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Im Spätherbst gab der Großhändler ein Diner. Die Familie war schon längst vom Lande wieder in die Stadt übergesiedelt.
Die Unterhaltung floß lange matt und stockend, bis sie sich plötzlich löste und zu einem wilden Wasserfall wurde. Denn unten an der Ecke des Tisches, wo die Hausfrau saß, war die Frage aufgetaucht, ob man eine Dame eine feine Dame – eine wirklich feine Dame nennen könne, von der bekannt wäre, daß sie auf einem Dampfschiff ihre Füße auf ein Taburett gestellt habe – niedrige Schuhe und gestrickte Strümpfe.
Und – seltsam genug, als ob jeder sein halbes Leben in der Gesellschaft damit zugebracht hätte, diese Frage zu erörtern, warfen alle ihre fertige, unerschütterliche Meinung auf den Tisch; im Nu hatten sich die Parteien geteilt; die unerschütterlichen Überzeugungen stießen aufeinander, fielen herab, wurden wieder aufgenommen und mit steigendem Eifer von neuem hingeworfen.
Oben am andern Ende des Tisches nahm man an dieser lebhaften Unterhaltung nicht teil. In der Nähe des Wirtes saßen meist ältere Herren, und wie glühend ihre Damen auch wünschen mochten, jene Frage dadurch zur entscheidenden Lösung zu bringen, daß sie ihrerseits ihre unerschütterliche Überzeugung aussprächen, so mußten sie das doch aufgeben, denn der Brennpunkt jener lebhaften Unterhaltung befand sich bei einigen jungen Kandidaten ganz unten bei der Hausfrau und der Abstand war zu groß.
»Mir scheint, ich sehe das große gelbe Biest heute nicht«, sprach Kandidat Wiggo Hansen in seinem mürrischen Tone.
»Nein, leider! Sultan ist heute nicht hier. Der arme Bursche! Ich mußte ihm zumuten, mir einen unangenehmen Dienst zu erweisen.«
Der Großhändler sprach von Sultan immer wie von einem hochgeachteten Geschäftsfreunde.
»Sie machen mich wirklich neugierig. Wo ist denn das süße Tier?«
»Oh – verehrte gnädige Frau, es ist eine langweilige Geschichte. Denn – sehen Sie – draußen auf unsern Kohlenlagern in Kristianshafen ist gestohlen worden.«
»Oh – aber um Gottes willen! – gestohlen!«
»Vermutlich haben die Diebe ihr Geschäft schon längere Zeit betrieben.«
»Haben Sie denn bemerkt, daß die Vorräte sich verminderten?«
Aber da mußte der Großhändler lachen, was er selten tat.
»Nein, nein – bester Herr Doktor, – entschuldigen Sie, daß ich lache: aber Sie sind wirklich naiv. Da draußen liegen jetzt ungefähr hunderttausend Tonnen Kohlen: Sie werden also einsehen, es gehört etwas dazu, um – «
»Da müßte mit zwei Pferden vom Morgen bis zum Abend gestohlen werden«, warf ein jüngerer Geschäftsmann dazwischen, der witzig war.
Als der Großhändler ausgelacht hatte, fuhr er fort: »Nein – sehen Sie! Der Diebstahl ist dadurch entdeckt worden, daß gestern etwas Schnee fiel.«
»Was! Schnee – gestern? Davon weiß ich nichts.«
»Es war auch nicht zu der Tageszeit, gnädige Frau, wo wir wach sind. Aber ganz frühmorgens fiel gestern etwas Schnee. Und als meine Leute nach dem Kohlenplatz kamen, entdeckten sie die Spur des Diebes oder der Diebe. Es stellte sich heraus, daß ein paar Bretter in dem Plankenwerk lose, aber so kunstvoll zusammengestellt waren, daß niemand darauf aufmerksam werden konnte. Und dahindurch werden also Nacht für Nacht die Diebstähle bewerkstelligt, – ist das nicht empörend?«
»Aber warum halten dort der Herr Großhändler keinen Platzhund?«
»Tu ich ja; aber es ist ein junges Tier – übrigens ausgezeichnete Rasse – halb Bluthund –, und wie zum Teufel diese Racker es auch anfangen mögen, es steht so aus, als stünden sie mit dem Tier auf freundschaftlichem Fuße; denn man fand die Spuren des Hundes mitten zwischen den Füßen des Diebes.«
»Das ist doch merkwürdig; und nun soll also Sultan versuchen – «
»Jawohl – ganz recht – heut' hab' ich Sultan hinausgeschickt; er wird mir die Kanaillen schon abfassen.«
»Könnte man die losen Bretter nicht ordentlich festnageln?«
»Das könnte man allerdings, Herr Kandidat Hansen. Aber die Burschen sollen gefaßt werden; sie sollen ihre wohlverdiente Strafe erhalten; mein Rechtsgefühl ist auf das tiefste verletzt.«
»Es ist doch etwas Schönes um so ein treues Tier.«
»Ja, nicht wahr, gnädige Frau? Wie wir Menschen doch mit Scham bekennen müssen, daß wir in mancher Hinsicht weit hinter den unvernünftigen Tieren zurückflehen.«
»Ja – aber, Herr Großhändler, Sultan ist auch eine Perle. Er ist unbedingt der schönste Hund in ganz –«
»Konstantinopel«, unterbrach Kandidat Hansen.
»Das ist ein alter Witz des Herrn Hansen«, erklärte der Großhändler; »er hat das nordische Athen in das nordische Konstantinopel umgetauft, weil er der Ansicht ist, hier seien zu viel Hunde.«
»Das ist gut für die Hundesteuer«, meinte einer.
»Ja, wenn die Hundesteuer nicht so ungerecht verteilt wäre«, knurrte Kandidat Hansen. »Das hat doch keinen Sinn, daß eine honette, alte Dame, die sich einen Hund in ihrem Strickbeutel hält, ebensoviel bezahlen soll, wie einer, der sich den Scherz macht, seine Mitmenschen dadurch zu belästigen, daß er sich ein halbwildes Tier von der Größe eines kleinen Löwen hält.«
»Wie würden – wenn man fragen darf – der Herr Kandidat die Hundesteuer berechnen?«
»Nach dem Gewicht selbstverständlich«, antwortete Herr Wiggo Hansen, ohne sich lange zu bedenken.
Die alten Großhändler und Stadtverordneten lachten über diese Idee, die Hunde nach dem Gewicht zu besteuern, so herzlich, daß die untere Hälfte des Tisches, wo man noch immer eifrig mit unerschütterlichen Überzeugungen herumwarf, aufmerksam wurde und seine Überzeugungen fallen ließ, um dem Gespräch über die Hunde zuzuhören.
Und die Frage, ob man eine Dame eine feine Dame – eine wirklich feine Dame nennen kann, von der bekannt ist, daß sie auf einem Dampfschiff ihre Füße auf ein Taburett gestellt – niedrige Schuhe und gestrickte Strümpfe – blieb ebenfalls ungelöst.
»Sie scheinen ja geradezu ein Hundehasser zu sein, Herr Kandidat«, sagte seine Tischdame, noch immer lachend.
»Die Sache ist die, Frau Hansen,« rief der Doktor über den Tisch hin, »er hat eine schreckliche Angst vor den Hunden.« »Aber eines,« fuhr Frau Hansen fort, »eines müssen Sie doch einräumen, Herr Kandidat, daß nämlich der Hund zu allen Zeiten der treue Begleiter des Menschen gewesen ist.«
»Ja, das ist wahr, gnädige Frau. Und ich könnte Ihnen sogar erzählen, was der Hund vom Menschen und der Mensch vom Hunde gelernt hat.«
»Ach, erzählen Sie – erzählen Sie!« wurde von mehreren Seiten gerufen.
»Mit Vergnügen .... Zunächst hat der Hund vom Menschen das Schweifwedeln gelernt.«
»Das wäre doch höchst seltsam«, rief die alte Großmutter.
»Dann hat der Hund sich all die Eigenschaften angeeignet, welche die Menschen gemein und unzuverlässig machen: kriechendes Schmeicheln nach oben und Roheit und Verachtung nach unten; das engherzigste Festhalten an dem Eignen und Mißtrauen und Feindschaft wider alles andere. Ja, so gelehrig ist das edle Tier gewesen, daß es sogar die rein menschliche Kunst versteht, die Leute nach den Kleidern zu beurteilen; gutgekleidete Leute läßt es gehen, die zerlumpten aber beißt es gleich in die Waden.«
Hier wurde der Kandidat durch einen vielstimmigen Ausruf des Mißbehagens unterbrochen, und Fräulein Thyra ballte erbittert ihre kleine Hand um das Obstmesser.
Aber es waren doch einige da, die hören wollten, was denn der Mensch vom Hunde gelernt habe, und Herr Wiggo Hansen fuhr fort – immer eifriger und bitterer:
»Der Mensch hat vom Hunde gelernt, auf die hündische, unverdiente Verehrung Wert zu legen. Wenn alle Ungerechtigkeiten, alle Mißhandlungen nichts anderes zu gewärtigen haben, als dieses ewige Schweifwedeln, Bauchrutschen und Speichellecken, so kommt es schließlich dahin, daß der Herr glaubt, er sei ein Prachtkerl, dem all diese Hingebung mit Recht zuteil werde. Und indem er seine Erfahrungen mit dem Hunde auf seinen Umgang mit Menschen überträgt, tut er sich keinen Zwang an – in der Erwartung, wedelnde Schwänze und leckende Zungen zu finden. Und sieht er sich dann getäuscht, so verachtet er den Menschen und wendet sich mit hohen Lobreden dem Hunde zu.«
Wiederum wurde er unterbrochen; einige lachten; aber die meisten ärgerten sich. Inzwischen war Wiggo Hansen in Zug gekommen. Seine kleine, scharfe Stimme durchdrang die Einwendungen und er behielt das Wort:
»Und da wir vom Hunde sprechen, muß ich mir gestatten, eine außerordentlich tiefsinnige Hypothese von mir selbst aufzustellen. Sollte nicht etwas für unseren Nationalcharakter höchst Eigentümliches darin liegen, daß gerade wir diese edle Hunderasse hervorgebracht haben: diese berühmten, echten, dänischen Hunde? Dieses starke, breitbrüstige Tier mit den schweren Tatzen, dem schwarzen Maul und den fürchterlichen Zähnen, aber dabei so gutmütig, unschädlich und liebenswürdig, – erinnert das nicht an die berühmte unverwüstliche dänische Loyalität, die für alles Unrecht, für alle Mißhandlungen niemals etwas anderes übrig hatte als dies ewige Schweifwedeln, Bauchrutschen und Speichellecken? Und wenn wir dies Tier, das nach unserem eigenen Bilde geschaffen ist, bewundern, liegt da nicht eine Art wehmütiger Selbstberäucherung darin, wenn wir ihm den Kopf streicheln und sagen: du bist doch ein guter, treuer Bursche, ein richtiger Prachtkerl!«
»Hören Sie, Herr Kandidat Hansen, ich kann nicht umhin, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß es in meinem Hause gewisse Dinge gibt, die –«
Der Wirt war böse; aber ein gutmütiger Verwandter des Hauses beeilte sich, ihn zu unterbrechen: »Ich bin Landwirt, und Sie werden doch wohl zugeben, Herr Kandidat, daß ein guter Hofhund für uns geradezu eine Notwendigkeit ist – he?«
»O ja – ein kleiner Köter, der kläffen kann, so daß der Knecht wach wird.«
»Nein, danke! Wir müssen einen ordentlichen Hund haben, der die Kanaillen bei den Beinen packt. Ich habe nun einen prächtigen Bluthund.«
»Und wenn dann ein anständiger Mensch gelaufen kommt, um Ihnen zu melden, daß es im Hintergebäude brennt, und Ihr prächtiger Bluthund ihm an die Kehle fährt – was dann?«
»Ja – das wäre ein Reinfall«, lachte der Landwirt, und die anderen lachten ebenfalls.
Herr Wiggo Hansen entwickelte jetzt einen solchen Eifer, nach allen Seiten hin zu antworten – auch mit den unsinnigsten Paradoxen –, daß vor allem die Jugend sich köstlich amüsierte, ohne auf die wachsende Verbitterung sonderlich zu achten.
»Aber die Platzhunde, die Platzhunde! Die wollen Sie uns doch lassen, Herr Kandidat?« rief ein Kohlenhändler lachend.
»Durchaus nicht! Nichts Unvernünftigeres, als daß ein armer Mann, der keine Kohlen hat und kommt, um seinen Sack an einem Kohlenberge zu füllen, daß der von einem wilden Tiere zerrissen werden soll. Zwischen einem so geringen Vergehen und einer so fürchterlichen Strafe existiert doch gar kein vernünftiges Verhältnis.«
»Dürfen wir vielleicht erfahren, auf welche Weise Sie Ihren Kohlenberg beschützen würden, wenn Sie einen hätten?«
»Ich würde den Platz mit einem dauerhaften Bretterzaun umgeben, und wenn ich sehr ängstlich wäre, würde ich mir einen Wächter halten, der höflich aber bestimmt zu dem Mann, der mit dem Sack käme, sagen sollte: Entschuldigen Sie, aber mein Herr nimmt es in diesem Punkte sehr genau. Sie dürfen Ihren Sack nicht füllen; Sie müssen sich schleunigst wieder entfernen.«
Während des allgemeinen Lachens, das diesem letzten Paradoxon folgte, sprach ein ernster, geistlicher Herr unten bei den Damen:
»Es kommt mir so vor, als fehle etwas in dieser Diskussion – etwas, das ich das ethische Moment nennen möchte. Haben wir nicht alle, die wir hier sitzen, in unserem Herzen eine bestimmte, klare Empfindung für das Empörende des Verbrechens, das wir Diebstahl nennen?«
Allgemeine warme Zustimmung.
»Und des weiteren: empört es uns nicht, daß wir hören müssen, wie ein Verbrechen, das sowohl das göttliche wie das menschliche Gesetz als eines der schlimmsten bezeichnet, wie ein solches Verbrechen als ein geringfügiges und unbedeutendes Vergehen hingestellt wird? Ob nicht solches Beginnen in hohem Grade geeignet ist, umstürzlerisch und gemeingefährlich zu wirken?«
»Gestatten Sie auch mir,« antwortete sofort der unermüdliche Kandidat, »auf ein ethisches Moment hinzuweisen. Haben nicht Unzählige, die hier nicht sitzen, in ihrem Herzen eine bestimmte, klare Empfindung für das Empörende des Verbrechens, das sie Reichtum nennen? Und des weiteren: muß es nicht die, welche selbst keine anderen Kohlen besitzen als einen leeren Sack – muß es die nicht empören, wenn sie sehen, daß einer, der sich gestattet, zwei- bis dreimalhunderttausend Tonnen zu besitzen, wilde Tiere zur Bewachung seines Kohlenberges losläßt und dann zu Bett geht, nachdem er an das Tor geschrieben: ›Achtung, Hunde!‹ Muß nicht ein solches Beginnen in hohem Grade aufreizend und gemeingefährlich wirken?«
»Ih – aber du grundgütiger Gott und Vater, das ist ja ein Sansculot!« rief die alte Großmutter.
Die meisten murmelten ebenfalls mißvergnügt; er gehe zu weit; das sei nicht mehr spaßhaft. Nur einige wenige lachten noch: er meint es gar nicht so; das ist nur so seine Art und Weise, – prost Hansen!
Aber der Wirt nahm die Sache ernster. Er dachte an sich selbst, und er dachte an Sultan. Mit unheimlicher Höflichkeit begann er:
»Darf ich zunächst fragen, was der Herr Kandidat unter einem vernünftigen Verhältnis zwischen Verbrechen und Strafe versteht?«
»Zum Beispiel,« antwortete Herr Wiggo Hansen, der nun ganz wild war, »wenn ich von einem Großhändler hörte, der zwei-, dreimalhunderttausend Tonnen Kohlen besäße, daß dieser es einem armen Teufel verwehrt hätte, seinen Sack zu füllen, und daß dieser selbe Großhändler zur Strafe dafür von wilden Tieren zerrissen worden wäre – ja, das wäre ein Fall, den ich sehr wohl begreifen könnte; denn zwischen einer so großen Herzlosigkeit und einer so grausamen Strafe wäre doch ein vernünftiges Verhältnis –«
»Meine Damen und Herren! Meine Frau und ich wünschen Ihnen eine gesegnete Mahlzeit!«
Es entstand ein heimliches Flüstern und Wispern, und unter den Gästen herrschte eine gedrückte Stimmung, während man sich in den Salons verteilte.
Der Wirt ging mit einem strammen Lächeln umher, und sobald er damit fertig war, jedem einzelnen eine gesegnete Mahlzeit zu wünschen, wandte er sich ab, um Kandidat Hansen aufzusuchen und ihm mit unzweideutigen Worten für alle Zeit die Tür zu weisen.
Aber das war nicht mehr nötig; Herr Wiggo Hansen hatte sie schon gefunden