch mehrere Tage nacheinander etwas nasser Schnee in der Morgenstunde; wenn aber die Sonne aufging, verwandelte er sich in einen feinen Regen.
Übrigens war dies eigentlich das einzige Anzeichen, daß die Sonne heraufgekommen war; denn viel heller wurde es den ganzen Tag nicht, und auch nicht wärmer. Die Luft war dick von Nebel – nicht von dem weißgrauen Seenebel, sondern von dem braungrauen, dichten, toten Russennebel, der dadurch nicht leichter geworden, daß er über Schweden hingezogen war; und der Ostwind kam mitgezogen und verpackte ihn gut und fürsorglich unten zwischen die Häuser der Stadt Kopenhagen.
Unter den Bäumen am Festungsgraben und in den Anlagen sah es ganz schwarz aus infolge des Herabtröpfelns von den Zweigen. Aber mitten auf die Straße und oben auf die Hausdächer legte der Schnee eine dünne, weiße Schicht.
Drüben bei Burmeister & Wain war's noch ganz still. Aus den Schornsteinen wirbelte der schwarze Morgenrauch empor, und der Ostwind warf ihn hinab auf die weißen Dächer, so daß er noch schwärzer wurde, und breitete ihn über den Hafen aus mitten in das Takelwerk der Schiffe, die in der grauen Beleuchtung trübselig und schwarz dalagen, mit weißen Schneestreifen auf dem Geländer. Auf dem Zollamt sollten die Bluthunde bald eingesperrt und die Tore geöffnet werden.
Der Ostwind war heftig, er wälzte die Wellen hinein gegen die Lange Linie und brach sie in graugrünem Schaum zwischen den schlüpfrigen Steinen, während lange Wellenkämme in den Hafen hinübergingen, unter der Zollschranke plätscherten und große Namen und erhabene Erinnerungen im Kriegshafen umherrollten, wo die alten Holzfregatten abgetakelt und überdacht in ihrer ganzen imponierenden Unbrauchbarkeit lagen.
Der Hafen war noch voll von Schiffen; auf den Landungsbrücken und in den Packhäusern lagen die Waren hoch aufgestapelt. Niemand konnte wissen, was für einen Winter man bekäme; ob man monatelang von der Welt abgeschlossen sein oder ob man mit Nebel und Schneefällen davonkommen würde. Deshalb lagen da viele Reihen von Petroleumfässern, die im Verein mit den ungeheuren Kohlenbergen auf einen strengen Winter lauerten. Und da lagen Röhren und Oxhofte mit Wein und Kognak, die geduldig auf neue Verfälschungen warteten. Tran und Talg und Eisen – alles lag da und wartete, ein jedes auf das seine.
Überall lag da Arbeit und wartete – schwere Arbeit, grobe Arbeit und feine Arbeit unten vom Boden der schweren englischen Kohlendampfer an bis oben hinauf zu den drei vergoldeten Rettichen auf der neuen Kirche des Kaisers von Rußland in der Breiten Straße.
Aber noch war niemand da, der zugriff. Die Stadt schlief so schwer, und die Luft war so schwer, und der Winter war im Anzug; und auf den Straßen war es so still, daß man das Wasser aus dem Schnee, der auf den Dächern schmolz, mit tiefem Glucksen in die Dachrinnen hinabfallen hörte, als ob selbst die großen Steinhäuser noch im Halbschlaf schluchzten.
Drüben auf dem Holm begann eine kleine schläfrige Morgenglocke zu läuten; da und dort wurde eine Tür geöffnet, und ein Hund kam heraus, um zu bellen. Gardinen wurden aufgerollt und Fenster geöffnet, das Stubenmädchen ging in den Zimmern umher und räumte bei offenem Lichte auf, das da stand und flackerte; im königlichen Schloß lag ein betreßter Lakai im Fenster und polkte sich in der frühen Morgenstunde in der Rase.
Dick lag der Nebel über dem Hafen und hing noch in dem Takelwerk der großen Schiffe wie im Walde: Regen und nasse Schneeflocken machten ihn noch dichter: aber der Ostwind preßte ihn zwischen die Häuser und füllte den ganzen Amalienplatz an, so daß Friedrich V. wie in den Wolken dasaß und die stolze Nase unbekümmert seiner halbfertigen Kirche zukehrte.
Mehrere schläfrige Glocken fingen jetzt an: und mit einem Höllenpfiff setzte eine Dampfpfeife ein. In den Schenken, die ›vor dem Glockenläuten‹ geöffnet werden, ward schon mit warmem Kaffee und Schnaps Frühmesse gehalten; aus den Seemannshäusern am neuen Hafen kamen Mädchen nach einer wilden Nacht mit lose über den Rücken herabhängendem Haar und machten sich daran, schläfrig die Fenster zu putzen.
Die Luft war scharf, und wer über den Neumarkt mußte, eilte schnell an Öhlenschläger vorüber, den sie da barhäuptig vors Theater gestellt hatten, die Vatermörder voll Schnee, der schmolz und ihm in den offenen Hals hinabrann.
Nun kamen die langen, unerbittlichen Pfiffe der Dampfpfeifen aus den Fabriken der ganzen Stadt, und im Hafen schossen die kleinen Dampfer umher und pfiffen ohne jeden Zweck.
Die Arbeit, die überall wartete, begann die vielen kleinen dunklen Gestalten zu verschlingen, die schläfrig und verfroren zum Vorschein kamen und rings in der Stadt verschwanden. Und es entstand beinah ein stilles Gewimmel auf den Straßen, einige liefen, andere schleppten sich nur so dahin – nicht bloß alle, die in die Kohlendampfer hinüber sollten, sondern auch die hinauf mußten, um die Rettiche des Kaisers von Rußland zu vergolden, und tausend andere, die von jeder Art Arbeit verschlungen wurden.
Und die Wagen begannen zu rasseln, die Ausrufer zu schreien, die Maschinen erhoben ihre ölglänzenden Schultern und drehten die sausenden Räder, und allmählich vibrierte die schwere dicke Luft in einem gedämpften Gesumme von der vereinten Arbeit vieler Tausende von Menschen; der Tag hatte begonnen; das fröhliche Kopenhagen war erwacht.
Den Polizisten Frode Hansen fror es bis in seinen innersten Koeffizienten. Es war eine ungewöhnlich schwere Wache gewesen, und ungeduldig ging er in Aabenraa auf und ab und wartete auf Frau Hansen. Sie pflegte um diese Zeit oder sogar noch früher zu kommen, und heute war er fest entschlossen, es bis zu einer Flasche Bier oder einer Tasse warmen Kaffee zu treiben. Aber Frau Hansen kam nicht; und er begann darüber nachzudenken, ob es nicht doch seine Pflicht sei, sie anzuzeigen; sie trieb es doch zu arg; das konnte nicht länger so gehen, die Spiegelfechterei mit diesen Kohlblättern und diesem Kohlenhandel.
Auch Thyra und Waldemar hatten schon mehrmals in die Küche hinausgelugt, ob die Mutter noch nicht gekommen sei und den Kaffee aufgesetzt habe. Aber es war noch schwarz da unter dem Kessel und in der Luft so finster, und in der Stube so kalt, daß sie wieder ins Bett hüpften, ins Stroh krochen und sich damit amüsierten, sich einander vor den Leib zu stoßen.
Als sie das große Tor zu des Großhändlers Hansen Kohlenlager in Kristianshafen öffneten, saß Sultan da und schielte beschämt zur Seite. Es war aber auch eine widerwärtige Arbeit, die man ihm da übertragen hatte.
In einem Winkel fanden die Arbeiter zwischen zwei leeren Körben einen Haufen Lumpen, aus dem es schwach herausstöhnte. Auf dem Schnee fanden sich ein paar Tropfen Blut und unmittelbar daneben lag unberührt ein Stück Wiener Brot mit Zucker darauf.
Als der Werkführer den Zusammenhang begriff, wandte er sich nach Sultan um: das verdiente ein Lob. Aber Sultan war schon nach Hause gegangen; die Sache war ihm unbehaglich.
Nun lasen sie die in der Ecke auf, so wie sie war – naß und eklig, und der Werkführer bestimmte, daß sie mit dem ersten Kohlenwagen, der zur Stadt fuhr, fortgeschafft würde; dann konnte man beim Hospital anhalten und dann konnte der Professor nachsehen, ob sich eine Reparatur verlohnte.
Gegen zehn Uhr begann sich die Familie des Großhändlers am Frühstückstisch zu sammeln. Thyra kam zuerst. Sie eilte auf Sultan zu, streichelte und küßte ihn und überschüttete ihn mit zärtlichen Worten.
Aber Sultan rührte seinen Schwanz nicht; kaum daß er die Augen erhob. Er fuhr fort, sich die Pfoten zu lecken, die von den Kohlen etwas geschwärzt waren.
»Gott, liebe Mama!« rief Fräulein Thyra, »Sultan ist bestimmt krank. Natürlich hat er sich heute nacht erkältet; es war aber auch abscheulich von Papa.«
Aber als Waldemar kam, erklärte dieser mit Kennermiene, Sultan fühle sich beleidigt.
Da warfen sich alle drei über ihn mit Bitten und Entschuldigungen und freundlichen Worten. Aber Sultan sah kalt von dem einen zu dem anderen; es war klar, Waldemar hatte recht.
Da lief Thyra hinaus zum Vater, und der Großhändler kam herein, ernst und etwas feierlich. Soeben war ihm durchs Telephon vom Kontor erzählt worden, wie gut Sultan aufgepaßt hatte, und indem er jetzt auf dem Kaminteppich vor Sultan niederkniete, dankte er ihm gerührt für den großen Dienst.
Das stimmte Sultan etwas milder.
Nun erzählte der Großhändler der Familie – noch immer kniend und Sultans Pfote in der seinen haltend – wie es heute nacht zugegangen war. Daß der Dieb ein verkommenes Frauenzimmer gewesen – eines der allerschlimmsten –, das sogar – man denke einmal! – einen ziemlich schwunghaften Handel mit den gestohlenen Kohlen getrieben habe. Sie war so gerieben gewesen, den jungen Platzhund mit einem Stück Feinbrot zu bestechen; aber natürlich nützte ihr das bei Sultan nichts.
»Und das erinnert mich daran, wie eine gewisse Person, die ich nicht nennen mag, oft mit gewissen Redensarten um sich warf, es sei eine Schande, daß ein Tier Brot verschmähe, für das mancher Mensch dankbar sein würde. Sehen wir jetzt nicht, wozu das gut war? Gerade vermöge dieser – hm! – dieser Eigentümlichkeit war Sultan imstande, ein abscheuliches Verbrechen aufzudecken, zur gerechten Bestrafung der Missetat beizutragen und auf diese Weise nicht bloß uns, sondern auch der Gesellschaft einen Dienst zu erweisen.« »Aber höre, Papa,« rief Fräulein Thyra, »willst du mir eines geloben?«
»Was denn, Kind?«
»Daß du von Sultan so was nie wieder verlangen willst; laß sie lieber ein wenig stehlen.«
»Das gelobe ich dir, Thyra, – und dir ebenfalls, mein braver Sultan«, sprach der Großhändler und richtete sich mit Würde auf.
»Sultan hat Hunger«, sagte Waldemar mit seiner Kennermiene.
»Mein Gott, Thyra, hol ihm doch seine Koteletts!«
Thyra wollte in die Küche hinunterstürzen; aber in demselben Augenblick brachte Stine sie schon heiß herauf.
Vermutlich hatte der Professor gefunden, daß sich bei Frau Hansen eine Reparatur nicht verlohnte; denn sie kam nie wieder zum Vorschein, und die Kinder gingen ganz um die Ecke. Ich weiß nicht, was aus ihnen geworden ist. –