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Dritter Zyklus

I. Was wir wollen

Als vor noch nicht einem Jahr die Gründungsversammlung der Gesellschaft für freie Philosophie in den Räumen der Schule der Weisheit zu Darmstadt stattfand, da setzte ich in den allgemeinsten Zügen auseinander, welches der Sinn, die besondere Einstellung und das Ziel des neuerschaffenen geistigen Mittelpunktes sind. Aber jene Ausführungen betrafen mehr die Möglichkeit als die Tatsache. Die erprobende Erfahrung stand noch vollständig aus; wenn das, was werden sollte, mein Denken und Handeln noch so zielsicher von innen her lenkte, so war ich mir über dessen Eigenart als Teils des Erschaffenen in manchen Hinsichten noch gar nicht klar. Heute ist es anders. Unerwartet viele haben indessen die Schule der Weisheit besucht. Fragen lösten entsprechende Antworten aus, Anforderungen Erfüllungen, Erfahrungen praktische Maßnahmen. So hat der allgemeine Sinn in vielen Hinsichten den Weg zu dem ihm gemäßen einzigen Ausdruck indessen gefunden, nicht zuletzt in der Gestaltung meiner selbst. Der Mensch wächst buchstäblich an seinem Werk, sofern dieses einen wahrhaftigen Wesensausdruck darstellt. Die sogenannte Innen- und die sogenannte Außenwelt unterscheiden sich, erkenntnistheoretisch beurteilt, nur technisch voneinander, d. h. sie beherbergen wohl verschiedene Arten von Phänomenen, diese aber stehen im gleichen Distanzverhältnis zum metaphysischen Selbst. Deshalb gehört das Werk des schöpferischen Menschen genau so intim zu ihm, wie Geist und Körper. Erst indem solcher Äußeres leistet, realisiert er sich selbst; sein persönlicher Sinn wird erst im objektivierten Ausdruck wirklich. Bei ausgesprochenen Männern der Tat geht dies so weit, daß einem Cromwell, einem Napoleon, einem Bismarck, bevor diese ihr eigentliches Tätigkeitsfeld betraten, viele der Züge buchstäblich fehlten, welche sie später am meisten auszeichneten – denn man unterscheide wohl zwischen Anlagen und positiven Eigenschaften. Ich bin nun gewiß kein Tatmensch. Aber mein Fall ähnelt dem solcher insofern, als die Fähigkeiten, deren ich als praktisch Wirkender bedarf, sich erst, seitdem ich eben praktisch wirke, auszubilden beginnen; bei mir spielte Abneigung früher die gleiche Rolle, wie beim Staatsmann die mangelnde Gelegenheit. Meiner empirischen Natur nach bin ich Einsiedler und Künstler. Mir fehlt jeder persönliche Drang zur äußeren Wirksamkeit, der Verkehr mit meinen Mitmenschen war mir nie Bedürfnis, von den Wahrheiten, die ich fortschreitend erkannte, andere persönlich zu überzeugen, spürte ich nie den Wunsch. Schon bei anderer Gelegenheit erzählte ich Ihnen, wie die Gründung der Schule der Weisheit seinerzeit als Pflichtleistung gleichsam zustande kam (S. 277). Mein Oberbewußtsein war auf die neue Aufgabe so wenig vorbereitet, daß keine Schrift mir je schwerer aus der Feder floß, als Was uns nottut. Während der ersten Darmstädter Semester habe ich meiner Natur andauernd Gewalt antun müssen. Aber es war eben nur mein Oberbewußtsein, welches widerstrebte: dies erwies unzweideutig das innere Wachstum, das sich immer stärker manifestierte, je mehr ich mich meiner neuen Tätigkeit hingab. So erlebe ich denn an mir selbst, wie die ursprüngliche Diskrepanz zwischen empirischem und metaphysischem Willen – alias Wille und Schicksal, im Höchstfall zwischen persönlichem und göttlichem Willen – sich fortschreitend der Kongruenz zu verwandelt. Die persönliche Neigung oder Abneigung spielt eine immer geringere Rolle, weil ihr Begriff immer inhaltsleerer wird. Damit aber schwindet immer mehr auch der Unterschied zwischen Äußerlichem und Innerlichem; sehr vieles von dem, was nach außen hin als persönliche Absicht wirkt, geschieht mir jetzt. Ich bin eben in mein Werk hineingewachsen. Deshalb kann ich heute gegenständlicher darüber reden als dazumal, als ich es nur als herausgestellte Möglichkeit vor mir sah. So werde ich denn Wollen, Weg und Ziel der Schule der Weisheit in diesem Zyklus nicht eigentlich noch einmal behandeln – ich tue es recht eigentlich zum erstenmal. Und es ist Zeit, daß ich es ausführlich tue: zu viele urteilen schon über eine Sache, zu deren Kenntnis jede authentische Unterlage fehlt.

 

Ich beginne mit einer Frage allgemeinster Art, deren richtige Beantwortung jedoch zugleich die der besonderen nach unserem spezifischen Wollen einschließt – die Frage, worauf der wahre, der wesentliche Fortschritt des Menschengeschlechts, sofern er statthat, beruht? Die überwiegende Mehrzahl meint, er beruhe auf neuen Erkenntnis inhalten und deren Nutzanwendung. Sobald neue Tatsachen entdeckt oder in die Welt gesetzt, neue Begriffe gefunden, neue Programme aufgestellt und von außen her, durch geeignete Veranstaltung, der Verwirklichung zugeführt wurden, meint jene, wir seien wesentlich vorwärts gekommen. Bedenken wir jedoch, daß dieses größte Zeitalter der sachlichen Neuerung, das es je gab, in einem Zusammenbruch ohne Gleichen seinen Abschluß fand, wobei die äußerlich zweifelsohne sehr weit vorgeschrittene westliche Menschheit sich als barbarischer, oberflächlicher und innerlich leerer erwies, als vielleicht irgendeine zuvor, so finden wir alle Ursache, daran zu zweifeln, ob das äußere Weiterkommen mit dem inneren irgendwie zusammenhängt. Wer sachlich Neues bringt, braucht offenbar kein Erneuerer der Menschen zu sein. Gedenken wir von hier aus aber der Männer, welche nachweislich einen wesentlichen Fortschritt eingeleitet haben, so finden wir, daß der vorhergehende Satz auch in seiner Umkehrung richtig ist: ein wahrer Erneuerer braucht nichts sachlich Neues zu bringen. Im Falle aller ganz Großen ohne Ausnahme warfen Mit- und nächste Nachwelt die Frage auf, was der Betreffende denn Neues bringe. Und jedesmal ohne Ausnahme lautete die häufigste Antwort negativ. Diese wurde von vielen Großen überdies ausdrücklich bestätigt. Sokrates versicherte wieder und wieder, daß er keine bestimmte Lehre zu überliefern habe; er wolle nur geistige Hebammendienste leisten. Jesus erklärte, daß er das Gesetz nicht aufhebe; auch er verwahrte sich dagegen, inhaltlich Neues zu bringen. Und wirklich war keine einzige seiner Lehren unerhört; zu seiner Zeit gab es in Syrien Sekten und Schulen die Fülle, die zum mindesten sehr Ähnliches wie er vertraten. Der große Reformator des Mittelalters, Franz von Assisi, war ein Armer im Geist; ihm läßt sich gar nichts Originelles nachweisen, er aber ging in seiner Originalitätsfeindschaft so weit, daß er sein Urteil nicht nur der Autorität der Kirche, sondern der jedes ordinierten Priesters unterordnete. Luther wollte nur das alte Christentum in seiner Reinheit wiederherstellen, er, der vulkanische Revolutionär. Konfuzius gar, der wahre Begründer der chinesischen Kultur, setzte seinen größten Stolz darein, nur Altes zusammenzufassen; er war Traditionalist im Extrem, beinahe krankhaft neuerungsfeindlich. Der Absicht nach lagen die Dinge bei vielen anderen Großen anders. Trotzdem tritt bei allen der Originalitätscharakter desto mehr in den Hintergrund, um je Größere es sich handelt. Kein gelehrter Zeitgenosse Buddhas dürfte in dessen Predigten Unbekanntes gefunden haben. Plato galt vielen seiner Zeitgenossen als Plagiator, Goethe noch einem Lessing als zwar begabter, doch unorigineller Mensch. Nun läßt sich nicht bestreiten, daß die hier Aufgezählten tiefer gewirkt, Wesentlicheres bewirkt und größere Fortschritte eingeleitet haben, als beliebige Neuerer im inhaltlichen Sinn, ja als alle »Originale« der Geschichte zusammengenommen. Folglich muß das, was eine Beschleunigung der Entwicklung, eine Verwandlung oder Vertiefung des Seelenlebens auslöst, auf einem anderen beruhen, als der Neuheit der Erkenntnisinhalte. So ist es. Diese Erkenntnis ist grundlegend. Sie gilt es jetzt zu verstehen. Zu ihrem Verständnis aber führt am schnellsten eine genauere Betrachtung der Wahrheit, die ich in meinen Reden und Schriften, in dieser oder jener Form, auf diesen oder jenen Anlaß hin, immer wieder vertreten habe: nämlich daß auf dem Gebiet des Lebens die Bedeutung den Tatbestand schafft, nicht umgekehrt. Deshalb kann hier keine inhaltliche Neuerung, welche sich notwendig auf Faktisches beziehen muß, letzte Instanz sein. Neues an sich braucht nicht das mindeste zu bedeuten. Umgekehrt kann Altes durch eine neue Auffassung seiner neue Bedeutung erlangen.

 

Daß es so ist, habe ich, wie gesagt, schon häufig nicht allein auseinandergesetzt, sondern auch an Beispielen als richtig erwiesen. Aber was nicht zu widerlegen ist, wird deshalb nicht notwendig verstanden. Gerade unsere Grunderkenntnis leuchtet erfahrungsgemäß besonders schwierig ein, weil der Begriff eines positiv schöpferischen Geists von veräußerlichtem Denken nicht zu bilden ist. Aber sie muß endlich eingesehen werden. Deshalb will ich sie dieses Mal in ihrer Widerspiegelung auf einem solchen empirischen Gebiet erweisen, auf dem sich der moderne Verstand besonders zu Hause fühlt. Metaphysische Wahrheiten sind nämlich, falls sie überhaupt gelten, überall erweisbar, weil sie Sinneszusammenhänge betreffen und jede empirische Lebenserscheinung ihre Sinnes-Seite hat. Da müssen die Obertöne des Sinnes, wohl oder übel, den Grundtönen entsprechen; wer ein Oberflächliches am Leben tief versteht, gewinnt notwendig metaphysische Erkenntnis, denn jeder besondere Sinn steht mit dem letzten, der sich fassen läßt, in organischem Zusammenhang (vgl. S. 33). Deshalb muß sich die grundlegende Erkenntnis, daß die Bedeutung den Tatbestand schafft, auf entsprechendem Gebiet empirisch feststellen lassen, und zwar ganz unzweideutig, nicht bloß zur Befriedigung solcher, welche der Sinneserfassung von sich aus fähig sind (welche Einschränkung wohl für die Nachweise auf historischem Gebiet, die ich während des Frühjahrszyklus erbrachte, gemacht werden muß). Das entsprechende Gebiet ist das der modernen analytischen Psychologie Um meine Kritiker vor falschen Konstruktionen zu bewahren, stelle ich hier ausdrücklich fest, daß ich mich mit analytischer Psychologie zum ersten Mal im Sommer 1921 befaßt habe, sonach lange nachdem die Erkenntnisse, die dieses Buch vertritt, in mir Gestalt gewonnen hatten. Vorher wußte ich von ihr nur von Hörensagen.. Deren durch massenhafte praktische Erfolge als grundsätzlich gültig erwiesene Theorien brauchen nur tiefer verstanden zu werden, als gewöhnlich geschieht, und sie behaupten eben das, was ich als Metaphysiker vertrete.

Sigmund Freud als erster wandte gegenüber seinen Patienten die Arbeitshypothese an, daß jeder psychische Tatbestand – handele es sich um Gewohnheiten, Erkrankungen, Anomalien – aus seiner Bedeutung für das Individuum verstanden werden müsse; keine Gebärde, kein Traum, keine unbewußte Handlung sei ohne Sinn; der Sinn vielmehr sei der eigentliche Seinsgrund des Faktischen; die meisten Gleichgewichtsstörungen rührten aber daher, daß der Mensch sich über den wahren Zusammenhang in seinem Bewußtsein täuscht. Und siehe da: in einer stetig wachsenden Anzahl von Fällen, proportional der Ausbildung seiner praktischen Methode, gelang es Freud, durch Aufdeckung des Sinnes Heilung oder Wandlung zu erzielen. Seither haben Hunderte von Ärzten und Psychologen den von Freud zuerst gewiesenen Weg selbständig weiterverfolgt. Freuds besondere Theorie ist heute nur mehr eine unter vielen, die sich gegenseitig befeinden, und ich für meine Person muß sagen, daß mir keine bisher durchaus befriedigend scheint, weil ihrer aller Formulierung sich am Niedrigsten orientiert (was bei Ärzten kein Wunder ist, da Krankheit jedes Niveau herabdrückt, weshalb jene instinktiv das Unterste für das Eigentliche halten), wo geistige Probleme nur in ihrem Höchstausdruck ihr tiefstes Wesen offenbaren. Aber nicht allein die Grundtheorie, die übrigens noch niemand meines Wissens ausdrücklich formuliert hat, hat sich durchaus bewährt – ohne Zweifel sind auch in der Richtung der Besonderung und Präzisierung Schritte getan worden, welche als endgültige Fortschritte über Freud hinaus gelten dürfen. Während dieser das äußere Gebaren allzuoft als Symptom von bloß Triebhaftem beurteilte, wodurch er das Menschenwesen über Gebühr aufs Tierische zurückbezog, ist Alfred Adler dessen wesentlicher Geistigkeit schon besser gerecht geworden. Dieser findet in seiner ganzen Praxis die Theorie bewährt, daß das Primäre an jeder Individualität nicht ihr tatsächlich-Greifbares, auch nicht ihr unbewußt-Triebhaftes, sondern die geistige Lebensrichtung oder -linie ist, deren immanente Zwecktätigkeit von innen her von den Charakterzügen bis zum Schicksal schaffe. Um eine Neurose oder Psychose zu verstehen – kaum ein Moderner ist von solcher völlig frei –, muß zuerst die Frage beantwortet werden: welches ist das Lebensziel des Betreffenden, welches die Vorstellung, die er sich von sich selbst macht, das Ideal, welchem er nachstrebt Vgl. seine Werke: Theorie und Praxis der Individualpsychologie und Der nervöse Charakter, München und Wiesbaden, I. F. Bergmann. – Auch Adler formuliert im übrigen seine Theorie gemäß dem oben angeführten typischen Ärztefehler: er bezieht die Lebenslinie in ihrer Gesamtheit dynamisch auf Geltungsbedürfnis zurück. Dieses ist aber kein letztes, sondern der niederste, weil eitelkeitbedingteste Ausdruck des Willens zur Steigerung, welcher im Höchstfall zur Überwindung alles Empirischen führt.? Alles Einzelne ergibt sich hieraus. So lassen sich Gedächtnisschwäche, die Verteilung der psychischen Inhalte auf das Bewußte und Unbewußte, die Wege, auf denen so mancher seine bewußt gehegten Wünsche selbst vereitelt, jeweilig als zweckmäßige Maßnahmen richtig verstehen und sogar voraussagen. Vom Verstehen her sind aber auch die meisten Störungen zu beseitigen, und so allein. – Doch den bisher weitestführenden Schritt in der Erfassung des geistigen Grunds des Menschenwesens hat unter Psychologen C. G. Jung getan. Dessen Werk Psychologische Typen (Zürich 1921, Rascher und Co.) ist zwar mehr Chaos als Kosmos; an Problemen und Ausblicken überreich, entbehrt es der abschließenden Klarheit. Dennoch halte ich es für epochemachend in der Geistesgeschichte. Jungs Werk bedeutet den ersten monumentalen Versuch, auf wissenschaftlichem Weg zu einer Lehre von der Seele zu gelangen, deren Gegenstand nicht die einzelnen Funktionen und Teile dieser wären, sondern deren lebendige Synthesis. Dabei ist Jung nun zur Feststellung gelangt, daß jeder empirische Charakter, d. h. jeder besondere Mensch in seiner Eigenart, den Sonderausdruck einer typischen Einstellung darstellt. Diese sei das unbedingt Primäre; sie schaffe letztlich den psychologischen Tatbestand. Man sieht sofort, inwiefern Jungs Lehre die Einseitigkeiten derer von Freud und Adler grundsätzlich überwindet und das Problem zugleich tiefer faßt. Sie geht von der Synthesis von Trieben und geistigen Zielsetzungen aus, welche faktisch die letzte Gegebenheit des psychischen Menschenwesens darstellt, und führt diese alsdann auf ihren letztdenkbaren geistigen Realgrund zurück. Dieser ist eben die Einstellung der gegebenen Synthesis – bei einem Zusammenhang ist das Wesentliche offenbar, wo sein Bezugszentrum liegt; umgekehrt betrachtet, wie er eingestellt ist. Dementsprechend ist bei Jung nicht, wie bei Freud, die Sexualität als solche das letzte, sondern die Einstellung zu ihr; nicht, wie bei Adler, der Wille zur Geltung oder zur Macht, sondern die geistige Einstellung, welche diese empirisch ausdrücken. Und Jungs Auffassung bewährt sich an der Erfahrung in allen grundsätzlichen Hinsichten durchaus, so sehr sie noch der Ausarbeitung, Präzisierung und Klärung bedarf, dieses seinerseits unabhängig davon, ob Jungs spezielle Typenlehre das letzte Wort in dieser Frage bedeute oder nicht Sie bedarf jedenfalls der Ergänzung durch diejenige Eduard Sprangers. Leider habe ich von der Existenz seines schönen Werkes Lebensformen (Halle 1922, Niemeyer) erst während der Korrektur dieses Buches erfahren, und vor Drucklegung des meinen nur einen flüchtigen Blick hineinwerfen können.. Ohne jeden Zweifel ist die Einstellung das Primäre. Deshalb bedeuten die äußerlich gleichen psychischen Phänomene Verschiedenes, je nachdem, bei welchem Typus sie beobachtet werden, d. h. auf welche Einstellung sie zurückzubeziehen sind. Was in einem Falle Krankheit bedeutet, ist in anderem Gesundheit, was im einem tief ist, ist im anderen oberflächlich, was im einen richtig, im anderen falsch. Und so weiter. Der konkrete Sonderfall ist allein aus seinem geistigen Sinn heraus zu verstehen. – Nun, sind wir hier nicht zu unserer metaphysischen Erkenntnis, daß im Bereich des Lebens die Bedeutung den Tatbestand schafft, von der Empirie her zurückgelangt? Die Fassungen, die ich hier vorgetragen habe, finden Sie freilich in keinem psychoanalytischen Werk genau so wieder. Aber dies liegt nur daran, daß die betreffenden Forscher keinen Anlaß hatten, tiefer zu greifen, als das wissenschaftliche Verständnis der Erfahrung unbedingt erheischte. Ich habe die Erkenntnisse jener einfach auf den ihnen genau entsprechenden Sinnesgrundton zurückbezogen, dieser aber ist eben der, welchen ich selber dauernd vertrete. So spiegelt sich metaphysische Wahrheit in der empirischen. Wenn jene grundsätzlich unbeweisbar ist, so läßt sich die gleiche auf dem Gebiete dieser unmittelbar erweisen. Wenden wir uns nun konkretisierteren Verständnisses unserer ursprünglichen Fragestellung wieder zu. Warum kommt es, vom Standpunkt des menschlichen Fortschritts, auf inhaltliche Neuerung so wenig an? Weil Tatsachen ihre lebendige Bedeutung nur von dem geistigen Zusammenhang erhalten, auf den sie bezogen werden. Und worauf beruht es, daß sachlich unoriginelle Geister die Welt zu verändern vermocht haben? Es beruht auf dem Primat der Einstellung, die über die mögliche Bedeutung entscheidet. Ist diese keine tiefergegründete, dann bleiben die neuesten Tatsachen ohne erneuernde Bedeutung für das Leben. Bedeutet die Einstellung als solche eine Vertiefung, dann erhalten die ältesten Tatsachen einen neuen Sinn. So ausschließlich kommt es auf letzteres an, daß die ganz Großen unserer Geschichte eben deshalb originalitätsfeindlich waren. Theoretisch betrachtet hätten sie es nicht zu sein brauchen, allein sie waren es. Fortschritt gibt es eben ausschließlich nach innen zu. Darauf allein kommt es an, welcher Sinn sich durch die Buchstaben manifestiert. Alles dieses ist uns Weisheitssuchern längst bekannt. Aber wir haben heute einen Begriff hinzugewonnen, der sich für unsere besonderen Ziele überaus fruchtbar erweisen wird: den der Einstellung. Art und Grad der Sinneserfassung und -verwirklichung hängen von der Einstellung des Menschen ab. Sie vermittelt zwischen dem Geistesgrund und dem konkreten Leben.

 

Wenn alles auf die Einstellung ankommt, dann brauchen wir uns über die Oberflächlichkeit und Roheit unserer Zeit nicht mehr zu wundern: deren Errungenschaften auf dem Gebiet der Tatsachen bessern nichts an ihrer Einstellung, falls diese verfehlt sein sollte. Diesen Sachverhalt müssen wir uns jetzt an einigen Beispielen verdeutlichen, deren Verständnis den kürzesten Weg dahin bedeuten dürfte, das besondere Wollen der Schule der Weisheit zu verstehen. Je länger ich lehre, desto mehr ziehe ich nämlich das konkrete Beispiel der abstrakten Bestimmung vor. – Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts bekannte sich zum Glauben, daß die exakte Wissenschaft, insonderheit die Naturwissenschaft, sämtliche Fragen, welche der Mensch überhaupt stellen kann, zu lösen fähig sei. Dieser Glaube hat sich nun auf die Dauer so wenig bewährt, daß manche führende Geister unserer Tage in bezug auf die Tatsachen absichtlich unexakt sind, daß das wissenschaftliche Gewissen überall an Empfindlichkeit abnimmt und die Jugend vielfach Miene macht, sich von aller Wissenschaft loszusagen. In Wahrheit sind nun die Stellungnahmen des 19. Jahrhunderts und der heutigen Radikalen genau gleich verfehlt und zwar im genau gleichen Sinn. Die Wissenschaft ist schlechthin positiv zu bewerten, nichts kann sie auf ihrer Ebene ersetzen; sie soll so exakt wie nur irgend möglich sein, darf sich auf keinerlei Konzessionen an Metaphysik, Religion und Kunst einlassen; unter dieser Bedingung wird sie zweifelsohne einmal zu einem erschöpfenden exakten Weltbegriffe führen. Nur kann kein möglicher exakter Weltbegriff die Welt erschöpfen Vgl. den fünften Vortrag meiner Prolegomena zur Naturphilosophie.; hier liegt die Ursache der Enttäuschung an der Wissenschaft. Diese bedeutet nicht das, was ihre Gläubigen in ihr sahen. Ihre Möglichkeit ergibt sich aus einer ganz bestimmten Einstellung, nämlich der auf die Außenansicht der Dinge. Sie kennt ausschließlich Erscheinungen, die nach Gesetzen zusammenhängen; was außerhalb oder jenseits dieser Sphäre, welche Kant zuerst richtig abgrenzte, belegen sein könnte, gibt es nicht für sie. Der Sinn dieser Begrenztheit des Reiches möglicher Wissenschaft leuchtet sofort ein, sobald wir sie durch unsere gewohnten Begriffskoordinaten bestimmen: die Wissenschaft hat es ausschließlich mit der Sprache zu tun, nicht mit dem, was durch sie gesagt wird; ihr entrinnt folglich das gesamte Reich des Sinns, bis auf die kleine Provinz des Eigen-Sinns der Sprache selbst. So schließt eben die Fragestellung, welche sie ermöglicht, zugleich die Möglichkeit dessen aus, daß sie die Probleme lösen könnte, welche den Gebieten der Kunst, Religion und Philosophie angehören. Die Wissenschaft des 19. Jahrhunderts hat sich genau im gleichen Sinne überschätzt, wie im Mittelalter die Religion. Auch diese sollte einmal alle Fragen beantworten können. Die Folge war im Mittelalter ein allgemeiner Rückschritt gegenüber dem Altertum auf allen Gebieten, die nicht dem religiösen angehören. Genau so bewirkte die falsche Einschätzung der Wissenschaft im 19. Jahrhundert einen Niedergang, gegenüber den vorhergehenden Perioden, auf allen nicht-wissenschaftlichen Gebieten. Beide Arten des Niedergangs wären aber offenbar zu vermeiden gewesen, wenn der Sinn der Wissenschaft und Religion rechtzeitig erkannt worden wäre. Denn wo der Mensch verstanden hat, dort schlägt seine Schicksalsbestimmtheit in Schicksalsbestimmung um. – Und nun ein zweites Beispiel der Bedeutung der Einstellung, das dem Verständnis unseres besonderen Ziels noch näher führt. Dieses liefert die anthroposophische Bewegung. Daß ich dieser, soweit sie Erkenntniserweiterung anstrebt, positiv gegenüberstehe, habe ich schon an anderer Stelle gezeigt Vgl. meine Studie Für und wider die Theosophie in Philosophie als Kunst. – Ich leugne gar nicht, daß tiefe Geister durch die Anthroposophie in ihrer Tiefe befruchtet werden können: wer von Hause aus tief ist, dem bezieht sich alles unwillkürlich auf sie zurück. So glaube ich Rittelmeyer (vgl. dessen Aufsatz in der Tat vom September 1921) gern, daß er durch Steiner als Religiöser weitergekommen ist. Was ich im Folgenden bestreite, das ist, daß die Einstellung der Anthroposophie als solche zur Vertiefung führt. Um letztere zu erzielen, wird sie sich entsprechend dem, was ich hier ausführe, umstellen müssen, und dazu sind viele ihrer besten Anhänger schon im Begriff. Einige von diesen erwecken neuerdings den Anschein, als ob sie den Impuls nicht Dornachs, sondern Darmstadts in sich aufgenommen hätten (dieses selbstverständlich völlig unbewußt). Nun, eben damit wenden sie sich von dem ab, was die anthroposophische Bewegung als solche macht. Denn wer unmittelbar aus der letzten Tiefe lebt und diese zugleich versteht, vertritt, einerlei welcher Sekte er angehören mag, eben das, was wir hier wollen.; ich verfolge auch ihr unaufhaltsames Eingreifen in die soziale und pädagogische Praxis wohlwollenden Blicks, denn an den Tatsachen des Lebens wird sich am schnellsten erweisen, wie weit sie wissenschaftliche Wahrheit vertritt. Anders steht es mit meiner Bewertung der anthroposophischen Bewegung, soweit diese einen fortschrittlichen Impuls ins Leben hineintragen will. Nehmen wir an, sämtliche neue Tatsachen, deren Dasein Steiners Geisteswissenschaft behauptet, seien richtig bestimmt; in dem Falle bereicherte diese die Erkenntnis um mehr Neues, als je vielleicht durch Forschung geschah. Ob sie damit aber einen Fortschritt einleitet, oder nicht, hängt nicht davon ab, sondern von ihrer Einstellung zu den neuen Tatsachen. Auf Tatsachen als solche ist überhaupt keine Bewegung zu begründen; in diesem Zusammenhang bedeutet die Wiederverkörperung nicht mehr wie das Einmaleins. Treffen die sachlichen Behauptungen der Anthroposophen zu, so wird man sie bald ebenso selbstverständlich anerkennen, wie die von der Drehung der Erde um die Sonne, und alle nur möglichen Bewegungen werden insofern übereinstimmen. Eine Bewegung wird ausschließlich durch ihre Einstellung zu den Tatsachen charakterisiert; diese allein gibt ihr Eigenart und Sinn. Die der Anthroposophie ist nun die denkbar unglücklichste: sie ist das Kreuzungsprodukt von zwei als verfehlt erwiesenen und historisch überholten Einstellungen. Die eine ist die bereits behandelte des jüngst verflossenen wissenschaftlichen Zeitalters. Rudolf Steiner vertritt sie persönlich durchaus. Für ihn gibt es, was immer er behaupte, ausschließlich wissenschaftliche Probleme, denn auch das Goethesche Schauen, dessen Fortentwickler er sein will, führt phänomenologischer und nicht metaphysischer Erkenntnis zu, von der Selbstverwirklichung zu schweigen. Deshalb bemerkt er am Geistigen nur das, was ich dessen Außenansicht heiße, läßt er jegliches Verständnis für den Sinn vermissen. Ebendeshalb erwartet er ganz natürlich, daß die neuen Erkenntnisinhalte, die er vermittelt, als solche eine Erneuerung bringen müssen. Zur Metaphysik und Religion hat Steiner, trotz seiner bedeutenden philosophischen Begabung, kein anderes Verhältnis, wie irgendein typischer Naturwissenschaftler der neunziger Jahre, denn dies ist eine Einstellungsfrage. Wenn also Wissenschaft überhaupt keine Erneuerung bringen kann, so gilt dies auch von der Anthroposophie. Hier nun setzt, das Verhängnis verschlimmernd, deren zweiter Fehler ein. Nur sehr wenige – soviel ich weiß, kommt unter bekannten Steinerianern bisher nur Rittelmeyer in Frage – wissen von den neuen Tatbeständen aus Erfahrung. Den anderen wird gelehrt, ihren Führern zu vertrauen, im übrigen aber deren Mitteilungen denkend zu verarbeiten – auf diesem Wege kämen sie der Wahrheit näher. Ganz gleich nun, ob die Offenbarungen Steiners vielleicht sämtlich buchstäblich zutreffen; ganz gleich, ob das Bedenken fremder Schauung vielleicht wirklich die geistigen Organe auf die Dauer zur Ausbildung bringt: diese Praxis führt notwendig zur Wiedergeburt der Mentalität des späteren Mittelalters, der Mentalität, die durch die beiden Koordinaten des Offenbarungsglaubens und des scholastischen Denkens bestimmt wurde. Es entsteht also eine Zurückbildung der geistigen Persönlichkeit in der Richtung der Unselbständigkeit. Sofern wir rechtmäßig vom Mittelalter bis zur Neuzeit ein Fortschreiten feststellen, beruht dieses auf der Verselbständigung der Persönlichkeit; eben um diese haben alle sich folgenden Jahrhunderte von der Renaissance und Reformationszeit an gekämpft. Der anthroposophische Impuls hingegen bildet, was immer er wolle, die, welche er trifft, typischerweise zu Scholastikern zurück, welche dadurch nicht besser werden, daß ihre besondere Art überdies die Erbschaft des naturwissenschaftlichen Materialismus in sich trägt; er muß es tun, weil er falscher Einstellung entspringt und diese sowohl den Tatsachen ihren Sinn wie der Persönlichkeit ihren Charakter gibt. Der Anthroposoph ist physiologisch Dogmengläubiger; sein Bewußtseinszentrum liegt nicht in seinem frei-schöpferischen Selbst; je begabter er sonst ist, desto scholastischer mutet sein Denken, desto jesuitischer sein Handeln an. Deshalb möge die Anthroposophie, noch einmal, soviel neue Wahrheiten vermitteln, wie sie nur will und kann: als Bewegung kann sie zu nichts Gutem führen. Oder milder ausgedrückt: nur insofern kann sie zu Gutem führen, als sie ein historisch vielleicht notwendiges Durchgangsstadium Vgl. hierzu Philosophie als Kunst S. 242 ff. darstellt und sich als solches selbst überwindet. Halten wir dieser ungünstigen Wirkung Rudolf Steiners die ganz unglaublich steigernde eines anderen Lebenden gegenüber, die, weil sie auf keinen neuen Geistesinhalten beruht, nur selten verstanden wird: ich meine die Rabindranath Tagores. Während seines Aufenthalts in Deutschland hielt sich Zeitung über Zeitung darüber auf, wie wenig Neues er gesagt hätte. Wie sollte er? Tagore ist tief, und zu allen Zeiten haben die ganz Tiefen grundsätzlich Gleiches gelehrt. Träte Gottvater plötzlich unter uns, so hätte er schwerlich solcherlei »Neues« zu sagen, was unsere Buchstabenklauber befriedigen könnte; aller Wahrscheinlichkeit nach würde Er nur die Lehren der Bibel wiederholen ... Tagores Wirkung beruht nicht auf seiner Geistigkeit, die keine unerhörte ist, auch nicht auf seinem dichterischen Wert, über den sich streiten läßt; sie beruht ganz und durchaus auf seiner Tiefe. Und dies will sagen: die altbekannten Geistesinhalte, welche, sachlich betrachtet, auch ein schlechtes Feuilleton vertreten mag, bedeuten in seinem Falle Anderes, Neues. In seinem Fall bringen sie Sinneszusammenhänge zum Ausdruck, welche sonst nicht in die Erscheinung eingreifen. Durch Bereicherung seines Wissensschatzes kommt keiner wesentlich weiter; diese braucht ja nichts Lebendiges in ihm zu bewirken. Wenn einer jedoch ein religiöses Erlebnis hat, wenn ihm eine metaphysische Einsicht persönlich aufleuchtet, dann offenbart sich, ein richtiges Wunder, durch Längstbekanntes hindurch, eine neue geistige Wirklichkeit, nicht anders wie die Liebe dem Leben einen neuen Sinn gibt, der das Alltägliche verklärt. Solches Wunder widerfuhr im vergangenen Sommer denen, die ihre Seele dem Einfluß des großen Inders auftaten. Durch ihn begegnete ihnen recht eigentlich Gleiches, als wenn ihnen selber Tieferes ein« gefallen wäre, denn die Scheidung zwischen den Menschen besteht nur an der materiellen Oberfläche; alle Seelen hängen zusammen; die Vorbilder und Führer sind nur deshalb solche, weil sie bei den Geführten eben die Rolle spielen, wie im Fall eigener Schöpferkraft die Inspiration. Dank Tagore wurden vielen die alten Wahrheiten zum erstenmal verständlich, d. h. sie erfuhren die erforderliche Belebung von innen her (S. 184). Indem sie aber also zum erstenmal verständlich wurden, erschienen sie auch neu. Hiermit wären wir zu einem wesentlichen Begriff der Neuheit gelangt, welcher diese zur Erneuerung doch in Beziehung setzt. Jeder neugeborene Mensch ist etwas absolut Neues, gleichviel wem er ähnlich sieht. Jedes erlebte Gefühl, jede lebendig eingesehene Wahrheit, ja, jedes Leben beginnt in jedem Augenblicke neu, denn ohne unaufhörliche Belebung aus einer Tiefe, die dem Bereich der Erscheinungen nicht angehört, könnte es nicht bestehen. Also schafft die Belebtheit die wahre Originalität. Insofern nun hat Tagore denen, welche ihm hingebend lauschten, nicht Altbekanntes, sondern völlig Neues gesagt: da aus den alten Lehren in seinem Falle andere Geisteswirklichkeiten sprachen, als sonst ins Geschehen eingreifen, so haben jene durch ihn verstanden, was kein kanonischer Buchstabe ihnen je gesagt hatte. – Also liegt das wesentlich Neue, synonym mit dem wesentlich Erneuernden, grundsätzlich niemals auf der Ebene der Tatsächlichkeit, sondern einzig der des Sinnes. Hieraus aber folgt, daß nicht das »Was« eines Gedankens entscheidet, sondern vielmehr das »Wer« dessen, der ihn ausspricht, weil dieses »Wer« über den Bedeutungszusammenhang entscheidet, welcher hinter ihm steht. Und hieraus folgt weiter, daß das Niveau der Persönlichkeit letztlich den Sinn erschafft.

 

Niveau ist das auf den Tiefenwert hin qualifizierte Wort für Einstellung. In früheren Betrachtungen ist die ausschlaggebende Bedeutung des Niveaus schon oft behandelt worden (vgl. besonders S. 372 ff.). Heute, im Zusammenhang mit dem konkreteren Einstellungsbegriff, dürften die letzten Mißverständnisse sich erledigen. Die Niveaufrage geht der nach sämtlichen abstrakt zu bestimmenden Werten unbedingt vor, weil solche das Dasein eines Sinneszusammenhanges, dessen Bezugszentren sie versinnbildlichen, immer schon voraussetzen, und deshalb niemals letzte Instanzen der Orientierung abgeben können. Gut, böse, wahr, falsch, echt, unecht usw. bedeuten jedesmal anderes, je nachdem, um welches Niveau es sich handelt. Quod licet Jovi, non licet bovi. Si duo faciunt idem, non est idem. Diese uralten Erkenntnisse sind dahin zu erweitern, daß das Bedeutendere, weil Tiefere nur durch ein höheres Seinsniveau in die Welt gesetzt werden kann. Nur dieses schafft das feststehende Bezugszentrum, das den Begriffen und Worten den gemeinten Sinn erhält; wo dieser fehlt, straft das erste konkrete Mißverstehen die abstrakte Größe der Worte Lügen. Denken Sie von hieraus nun – meine Wiederholungen sind alle wohlbedacht: sie dienen dem lebendigen Verstehen, um das allein es mir hier zu tun sein kann – an die Lehren von Adler und Jung zurück. Jener zeigt, daß die Tatsachen des Lebens sich aus der geistigen Zielsetzung ableiten, nicht umgekehrt, dieser, daß die Ureinstellung den psychischen Tatbestand schafft: dieselben Lehren, tief erfaßt, lassen uns ganz verstehen, weshalb Männer wie Buddha, Konfuzius, Christus, welche in äußerlichem Verstände keine Originale waren, als Erneuerer gewirkt haben – und zugleich auch, weshalb ihre Größe von Verstandesmenschen kaum je begriffen wird, bis das Prestige des Ruhms die Ebene der Diskussion verschiebt. Auf der diesen allein faßlichen Ebene der Tatsächlichkeit ist wirklich nichts Besonderes, wie man sagt, an ihren Lehren festzustellen. Zumal diejenige Buddhas klingt ausgesprochen trivial; von einem törichten Menschen, oder auch nur in abstracto dargestellt, macht die Lehre vom Leiden den Eindruck des vielleicht Unbedeutendsten, was je gelehrt wurde. Liest man Buddhas Predigt indessen im Original oder in in der diesem gleichwertigen Verdeutschung Karl Eugen Neumanns Die bei R. Piper in München erschienenen Reden Gotamo Buddhos gehören in jede Bibliothek der deutschen Klassiker hin« ein. Überdies, gleich der Bibel, selbstverständlich in die jedes religiös Interessierten., so vergißt man vollständig, daß diese sachlich Gleiches sagt: man fühlt sich unmittelbar von einer gigantischen Persönlichkeit berührt, die aus der letzten Wissenstiefe redet und die bestimmbare Lehre nur als beinahe beliebiges Ausdrucksmittel nutzt. In kleinerem Maßstab gilt dies in jedem Fall, wo ein Lebendiger spricht. Vergleichen Sie das lebendige Wort eines solchen mit dem getreuesten Stenogramm, so werden Sie in der Mehrzahl der Fälle gerade das, was der Redner Ihnen gab, nicht wiederfinden. Die eigentliche Wirkung eines Menschen beruht unter allen Umständen auf der Magie der Persönlichkeit, und wirkt diese durch die der Schrift hindurch, so bedeutet dies eben, daß diese mehr sagt, als ihr nachweislicher Buchstabe enthält Wundervoll analysiert Bergson eine Seite dieses Tatbestandes in seiner Essay Sammlung L'énérgie spirituelle (S. 48 ff.): »Laissez de côté les reconstructions artificielles de la pensée, considérez la pensée même; vous y trouverez moins des états que des directions, et vous verrez qu'elle est essentiellement un changement continuel et continu de direction intérieure, lequel tend sans cesse à se traduire par des changements de direction extérieure, je veux dire par des actions, et des gestes capables de dessiner dans l'espace et d'exprimer métaphoriquement, en quelque sorte, les allées et venues de l'esprit. De ces mouvements esquissés, ou même simplement préparés nous ne nous apercevons pas, le plus souvent, parceque nous n'avons aucun intérêt à les connaître; mais force nous est bien de les remarquer quand nous serrons de près notre pensée pour la saisir toute vivante et pour la faire passer, vivante encore, dans l'ame d'autrui. Les mots auront beau alors être choisis comme il faut, ils ne diront pas ce que nous voulons leur faire dire si le rythme, la ponctuation et toute la choreographie du discours ne les aident pas à obtenir du lecteur, guidé alors par une série de mouvements naissants, qu'il décrive une courbe de pensées et de sentiments analogue à celle que nous décrivons nous-mêmes. Tout l'art d'écrire est là. C'est quelque chose comme l'art du musicien; mais ne croyez pas que la musique dont il s'agit s'adresse simplement à l'oreille comme on se l'imagine d'ordinaire. Une oreille étrangère, si habituée qu'elle puisse être à la musique, ne fera pas de différence entre la phrase française que nous trouvons musicale et celle qui ne l'est pas, entre ce qui est parfaitement écrit en français et ce qui ne l'est qu' approximativement: preuve évidente qu'il s'agit de tout autre chose que d'une harmonie matérielle des sons. En réalité, l'art de l'écrivain consiste surtout à nous faire oublier qu'il employé des mots. L'harmonie qu'il cherche est une certaine correspondence entre les allées et venues de son esprit et celles de son discours, correspondence si parfaite que, portées par la phrase, les ondulations de sa pensée se communiquent à la notre et qu'alors chacun des mots, pris individuellement, ne compte plus: il n'y a plus rien que le sens mouvant qui traverse les mots, plus rien que deux esprits, qui semblent vibrer directement, sans intermédiaire, à l'unisson l'un de l'autre. Le rythme de la parole n'a donc d'autre objet que de reproduire le rythme de la pensée.«. Im Höchstfall wirkt die Magie der Persönlichkeit vom Wortlaut unabhängig. Dies gilt von den Aussprüchen Christi, von welchen feststeht, daß er sie so, wie sie uns überliefert wurden, ganz sicher nicht getan hat, sintemalen er aramäisch sprach und deren griechische Fassung keine vollkommene ist. Seine Worte bewähren sich trotzdem als magische Kräfte kosmischen Ausmaßes. Dies liegt wohl daran, daß seine Tiefe eine so große und seine Transparenz eine so absolute war, daß auch das äußerlich »Beliebige« jene zur bleibenden Lebensquelle hat. Doch es ist gut, daß wir gerade zu Christus zurückgelangt sind: worauf beruht der Fortschritt, den dieser einleitete? Daß er nicht auf inhaltlicher Neuheit beruht, sahen wir bereits. Er beruht darauf, daß durch Christi Beispiel eine neue Einstellung zu Gott, Mensch und Welt in die Geschichte eingriff, eine Einstellung, welche tiefer im Sinne wurzelt, als die des gesamten Heidentums, und einem innerhalb des mediterraneischen Kulturkreises bis dahin unerhörten Niveau entsprach. Es ist ganz richtig, daß das Wort in Christus Fleisch wurde: was vor ihm bestenfalls herausgestellte Erkenntnis war, ward in und mit ihm zur lebendigen Kraft.

 

Diese allgemeine Einleitung führt unmittelbar ins Verständnis dessen ein, was die Schule der Weisheit zu Darmstadt will. In dieser spielt sich die praktische Nutzanwendung dessen ab, was jene theoretisch verdeutlichte. Oft wird uns vorgeworfen, daß wir nichts inhaltlich Neues vertreten. Aber das wollen wir auch gar nicht. Unsere Schüler rekrutieren sich aus allen erdenklichen Lagern. Ihre erste Anfrage lautet meist dahin, ob einer, welcher dieser oder jener Glaubensanschauung, diesem oder jenem philosophischen System, diesem oder jenem politischen Programme anhängt, bei uns willkommen sei. Und die erste, so oft verblüffende Antwort, welche sie vernehmen, ist die, daß uns sämtliche Ansichten, Gedanken und Anschauungen – also das Wichtigste vom Standpunkt des Intellektuellen – bis auf weiteres gleich sind. Uns kommt es einzig darauf an, was beliebige Anschauungen im Einzelfall bedeuten. Uns sind alle Geistesgestaltungen, welche wir vorfinden, gleichwie auch jeder gegebene empirische Charakter, nur Rohmaterial. Der sachliche Wert des Empirischen bekümmert uns nicht, von unserem Standpunkt gehört dieser ins Gebiet der Grammatik. Nur darauf geben wir acht, welcher Sinnestiefe das jeweilige Empirische entspricht oder entsprechen kann, denn darauf allein kommt es vom Standpunkt wesentlichen Fortschritts an. Dementsprechend weisen wir alle ab, die in der Schule der Weisheit anderes suchen. Wer da nach Wissenserweiterung strebt, wird an die Universität verwiesen, wem es um Glauben zu tun ist, an Kirche und Theosophie; wer politisch wirken will, an die betreffenden Parteiorganisationen. Und auch hier fragen wir nicht nach dem sachlichen Wert der betreffenden Anstalten, sondern einzig darnach, inwieweit die jeweiligen den Anlagen des Betreffenden entsprechen. Ein Politiker, welchem mein überparteilicher Standpunkt einleuchtete, wollte aus seiner Partei, in welcher er eine wichtige Stellung einnahm, austreten. Ich widerriet es ihm gerade vom überparteilichen Standpunkt aus: es kann nie genug tiefe Menschen innerhalb der einmal bestehenden Organisationen geben, und zwar aller ohne Ausnahme. Gleichsinnig kommen auf den Tagungen der Gesellschaft für freie Philosophie die verschiedensten Anschauungen und Konfessionen zu Wort. Dennoch dürfte keiner, der einer solchen beiwohnte, den Eindruck eines verwaschenen Eklektizismus mit nach Hause genommen haben. Was die Schule der Weisheit vertritt, ist eine neue Einstellung zu beliebigen Geistesinhalten. Sie, als erste aller Anstalten der Geschichte, legt den Nachdruck bewußt darauf, was zu aller Zeit allein, von den Anfängen der Menschheitsgeschichte an, einen inneren Fortschritt eingeleitet und bedeutet hat: die Bedeutung als Schöpferin aller Tatbestände, die Einstellung als Gradmessers der Tiefe und Richtigkeit der Sinneserfassung, und des Niveaus als letztentscheidenden Werts.

Jetzt brauche ich nur mehr an den theoretischen Einsichten anzuknüpfen, die Ihnen von früheren Vorträgen her bekannt sind, und diese auf das Praktische hin auszudeuten, um das Wollen der Schule der Weisheit sowohl allseitig wie eindeutig zu bestimmen. Um jedoch verständlich vom Bisherigen zum Weiteren überzuleiten, will ich den Satz, daß ein Gedanke Verschiedenes bedeutet, je nachdem wer ihn ausspricht, noch einmal auf rein abstraktem Gebiete nachweisen. Worauf beruht die Bedeutung Kants? – Auf keine Weise gelingt es, seine Lehre aus deren Teilinhalten und Sonderfeststellungen abzuleiten, die er zum überwiegenden Teil aus dem Wissensschatz der Menschheit übernahm. Umgekehrt folgt sie notwendig, aus einem Guß, aus Kants Fragestellung. Dies ist so sehr der Fall, von wegen der vollendeten Durchorganisiertheit seines Gedankenbaus, daß sich die Paradoxie verfechten ließe: auch ein Fremder, welcher nur jene so vollständig begriff, daß er unwillkürlich von ihr aus zu denken fähig geworden wäre, hätte die Kritiken, so wie sie vorliegen, schreiben können. Kant fragte vorausgesetzt, daß es Erfahrung gibt, wie ist diese möglich? Vorausgesetzt, daß die Wissenschaft gültige Erkenntnisse vermittelt, wie ist dies ohne Vorurteil zu verstehen? Aus dem also geschaffenen besonderen Gesichtswinkel erscheinen nun auch die sonst bekanntesten Tatsachen und Wahrheiten neu, denn sie werden in einen Sinneszusammenhang hineinbezogen, dank dem sie Neues bedeuten. Aber dieser Zusammenhang ist auf der Ebene des Buchstabens auf keine Weise festzustellen; dieser gegenüber stellt er ein a priori dar. Nur wer Kants Fragestellung unmittelbar als solche erfaßte, vermag die Welt auf kantisch zu sehen. Bedeutet dies nun, daß Kant die Welt versubjektiviert hat? Es würde solches bedeuten, wofern er seine Fragen falsch gestellt hätte. Er hat sie aber richtig gestellt, d. h. sinngemäß sowohl auf das reale erkennende Subjekt und dessen Wollen als die reale zu erkennende Natur hin, und eben deshalb hat er den entscheidenden Fortschritt in der Philosophiegeschichte eingeleitet, hinter den kein Denker seither, welcher zählt, zurückgegangen ist, möge er im besonderen noch so anderes lehren. Man kann nämlich jede Frage, die ein gegebenes Subjekt mit einem gegebenen Objekt in bestimmter Richtung in Beziehung setzen will, nur auf eine Weise richtig stellen. Nur in diesem einen Falle erhält man die dem Sinn der Frage entsprechende Antwort. Und da es sich beim Erkennen um Verstehen handelt, welches immer nur auf die Bedeutung gehen kann (S. 21), so ist die Einfügung in den Sinneszusammenhang des Lebens, deren Art eben auf der Art der Fragestellung beruht, das entscheidend Wichtige, denn nur auf die Voraussetzung des Lebens bezogen haben Erkenntnisfragen überhaupt Sinn. So ist Kants Größe und Bedeutung tatsächlich durch die Art seiner Problemstellung eindeutig zu bestimmen. – Fragestellung auf abstraktem Gebiet bedeutet offenbar genau das gleiche wie Einstellung auf dem des Lebens. Aber jene führt zu dieser. Jeder Einstellung entspricht nämlich auf geistigem Gebiet eine besondere Fragestellung oder genauer: das Stellen, in jeder Situation, von Hause aus bestimmter Fragen und solcher allein. Hieraus ergibt sich die grundsätzliche Möglichkeit, durch entsprechende Fragestellung die Einstellung zu beeinflussen, also durch scheinbar Abstraktes Konkretes zu erzielen, denn ganz verstanden wird jene erst von dieser her, so daß das Eintreten des Verständnisses von Besonderem zugleich das des dieses bedingenden Allgemeineren bedeutet. In einem Sinneszusammenhang ist alles so eng verbunden, daß das Äußerste immer zugleich das Innerste in Mitleidenschaft zieht. Rekapitulieren wir nun im Geist unsere Betrachtungen über antikes und modernes Weisentum auf die schöpferische Bedeutung des Logos hin, und verknüpfen wir sie mit den heutigen über den Weg der Psychoanalyse, so erweist sich die grundsätzliche Möglichkeit zugleich als eine praktische: die metaphysische Lehre der Inder, daß Wissen Erlösung sei, ist auf dem ihr korrespondierenden empirischen Gebiet als richtig erwiesen. Verstehen bringt erwiesenermaßen Heilung. Ein in seinen Ursachen erkannter Komplex bricht auf; wird der durch verdrängte Vorstellungen verrückte Sinneszusammenhang des Seelenlebens durchschaut, so schiebt er sich selbst zurecht. Hier wirkt der Logos bis in die physische Sphäre ein. Desto mehr Macht muß er auf die geistig-seelische haben. Überall aber ist der Weg richtiger Fragestellung eben der, welcher die Einstellung beeinflußt. Jene allein führt zur Sinneserfassung. Nun aber gelangen wir zur Feststellung einer weiteren Korrespondenz. Wie der konkreten Einstellung auf abstrakt-geistigem Gebiet die Fragestellung entspricht, so entspricht der Sinneserfassung auf diesem die Gesinnung auf vitalem. Daß solche vornehmer oder gemeiner, tiefer oder oberflächlicher sein kann, ist niemandem neu. Aber worüber sich nicht alle klar sind, das ist die Wahrheit, daß Gesinnung in ihrer Verschiedenwertigkeit den verleibten Ausdruck von Verstehen darstellt – der Edlere, Bessere, Tiefere versteht besser als der Stumpfe und Schlechte. Denken Sie an die Ergebnisse zurück, zu denen uns die Analyse der wahren Bedeutung Christi führte (S. 258): nicht dessen Liebe als solche, sondern das tiefere Verstehen, das sich durch diese hindurch manifestierte, hat die Welt verändert; nicht seine besondere Lehre, sondern die tiefere Einstellung, die sie zum Ausdruck brachte, wodurch Altbekanntes einen völlig neuen Sinn erhielt, hat einen entscheidenden inneren Fortschritt eingeleitet. Die neue Gesinnung Christi war der Ausdruck tieferer Sinneserfassung. Umgekehrt stellt diese sich in jedem konkreten Fall als neue Gesinnung dar, denn solche bedeutet eben das Fleischwerden des Worts in dem Verstand, daß alle Lebensäußerungen aus dem tiefsten Verstehen hervorgehen. Ob die jeweiligen sich ihres logoshaften Seinsgrundes bewußt sind, tut nichts zur Sache: instinkt-, gefühls-, empfindungsmäßiges Wissen ist kein schlechteres als das verstandesgemäße. Ist dem nun also, dann muß Gesinnung als solche auch übertragbar sein, und zwar gerade vom Verstehen her, denn der Logos ist das Prinzip der Übertragbarkeit (S. 264). Dann ist das Ziel der Schule der Weisheit, unmittelbar eine tiefere Einstellung, die sich als edlere Gesinnung, zuletzt als höheres Seinsniveau in der Erscheinung ausprägen soll, zu lehren, zweifelsohne grundsätzlich erreichbar. Allerdings aber nur auf ihrem besonderen Weg. Das Wort wird zum Fleisch nur auf dem Wege persönlichen Verstehens, denn nur Verstehen, als Gegensatz zur Wissensaufnahme, ist ein schöpferischer Vorgang. Es geht von innen nach außen. Darum kann es der Schule der Weisheit niemals um Vermittlung sachlichen Wissens zu tun sein, sondern einzig um persönliche Beeinflussung des Menschen. Hiermit wären wir denn zur Grundthese der Betrachtung, daß es nicht darauf ankommt, was einer, sondern wer etwas sagt, zurückgelangt. Geht ein Ausdruck aus persönlichem Verstehen hervor, dann bedeutet er anderes als sonst. So mag man geradezu das Paradoxon verfechten, daß zwei Menschen, welche sachlich Gleiches behaupten, der eine jedoch aus innerem Verstehen heraus und der andere nachplappernd, sich viel mehr voneinander unterscheiden, als zwei gleich Tiefe, die an der Oberfläche Entgegengesetztes vertreten. Denn vom Standpunkt der Weisheit kommt alles auf die Einstellung, synonym mit Niveau und Gesinnung an.

 

Die Schule der Weisheit hat es unmittelbar mit der Pflege der Einstellung zu tun, sowie mit dem, was sich aus dieser unmittelbar ergibt. Mit nichts anderem, weil sie das letzte geistig Faßbare an unserem Wesen bedeutet, weil sie über alles Tatsächliche entscheidet, recht eigentlich die Angel der Welt für uns bedeutet. Jetzt fragt es sich: läßt sich Einstellung als solche verständlich pflegen? Denn auf der Ebene der Tatsachen ist sie ja niemals festzustellen und dem, welcher keinen unmittelbaren Zugang zum Reich des Sinnes hat, nicht mitzuteilen, wie allein schon das fortdauernde Mißverstehen Kants beweist. – Vor unserer Zeit war das Ziel der Aufgabe der Schule der Weisheit allerdings unerfüllbar. Bis zu unserer Zeit war der Verstand zu undifferenziert, um eine Fragestellung zu fassen, welche den Sinn aus den jeweiligen Buchstaben herauszulösen gestattete. Und da entsprechende Fragestellung den einzigen Weg darstellt, durch das denkende Bewußtsein hindurch auf die Einstellung einzuwirken, so war das lebendige Ziel, das sie verfolgt, als allgemeines nicht herauszustellen, so viele einzelne Große es schon im Laufe der Jahrtausende erreicht haben – denn sein Sinn ermangelte der Übertragbarkeit. Allen Zeiten bis zur heutigen war Platos Wahrheit mit deren zeitlicher Fassung Vgl. über diesen besonderen Punkt die Vorrede zur ersten Auflage meiner Unsterblichkeit., diejenige Jesu mit einer bestimmten Dogmatik identisch, das als erstrebenswert erkannte Niveau mit der Tatsächlichkeit des großen Menschen, der es einmal verkörperte. Anstatt, um den letzteren historisch besonders wichtigen Fall zwecks größerer Verdeutlichung herauszugreifen, einzusehen, daß die Bedeutung eines großen Menschen für andere in der Vertieftheit seines Wesens als solcher besteht, einer Vertieftheit, welche grundsätzlich jedem erreichbar ist und welche jener nur zuerst als erreichbar erwies, weswegen jeder auf seinem Wege nach ihr streben soll, frönten alle früheren Zeiten dem Wahn, der bestimmte einmalige Mensch sei eben das ewige Vorbild. Hieraus ergab sich, logisch genug, die Forderung, diesem nachzuahmen. Doch man stelle sich an wie man will: man kann keinem andern wirklich nachahmen; jedermann muß doch sein eigenes Leben leben. Deshalb hat buchstäbliche Nachfolge auch der Allergrößten, wo sie tatsächlich stattfand (meist beugte Selbsttäuschung dem Verhängnis vor), Verbildungen und Rückschritte verursacht. Heute nun ist die westliche Menschheit in Gestalt ihrer Vorhut der Unfähigkeit, Sinn und Buchstaben zu trennen, objektiv entwachsen. Heute sind die Verstehensorgane der zur geistigen Führerschaft berufenen Schicht bis zu dem Punkte ausgebildet, daß der tiefere Sinn, der hier vertreten wird, einleuchten, mehr noch: zum Verstehensmittelpunkte des Bewußtseins werden kann. Unsere Zeit hat grundsätzlich das vierte Sprachenstockwerk erstiegen (S. 31). Demgemäß ist eine neue Grundeinstellung zu allen Problemen des Lebens historisch möglich, was praktisch besagt: es genügt, daß die betreffenden Möglichkeiten und Notwendigkeiten von irgendjemand klar gefaßt werden – und bald vertritt alle Welt sie als Selbstverständlichkeiten; es genügt, daß irgend jemand zur Verwirklichung des Möglichen das Beispiel gibt – und diese beginnt bald allenthalben. Aber das Beispiel muß eben gegeben werden; ohne Columbus wäre auch das Columbusei unaufgestellt geblieben. Diese eine Erwägung erweist die historische Notwendigkeit der Schule der Weisheit. Die erforderliche neue Grundeinstellung wird dadurch in ihr begründet und gepflegt, daß grundsätzlich die ihr entsprechende Fragestellung und sie allein bei allen Einzelproblemen angewandt wird. In der Schule der Weisheit wird niemals gefragt: was denkt einer, sondern was bedeuten seine Gedanken; nicht was tut einer, sondern was bedeuten seine Taten; nicht was ist jemand, sondern was bedeutet, d. h. wer ist er? Entsprechend anders stellen sich die praktischen Probleme. Es handelt sich um eine grundsätzliche Verschiebung des Niveaus.

 

Über den besonderen Weg und das konkrete Ziel der Schule der Weisheit werde ich morgen und übermorgen sprechen. Heute nur das Grundlegende. Was ergibt sich als letztes und wesentliches Meinen und Wollen einer Anstalt, deren Einstellung durch die Koordinaten der Sinneserfassung und Sinnesverwirklichung bestimmt wird, wenn dieses Meinen und Wollen nunmehr in den Wandel der historischen Gestaltungen eingereiht betrachtet wird? – Keine besondere Lehre, die sie vertritt, kann ihr letzte Instanz sein. Sie meint Tieferes. Sie meint unmittelbar das Ewige jenseits des Zeitbedingten, das sich zu diesem verhält, wie der Sinn zum Ausdruck. Nur meint sie dieses grundsätzlich im Körper des Zeitlichen, nicht außerhalb seiner. Deshalb verleugnet sie andrerseits gar nichts Zeitbedingtes. Auch die geistigen Gestaltungen des Lebens gehören der Naturordnung an, lassen sich, genau wie die physischen, nach Arten und Gattungen unterscheiden, und diese sind grundsätzlich unsterblich. Unsterblich sind jedenfalls ihre Grundtypen. Bei der katholischen und protestantischen Einstellung Vgl. über Katholizismus und Protestantismus als von der Konfession unabhängige religiöse Typen mein Reisetagebuch. Über Protestantismus im weitesten Verstand enthält Leopold Zieglers Ewiger Buddho sehr Beherzigenswertes. Vor allem aber ist in diesem Zusammenhang das Buch meines Mitarbeiters Erwin Rousselle Mysterium der Wandlung (Darmstadt 1922) einzusehen., bei der des Idealisten und Positivisten, des Radikalen und des Konservativen handelt es sich um primäre Ausdrucksformen des Innenlebens, welche als solche bis zum Ende der Zeiten immer wieder vorkommen werden, von den noch tiefer wurzelnden, einander ausschließenden Einstellungen des Introvertierten und des Extravertierten Vgl. C. G. Jungs Psychologische Typen. zu schweigen. Die besonderen Zeittypen nun sind freilich sterblich, aber sie leben erstens so viel länger fort, als die meisten glauben, daß man noch heute, in bestimmten Kreisen, echten Vertretern des 18. Jahrhunderts, der Reformationszeit, des Mittelalters, ja des antiken Heidentums begegnet (im treueren Osten reicht das Rassengedächtnis noch viel weiter zurück) – es ist praktisch zwecklos, gegen sie Krieg zu führen, weil sie, so lange sie dauern, psychischen Festlegungen entsprechen, die das Sosein des Ausdrucks auch des neuesten Sinnes, den man ihnen einbilden mag, unter allen Umständen entscheidend bestimmen. Vor allem aber ist es, vom Standpunkt der Weisheit, sinn« los, die Zeittypen zu bekämpfen. In jedem Falle handelt es sich, bei diesen Bestimmungen, nur um Sprachen, in deren jeder sich das Tiefste sagen läßt. Nur letzteres kann und will die Schule der Weisheit lehren. Da deren ideeller Ort im Reich des reinen Sinnes liegt, so kann sie eben des« halb keiner bestimmten Religion, keiner bestimmten Philosophie, keiner bestimmten politischen Willensrichtung, so« fern diese auf ihrer Ebene haltbar sind, feindlich gegen« überstehen. Ihr Bestreben ist vielmehr, jeder ein Tieferes einzubilden und bewußt zu machen: ihren tiefsten Sinn, ihren όγος σπερματιχός. Sie will keinem etwas nehmen, der sie besucht, jedem vielmehr etwas hinzugeben, was er vorher nicht hatte. Sie zeigt, was die verschiedenen Gestaltungen bedeuten oder bedeuten können, und flößt ihnen damit ein tieferes Leben ein. Denn es ist ja ihr Sinn, nicht ihr Dogma, der jede Religion wie jede soziale und politische Gestaltung am Leben erhält –ist jener abhanden gekommen, dann ist diese trotz aller äußeren Veranstaltungen tot (vgl. S. 300). Wenn das nun, was letztlich ausgeführt wurde, das letzte Meinen und Wollen der Schule der Weisheit bedeutet, dann tut diese nichts anderes als, musikalisch gesprochen, die Grundtöne zu den so mannigfaltigen Melodien religiösen, philosophischen, sozialen Geblüts, welche entstanden sind und weiter entstehen, anzuschlagen. Dann hat sie es grundsätzlich mit diesen Grundtönen allein zu tun. Eben hierauf beruht ihre historische Aufgabe. Wir leben in der Zeit der tiefgreifendsten Wandlung, die sich seit zweitausend Jahren auf Erden ereignet hat. Die meisten geistigen und seelischen Melodien erscheinen abgespielt, krampfhaft wird überall nach neuen gesucht, und doch befriedigt keine, welche erfunden wird. Dies liegt daran, daß es überhaupt nicht mehr auf Neuerung, sondern auf Erneuerung ankommt Genauer habe ich diesen Gedanken im News-Yorkabschnitt meines Reisetagebuches ausgeführt. Nur tat ich es dort in anderem Zusammenhang, weshalb ich andere Begriffe anwandte, die an der Oberfläche den hier benutzten zum Teil widersprechen.. Wir sind objektiv bereits zu weit, um irgendeine Gestaltung als letzte Instanz noch ernst zu nehmen. Die Erneuerung kann nur mehr von innen her geschehen, durch Neubelebung des Alten sowohl als Neuen von tieferem Sinne her. Deshalb kommt vom Standpunkt des wahren Fortschritts die Frage an zweiter Stelle, welche alte Melodien man weiterspielen soll oder wiebeschaffene neue hinzuerfinden: zunächst gilt es, die Grundtöne anzuschlagen zu beliebiger Melodie. Hiermit wäre das Wollen der Schule der Weisheit durch eine weitere Korrespondenz und damit endgültig bestimmt. Sie will unmittelbar Niveau schaffen, indem sie durch richtige Fragestellung eine tiefere Einstellung ins Leben ruft. Die tiefere Sinneserfassung verleibt sich alsdann von selbst in entsprechender Gesinnung. Deren letzte Instanz aber bezeichnet keine Sondermelodie des Lebens, sondern dessen tiefster ewiger Grundton.

Die Grundtöne des Lebens bewußt als solche anzuschlagen, ist die historische Aufgabe, die sich der Menschheit heute stellt. Durch allen Melodienwandel hindurch waren jene zu aller Zeit die gleichen. Aber noch nie wurden sie allein vernommen; sie erschienen unloslöslich verquickt mit bestimmter Melodie. Die heutigen Menschen, die alle überkommene verworfen haben, hören jene überhaupt nicht mehr. Ihr Ohr ist durch das Wirrsal dissonierender Gassenhauer beirrt. So müssen sie zunächst die Grundtöne hören lernen. Dies ist die eine Voraussetzung jeder Neuharmonisierung, denn wenn sich das zeitlich-Wandelbare nicht auf das Ewige abstimmt, wird aus dem Chaos nie wieder ein Kosmos werden. Lernen die Menschen jene indessen unmittelbar vernehmen, vernehmen sie schließlieh gar die, deren Abgrundtiefe sie bisher überhören ließ, dann steht ihnen eine Zukunft voller unerhörter Versprechen und Erfüllungen bevor. Die Stürme dieser wilden Zeiten zu beschwören, liegt in keines Einzelnen, auch in keiner Gemeinschaft Macht. Aber ein anderes kann geschehen, und das genügt: wir können inmitten des Sturms jahraus jahrein in mächtigen, reinen Glockenschlagen die Grundtöne erschallen lassen, unbeirrbar und unbeirrt durch alles Gekreische und Geheul. Indem dann der Sturm sich langsam legt, wird der Ruf aus der Tiefe immer lauter und durchdringender erklingen. Was zuerst nur die nächsten vernahmen, werden zuletzt die fernsten hören. Ein immer gewaltigeres Echo wird er in den Seelen finden, unaufhaltsam zuletzt zu deren persönlichem Grundton werden. Dann aber werden die neuen Melodien, die sich in reichster Fülle bilden werden, sich selbstverständlich auf das bewußt erfaßte Ewige abstimmen.

II. Der Weg

Gestern schloß ich mit dem Satz, daß die Aufgabe der Schule der Weisheit letztlich darin besteht, die Grundtöne anzuschlagen zur immerdar sich notwendig wandelnden Lebensmelodie. Ewige Wahrheit ist es, die aller zeitliehen Sinnesgestaltung die Seele einhaucht, gleichwie es das Ewige Leben ist, das alle zeitliche Lebensform belebt. Ich legte also allen Nachdruck auf das Ewige. Betrachten wir aber das gleiche Problem nun praktisch, in bezug auf den Weg zum Ziel, vom gleichen Standpunkt aus, dann erscheint uns vielmehr die Wandelbarkeit der Melodien, Gestaltungen, Lösungen und Ergebnisse als das Urphänomen, weil das zeitliche Dasein seinem eigentlichen Begriff nach in der Ablösung einzigartiger Situationen besteht. In der Tat entspricht dem metaphysisch Wirklichen, dem Ewigen und Universellen auf der Ebene der Erscheinung nicht etwa das abstrakt Allgemeine, sondern das Einzige. Dies wird Ihnen vielleicht am besten einleuchten, wenn ich an einer Erfahrung anknüpfe, die ich zu Anfang meiner praktischen Tätigkeit mit beinahe jedem Schüler machte. Beinahe jeder stellte zuerst die Frage: Was soll man heute tun? und machte von deren abstrakter Beantwortung seine persönliche Zielsetzung abhängig. Dem erwiderte ich regelmäßig: Die Frage, was »man« tun soll, stellt sich überhaupt nicht; ein jeder frage einzig: Was soll ich tun? Denn das »man« ist unter allen Umständen das sekundäre Ergebnis der Summierung von Einzelnen und Einzelentscheidungen, und ein günstiges »man« ergibt sich daraus allein, daß die Mehrheit der in Frage kommenden einzigen Persönlichkeiten den ihrer Eigenart jeweilig gemäßen besonderen Weg erwählt. Ein primäres »man« gibt es nicht. Wer vom »man« aus urteilt und handelt, verschreibt sich einer herausgestellten Abstraktion und verliert eben dadurch den Kontakt mit seinem schöpferischen Selbst Vgl. hierzu Erscheinungswelt und Geistesmacht in Philosophie als Kunst.. Mag eine Antwort auf die allgemeine Frage sachlich noch so richtig sein (denn freilich läßt sich konstruieren, was vom Standpunkt des Wohles aller für die Mehrzahl am wünschenswertesten wäre) – sie ist für jeden Einzelnen falsch, dessen Wesen und Anlagen sie nicht entspricht, denn ein solcher ist außerstande, das äußerlich Zweckmäßige von innen her zu beleben, und darauf kommt alles an. – Von diesem Beispiel her leuchtet die richtige Lösung des grundsätzlichen Problems ohne weiteres ein. In der Region des Sinnes liegt allerdings Einheit der Mannigfaltigkeit zugrunde. Aber deren Exponent in der Erscheinung ist nicht das Allgemeine, sondern das Einzige, weil ein gleicher Sinn, je nach den empirischen Umständen, anderen Ausdruck verlangt. Nur der vermag deshalb das Ewige praktisch zur Geltung zu bringen, welcher die einzigartigen Situationen, die sich ihm darbieten, in ihrer ganzen Eigenart erfaßt und jenes durch diese hindurch realisiert. Eben deshalb offenbart sich das Tiefste nur durch die Persönlichkeit oder das Kunstwerk hindurch, deren jede und jedes einmalig, ausschließlich und einzig ist. Die Region der Allgemeinbegriffe nun liegt mitteninne zwischen dem Ewigen und dem Einzigen. Deren Inhalt bildet sich durch Abstraktion aus vielen Einzigkeiten gemäß der Kategorie der Ähnlichkeit. Folglich hat er gar keinen metaphysischen Hintergrund, sondern nur den des erkennenden Subjekts, welches der Allgemeinbegriffe als Erkenntniswerkzeuge bedarf. Diese stellen deshalb kein Tieferes, sondern ein Oberflächlicheres dar als die konkreten Einzigkeiten. Deshalb wird keine allgemeine Formel je den Sinn ein für allemal erschöpfen, wogegen jede bestimmte es tun kann für den ihr genau entsprechenden bestimmten Fall. – So muß denn das Gleiche, gerade weil und insofern es wesentlich gleich ist, immer wieder verschieden erscheinen. Hieraus ergibt sich die Wandelbarkeit und Wandlungsnotwendigkeit jeder Wahrheit, sofern sie verstanden werden soll. Hieraus ergibt sich die Wandelbarkeit und Wandlungsnotwendigkeit des jeweilig besten Wegs zum Weiterkommen, zum Tieferwerden, zur Vollendung.

 

Damit verschiebt sich denn für uns, gleichwie gestern das Bild der Problemstellung, so heute das des Wegs. Kein bestimmter Weg als solcher kann mehr als für alle heilbringend gelten, denn seine Wirkung hängt von empirischen Voraussetzungen ab. Nur das, was dem Menschen liegt, insofern es seinen Verstehensorganen gemäß ist und sein persönliches Interesse bannt, ruft sein Tiefstes zu freiwilliger Mitwirkung hervor – und ohne solche geschieht nichts von innen her. Die Wirkung katholischer Disziplin setzt insofern katholischen Glauben voraus, diejenige buddhistischer buddhistischen usf. Gleichsinnig wirken zu Selbstvervollkommnungszwecken benutzte Symbole nur insoweit, als sie evident sind, d. h. den letztmöglichen Ausdruck darstellen für einen anders nicht evozierbaren Bedeutungskomplex. Sobald sie, dank inzwischen stattgehabter Differenzierung des Geisteslebens, keine letzten Instanzen mehr darstellen, sind sie wirkungsunfähig geworden. Deshalb hatten buchstabengebundene Zeiten sehr recht, zur Erlangung des Heils Bekehrung zu verlangen – nur auf den Bekehrten, also gläubig Gewordenen wirkt ein bestimmtes Vorstellungssystem sinn- und absichtgemäß. Wir nun, von unserer Stufe aus, stellen die Frage anders und besser: wir verlangen keine Bekehrung zu bestimmter Form zwecks Realisierung des Sinns, sondern wir gehen unmittelbar auf diesen und schaffen ihm alsdann von innen heraus den jeweilig entsprechenden Ausdruck. Nun erweist auch unsere Erfahrung die Zweckmäßigkeit für alle bestimmter, sich immer gleichbleibender Wege und Disziplinierungen. Alle höheren Religionen, alle Systeme der Selbstvervollkommnung unterscheiden z. B. vier Stufen, welche die meisten, wes besonderen Glaubens sie immer seien, in der richtigen Reihenfolge durchsteigen müssen, wofern sie ihr höchstes Ziel erreichen wollen Vgl. alles Nähere betr. Erwin Rousselles Mysterium der Wandlung. Darmstadt 1922.. Desgleichen erweisen sich bestimmte, seit Urzeiten in identischem Zusammenhang immer wieder verwandte Symbole auch im Rahmen der Schule der Weisheit als für alle auf ihrem Wege förderlich. Wie ist dies von unserem Standpunkte aus zu verstehen? Nun, jeder Mensch gehört, unterhalb seiner Person, auch seiner Gattung an. Gewisse Praktiken frommen allen Menschen, gewisse Etappen der inneren Entwicklung durchlaufen notwendig alle, so wie in allen das Blut kreist und alle als Kinder ihr Leben anfangen. Aber ebenso, wie das allgemeine Menschsein in jedem Einzelfall ein besonderes Persönliches bedeutet, so bedeuten die gleichen Etappen und Praktiken auf dem Weg zur Vollendung in jedem Sonderfall Verschiedenes. Wir nun legen von vornherein den Akzent auf die Bedeutung, dadurch aber gewinnt das Althergebrachte einen neuen Sinn. Wir erfinden auch das Ewig-Gleiche jedesmal ad hoc, und dadurch wird es belebt. Es wird ursprünglich, gleichwie jede neugeborene Lebensgestalt ursprünglich ist, wem immer sie ähnlich sehe. Wieviel auf diesen Unterschied ankommt, illustriert am schlagendsten vielleicht der Unterschied zwischen deutscher und englischer Gleichförmigkeit: jene geht jedesmal auf Uniformierung von außen her zurück, deshalb bedeutet und bewirkt sie Mangel an Ursprünglichkeit; sie macht aus dem Organismus ein Fabrikat. Diese ist der Ausdruck tatsächlicher Gleichheit; alle tun Gleiches, weil ihre Ursprünglichkeit jedem Gleiches gebietet – und die Folge dessen ist eine ungeheure nationale Kraft, denn hinter dem »man« steht hier kein Begriff, sondern der persönliche Glaube aller Einzelnen Von hier aus leuchtet am besten ein, inwiefern der Einwand, den ich so oft vernehme, meine »subjektivistische« Lehre, jeder solle nur das Seine tun, untergrabe jedes Gemeinschaftsleben, nicht stichhält. Die meisten Menschen gehören irgend einem allgemeinen und verbreiteten Typus an und sehen sich deshalb von Natur aus ähnlich; deshalb können sie garnicht äußerlich verschiedenartiger werden, indem sie sich verinnerlichen – im Gegenteil, die meiste Exzentrizität und Eigenbrödelei beruht auf Oberflächlichkeit. Der Einwand entspringt sonach reiner Begriffskonstruktion; praktisch ist er gegenstandslos.. Unsere Schüler machen unter anderem dem Buchstaben nach sehr ähnliche Exerzitien durch, wie solche auch in Klöstern betrieben werden, aber da diese bei uns auf einen anderen Sinneszusammenhang zurückbezogen sind, so bewirken sie anderes. Wer die Sinnbilderfolgen, welche hier wie dort meditiert werden, als Ausdruck geoffenbarter Wahrheit auffaßt, der wird durch sie in seiner Konfession gefestigt. Uns gelten sie nur als technische Mittel, das tiefste eigene Innere zu evozieren, und deshalb typisieren sie den Einzelnen nicht vorausgesetzten Vorstellungen gemäß, wie dies Ignaz de Loyolas Exerzitien zumal bei allen jesuitisch Eingestellten wunderbar erreichen, sondern sie verhelfen ihm dazu, sich schneller selbst zu finden. Auch hier kommt auf die Einstellung alles an. Unsere Exerzitanten dürfen gar nicht fragen, was die Symbole an sich bedeuten mögen, wie sie sich zu deren möglichen Interpretationen stellen sollen – sie werden von vornherein auf die Grundtatsache aufmerksam gemacht, daß sie die Bedeutung in die Symbole unter allen Umständen selbst hineinlegen, und es darauf ankommt, sich selbst möglichst tief durch sie hindurch zu realisieren, sowie das Individuum vermittelst seiner allgemeinen Menschennatur bewußt und tatsächlich sein rein persönliches Ziel verfolgt. Unsere Exerzitanten gehen also, im Gegensatz zu jeder Kirche, von der Voraussetzung aus, daß die Symbole, Riten und Lehren an sich gar nichts sagen. Nun, dies verändert offenbar das ganze Bild. Was der Kirche gleichsam Arithmetik ist, ist uns nur Algebra. Wenn der Lehrer sich grundsätzlich so einstellt, daß er das Allgemeingültige dem Einzelnen als persönliche Verordnung mitteilt, so muß die ihm persönlich entsprechenden Zahlen an Stelle der Buchstaben jeder selbst in die Gleichung einsetzen. Das Gleichmäßige, allen Gemäße ist uns nie letzte Instanz, sondern nur die unterste Grundlage. Auf dieser baut sich alsdann der rein persönlich zu bestimmende Weg zur Vollendung auf. Jedoch nicht ohne Übergang. Wie jedermann zunächst Mensch ist, so trägt er auch eine besondere Geschichte in sich, die ihm so sehr lebendige Voraussetzung ist, daß er nichts eigentlich persönlich fassen kann, was seinen historisch erwachsenen besonderen Verstehensorganen entrinnt. Man ist physiologisch Katholik oder Protestant, Buddhist oder Muselmann, wie man physiologisch Franzose oder Deutscher ist. Nur sehr wenige sind so ausschließlich Persönlichkeiten, oder in der Erfassung des Sinns an sich so weit gediehen, daß von diesen Voraussetzungen abgesehen werden darf; nur sehr wenige sind aus der Art geschlagen insofern, als andere historische Grundlagen ihnen gemäßer sind als die ererbten, weshalb sie recht tun, Nationalität oder Glaube zu wechseln. Deshalb frommt Christen indische Praxis selten, gleichviel wie die Betreffenden persönlich stehen, hat nur der Katholik von katholischen Übungen vollen Gewinn usf. Wer also den Menschen zur rein persönlichen Sinneserfassung erziehen will, muß ebendeshalb seine historischen Voraussetzungen, welche immer diese seien, gelten lassen. Überdies nun seine Person, so wie sie einmal ist. Hier darf kein Vorurteil eingreifen: sintemalen das Empirische das einzig vorhandene Mittel ist, um das Überempirische schließlich zu realisieren, so bedarf es absoluter Generosität gegenüber aller persönlichen Eigenart und Unzulänglichkeit. Auch bei den Anlagen und Ansichten handelt es sich ja, vom Standpunkt des Sinnes, nur um ein Alphabet. So wird dem Schüler auch das nachweislich Falsche, was er glaubt und denkt, vorläufig gelassen, damit er innerlich weiterkommt. Nimmt man ihm seine Sprache, so weiß er sich gar nicht mehr auszudrücken, von den störenden Gegenbewegungen ganz abgesehen, die solche Vergewaltigung in jedes Inneren verursacht. Läßt man sie ihm hingegen und stellt ihn im übrigen anders ein, so daß er lernt, auch Glaubens- und Wissenssätze als Sinnbilder seines eigenen noch unerkannten tiefsten Strebens zu lesen, so wächst er gerade durch seine Vorurteile hindurch am schnellsten über sie hinaus. Ich nannte zuerst die offenbaren Vorurteile, weil der wahre Sachverhalt in seiner extremen Fassung das Bewußtsein am stärksten frappiert. Allgemein gilt Gleiches von den besonderen Interessen jedes. Diese sind alle zu bejahen; um keinen Preis darf auf Grund irgendeines vorausgesetzten Wertsystems dieses oder jenes abgetötet werden, denn nur das, was einen Menschen persönlich interessiert, kann zum Medium wesentlichen Fortschritts werden; wo kein Interesse anklingt, treten die lebendigsten Seelenkräfte nicht ins Spiel. Asketische Übungen dürfen nie mehr bedeuten als auf die Kräfte der Person wohlabgestimmte Gymnastikstunden, welche den Seelenkörper stählen und das Niedere dem Höheren dienstbar machen, ohne es an sich zu schwächen. Deshalb lehren wir unsere Schüler nicht, sich für anderes als früher zu interessieren, sondern für das sie gerade Fesselnde auf andere Weise. Wie während der Übungen das Symbol oder die vorgegebene Wahrheitsfassung nicht an sich betrachtet wird, sondern als Mittel, das tiefste Selbst zu realisieren, so lehren wir die Ausnutzung jedes Interesses und bekämpfen nichts weniger dabei als das Abwechslungsbedürfnis, denn gerade die aus diesem sich ergebende immer erneute Umstellung des psychischen Organismus gestattet, dank der Vielheit der gegebenen Koordinaten, den Mittelpunkt genau zu bestimmen. Sobald das Wesen nun beschworen wird, meldet es sich. Und ist es einmal da, so amortisiert sich jeder Ausdruck seiner, welcher ihm nicht entspricht, allmählich von selbst. Auf diese Weise bleiben die sachlichen Irrtümer, welche eine Anschauung enthält, und die zunächst gar nicht berücksichtigt werden, für die Dauer nicht bestehen. Nicht Widerlegung durch andere, sondern durch Verinnerlichung erzielte eigene Einsicht hebt sie auf. So findet die Tiefe, wer immer seine Tiefe auf seinem Wege sucht.

Der Weg, der einen Menschen seinem Ziele zuführt, ist also grundsätzlich wandelbar bis zum Extrem. Je nach seinen historischen und persönlichen Voraussetzungen tut ihm Verschiedenes gut. So mag ein in seiner Art so kindisch unvollkommenes System, wie das der Christian Science, einem intellektuell entsprechend Tiefstehenden das Heil bedeuten. Ein solcher dringt allenfalls durch jenes hindurch zu größerer Tiefe vor, gleichwie so manche wissenschaftlich Verbildete nur durch die Anthroposophie hindurch den Weg zum Geist zurückfinden. So muß der Weg für den Krieger ein anderer als für den Geschäftsmann sein, ein jeweilig anderer für den Religiösen und den Philosophen, denn jede Einstellung setzt implizite ein besonderes Ethos. Das Töten des Soldaten bedeutet nicht Gleiches wie das des Zivilisten, beim Geschäftsmann, in dessen Beruf das allgemeine Lebensgesetz, daß ein Wesen auf Kosten anderer lebt, eine solche Fassung erhält, daß zwischen berechtigtem und unberechtigtem Profit eine sichere Grenze nicht zu ziehen ist, wirken Praktiken nicht demoralisierend, welche die Seele eines Mönches unmittelbar verderben würden. Diese Erkenntnis setzt nun durchaus keinen Relativismus im üblichen Verstand: sie statuiert nur verschiedene Wege zum gleichen Ziel unter Voraussetzung genau entsprechender persönlicher Sonderart; sie geht von der dem Relativisten unfaßlichen Einsicht aus, daß die Wege nur Sprachen sind, vom Sinn fein säuberlich zu unterscheiden. Insofern vertritt gerade die Schule der Weisheit, dem ersten Anschein entgegen, die absolute Wahrheit; sie vertritt diese sogar so unbedingt und rein, wie nie vorher geschah. Die absolute Wahrheit ist auf der Ebene der Erscheinung keinesfalls zu finden; wer aus dem Glauben heraus, jene durch eine bestimmte Formel ein für allemal gefaßt zu haben, das Leben zu bessern unternimmt, der erzielt nur Uniformierung und damit Verflachung und Verdürftigung Vgl. das Kapitel Udaipur meines Reisetagebuchs, in dem ich die besonders wichtige Erkenntnis, daß auch die Werte, auf der Ebene der Erscheinungen, einer auf Kosten der anderen leben, näher ausgeführt habe.. Wenn hingegen Menschen, welche berechtigter- und notwendigerweise die verschiedensten geistigen Sprachen reden, ohne umlernen zu müssen, zu einem gleichen Ziel geführt werden, dann offenbart sich das Absolute zum erstenmal auch praktisch: nämlich in der erkannten Gleichsinnigkeit verschiedenen Strebens, wodurch der Sinn als solcher dem Bewußtsein faßbar wird. Dann offenbart sich auch Nichtmystikern die einzige reale Einheit, welche es gibt, jene wesentliche metaphysische Sinneseinheit, die alle Mystiker und Weisen übereinstimmend gemeint haben, die aber mit abstrakten Allgemeinbegriffen zu fassen nimmer gelingen wird, weil sie ihren empirischen Exponenten an der Einzigkeit hat.

 

Aber diese Einheit, der Wesensgrund aller Verschiedenheit, offenbart sich immer nur in concreto, in jeweiligem lebendigem Verstehen, niemals in einfürallemaliger abstrakter Darstellung, genau so, wie es kein abstraktes einfürallemaliges Leben gibt. Daher die grundsätzliche Unmöglichkeit, für das, was die Schule der Weisheit anstrebt, ein allgemeinverständliches Programm aufzustellen. Die jeweilige Praxis ergibt sich notwendig aus den jeweiligen konkreten Situationen, und wer diese nun auf einen Generalnenner brächte und durch dessen Definition das Wesen zu fassen glaubte, der hätte nichts erfaßt. Auch wer meine sämtlichen Schriften und Vorträge kennte und die allgemeinen Einsichten, welche sie enthalten, auf seinen besonderen Fall nicht anzuwenden wüßte, der hätte vom Standpunkt der Weisheit nichts hinzugelernt, denn diese bedeutet erkenntnisbedingtes Leben; nur um dessen Begründung ist es uns zu tun. Die Schule der Weisheit will und kann keine besondere Lehre vermitteln, denn Weisheit ist keine Sonderdisziplin; ihre Aufgabe ist es, den Vertreter beliebigen Könnens – sei er Theolog, Philosoph, Industrieller, Krieger, Kaufmann – tiefer zu machen und so beliebige persönliche wie sachliche Sondergestaltung auf einen tieferen Sinneszusammenhang zurückzubeziehen. Der Theolog, welcher hier weilte, soll als solcher weiterkommen, nicht etwa fachmäßig »weise« werden usf. Insofern hat die Schule der Weisheit keine andere und keine geringere Absicht als die, ein neues höheres Leben zu zeugen. Deshalb muß sie sich, ob sie mag oder nicht, an die allgemeinen Bedingungen organischer Fortpflanzung halten. Von allen echten Religionen wird das Zusammenwirken von Schrift und Tradition als notwendig anerkannt, weil die Art, wie ein Buchstabe verstanden werden soll, in diesem selbst niemals enthalten ist und auf das Verstehen alles ankommt. Was in der Folge der Generationen die Tradition bedeutet, bedeutet innerhalb jeder einzelnen die lebendige Atmosphäre eines gegebenen geistig-seelischen Mittelpunkts, als des Ergebnisses der summierten lebendigen Einflüsse, die in ihm wirken und von den einzelnen jeweilig in ihr erfahren werden. Also bedeutet, auch wo es sich um Vielheiten handelt, die Einzelsituation die eigentlich letzte Instanz. Aus diesen Erwägungen ergibt sich mit Notwendigkeit, daß die Schule der Weisheit ihrem Wesen nach nur den Weg gehen kann, den sie tatsächlich geht. Ihr Betrieb muß sich letztlich darin erschöpfen, den einzelnen auf seinem spezifischen Weg zu fördern, dies aber kann nur in Form strikter Individualbehandlung geschehen. Alles für viele Bestimmte, was sonst in ihr vor sich geht, bedeutet nur die Vorstufe oder den Weg zu diesem Wichtigsten. Die Exerzitien bereiten zu jener dadurch vor, daß sie dem einzelnen zeigen, wie er es überhaupt anfangen soll, um auf sich selbst vom Ideal her schöpferisch einzuwirken und den allgemeinen Rhythmus des Wegs zur Vollendung in sich anklingen zu lassen. Auf den Tagungen wird durch den Zusammenklang aufeinander abgestimmter Vorträge eine tiefere Grundeinstellung einer Mehrheit wenigstens als Ahnung mitgeteilt. Aber kein Vortrag, es sei denn, es spreche ein dermaßen Begnadeter, daß er die Zuhörerschaft buchstäblich auf sein eigenes Niveau hinaufhebt, wirkt auf den einzelnen verwandelnd, weil der Redner, auf niemanden im besonderen eingestellt, seine eigene Sprache (im weitesten Sinne) redet, welche nur die so weit verstehen, daß sein Wort bis in ihr tiefstes Selbst hineindringt, welchen sein Wesen und sein Ausdruck zugleich kongenial sind. Überdies kann kein von der Distanz des Rednerpults aus Vortragender Mitarbeit erzwingen; wer da einschlafen will, schläft ein. Der Schule der Weisheit ist es nun in erster Linie um diese Mitarbeit zu tun, denn da Verstehen ein schöpferischer Vorgang ist, da das Leben nur durch Sinngebung einen Sinn erhält, so ist gar nichts erreicht, bevor beim Schüler nicht eben dieser Schöpfungsprozeß ein« geleitet ward. Sowenig dies durch Vorträge gelingt, so sicher gelingt es, wenn im Zusammensein zu möglichst wenigen, am besten zu zweien, ein persönliches Kraftfeld geschaffen wird, dessen Rhythmus den Schüler ergreift, wenn innerhalb dieses auf dessen persönliche Sonderinteressen eingegangen und in seiner besonderen Geistessprache zu ihm gesprochen wird. So wird der Weg zur Vollendung individualisiert, dessen Gattungscharakter die Exerzitien dem Schüler realisieren ließen. Selbstverständlich gelingt es bei solchen allein, welche aufrichtig suchen, zu finden hoffen und sich entsprechend aufschließen; aber um solche allein kümmern wir uns. Genau genommen genügt es sogar noch nicht, daß der Schüler ein Suchender sei: er muß unbewußt insoweit schon gefunden haben, daß ihn aktive Sehnsucht treibt, und daß er innerlich bedingte Ziele bereits verfolgt. Denn wie schon Christus aus gleicher Einstellung heraus lehrte: nur wer da hat, dem wird gegeben. Auf ein tiefereres Sinneszentrum ist nur eine schon vorhandene Bewegung zu beziehen, wie nur vorhandenes Leben als Leben zu vertiefen ist. Der »Sinn« ist ja kein Inhaltliches, das sich von außen her mitteilen ließe, sondern das Lebensprinzip des jeweiligen Inhalts. Deshalb gelten der Schule der Weisheit nicht nur alle Inhalte als solche vorläufig gleich – es müssen unbedingt welche vorliegen, damit sie wirken kann. Wer selbst nichts will, dem haben wir nichts zu sagen. Wer da mit völlig leerer Seele käme, dem vermöchte kein Gott sie zu füllen.

Nun noch ein Wort über das Verhältnis der Schülerbehandlung an der Schule der Weisheit zur psychoanalytischen Methode; denn daß hier ein Zusammenhang besteht, geht aus allem Vorhergehenden hervor. – Daß wir anderes erstreben als die »Auf loser« der Seele, liegt auf der Hand; die eigentlich psychoanalytische Technik kommt für uns überhaupt nicht in Betracht. Aber wie verhalten wir uns zu denen, welche die Seele wiederaufbauen, neuzusammenlegen? Äußerlich betrachtet, ist der Unterschied zwischen uns und ihnen oft gering, sowenig wir uns um das Empirische als solches kümmern. Aber wir verfolgen ein anderes Ziel. Uns ist es nicht um die Wiederherstellung des Normalzustandes zu tun, wo dieser verdarb, sondern die Begründung eines höheren Niveaus. Dieses Ziel allein verfolgen wir, und dieses so unbedingt, daß wir sogar zeitweilige Gleichgewichtsstörung als Übergangszustand nicht fürchten und das Problem des Glücks und der Zufriedenheit überhaupt nicht stellen. Deshalb gehen uns Kranke als solche gar nichts an. Deshalb befassen wir uns auch mit keinen bloß charakterologischen Aufgaben. Nur auf die Höherbildung des Menschen sind wir hier bedacht, durch Vermittlung einer tieferen Einstellung. Und unter dieser verstehen wir beileibe nichts Statisches, was unsere Ziele von denen jedweder Psychotherapie endgültig scheidet. Wenn es wahr ist, daß Gewohnheit Charakter schafft, so gibt es von unserem Standpunkt nur eine gute Gewohnheit: die unaufhaltsamen Fort- und Aufwärtsschreitens. Ein bestimmbares Endziel zu formulieren, lehnen wir ab, weil dieses in der Unendlichkeit liegt.

 

Doch jetzt gelangen wir erst zum Wichtigsten: wie überträgt sich Einstellung? Gestern fanden wir, daß dies, abstrakt betrachtet, durch entsprechende Fragestellung gelingt. Aber so einfach liegen die Dinge nicht. Eine bessere Fragestellung braucht als solche noch nicht verstanden zu werden, und auf letzteres allein kommt alles an; sonst bedürfte es auch keiner Individualbehandlung, es genügten Vorträge und Bücher. Einstellung ist ein lebendiger Zusammenhang, deshalb durch keine Analyse zu zergliedern. Sie aufzulösen (wofern dies buchstäblich genommen möglich wäre), würde Gleiches bedeuten, wie einen physischen Organismus zu zerschneiden und damit zu töten. – In der Tat wird Einstellung nicht so übertragen, wie es gestern zunächst den Anschein haben mochte, als ich die richtige Fragestellung als Weg zu ihr behandelte: durch entsprechende Zergliederung und Neuzusammenfassung von Begriffen, denn sie stellt ein Apriori dar (S. 423). Sie wird tatsächlich unmittelbar übertragen; ebendeshalb bedarf es dazu eines persönlichen Kraftfelds. Der einzig mögliche Weg solcher unmittelbarer Übertragung ist nun kein anderer als der, dessen technischer Begriff Suggestion lautet.

Dieses Wort hat in den Ohren vieler einen üblen Klang, weil diese glauben, daß Suggerieren nur das eine bedeutet: einem anderen beibringen, was er eigentlich nicht denkt. Tatsächlich bedeutet es lebendiges Übertragen überhaupt, und die bisher einzig übliche Wortbedeutung betrifft nur einen spezialisierten Sonderfall davon. Phantasie schafft nämlich in erster Linie nicht Einbildung, sondern Wirklichkeit. Jede Vorstellung ist auf ihrer Ebene eine solche, gleichviel welchen äußeren Objekten sie entspricht; wer also eine reine Einbildung überträgt, überträgt damit dennoch ein Reales. Weiter aber setzt sich das Vorgestellte in Wirklichkeit um. Bei der Ausführung eines Plans, der Materialisierung einer als Bild existierenden Erfindung ist dies Verhältnis jedermann vertraut. Es gilt aber genau so in bezug auf die menschliche Natur. Indem man einen anderen Menschen durch das, was man sagt und tut, beeinflußt, setzt man ursprüngliche Vorstellung in Wirklichkeit um, und nur die Tiefe, nicht der Charakter des Einflusses unterscheidet die Erscheinungsveränderung des Hypnotisierten von schöpferischer Wandlung. Durch entsprechende Vorstellung vollzieht sich auch jede Selbstvervollkommnung. Solche geht immer zunächst auf einen Vorsatz, also ein Geistesbild zurück, dieses hält sie fortlaufend im Gange. Und soll sie beschleunigt werden, so müssen dazu solche Bilder und Vorstellungen, welche dem Ziel entsprechen oder zuführen, systematisch meditiert werden (im Gegensatz zum diskursiven Bedenken); d. h. sie müssen auf solche Weise festgehalten werden, daß sie schöpferisch auf das Unbewußte zurückwirken Die hierhergehörige Technik kann und will ich hier nicht näher behandeln; ich tue es jeweilig mündlich während meiner Einführungsvorträge zu den Exerzitien an der Schule der Weisheit. Literaturhinweise enthält die Bücherschau des 3. Hefts des Wegs zur Vollendung. Über diese hinaus empfehle ich Erwin Rousselles Mysterium der Wandlung, Darmstadt 1922, und das grundlegende Werk Beaudouins Suggestion et Autosuggestion, Neuchâtel 1921.. Das betreffende Verfahren ist technisch nichts anderes wie Autosuggestion und dennoch Wirklichkeitsschöpfung im allerhöchsten Sinn. Es ist eben letztendlich jede Schöpfung Suggestion. Dies erweist am einleuchtendsten die Tatsache, daß die Vorstellung unmittelbar und von selbst zur Wirklichkeit wird. Solches gilt schon bei der Ausführung eines Plans, einer gedanklichen oder künstlerischen Konzeption: da mögen wir uns anstellen, wie wir wollen – mehr als uns auf Geistesbilder zu konzentrieren, vermögen wir nicht, die Einfälle entstehen, die logischen Ketten bilden sich von selbst, und die Hand führt nur rein äußerlich aus, was von innen heraus selbsttätig wurde. Wir wissen niemals, auf welchem Wege eine Vorstellung sich, bei uns selbst wie bei anderen, realisiert; sie geht zielsicher ganz von selbst ihren Weg. Wir wissen nicht einmal, wie wir eine Vorstellung als solche berufen – es ist ein genau so rätselhafter und wohl auch gleichsinniger Vorgang wie Geisterbeschwörung. So wußte wohl auch Gott nicht, wie die Welt es anfing, zu entstehen, als sein Wort ihr solches befahl. In allen betrachteten Fällen wird das Wirkliche »von selbst«, wenn nur die richtige Vorstellung gefaßt, das rechte Wort gesprochen wurde. Der Logos ist also unmittelbar schöpferisch. Nun aber zum Wesentlichen: was suggestiv übertragen wird, ist kein toter Lebensinhalt, sondern Lebendiges; lebendige Kraft allein beeinflußt suggestiv. Hieraus erklärt sich erstens, wieso ein scheinbar einfaches Wort mitunter Kompliziertestes auslöst: alles Lebendige ist eine Synthesis, gleichviel ob diese sich in Form des äußerlich einfachen Keims oder der vollausgebildeten Endgestalt darstellt; deshalb hat beim Organismus jede Einzelheit das Ganze zum Hintergrund, kann sie als Sinnbild dieses gelesen werden Vgl. hierzu Ludwig Klages Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft, Leipzig 1921.. Also findet bei aller Suggestion die Übertragung einer Synthesis als solcher statt. Ist dieses nun grundsätzlich der Fall, dann ist es offenbar nur eine Frage der im Spiel befindlichen Kräfte und Personen, welcher Zusammenhang unmittelbar übertragen wird Die Wirkung einer Kur, einer Behandlung, ja der Befruchtung, bedeutet auf der physischen Ebene offenbar Gleiches – auch hier entsteht Wirkliches »von selbst«, sofern die entsprechende Anregung erfolgte, und diese trägt durchaus den Charakter der Suggestion, insofern eine kraftbegabte Synthesis übertragen wird.. Ist der Schule der Weisheit eine bestimmte Einstellung Ausgangspunkt sowohl als Ziel, insofern der Lehrer sie, in allem, was er ist, sagt und tut, lebendig vertritt und der Schüler eben sie empfangen will, indem er sich entsprechend einstellt und aufschließt, dann überträgt sich eben die Einstellung. So erhält denn die gestrige Behauptung, daß solche durch entsprechende Fragestellung übertragen wird, eine vertiefte Fassung. Die Fragestellung vermittelt sie so, wie der Logos überall das Prinzip der Übertragbarkeit bedeutet (S. 264), das Prinzip der Wirkung selbst ist aber das der Suggestion. In unserem Falle kommt es deswegen in erster Linie auf rechtes Denken an, weil die beabsichtigte Beeinflussung in der Region des Verstehens vor sich gehen soll. Durch diese hindurch jedoch überträgt sich die Einstellung unmittelbar. Denken wir hier an frühere Betrachtungen über das Verstehen zurück (S. 3 ff.). Dieses ist ein Apriori, geht unmittelbar von Geist zu Geist, wird durch die Ausdrucksmittel eben nur vermittelt, gleichwie das Licht vermittelst des Auges das geistige Bewußtsein trifft: auch Verstehen ist offenbar technisch Suggestion, denn es bedeutet die unmittelbare Übertragung einer Synthesis als solcher. Suggestion ist überhaupt der Weg, wie Leben auf Leben übergreift. Dieser Weg ist schlechthin unbegreiflich, weil nicht weiter zergliederbar, aber das ändert an der Tatsache nichts. Ebensowenig hebt das Vorurteil gegen eine bestimmte Art von Suggestion, die allein bisher den Namen trug, den Tatbestand auf, daß es sich bei dieser nur um den Sonderausdruck eines Allgemeinsten handelt. Es sagt in Wahrheit nicht das mindeste gegen einen Menschen aus, wenn er suggestiv wirkt, im Gegenteil: nur insofern ist lebendige Wirkung überhaupt möglich. Ebenso bedeutet Suggestibilität an sich einen Vorzug. Dem Unbeeinflußbaren ist keinesfalls zu helfen; nur wer sich hingeben kann, ist fortschrittsfähig. Deshalb kann das Ziel der Schule der Weisheit allein durch Suggestion erreicht werden. Und zwar nur durch persönliche. Auch Bücher wirken freilich suggestiv. Jedoch ihr Einfluß reicht so tief, wie hier erfordert wird, nur in dem seltenen Fall, daß das empfangende Bewußtsein die Entwicklungsstufe nahezu erreicht hat, die der jeweilige Schreiber vertritt. So hat auch das Wort Christi im Lauf der Jahrhunderte nur bei ganz wenigen Auserwählten unmittelbar gezündet: alle anderen ergreift es allein durch die Vermittlung lebendiger Persönlichkeit. Im Fall der Schule der Weisheit nun muß diese Regel im höchsten Grade gelten, da dieser nicht eine neue Lehre, sondern eine neue Art des Verstehens das Wesentliche ist.

 

Wie die Vorstellung, die Handlung, so steckt auch das Niveau als solches an. Diesen Punkt brauche ich nicht näher auszuführen, denn da Niveau das auf den Tiefenwert hin qualifizierte Wort für Einstellung ist, so bezieht sich alles, was für diese gilt, auch auf jenes. Im übrigen hat wohl jeder persönlich erfahren, wie die bloße Gegenwart des einen Menschen unwillkürlich erhebt, die des anderen herabzieht. An diesem Punkte müssen wir vielmehr einer anderen Frage nähertreten: wenn persönlicher Einfluß allein das Niveau verändert und Einzelbehandlung dazu erforderlich ist – wie soll die Schule der Weisheit je im großen wirken? – Überlegen wir zunächst, wie Persönlichkeiten als solche jemals im großen gewirkt haben. (Die Wirkung lebendiger Menschen allein kommt als Vergleich für uns in Betracht, weil die Schule der Weisheit Leben vermitteln will und eine tiefere Einstellung zu ihm, kein besonderes Denken und Können.) Da finden wir denn, daß die Wirkung der Persönlichkeit im großen allemal in einem und diesem allein bestanden hat: daß sie zum Polarisationszentrum für andere wurde. Nicht irgendein Besonderes an ihr, sondern ihr Typus als solcher setzte sich durch. So hat die Person Alexanders des Großen durch ganze Jahrhunderte in Asien wie in Europa den Typus des souveränen Menschen bestimmt, kaum anders, wie sich das Urbild eines physischen Organisationstypus durch die Geschlechter fortpflanzt; so wirkt jeder Nationalheld typusbestimmend auf sein Volk. Aus der Hingabe der Phantasie an das Bild bestimmter lebendiger Ritter entsproß zuletzt »der Ritter« als Zeittypus, die Bewunderung eines konkreten Fürsten, hieß dieser Richard Löwenherz, Ludwig XIV. oder Franz Joseph, erschuf recht eigentlich den vornehmen Mann der jeweiligen Zeit. Auch hier handelt es sich offenbar um einen rein suggestiven Vorgang. Nur steht in diesem Fall nicht persönliche, sondern Massensuggestion in Frage, und die wirkt um ein Vielfaches elementarer als jene, so elementar, in der Tat, daß wirklich nur die Analogie der physischen Zeugung, die ja auch Sinnvollstes ohne die leiseste Geistbestimmtheit zustande bringt, den Tatbestand dem Verständnis einigermaßen zuführt. Die Massen brauchen nicht den leisesten Begriff, nicht einmal das Bewußtsein von der Bedeutung dessen zu haben, dem sie sich nachbilden – die Nachbildung geschieht unbewußt und selbstverständlich, bloß weil der betreffende Typus als der höchste gilt; sie geschieht durch das, was man gemeinhin Prestige heißt. Und nur so kann Massenbeeinflussung überhaupt zustande kommen, denn der Massenseele gegenüber versagen alle geistigeren Einflüsse absolut Dieses Problem hat Gustave Le Bon am tiefsten durchdrungen. Vgl. zumal seine Psychologie der Massen. Desgleichen G. Tardes bereits angeführtes ungemein geistvolles Werk Les Lois de l'imitation.; hier hat nur reine Ansteckung Erfolg. Dies gilt nun von geistigen Persönlichkeiten genau so wie von Männern der Tat, ja wie von Modehelden. Nicht wegen der wahren und als solchen erkannten Bedeutung Christi, Buddhas, Mohammeds usw. wurden Weltteile christlich, buddhistisch, mohammedanisch, sondern weil jene das größte geistliche Prestige genossen oder aber das Prestige der weltlichen Macht sich auf sie übertrug. Ist dem nun also, dann kann unmittelbare Wirkung im großen eines geistigen Lebenszentrums Ziel unmöglich sein: die virtuellen Träger persönlicher Erkenntnis haben sich nie nach Millionen beziffert und werden es niemals tun, Geist wirkt als solcher aber nur durch sein Bewußtwerden in anderen hindurch. Wie soll da gerade die Schule der Weisheit Wirkungen im großen erzielen? – Dennoch ist solche möglich, wie sie denn unbedingt erforderlich ist, wenn der Impuls der Menschheit zugute kommen soll. Sie muß sich dazu nur eben der Mittel bedienen, welche erfahrungsgemäß wirken. Wenn Geistigstes in die Breite wirken soll, dann stellt sich nur die eine Frage, wie das Beabsichtigte auf dem allein in Frage kommenden ungeistig-suggestiven Wege zu erreichen sei. Die Antwort besitzen wir schon: dem als höchsten erkannten Typus muß das größte Prestige gewonnen werden. Ein Typus, so abstrakt das Wort klinge, wirkt, wo man sich seinem Einfluß hingibt, unmittelbar lebenschaffend, weil er eine bestimmte Einstellung verkörpert und solche kein Formales, sondern vielmehr das Lebendigste am Leben ist. Es wirkt genau so, wie in der Meditation gewisse Symbole auf jeden steigernd wirken, ganz gleich, ob er deren Bedeutung nun einsieht oder nicht. Deswegen liegt nichts Herabwürdigendes oder gar Unmoralisches an der Technik, die Massen von ihrem persönlichen Verstehen unabhängig zu bilden. Nur so gelingt es überhaupt. Nur so wird ihnen bis ans Ende der Zeiten zu helfen sein. So aber gelingt genügend viel, um das allgemeine Niveau der jeweiligen Menschheit soweit zu heben, daß jeder Höherbegabte selbstverständlich von ihm ausgehen kann. Eben so ist sie als Ganzes durch Christus vorwärts gekommen. Die wenigsten machen sich klar, auf wie vom idealistischen Standpunkt aus »unwürdige« Weise gerade Gottes Wort unter den Menschen verbreitet wird: was jeden Sonntag in jeder Kirche geschieht, ist nichts anderes als Reklame; unaufhörlich wiederholte Anpreisung der Person Jesu, wie bei einem Geschäft die eines neuen Artikels, ist der kanonische Weg, die Herzen dem Ewigen zu öffnen. Ebenso siegte das Bild Jesu über die seiner Rivalen in der Volksgunst, zumal das des Mithras, zunächst nicht anders als dadurch, daß er »modern« wurde. Modernwerden ist die erste notwendige Stufe der Massenwirkung überhaupt, es ist die Vorstufe zumal des Ruhms. Es gibt eben nur den einen Weg ungeistig-suggestiver Einwirkung, um der Masse Gewolltes beizubringen, was immer dieses sei. Nicht die Frage stellt sich deshalb, wie man werben soll, denn die fragliche Technik ist seit Jahrtausenden bewährt, sondern wofür man wirbt. Genau wie beim Meditieren und in der Psychotherapie auf das »rechte Wort« alles ankommt (S. 380), so kommt hier alles auf die genaue Eigenart des vorbildlichen Typus an. Da Christus von vornherein als Gott verehrt wurde, so hat er einen sich entsprechenden Menschentypus nicht erschaffen können; es ist der Nachteil allzu hoher Ideale, daß sie nicht wirken. Es muß also der richtige Mensch als ideales Vorbild hingestellt werden. Wie sehr das jeweilig geltende wirkt, illustriert gerade unsere Zeit besonders deutlich. Das alte Deutschland war militaristisch, insofern der Leutnant den Typus bestimmte, nicht insofern es besonders viel und gute Soldaten hatte Vgl über diesen besonderen Punkt Politik, Wirtschaft, Weisheit, S. 196.; das neue droht aus analogen Gründen schieberhaft zu werden; auch die Gefahr einer Verjudung Europas liegt, soweit sie vorliegt, in dieser Richtung, nicht in der eines Überhandnehmens der jüdischen Rasse. Von allen Völkern Europas verkörpert das englische das höchste Persönlichkeitsniveau, weil es den Gentleman als allgemeines Vorbild anerkennt. Dafür ist sein geistiges Niveau unverhältnismäßig viel zu niedrig. Ein sehr viel höheres als alle heute als Vorbilder geltenden muß bestimmend werden, wenn es mit der Menschheit vorwärts gehen soll. Zu dem Ende müssen fortan die höchsten Typen noch so unverstandenermaßen zu Vorbildern werden. Durch diese allgemeinen Betrachtungen ist die besondere Frage, wie die Schule der Weisheit im großen wirken will, implizite beantwortet. Unmittelbare Massenbeeinflussung kommt für sie selbstverständlich nicht in Betracht. Sie kommt für sie weniger in Betracht, als für irgendein Zentrum der Vergangenheit und Gegenwart, weil sie von der Erkenntnis her das höchste Niveau schaffen will, das zurzeit erreichbar ist. Zu dem Ende muß sie sich sogar auf ihrem theoretisch möglichen Tätigkeitsfelde praktisch einschränken. Denken Sie an das zurück, was am Schluß von Was uns nottut über den Schnittpunkt des Winkels, welcher das Zeitproblem einschließt, zu lesen steht: das klare Erfassen des Urproblems als solchen allein führt zur Lösung seiner abgeleiteten; alle Entscheidungen fallen auf der Höhe und auf ihr allein. In der Schule der Weisheit darf folglich nur das geschehen, was die erforderliche Neu- und Tiefereinstellung fördert, denn nur so wird das, worauf es letztlich ankommt, im Bewußtsein der Schüler klar herausmodelliert, nur so bleibt es durch Überschichtungen unverwischt, nur so kann es in seiner reinen Eigenart zuletzt in die Welt hinauswirken. Deshalb empfangen wir niemand, der anderes von uns will als eben Förderung im Sinne der Weisheit; deshalb lehnen wir jede abstrakte Auseinandersetzung sowohl als jede Stellungnahme zu Sonderproblemen ab. Zwar haben wir es andauernd mit solchen zu tun, insofern sie das jeweilige Mittel bedeuten, um das Tiefste des Menschen mit seiner Oberfläche zu verknüpfen, aber sie sind uns niemals Selbstzweck. Nur das letzte Lebensproblem, noch einmal, geht die Schule der Weisheit an. Dieses stellt sich nun offenbar nur einer verhältnismäßig geringen Zahl; die allermeisten können, so tief sie eindringen, nur von unserem Standpunkt Vorläufiges verstehen. Also müssen diese unberücksichtigt bleiben. Dem Argument, welches uns wieder und wieder entgegengehalten wird, so viele könnten »sonst« etwas von uns haben, müssen wir uns verschließen: des Menschen Lebenskraft und -frist ist beschränkt, allen Anforderungen kann keiner genügen, jeder muß sich ganz dem widmen, worin seine Hauptaufgabe besteht, und in diesem Fall würde Vielseitigkeit der Betätigung die Eindeutigkeit des Impulses, den wir vertreten, gefährden. Wir müssen gegebenenfalls hart sein können. Nur denen dürfen wir uns insofern widmen, die das verstehen können, worauf es uns letztlich ankommt. Eben dadurch aber arbeiten wir für alle, denn wir schaffen die Führer, welche den Typus, der die Masse fortan suggestiv beeinflussen soll, dieser vorzuhalten und als lebendiges Beispiel zu zeigen fähig wären. Damit wäre denn die Frage, wie die Schule der Weisheit im Großen wirken soll, endgültig beantwortet. Indem sie die Führer heranbildet, tut sie alles, was sie überhaupt tun könnte. Hierin allein liegt auch ihr soziales Ziel, soweit von einem solchen die Rede sein kann. Mit allgemeiner Aufklärung und Massenbeglückung hat sie nichts zu schaffen. Ebensowenig ist das Individuum als solches ihre letzte Instanz: sie gibt diesem nur zu dem Ende, auf daß es weitergäbe. Sie berücksichtigt seine Sonderwünsche nicht etwa, um es persönlich glücklicher zu machen, sondern weil dies der eine Weg ist, sein Tiefstes zu erwecken. So wendet sie sich unmittelbar an ganz wenige. Diese wenigen aber sucht sie, anstatt sie ganz zu Werkzeugen zu modellieren, schlechthin selbständig zu machen. Nur schlechthin Selbständige sind berufen, ihren Impuls zu vertreten. Hiermit wären wir denn zur Bestimmung des Typus gelangt, der zum Vorbilde dienen soll: es kann kein anderer als der des Weltüberlegenen sein, den ich im Frühjahr schilderte; des jedem Namen und jeder Form Überlegenen, des schlechthin Freien, durch nichts endgültig zu Bindenden. Der Typus, der fortan zum Vorbild dienen soll, ist kein statischer, sondern ein rein dynamischer, ewig bewegter, bei keinem erreichten Ziele sich bescheidender, denn nur Charakter als Ausdruck der Freiheit, nicht der Beschränktheit hat metaphysischen Wert, und es gibt keine andere gute Gewohnheit als die des Fort- und Aufwärtsschreitens. Unter diesen Umständen müssen die wahren Schüler der Schule der Weisheit in erster Linie selbständige Menschen sein. Insofern hat gerade der kein Recht, in ihrem Namen zu reden, der ihren Buchstaben auswendig kennt und nun auf diesen schwört. Insofern kommen zur Fruchtbarmachung ihres Impulses nur ganz wenige in Betracht, denn die meisten wollen alles, nur nicht selbständig sein (weshalb die vielen, die sich uns anschließen, um geführt zu werden, uns unzweifelhaft einmal enttäuscht verlassen werden). Aber eben damit, noch einmal, arbeitet sie für alle. Deswegen duldet sie grundsätzlich keine »Jünger« im üblichen Sinn, auch keine äußere Vereinigung derer, die sie besuchen Vgl. hierzu meinen Aufsatz Von der Grenze der Gemeinschaft im 3. Heft des Wegs zur Vollendung., weil dadurch allzuleicht eine Sekte entstehen könnte, deshalb gestattet sie auch äußerlich niemandem, in ihrem Namen zu reden, weil dies zu einer Schule im üblichen Wortsinn führen könnte. Um einer Festlegung, welche den Tod dessen, was ich meine, vorzubeugen, befolge ich bei meinen Schülern gegebenfalls die folgende Technik. In irgendeinem Augenblick beginnt beinahe jeder, welcher länger hier weilte, schöpferisch zu werden; von seinen neuen Plänen will er natürlich reden. Da mache ich an einem bestimmten Punkte Schluß. Alles weitere ist Ihre Sache, sage ich ihm; Sie müssen sich selbst letzte Instanz sein. Das, was Sie weiter denken und tun, müssen Sie ganz allein verantworten, Sie dürfen sich auch innerlich auf niemand weiter berufen. Deshalb müssen Sie auch mich nach Möglichkeit vergessen, dürfen Sie keinesfalls in meinem Namen weiterwirken. – Wird einer, indem er fortan schlechthin selbständig fortwirkt, dem Geist der Schule der Weisheit untreu? Im Gegenteil: gerade indem er, nachdem er hier die nötige Vertiefung erfuhr, rein von sich aus weiter arbeitet, gibt er ihren Antrieb weiter. Dies ist ja ihr Wesentliches, daß sie die höchste Selbständigkeit und Freiheit vertritt. – Nun, wenn auch nur wenige solche Führer aus ihr hervorgehen, dann ist die Fruchtbarmachung ihres Impulses für die Allgemeinheit gesichert. Denn jeder, sintemalen er anders ist als ich, spricht ebendeshalb zu einem anderen Kreis, der von Natur aus auf ihn eins gestellt ist. Finden sich im Laufe der nächsten Jahrs zehnte nur einige hundert, die wahrhaftig das leben, was wir wollen, so wird die westliche Welt in wenigen Jahrhunderten verwandelt sein. Denn dann sind die Polarisationszentren eben da, welche den Mehrheiten ihren Typus aufprägen. Dann wird die Massensuggestion von selbst beginnen. Die Interferenz und Summierung der verschiedenen, aber gleichsinnigen und gleichgestimmten Einflüsse wird ein so mächtiges Kraftfeld schaffen, daß auf die Dauer sich niemand ihm entziehen kann. Für den Anfang aber genügen, zur Weiterleitung des Impulses, ganz wenige, sofern sie ihn nur wirklich verstanden haben; ja es dürfen ihrer nicht zu viele sein, denn die Zahl wirkt mit Unvermeidlichkeit veräußerlichend, wo das Wesen noch nicht ganz in sich gefestigt ist. Und diese wenigen brauchen durchaus nicht aus den sogenannten »Besten ihrer Zeit« zu bestehen. Von diesen beherrscht jeder in der Regel sein privates Gravitationsfeld, und es kann ihnen nicht zugemutet werden, ein fremdes zu stärken Vgl. hierzu mein Reisetagebuch I, 163 ff. (nach der 3.-6. Auflage zitiert).. Im übrigen sind aber nur wenige der wahrhaft Besten so veranlagt, daß sie als solche in die Erscheinung treten. Ein jeder ist zur Mit- und Fortwirkung berufen, der unseren Impuls verstanden hat, aber auch er allein. Und da habe auch ich schon die alte Erfahrung wiedergemacht, daß zu den Berufensten vielfach solche gehören, von denen man es am wenigsten erwarten sollte ... Nein, vom Standpunkt der Wirkung im großen ist es durchaus nicht nötig, daß gar so viele durch Darmstadt gehen. So gern wir jedem gönnen, herzukommen, so sehr wir es von ihrem eigenen Standpunkt bedauern, wenn viele, welche die Schule der Weisheit fördern könnte, aus inneren oder äußeren Gründen fernbleiben – notwendig sind die vielen nicht. Und dies hat noch eine tiefere Ursache als die bisher betrachteten. Wie pflanzt ein lebendiger Impuls sich fort? Nur indem sein jeweiliger Träger zum Sinnbild für einen anderen wird. Als empirisches Wesen kann keiner anderen ein Vorbild sein, denn jeder muß doch sein eigenes Leben leben. Aber die vorbildliche Tiefeneinstellung, die er verkörpert, kann so auf ihn wirken, wie ein Symbol während der Exerzitien auf den Exerzitanten wirkt. Dies nun geschieht dann allein, wenn der Betreffende von sich aus versteht oder verstehen will. Deshalb kann man niemandem geben, was er nicht haben will. Mehr kann keiner tun, als das Sinnbild hinstellen, hochhalten, seine magische Kraft ausströmen lassen – das weitere hängt von den anderen selber ab. So hat auch das Christentum sich lebendig nur durch die ganz wenigen hindurch fortgepflanzt, die seinen Geist von sich aus verstanden: Paulus, Augustin, St. Bernhard, St. Franziskus, Luther, um die Größten zu nennen. Die Schule der Weisheit braucht insofern, um ihre Aufgabe zu erfüllen, überhaupt nicht mehr zu tun, als das Sinnbild dessen, was allen nottut – hier das dynamische Sinnbild einer bestimmten Art möglicher Steigerung –, vor alle hinzustellen, und ihre Aufgabe für die anderen hätte sie erfüllt, denn zu zwingen ist niemand zu seinem Heil. Ist einer verstehensfähig, so braucht das Sinnbild ihm nur gezeigt zu werden, damit er es aufnimmt; ist er es nicht, so hilft keine Überredungskunst. Deshalb darf man denen auch niemals nachlaufen, welchen man helfen könnte. Auf die Frage, warum er keinen leichter zugänglichen Aufenthaltsort erwählte als den abgelegenen Tempel zu Dakshinesvar, erwiderte Ramakrishna: »Seit wann fliegt die Lotusblume zur Biene?« – Er hatte recht. Nur der, welcher nicht allein freiwillig zur Quelle kommt, sondern ein übriges dazutut, um sie zu erreichen, ist so eingestellt, daß er von ihr belebt werden kann. Mir ist ein entzückendes Gegenbild dieser Auffassung auf meinen Reisen begegnet, und dieses will ich zum Abschluß dieser Betrachtung vor Sie hinstellen, weil es durch seine Kontrastwirkung den wahren Sachverhalt in besonders helles Licht rücken dürfte. Es war in Peshawar, nahe der Grenze Afghanistans. Mehrere Tage hindurch sah ich daselbst einen blonden amerikanischen Missionar von früh bis spät mit rasender Geschwindigkeit auf den Plätzen und Gassen in englischer Sprache aus dem Evangelium vorlesen. Und jedesmal hörten Hunderte ihm zu, obschon sie des Englischen nicht mächtig waren, denn Orientalen haben Zeit. Der Missionar schien tief befriedigt. Ich fragte schließlich: Was beabsichtigen Sie eigentlich? Die Leute verstehen kein Wort von dem, was Sie sagen. Er sah mich groß an: »Wissen Sie's denn nicht? Christus hat verheißen, wiederzukommen, sobald das Evangelium allen Menschen gepredigt sein wird. Nun, das ist doch zu machen. In Amerika hat sich eine Gesellschaft gebildet, welche, Millionen zur Verfügung, das Ziel verfolgt, das Wort Gottes buchstäblich allen Menschen predigen zu lassen. Ist dieses Ziel nun erreicht – dann muß eben Christus wiederkommen.« O nein, er muß nicht wiederkommen. Christus selbst konnte den Schacher am Kreuz, der sich vor ihm abschloß, nicht erlösen. Wider seinen freien Willen ist niemandem in innerlichen Fragen zu helfen. Deshalb ist der Mensch, je mehr er sich vertieft, desto weniger darauf bedacht, sich auch nur in Form von Ratschlägen anderen aufzudrängen.

 

Es genügt tatsächlich, vom Standpunkt einer Wirkung im großen, daß ein geistiges Zentrum da ist und seinen Einfluß überhaupt ausübt. Alles weitere macht sich von selbst, durch das Mittel der jeweilig vorhandenen Kräfte geistiger, seelischer und materieller Art. Schon ein einziges Hundert regelmäßiger Besucher unserer Tagungen – so klein ist die Welt – würde genügen, um den Anfang einer Tradition für Außenstehende zu schaffen, durch die das geschriebene Wort einen lebendigen Körper erhielte. Deren Erstgeborener ist freilich oftmals der des vollkommenen Mißverstehens. Doch das ist gut so: die Diskrepanz zwischen Bild und Wirklichkeit erzeugt eine Spannung, die auf die Dauer viel fruchtbarer wirkt, als prästabilierte Harmonie; durch Mißverstehen hindurch kommt man schneller zum wesentlichen Verstehen als durch sofortiges Richtig-Wissen, weil dieses nicht verstanden zu werden braucht. So gelangt auch der indische Weise nur so zur Erkenntnis der absoluten Wahrheit, daß er von allem Vorläufigen fortschreitend urteilt: Neti, neti, das bin ich nicht. Die authentische Tradition lebt in der Schule der Weisheit selber fort, äußerlich an deren geographischem Zentrum, innerlich im Rahmen des inneren Kreises Vgl. meinen Aufsatz Von der Grenze der Gemeinschaft im 3. Heft des Wegs zur Vollendung. der Berufenen, die aus ihr hervorgingen, und der schon heute kein ganz kleiner mehr ist. Was so im stillen unmerklich für die Welt geschieht, ist das schlechthin Wesentliche. Aber auch die Tagungen sind von großer Bedeutsamkeit. Auf diesen läßt der Zusammenklang vieler selbständiger Redner eine Mehrheit ahnen, daß es ein Tieferes gibt als bestimmte Weltanschauung. Durch das Verbot der Diskussion, durch die Spannung der Aufmerksamkeit auf das Niveau der Vorträge mehr als auf deren Inhalt, welche allen nahegelegt wird, erleben die meisten unwillkürlich eine Einstellung, die sie für Tieferes empfänglich macht. Am stärksten aber wirkt die Gerichtetheit auf die persönliche Qualität der Redner als solche, denn diese weckt das Qualitätsbewußtsein überhaupt, die erste Voraussetzung jeder Höherentwicklung. Nun mag man fragen: sind denn diejenigen, welche hier wirken, wirklich schon so weit, daß sie als Vorbilder gelten dürfen? Darauf ist zu antworten: nicht das erreichte Ziel ist es, das einen Menschen fruchtbar macht, sondern die Gesinnung, aus der heraus er das Höchste einmal erreichen könnte; es ist die Bewegtheit, die Spannung, der Rhythmus, die er verkörpert. Unter diesen Umständen ist die Frage, ob die Lehrenden an der Schule der Weisheit »schon vollkommen« wären, nicht eigentlich zur Sache gestellt. Sie brauchen gar nicht vollkommen zu sein. Die starken Bahnbrecher auf Erden waren nachweislich von Haus aus nicht harmonischere, sondern unharmonischere und schwierigere Charaktere, als von Millionen Dutzendmenschen gilt; dem einen Luther sind mehr Leidenschaften, Schwächen und Untugenden nachzuweisen als einer Vielheit rechtschaffener Bürgersleute. Dies muß so sein, weil Spannung und Rhythmus sich desto stärker übertragen, je widerspenstiger das Material, durch das sie sich äußern müssen; ein vollkommen Ausgeglichener – sofern es einen solchen geben könnte – vermöchte auf Erden nicht mehr fruchtbar zu wirken. Was Luther über seine sämtlichen tugendhaften Zeitgenossen hinaushob, war seine Gesinnung zusammen mit der Kraft, dieser zum Sieg zu verhelfen. Die anderen gehen nun überhaupt nur Gesinnung und Rhythmus an, denn sie allein übertragen sich. Was ein Mensch als empirisches Wesen ist, das ist er für sich allein, denn niemand kann ihm sein persönliches Leben nachleben. Beim Vorbild, beim Lehrer stellt sich ausschließlich die Frage, inwieweit er wirksam ist. Vermag der Schüler das, was jener geben kann, nur dann zu akzeptieren, wenn er an dessen Vollkommenheit glaubt, so muß er die Feigheit seiner Seele zunächst so weit überwinden, daß er ohne Illusionen leben kann. Wer es sich selbst zugesteht, enttäuscht werden zu dürfen, wer jede mögliche Enttäuschung nicht selbstverständlich seinem eigenen Urteilsmangel zuschreibt und sich ihrer daher schämt, der muß erst über diesen primitiven Zustand hinausgelangen. – So, noch einmal, liegen die Dinge in bezug auf die anderen. Mich dünkt aber, daß auch für den Betreffenden, an sich betrachtet, auf Gesinnung und Rhythmus allein alles ankommt. Für seine ererbte Natur kann niemand etwas; in das meiste äußere Schicksal ist jeder ungefragt hineingespannt. Insofern sind Person und empirisches Leben dem Menschen im gleichen Sinne Material wie die materielle Außenwelt; er muß sie hinnehmen. Sein persönlicher Wert bemißt sich allein danach, was er aus ihnen macht Vgl. hierzu Individuum und Zeitgeist in Philosophie als Kunst.. Ob dies nun viel oder wenig ist, hängt nur zum Teil von seiner Gesinnung ab. Manches Material ist zu spröde, manches Leben zu kurz. Die Anlagen als solche sind in der Mehrzahl unveränderlich, manche erworbene Eigenschaften der Seele gehen auf Verwundungen zurück, welche zwar ausheilten, aber für immer entstellende Narben hinterließen. Da mag die Sehnsucht noch so gewaltig sein – nicht jeder kann es gelingen, die Gegebenheit vollständig zu verwandeln. Doch, wie gesagt, das tut nichts, denn auf Einstellung und Rhythmus kommt überhaupt alles an, weil sie allein das Leben als solches qualifizieren; alles weitere ist unter allen Umständen materialbedingt. Deshalb darf auch der nach der eigenen Vollendung Strebende sich das herrliche Krishna-Wort zum Leitmotiv erwählen: »Schaffe unentwegt, aber gib jeden Augenblick die Früchte deines Schaffens preis.« Auch die erreichte Vollendung gehört zum äußeren Erfolg, auf den es letztlich nicht ankommt Vgl. hierzu den vorletzten Abschnitt des New-York-Kapitels meines Reisetagebuchs.. – Deshalb ist die Frage, ob die hier Wirkenden ihr persönliches Ziel denn erreicht hätten, recht eigentlich mißverständlich. Keiner von uns erhebt Anspruch darauf, in diesem Sinne als Vorbild zu gelten. Um andrerseits den erforderlichen Impuls zu vermitteln, brauchen wir nicht vollkommen zu sein.

Aber freilich muß es im Sinn der Schule der Weisheit liegen, erreichte Vollendung, wo solche einmal vorliegt, auch als solche zur Wirkung zu bringen; mir persönlich liegt besonders viel daran, weil ich selbst, ein von Leidenschaften durchschütterter, vulkanisch veranlagter Mensch, dem Ziel meines Strebens so besonders fern bin. Der Schule der Weisheit muß daran liegen, die Erreichbarkeit des Ziels, das sie verfolgt, auch am sichtbaren Erfolge zu erweisen, denn wenn auch nicht in ihm das eigentlich Fruchtbare liegt, so wirkt doch er allein, als Bild, im großen suggestiv. Und das Glück hat es gewollt, daß solches ihr bereits im ersten Jahr ihres Bestehens vergönnt war. Rabindranath Tagore, der noch mit fünfzig Jahren, als ich ihn zuerst in seiner Heimat kennenlernte, viel Eitles, viel Unharmonisches an sich hatte, hat heute eine solchen Grad der Durchbildung erreicht, daß mir nichts übrig blieb, als mich vor ihm als einem Idealbilde zu neigen. Schon gestern sprach ich von ihm. Ich sagte: nicht seine Geistigkeit, auch nicht sein Dichtertalent erschienen mir so groß, wohl aber die Tiefe, aus der heraus er selbstverständlich lebt und redet. Diese nun spricht unmittelbar aus ihm dank einer Durchbildung der Persönlichkeit vom Kern bis zur äußersten Schale, die nicht bloß dem konfuzianischen Idealbild entspricht – die Weisheit müsse als Anmut in die Erscheinung treten –, sondern eben der Weltüberlegenheit, die ich zum Schluß der Frühjahrstagung schilderte. Tagore hat tatsächlich erreicht, was er erstrebt hat. Seine Transparenz ist heute so absolut, daß seine körperliche Schönheit und Anmut bei jeder Einzelheit die Seele zum Ausdruck bringt, daß er auch, wo er Oberflächliches verlautbart, nicht umhin kann, tief zu wirken. Es wirkt vielleicht gerade deshalb besonders tief, weil seine rein lyrische Natur mit Vorliebe in Empfindungen und Stimmungen verweilt, welche, an sich betrachtet, wenig geeignet sind, der Tiefe zum Ausdruck zu verhelfen. – Nun, als Sinnbild der Vollendung wurde der Inder hier behandelt; sein Besuch ebendeshalb in unseren Mitteilungen als Legende dargestellt. Viele haben das nicht verstanden. Aber die Gleichen verstehen auch nicht, was die Schule der Weisheit überhaupt will. Diese dachte gar nicht daran, sich mit Tagores besonderen Lehren zu identifizieren. Sie dachte auch nicht daran, den empirischen Menschen zu feiern: sie wollte zeigen, wieweit ein Mensch auf seinem besonderen Weg es bringen kann, sie wollte erreichter Vollendung zur äußersten Wirksamkeit verhelfen, sie wollte deren Sinnbild so einstellen, daß die Suggestion von ihm ausginge, welche die anderen am meisten fördern könnte. Man empfängt von einem andern genau nur so viel, wie man ihm zugesteht. Nur der eine Schiller hat bei Goethes Lebzeiten das von ihm gehabt, was alle Zeitgenossen von ihm gehabt hätten, wenn sie ihn so gesehen hätten, wie dies heute alle selbstverständlich tun. Dank der Einstellung unserer Veranstaltung haben nun alle, die ihre inneren Hemmungen überwanden, von Tagore das empfangen, wonach spätere Jahrhunderte sich vergebens sehnen werden. So war das, was im Juni 1921 in Darmstadt vor sich ging, in der Tat kein gewöhnlicher Empfang, sondern Wesentlicheres: es war unter anderem ein Sinnbild der Überwindung des Schicksals. Die Nachwelt setzt sich durchaus nicht aus gescheiteren Menschen zusammen als die jeweilige Mitwelt: sie ist nur frei von persönlichen Motiven, zumal vom Neid. Deshalb muß ihrem Urteil schon anstandshalber vorgegriffen werden, wo immer echte Qualität in Frage steht. Und was die Summierung richtiger Urteile betrifft, die in der Zeit erfolgt, so kann nichts außer der Feigheit vorhandene Einsicht zwingen, jene abzuwarten, denn der Mensch steht als Lebendiger immer deutlicher da als der bestbeschriebene Tote. Dieses Beispiel der Überwindung der Eitelkeit, der Überwindung der Zeit hat die Schule der Weisheit damals gegeben, damit aber den Weg für Wichtigeres freigemacht. Rabindranath Tagore als Person geht nur sich selber an. Sein Dichtertalent nur die, deren Anlage seine Lyrik kongenial ist. Was aber schlechthin alle angeht, ist der Grad der Vollendung, welchen er erreicht hat, denn dessen Anblick kann die Entwicklung jedes beschleunigen. Indem nun die Schule der Weisheit allen Nachdruck auf dieses Sinnbildliche legte, schuf sie einen Menschen zum Gefäß des Übermenschliehen um und wies zugleich den Weg, auf die Menschen unmittelbar steigernd und erhebend, vertiefend und verwandelnd einzuwirken. So ward ihr der Besuch des Weisen aus dem Morgenland zum Weg zu ihrem eigenen Ziel.

III. Das Ziel

Da der Sinn sich, wie wir gestern sahen, als Intention, als Einstellung, als Rhythmus durchsetzen kann, bevor er seinen vollendeten Ausdruck fand; da Fortschritt in Verinnerlichung allein besteht, deren Frage sich nur für Subjekte, nie für Objekte stellt, und das von einem Erreichte demgemäß für die anderen nur dadurch fruchtbar wird, daß diese jenes freiwillig als Sinnbild eigener Möglichkeit benutzen, so kann es der Schule der Weisheit um ein äußeres Ziel überhaupt nicht zu tun sein. Nicht das mindeste soll im üblichen Sinn »bei ihr herauskommen«. Hier gehe ich so weit, daß ich sage: käme je etwas für alle Greifbares bei ihr heraus, so wäre ihr Ziel als verfehlt zu betrachten. Eine Einstellung kann sich nicht anders wie als lebendiger Rhythmus fortpflanzen, und ein solcher erhält sich offenbar nur so lange, als er in Bewegung ist, als, metaphorisch gesprochen, die Musik nicht zur Architektur erstarrte. Auf reine Einstellung als solche hat sich vor uns noch keine Bewegung gegründet; dennoch steht die gesamte Geschichte für die Richtigkeit unserer Auffassung Gewähr, so selten ihr Buchstabe verstanden wurde. Jede endgültig erstarrte politische, soziale, kulturelle Gestaltung ist eben damit verstorben (S. 301). Umgekehrt war verfehlte oder vermiedene Festlegung in allen großen Fällen die Hauptursache unbegrenzten Fortwirkens. Der Mythos hat den wahren Sachverhalt von jeher richtig erfaßt: Alle großen Erneuerer von Krishna, Osiris und Orpheus an bis zu Jesus, Mithras und Mani läßt er gewaltsam sterben, alle geringeren, wie Prometheus und Herakles, zum mindesten unglücklich enden. Dies hat auf der Ebene des Metaphysischen gewiß den notwendigen Gegensatz des Ewigen zum Zeitlichen, des Lichts zur Finsternis zum Sinneshintergrund, der eine Spannung erzeugt, welche auf Erden gewöhnlich mit dem scheinbaren Sieg des Bösen endet (S. 227). Auf der Ebene der Geschichte indessen bedeutet es, daß nur deshalb, weil keine zeitliche Erfüllung stattfand, der Rhythmus lebendig blieb. Deshalb spiegelt die Geschichte aller echten Bahnbrecher, welche dem Schicksal nicht vorgriffen (was die taten, welche von vornherein eine bestimmte Lehre zu verkünden und eine bestimmte historische Rolle zu spielen ablehnten), das Bild des Mythos. Die ungeheuere, niemals aussetzende Wirkung des Sokrates beruht darauf, daß dieser sich einerseits niemals innerlich festlegte, wodurch seine Einstellung als solche auch historisch entscheidend blieb, andererseits vorzeitig für eine Überzeugung starb, deren Inhaltliches keiner je ganz verstand. So regte sein Beispiel, welches nur in seiner Ein- und Fragestellung eindeutig war, zu immer erneuten zeitgemäßen Deutungen an. Hätte Jesus mehr hinterlassen, als in den kurzen Evangelien zu lesen steht, wäre er sein eigener Kirchenvater geworden, die christliche Kirche wäre wahrscheinlich mit so vielen anderen schon vor dem Ende der Antike untergegangen. Die Juden bedeuten den bisher wirksamsten Sauerteig innerhalb des Menschengeschlechts, weil die Spannung zwischen ihrer geglaubten Auserwähltheit durch Gott und ihrem empirischen Versagen noch nie eine Auslösung fand, wodurch ihr Ethos einen Rhythmus von unvergleichlicher Kraft entfalten konnte, welcher Rhythmus heute in der Energie der angelsächsischen Völker am stärksten in die Erscheinung tritt Vgl. Leo Baecks Wesen des Judentums (Frankfurt a. M. 1922, I. Kaufmann) und meine Besprechung dieses Buchs im 4. Heft des Wegs zur Vollendung.. Franz von Assisi wünschte seinem Orden keinen großen Erfolg; dieser sollte von vornherein nur als Ferment innerhalb der vielgestaltigen Christenheit wirken. Aber der reformatorische Impuls, den er persönlich verkörperte, ist erst dadurch zum wahrscheinlich stärksten und zeitlos wirksamsten von allen seither geworden, weil sein Orden schon bei seinen Lebzeiten zu einem anderen wurde, als er gewollt hatte, wodurch seine Persönlichkeit sich von vornherein wie von ewigem Licht umstrahlt vom Hintergrund auch dessen, was sich franziskanisch nennt, als Sinn- und Vorbild abhob. Doch wohl das eindrucksvollste Beispiel dessen, was in allen großen Fällen wahr ist, bietet Konfuzius. Dieser ist als konservativster aller Menschen bekannt, und die meisten wähnen deshalb, er habe nichts anderes getan, als das in eine endgültig kodifizierte Form zu fassen, was ohnehin in China lebendig war. Die Dinge liegen ganz anders. Konfuzius lebte zu einer sehr ähnlichen Zeit, wie es die heutige ist. Die alte Kultur stand im Zeichen des Untergangs, das Chaos herrschte, bolschewistische Wellen rasten über das Reich der Mitte hin. Am Gegensatz zum erlebten Chaos verstand Konfuzius nun plötzlich die Bedeutung des alten Kosmos. Dadurch wurde ihm erneut lebendig, was für seine Zeitgenossen längst verstorben war. Dadurch gelang es ihm, den alten Buchstaben mit neuem Sinn zu beseelen. Doch das hätte noch nicht genügt, um Konfuzius zum Urbild, Halt und Kitt ganz Chinas für alle Folgezeit zu machen. Zu letzterem kam es, weil er äußerlich erfolglos blieb. Er ambitionierte freilich äußere Machtstellung; sein Traum war zweifelsohne, seine Erkenntnisse in dauernde Einrichtungen umzusetzen, denn er war, wie gesagt, ein extrem konservativ gesinnter Mann, beinahe krankhaft neuerungsfeindlich. Ein Jahr lang ungefähr regierte er auch als Minister eines kleinen Staats. Dann aber wurde er gestürzt, in die Verbannung getrieben; sein Leben mußte er unstet wandernd beschließen. Und es war sein Glück, daß er also aus der Zeitlichkeit herausgerissen wurde, denn eben dadurch blieben seine besondere Einstellung und sein Rhythmus lebendig, eben dadurch blieb die äußerlich starre Lehre seiner Schriften mit einer Aura von Sehnsucht umgeben; ebendeshalb hat der kanonische Buchstabe trotz seiner konservativen Absicht als Bewegtheit fortgewirkt und China bis zum heutigen Tage weiter befruchtet. Die Bewegtheit und der Rhythmus sind eben das endgültig Wichtige, nicht das Vorläufige, wie die meisten wähnen, die dann ganz folgerichtig nach bestimmten Lehren und Zielen ausschauen, deren Verwirklichung über die Bedeutung entscheiden soll. Sie sind es, mehr als in jedem früheren, in unserem Fall, weil wir uns von vornherein auf die Grundtöne und nicht die Melodien, auf den Sinn und nicht den Buchstaben eingestellt haben. Der Sinn ist niemals ein Bestimmt-Inhaltliches, kann es nicht sein; er ist das Lebensprinzip der gegebenen Gestaltung und ebendeshalb auf der Ebene der Erscheinung niemals festzulegen. Jedesmal, wo ich wieder darum gebeten werde, was ich will, in Form eines festen Programms, womöglich in zwei Worten, zu bestimmen, muß ich des Katers in einem Roman von Anatole France gedenken, der gegenüber seinem philosophierenden Herrn die Köchin preist: Si celle-là dit un mot (so heißt es da ungefähr), cela veut dire une omelette, une fessée, enfin des choses. Die meisten können nur »des choses« verstehen. Ebendeshalb wähnen sie ihren echten Vertiefungstrieb durch den Glauben an neue sachliche Offenbarungen, wie die Anthroposophie solche bringt, zu befriedigen. Das Wesentliche liegt aber, wie ich seinerzeit am Beispiel der indischen Weisheit auseinandersetzte (S. 209 ff.), immer und notwendig im Jenseits der Gestaltung, und ein innerer Fortschritt findet genau nur insoweit statt, als es zu diesem Jenseits in tiefere Beziehung zu treten gelingt. Selbstverständlich äußert sich jeder Rhythmus in jedem konkreten Fall durch eine bestimmte Melodie hindurch. Aber sofern er sich in ihr erschöpft, ist er auch sterblich. Was ich sage, sage ich gleichfalls als bestimmte Person – aber der mißversteht mich gründlich, welcher deren uns vermeidliche Beschränkung als wesentlich auffaßt. Keiner wird mich je, solang meines Geistes Kraft mich nicht verläßt, auf bestimmte »Ansichten« festlegen können – so Gott will, wird es mir immer rechtzeitig gelingen, solchem Verhängnis durch die erforderlichen Widersprüche vorzubeugen. Je mehr ein Schüler darauf dringt, meine genaue persönliche Meinung zu erfahren, desto paradoxer drücke ich mich aus, so daß er im Grenzfall, wo er Erlösung und Frieden suchte, in an Verzweiflung grenzende Unruhe gerät. Eben dies beabsichtige ich: wer immer den Menschen helfen will, bringt nicht den Frieden, sondern das Schwert. Nur meine Einstellung, mein Rhythmus, gehen die andern an. Ihre besonderen Gedanken müssen sie selber denken, nachdem die Beunruhigung, die ich ihnen einflößte, das Kristallisierte zerbrochen und den Organismus umgestellt hat. Und ebensowenig wie meine Person meinen Schülern letzte Instanz sein darf, ebensowenig sind sie es für mich. Allerdings versenke ich mich in ihre Eigenart, aber nur dazu, um ihr Wesen zu erreichen, dieses richtig einzustellen und ihnen den rechten Rhythmus mitzuteilen, auf daß er dann fortschwinge. Nur auf die Übertragung des Rhythmus kann es der Schule der Weisheit ankommen, deshalb mißversteht diese, nebenbei bemerkt, keiner mehr, als wer eine Heilanstalt oder Seelsorgeamt in ihr erblickt. Selbstverständlich kommt es gerade letztlich auf jeden einzelnen an; das Christentum spricht mit seiner Lehre vom unendlichen Wert der Menschenseele durchaus wahr. Wer aber historisch wirken will, der muß als Feldherr denken. Soll ein Impuls in die Welt gesetzt werden, welcher allen zugute kommt, dann muß er es von solcher Einstellung aus, welche die weiteste Fernwirkung ermöglicht. Und wesentliche Menschen wollen auch nie persönliche Befriedigung finden – sie wollen nur fortwirken, so daß die Schule der Weisheit solchen nichts schuldig bleibt. Einstellung und Rhythmus, nicht deren jeweilige Verkörperung, sind eben das Eigentliche, das Erste und das Letzte. Wohl läßt sich der letzte Ausdruck einer Wahrheit denken – es wäre der zeitlich letzte vor dem Erduntergang –, ein endgültiger niemals, denn der Ausdruck wird par definition durch die jeweiligen empirischen Verhältnisse bedingt, und der Sinn kann bei genügender Vertiefung durch jeden hindurch verstanden werden, davon ganz abgesehen, daß keiner als letzter gelten darf, daß jeder erkannte und entsprechend ausgedrückte auf tiefere zurückweist, welche nun ihrerseits nach irdischem Ausdruck streben.

Das unerreichte empirische Ziel war es also von jeher, welches fruchtbar gewirkt hat. Was den Impuls der Schule der Weisheit nun von allen früheren auszeichnet, ist hier wie überall der Umstand, daß er sich der Wahrheit bewußt ist, den Sinn vorwegnimmt und demzufolge das Schicksal überwindet. Sie zentriert sich von vornherein in dem, was allein sich im Wandel der Zeiten behaupten kann. Sie nennt sich Schule, aber nichts perhorresziert sie mehr, wie im üblichen Sinne Schule zu machen. Nichts widerspräche ihrem Sinne schreiender als das Entstehen einer buchstabengläubigen Jüngerschaft. Zu nichts reicht sie weniger die Hand als zur Bildung einer Gemeinschaft im üblichen äußerlichen Verstand. Sie wird sich nie auf eine bestimmte Lehre letztinstanzlich festlegen. Sie vertritt jeweilig das, was nottut für die gegebene lebendige Situation, bald das Letzte, bald aber das Allervorläufigste, sie vertritt umschichtig sich geradezu Widersprechendes, denn, was sie meint, liegt jenseits aller Buchstaben. Gerade die Selbstvervollkommnung lehrt und betreibt sie auf kein ein für allemal bestimmtes Ziel hin (obschon sie jedem einzelnen freilich ein jeweilig begrenztes Ziel setzt), weil ein letztes überhaupt nicht abzusehen ist: jedes Erreichte wird zur Etappe auf dem Weg zu höherem. Charakter aber bildet sie just von der Voraussetzung aus, daß innere Festlegung der Freiheit und folglich Würde des Menschen widerstreitet (S. 392). Ebendamit nun überwindet sie von vornherein ihren eigenen möglichen Tod. Sie nimmt alle nur mögliche spätere Fortbildung und Verbildung im Geist vorweg und stellt sich über sie. Sie nimmt alle nur mögliche Zersplitterung vorweg und alle nur mögliche Feindschaft. Feindschaft ist selbstverständlich, wo immer eine Gestaltung die andere im Leben bedroht und deren Seele nicht über ihr steht. Sie ist auch vollberechtigt, denn keinem Wesen kann zugemutet werden, aus theoretischen Erwägungen sein eigenes Todesurteil zu unterschreiben. Der Schule der Weisheit nun sind Freundschaft und Feindschaft genau gleich viel wert, denn sie will eine Bewegung einleiten, und ob diese nun mit positivem oder negativem Vorzeichen zu ihr selbst verläuft, darauf kommt es ihr nicht an. Aber wenn ihr Freundschaft und Feindschaft gleich gelten, so steht sie der sogenannten Konkurrenz rein wohlwollend gegenüber. Möchten doch recht viele Gestaltungen gleicher Einstellung entstehen: so wird sich diese, auf die allein es uns ankommt, am schnellsten durchsetzen, und deren jeweilig günstigste Verkörperung sich am ehesten als solche erweisen. Genau so bewillkommne ich jeden anderen Sinnesphilosophen. Ich stehe in meiner Einstellung als Denker durchaus nicht einzig da und freue mich dessen, denn wäre letzteres der Fall, so könnte ich befürchten, ein Exzentriker zu sein Vgl. hierzu meine Betrachtungen über Flake und Feldkeller in der Bücherschau des 3. Hefts des Wegs zur Vollendung.. Gewiß hat niemand ein Recht zur Behauptung, Gleiches darzustellen, wie die Schule der Weisheit tut, der nur eine Anstalt gleicher sachlicher Bestimmtheit gründet; es muß ein gleichsinnig eingestellter Mensch da sein, welcher sie leitet. Solcher aber kann es von unserem Standpunkt nie genug geben. Jeder, der das Darmstädter Zentrum besuchte, soll es ja als schlechthin selbständiger Mensch verlassen, er soll ein neues souveränes Zentrum werden, welches sonnenartig strahlt. Er soll das tun, was ihm persönlich, nicht mir, gemäß ist, zu seinem Kreise sprechen. Und sollte das Zentrum eines anderen einmal dem Sinn dessen, was wir in Darmstadt wollen, besser entsprechen als unser eigenes, so werden wir die ersten sein, es in seinem Werte freudig anzuerkennen. Noch einmal: die Schule der Weisheit nimmt alle nur mögliche empirische Wandlung im Geist vorweg und überwindet damit jedes nur mögliche Schicksal.

 

Insofern hätte ich über ihr Ziel grundsätzlich nichts zu sagen. Praktisch kann ich es dennoch, weil jeder neuerfaßte Sinn mit Notwendigkeit an einen entsprechenden neuen Ausdruck gebunden ist. Dies gilt auch von dem, welchen die Begriffskoordinaten der Einstellung und des Rhythmus bestimmen: so wenig dieser auf der Ebene der festen Gestaltungen festzulegen ist – er impliziert doch, als Ausdruck, bestimmte Richtungen möglicher Entwicklung und diese allein, deren ideelle und grundsätzliche Ziele sich durch allgemeine Begriffe fassen lassen. So darf als erstes praktisches Ziel der Schule der Weisheit gelten, auf allen nur möglichen Gebieten der Erkenntnis Bahn zu brechen, wie unbedingt schöpferisch wir Menschen sind. Gestern wurde Ihnen klar, daß die Vorstellung als solche in erster Linie kein Unwirkliches, sondern ein Wirkliches ist, und sich eben deshalb in andere Formen der Wirklichkeit umsetzt. Phantasie schafft recht eigentlich Realität. Unter diesen Umständen ist sogar das, was man so gern als künstlich oder willkürlich mißachtet, z. B. die Konvention, in erster Linie neue Wirklichkeit, oder doch die Voraussetzung solcher. Nichts könnte in der Tat mißverständlicher sein, als die Konvention an sich zu bekämpfen (so viele ihrer Sonderformen auszurotten seien), denn damit wird das meiste dessen bekämpft, was den Menschen zum Menschen macht. Dieser ist nämlich nicht von Natur aus Mensch, sondern kraft seines schöpferischen Geists. Ohne selbstgesetzte, von der Natur aus betrachtet willkürliche Schranken gäbe es keine Liebe übertierischer Art, kein Gemeinschaftsleben, keine Kunst. Liebe ist durchaus ein Kunstprodukt. Je nach den Grenzen, die sich der Mensch setzte, ist sie anders erschienen. Die antike Liebe war ein anderes, als die der Troubadours, die moderne früheren Zeiten unbekannt. Deshalb kann sie auch ohne Schwierigkeit aus der Welt geschafft werden. Eben das betreibt die jüngste Schamlosigkeitskultur. Wie soll man einer Dame den Hof machen, die sich einem als erstes ohne Hüllen zeigt? Zu allererst mag der Fortfall jeder Distanz gewiß zu einer Wiedergeburt der Zustände von Sodom führen: auf die Dauer mit Unvermeidlichkeit zu deren Gegenbild. Kein Tier ist lasterhaft, nur wenige Arten sind lüstern. Wo die Selbsttätigkeit der Phantasie in Fortfall kommt, wird das reine Naturwollen Gesetz. Der Sündenfall wird rückgängig gemacht, die Unschuld siegt. Aus Herren und Damen werden Männchen und Weibchen, die sich bis auf kurze Perioden interesselos aneinander vorbeibewegen. – Daß kein Staatsgebilde hält, daß alle Gesellschaftsmoral sich auflöst, sobald gewisse Vorurteile fallen, haben wir alle erlebt. Was, vom Verstand her betrachtet, Vorurteil ist, ist andererseits Bedingung höherer Wirklichkeit. – Jede Kunst setzt zu ihrem Dasein bestimmte konventionelle Hemmungen des Schöpfungstriebs voraus: die Flächendarstellung, den Reim, die Fugenform. Aber gleiches gilt von schlechthin allen Gebieten, welche der Geist bedingt. Kant hat gezeigt, welch' verstricktes Netzwerk von Begriffsbeziehungen dazu erforderlich ist, damit das, was wir wissenschaftliche Menschen Erkenntnis nennen, zustande komme; diese ist an Axiome, Prinzipien, Postulate unbedingt gebunden, welche alle nur vom Menschen her bestehen. Dieses letzte Beispiel führt uns nun zum Satz zurück, daß die Konvention in erster Linie kein willkürlich-Unwirkliches, sondern neue Wirklichkeit, oder doch die Voraussetzung solcher, bedeutet. Das »Subjektive« der Erkenntnisformen macht gerade objektive Erkenntnis möglich. So entsteht aus jeder freien Geisteskonstruktion recht eigentlich eine neue Etage der Wirklichkeit, und es ist nicht abzusehen, bis wohin dieser Prozeß zu führen sei. Die höhere Mathematik legt die Unendlichkeit als imaginäre Grenze nahe. Gibt es nichts Höheres als die Liebe, die wir bisher kennen? Seltene Mystiker wußten schon von solchen zu künden. Keine edlere Gemeinschaft, als alle bisher verwirklichte? An Utopisten, welche solche vorwegnahmen, hat es nie gefehlt. Aber Utopie im sozialen Leben bedeutet offenbar nichts anderes, als eine höhere Art Gleichung in der Mathematik, eine durchgeistigtere Form der Schönheit in der Kunst. Ihre Verwirklichung ist wesentlich möglich, nicht unmöglich, wie immer es mit der Praxis bestellt sei; die einzige Forderung, der nicht entgegengeschaffen werden kann, besteht darin, daß eine Konstruktion den Bedingungen ihrer eigenen Möglichkeit nicht widerspreche. Die Natur verkörpert für uns Menschen keine Grenze nach oben zu. Sie stellt in ihrem Dasein nur eine bestimmte Stufe möglicher Wirklichkeit dar, bei welcher Halt zu machen, über welche hinauszusteigen oder zu welcher zurückzukehren Sache des freien Willens ist.

Der Menschengeist ist also unbedingt schöpferisch; er ist es genau im gleichen Sinn, wie es derjenige Gottes war, als Er die Welt erschuf. Dies gilt auch insofern, als die reichere Schöpfung tiefere Sinneserfassung voraussetzt, mit welcher Feststellung wir von einer anderen Seite her zu der früheren Erkenntnis der Korrelation von Reichtum und Tiefe zurückgelangen (S. 191). Höhere Formen der Mannigfaltigkeit erfand die Mathematik von dem Tage an, wo sie den Sinn der bekannten ganz verstanden hatte. So war es auf allen Gebieten von jeher. Nur ist es der Menschheit noch nie ganz zum Bewußtsein gekommen, und zwar gerade in den beiden wichtigsten Hinsichten nicht: daß mit jeder Vorstellung und Erfindung unbedingt Neues, Niedagewesenes in die Welt gesetzt, deren Inventar somit absolut bereichert wird, und daß diese Bereicherung auf freier Schöpfung beruht. Im allgemeinen ist sie bei der halben Einsicht stehen geblieben, daß die Vorstellung Abbilder der Wirklichkeit schafft, daß der Geist diese a posteriori deuten kann und im übrigen auf einem eng beschränkten Gebiete, dem der eigentlichen Erfindung, im vollen Wortsinn schöpferisch ist. Wohl haben William James und Bergson das Verständnis für den wahren Sachverhalt vorbereitet, aber dessen Bedeutung bezeichnet noch nirgends, daß ich wüßte, eine selbstverständliche Voraussetzung, außer bei einer gewissen Klasse von Amerikanern und einzelnen Geschäftsleuten größten Stils innerhalb aller Nationen, die zwar nicht denken, dafür aber instinktmäßig aus der richtigen Einsicht heraus handeln, wementsprechend sie sonst unerhörte Erfolge erzielen. Sie muß aber zur verstandenen und daraufhin selbstverständlichen Voraussetzung werden, denn dann erst wird die Souveränität des Menschen sich frei entfalten, dann erst seine wahre Geschichte beginnen können (S. 341). Dieses zu bewirken, darf als erstes und vornehmstes Ziel der Schule der Weisheit gelten. Eben dieses erreicht sie praktisch in jedem Fall, wo es ihr einen Einzelnen von der Erkenntnis her so zu vertiefen und umzuzentrieren gelingt, daß er fortan als schlechthin souveräne Persönlichkeit weiterwirkt; eben dies erreicht sie im großen durch das Beispiel der Vielheit gleichsinniger Erfolge, durch die hindurch der einheitliche Ursinn am besten einleuchtet. Dieses eine Ziel, daß sie sich setzt, würde schon genügen, um die Schule der Weisheit als historische Notwendigkeit zu erweisen, denn es ist kaum zu glauben, bis zu welchem Grade die Einsicht in das schöpferische Menschenwesen den meisten fehlt. Nur die allerwenigsten begreifen bisher, daß Sinneserfassung Sinngebung ist, daß Sinngebung mehr wie Deutung ist, vielmehr recht eigentlich Schöpfung im göttlichen Verstand, daß der Eigen-Sinn der Gegebenheiten keine letzte Instanz darstellt, sondern seinerseits zum Ausdrucksmittel beliebigen Sinnes werden kann. Und solange diese Einsicht fehlt, kann sich die Wahrheit auch nicht manifestieren. Neuer Sinn realisiert sich nur durch freien Willen hindurch; wo dieser nicht einsetzt, weil entsprechendes Verständnis, entsprechender Glaube fehlen, dort realisiert sich auch nichts. Kein Wunder daher, daß die gesamte Geschichte, mit Ausnahme seltener, als Zauberer wirkender Persönlichkeiten, gegen die hier behauptete Wahrheit spricht Dies führt zumal Theodor Lessings Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen (München, C. H. Beck) sehr eindrucksvoll aus.. Sie wird sich aber als Grundwahrheit erweisen, sobald sie verstanden und selbstverständlich geworden ist. Denn der Logos gibt dann dem Eros eine neue Richtung (S. 266), wodurch auf einmal wirklich wird, was früher niemals wirklich war.

 

Aber die neue reinschöpferische Weltphase kann erst dann beginnen, wenn die Einsicht in das Schöpfertum des Menschen als schlechthinige Selbstbestimmung zu Fleisch wird. Diese kann praktisch nur in der einen Form absoluter Selbstverantwortung in die Erscheinung treten, und diese der Welt der historischen Erscheinung als bewußte Forderung einzubilden, ist der Schule der Weisheit zweites ein für allemal bestimmbares Ziel. Wenn Verstehen, nicht Wissen entscheidet, wenn es einen grundsätzlichen Unterschied macht, ob einer Gleiches freiwillig und bewußt, oder aber gezwungen, mechanisch und unverantwortlich tut, wenn nur persönliche Initiative dem Geist zur Herrschaft verhilft, dann ist klar, daß ein wesentlicher Fortschritt über den heutigen Zustand hinaus nur dadurch erfolgen kann, daß die Menschen viel schwerere Verantwortung zu tragen lernen, als je bisher geschah. Nichts, schlechthin nichts darf einer dem andern, oder die Institution der Person, oder schließlich ein geglaubter Gott dem Menschen abnehmen. Nur insofern jeder Einzelne sich selbst letzte Instanz ist, in dem er alle Selbsttäuschung, alle Feigheit verwirft, wird die Person zum Brennpunkt der kosmischen Kräfte (S. 340), greifen deren tiefste zuletzt ein. Anstatt über diesen Punkt zu theoretisieren, will ich lieber zwei praktische Beispiele dessen anführen, was gewöhnlich geschieht, und was statt dessen immer geschehen sollte: so gelangen Sie am schnellsten zum lebendigen Verständnis dessen, worauf es eigentlich ankommt. Die meisten wollen Rat hören. Dem, welcher einen darum ehrlich angeht, seine bessere Einsicht mitzuteilen, ist nun freilich Pflicht. Jedoch nur soweit, als rein Sachliches in Frage steht. Einem andern direkt zu sagen, was er tun soll, bedeutet vom geistigen Standpunkt Anmaßung und vom ethischen Schwächung von des anderen Verantwortungsgefühl, somit bewußt beabsichtigte Veroberflächlichung. Jeder muß selbst entscheiden, denn nur insoweit kann seine Tat, welche immer sie sei, seiner Seele frommen. Wer deshalb dem anderen helfen will, wird ihm niemals zu dem raten, was er von selbst nicht tun würde, denn eine Zuwiderhandlung gegenüber dem tiefsten Selbst ist recht eigentlich eine Sünde wider den heiligen Geist; der wird ihm auch nicht, aus falschem Mitleid, die Verantwortung nehmen, sondern ihm, nachdem er ihn anhörte, klar machen, was er im tiefsten will und ihm dann helfen, seiner Überzeugung zu leben, auch wo diese der des Ratgebers widerspricht. Nur solcher Rat hilft wirklich, denn er macht den Menschen selbständiger, läßt seine Wesenskräfte wachsen. Und nicht nur die des Beratenen: indem der Ratgeber einem andern auf einem Wege hilft, welcher dem seinen vielleicht schnurstracks zuwiderläuft, wächst er selber innerlich, denn er befreit sich einerseits von den Bindungen seiner Person, trägt andererseits eine Verantwortung freiwillig mit, die in bezug auf ihn selbst ein Opfer bedeutet. – Das zweite Beispiel bietet der Konflikt zwischen idealer Gesinnung und den sogenannten Realitäten des Lebens. Mich besuchte einmal der Inhaber eines Anzeigengeschäfts, der am Dilemma litt, entweder mancherlei aufzunehmen, was er vom sittlichen Standpunkt nicht ganz verantworten konnte, oder aber mitsamt den Seinen in Not zu geraten. Ich sagte ihm: »Dadurch, daß Sie Ihr Geschäft aus sittlichen Gründen aufgeben, machen Sie die Welt nicht besser, entziehen Ihrem Berufskreise bloß einen anständigen Menschen. Dadurch, daß Sie verhungern, wo dies nicht nötig ist, versündigen Sie sich an Deutschland, das heute mehr denn je früher wirtschaftlich kräftige Existenzen braucht. Sie sollten die Frage anders stellen. Meditieren Sie täglich, was an Ihrem Handeln unzweifelhaft schuldhaft ist, täuschen Sie sich ja nichts Beschwichtigendes vor. Dann aber nehmen Sie die Schuld freudig auf sich und arbeiten Sie weiter: Sie werden finden, daß Ihnen aus dem freudigen Tragen der Schuld neue Kräfte erwachsen; Sie werden zu einem anderen Menschen werden. Dieses aber wird unmerklich dahin führen, daß Sie immer weniger zweifelhafte Inserate aufzunehmen brauchen, zuletzt gar keine mehr, weil sich Ihre Kundschaft immer bessern wird. Nach Jahr und Tag werden Sie in der Lage sein, mit ökonomischer Macht versehen, in Ihren Kreisen edlerer Gesinnung zum Sieg zu verhelfen.« So allein ist das Schuldproblem zu lösen, welches sich jedem stellt, der diese Erde bewohnt. Dieses Leben ist unabänderlich tragisch. Unversöhnbar ist der Widerstreit zwischen dem Gesetz der Natur, in welcher ein Wesen notwendig auf Kosten anderer lebt, und dem des Geistes, welches geben ohne Wieder-nehmen-wollen verlangt. Noch keiner hat ihn hienieden überwunden, noch wird es je einer tun; wer ganz Gott leben will, um der Sünde zu entgehen, muß Pflichten Menschen gegenüber erst recht verleugnen, welche keinesfalls hinwegzudisputieren sind. Die meisten helfen sich damit Vogelstraußpolitik. Die sogenannten Schlimmsten leugnen das Gesetz des Geists, die sogenannten Besten verhehlen sich die Wahrheit. Diese konstruieren sich eine Theorie, gemäß welcher alles, wie es ist, zum besten erscheint; vermittelst ihrer verdrängen sie alle unangenehmen Eindrücke und Gedanken; ihr Schuldgefühl ersticken sie durch Idealismus. Aber solcher Idealismus bedeutet selten anderes als Angst davor, sich die Wahrheit einzugestehen. Niemand stehe ich daher von Hause aus mißtrauischer gegenüber, als dessen lauten Bekennern; jeder eingestandenermaßen Selbstsüchtige ist dem Heile näher, denn er hat wenigstens den Mut zur Wahrheit. Gerade diesen hat kaum ein Idealist. Deshalb wirft ein solcher so gern, falls er sich den Tatsachen nicht verschließen kann, wie zumal im alten Rußland üblich, wo Fürsten und Fürstinnen mit Vorliebe »ins Volk« gingen, seine schuldbehaftete Tätigkeit fort und entzieht sich damit der Verantwortung. Aber auf diesem Wege macht man die Welt nicht besser, wird man selbst nicht tiefer. Unter allen Umständen trägt jeder mit an aller Schuld, wie Dostojewskys Starez Sossima lehrte. Und Christus bewies die Echtheit seiner Berufung durch nichts so sehr, wie daß er nicht allein seine Schuld, sondern die aller auf sich nehmen wollte. Nur mit dem, was man sich eingesteht, was man auf sich nimmt, wird man innerlich fertig. Deshalb trägt der höhere Mensch seine Schuld, wie Atlas den Himmel, und will sie gar nicht abschütteln. Indem er aber also das Schicksal auf sich nimmt, überwindet er es. Sein Bewußtsein faßt Wurzel im Metaphysischen, dessen empirische Ausdrucksmittel werden transparent. So wird das schuldige Dasein zuletzt zum Ausdruck reinen Segens. Man muß eben alle Verantwortung selber tragen: dies ist der einzige Weg für jeden Einzelnen wie für die ganze Menschheit, um wesentlich weiterzukommen. – Dies zu lehren, am praktischen Beispiel zu erweisen, ist, wie gesagt, der Schule der Weisheit zweitwichtigster Beruf. Indem sie nun aber also vollkommene Selbstbestimmung und »Verantwortung lehrt, setzt sie nur den Weg fort, den die westliche Menschheit von Sokrates ab geschritten ist. Dessen Impuls zielte auf geistige Klarheit ab. Diese kann nie groß genug werden. Wir müssen alles Wirkliche verstehen, denn dadurch allein werden wir zu dessen Herren. Die Klärung darf auf ihrer Ebene vor gar nichts Halt machen, auch keinem sogenannten Mysterium, denn nichts ist insofern Geheimnis, daß es nicht gedeutet werden dürfte (S. 280). Wenn etwas dunkel oder verborgen bleiben muß, so ist eben der Sinn dieser Notwendigkeit aufzuklären, gleichwie die Ratio allein dem Irrationalen seinen rechtmäßigen Ort anweist. Und wenn ein Wirkliches in oder außer uns furchtbar und beängstigend scheint, so müssen wir es desto heller belichten, denn nur Verstandenem und Eingestandenem unterliegen wir nicht. Aber die wachsende Klarheit verlangt allerdings entsprechend wachsende Kraft und wachsenden Mut, um ertragen zu werden: so mündet des Sokrates Impuls von selbst in jenen anderen ein, der ursprünglich schon von Christus ausgeht, aber erst während der Renaissancezeit die Bestimmung erfuhr, welche ihn heute kennzeichnet und ihn zum leitenden des Westens gemacht hat: den Impuls zur schlechthinigen Selbstverantwortung. Dessen repräsentativster Träger bisher ist Luther. Er ist es, obgleich das, was er als Ziel erstrebte, vom Calvinismus wohl besser erreicht worden ist als durch das Luthertum, denn Luthers Einstellung ist der eigentliche λόγος σπερματιχός alles reformierten Christentums, und auf die Einstellung kommt, wie wir wissen, alles an. Diese Einstellung verlangt, noch einmal, schlechthinige Selbstverantwortung. Alle Rückversicherungen sind nach Möglichkeit abzubauen. Luther und auch Calvin ist dies in vollem Maße nicht gelungen. Beide rückversicherten sich schließlich doch in Gottes Willen. Aber ihr sehr leibhaftiger Gott war schließlieh nur ihr hinausprojiziertes eigenes tiefstes Selbst; ihr Gottvertrauen bedeutete deshalb Selbstvertrauen, wie das Bild des Puritaners am eindeutigsten erweist. Es ist eine typische Vorstufe der Selbstverwirklichung, daß das tiefste Selbst einem als »geistiger Führer« erscheint, mit dem man sich nicht identisch fühlt. Heute gilt es volle, kompromißlose Selbstverwirklichung. Wir nun tun den nächstfälligen Schritt, zugleich den ersten über das Erreichnis der Reformation hinaus – denn was seither an Fortschritt stattfand, gilt nur für das Gebiet des Intellekts –, indem wir volle Klarheit, volle Aufrichtigkeit fordern und letzte Selbstverantwortung. Bei anderer Gelegenheit habe ich einmal gesagt, daß Ansichten-Haben unmoralisch sei Vgl. Politik, Wirtschaft, Weisheit, S. 192.. Auf unserer Eröffnungstagung setzte ich des breiteren auseinander, wie Verantwortung von selbst zur Einsicht führt (S. 194): die heutige Betrachtung schließt diesen Kreis. Beschieden sich die Menschen nicht mehr bei mechanischer Pflichterfüllung, die Entscheidung darüber anderen überlassend, ob die jeweilige Pflicht dem Ideal entsprechend sei, wäre es selbstverständlich, daß, was immer durch Menschen geschieht, aus schlechthiniger persönlicher Überzeugung geschehen muß, dann würde die Welt bald in einem Grad verändert sein, den kein Utopist sich je nur träumen ließ. In der Region der »Ursachen« entsprechen den ungeheuersten »Wirkungen« nämlich ganz geringfügige Verschiebungen. So seltsam es klinge: es bedarf wirklich keines anderen, als des Siegs der hier vertretenen Einstellung, deren begrifflicher Ausdruck, wie ich ihn zuletzt faßte, nicht einmal neu ist, welche ungezählte Einzelne von jeher vertreten haben, um eine ideale Welt zu begründen. Siegt sie, dann wird zunächst die soziale Frage gelöst sein, insofern sie sich in ihrer heutigen Artung nicht mehr stellen kann. Unter lauter Herren gibt es keine soziale Frage. Würden alle nun innerlich souverän, und das kann geschehen, denn es ist eine Frage der inneren Bildung, nicht der äußeren, dann gäbe es bald keine Knechte mehr, und ein dem Inneren entsprechender äußerer Zustand ließe nicht lange auf sich warten. Umgekehrt ist, wo die Menschen als Knechte gesinnt sind, kein Freiheitsideal realisierbar. Die Lösung der sozialen Frage hängt also unmittelbar von der inneren Umstellung, Vertiefung und Neuenergisierung ab, welche die Schule der Weisheit vertritt. Diese braucht sich um jene bewußt überhaupt nicht zu kümmern und tut es grundsätzlich nicht, denn nur das Schnittpunktproblem (S. 163) geht sie an. Aber setzt ihr Impuls sich nur durch, dann ereignet das entsprechende Empirische sich von selbst. Rein sachlich, dem Inhalte nach, ist, wie ich schon oft betont habe, an der Erscheinung des Lebens sehr wenig zu ändern; bis zum jüngsten Tage wird es wohl beim alten Alphabete bleiben, denn die meisten bekannten Gestaltungen bedeuten Bedingungen des Daseins der Natur. Man kann die Selbstsucht nicht aus der Welt vertreiben, denn geschähe dies, dann wäre unser Geschlecht bald ausgestorben. Man kann den Besitz nicht abschaffen, denn er entspricht einem Urtriebe des Menschenwesens; wo solches dennoch geschieht, dort stellt er sich auf Umwegen alsbald wieder her, und diese demoralisieren mehr als alle Ungerechtigkeiten überkommener Verteilung. Man kann die Unterschiede zwischen den Menschen nicht fortdekretieren, denn sie sind einmal da. Wird eine Hierarchie gestürzt, so tritt nur eine andere an deren Stelle, und künstliche sind immer weniger sinngemäß als natürlich gewordene. Man kann das Geschäftsleben als solches nicht idealisieren, weil der Gewinn zu dessen Wesen gehört, und seine besondere Ästhetik entspricht offenbar dem letzten Sinn der Welt, denn wer jener zuwiderhandelt, der verbessert nicht ihren Zustand, sondern verschlimmert ihn; keine Bauernschaft des revolutionierten Rußland erwies sich als schlechter, als die des allesverschenkenden Tolstoi. Man muß schon sehr weit sein, um Geschenke annehmen zu dürfen; deshalb war es in Indien das Privileg des Brahmanen, im mittelalterlichen Europa das der Mönche, von Gaben zu leben, die keine Gegenleistung heischten. Wer immer so weit nicht ist, unterliegt einem Naturgesetz, das dem physikalischen von der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung verwandt ist und das man das Gesetz des Ausgleichs heißen mag Vgl. hierzu die Betrachtungen Über das Moralische in der Bücherschau des 3. Hefts des Wegs zur Vollendung.; dieses statuiert daß, wer immer nimmt, ohne entsprechend zu zahlen, an seiner Seele Schaden leidet; es statuiert, umgekehrt, die bekannte steigernde Wirkung wohlerworbenen Besitzes. Und hier hielten wir zugleich den wahren Fehler des kapitalistischen Zeitalters. Dieser bestand nicht in dessen Technik als solcher: er lag in der Gesinnung, welche die an sich berechtigte Technik betrieb, welche Gesinnung im Glauben an ein subjektives Recht seinen vielleicht besten Begriffsausdruck findet Genau ausgeführt steht dieser Gedankengang im Vortrag Wirtschaft und Weisheit in Politik, Wirtschaft, Weisheit. – Den Begriff eines »objektiven Rechts«, dem unstreitig die Zukunft gehört, hat zuerst Leon Duguit in seinem Manuel de Droit constitutionel (Paris 1918) und dem Buch Les transformations du droit public (Paris 1913) auszugestalten unternommen. Wie weit ihm dies geglückt ist, entzieht sich meiner Beurteilung.. Der Kapitalismus wähnte, ganz im Geist des vorhin Beanstandeten, daß man einnehmen dürfe, ohne entsprechend zu geben, also in diesem Falle, ohne im Geist der Allgemeinheit zu arbeiten proportional der Größe der ökonomischen Macht. Dies darf allerdings nicht sein, und daß solche Gesinnung entsprechende revolutionäre Gegengesinnung hervorrief, ist nicht weiter verwunderlich. Nur sind die praktischen Forderungen dieser ebenso verfehlt wie jene. Deren wichtigste ist wohl die, daß es nur Arbeitseinkommen geben dürfe. Gegen den »Sinn« dieser Forderung ist nichts zu sagen, desto mehr gegen dessen Verkörperung. Jener entspricht genau der vorhin aufgestellten, daß man für alles, was man erhält oder hat, entsprechend geben muß. Aber dies braucht doch nicht im Geist der untersten Stufe, derjenigen des Schwarzarbeiters, zu geschehen; damit würde alle Kultur unmöglich gemacht. Im Gegenteil: es muß soviel Privatbesitz wie nur irgend möglich geben, auf daß niemand schließlich sein Leben im bloßen Broterwerbe aufzubrauchen hätte. Das Ideal auf Erden wäre, ohne jeden Zweifel, daß nicht Armut, sondern Reichtum sich von selbst verstände, so daß schließlich jeder, wie die freien Griechen, nur seine höchsten Fähigkeiten auszuleben brauchte. Bringen wir nun alles das, was in diesem Zusammenhang nottut, auf die Formel, die, konsequent befolgt, seine Verwirklichung letztendlich ermöglichen würde, so kommen wir zu keiner anderen als der, daß Besitz nicht aufhören, sondern zur Verantwortung werden muß, womit denn die Lösung des sozialökonomischen Problems sich unmittelbar mit dem Sieg des Impulses der Schule der Weisheit zusammenfallend erweist. Faßten alle in der Tat ihren Besitz als reine Verantwortung auf, dann wäre es überflüssig, ihn umzuverteilen oder irgend jemand zu nehmen, denn es wäre völlig gleichgültig, wer ihn hat. Dieser Zustand herrschte in den besten Zeiten des Mittelalters, herrscht noch heute in den Wüsten Algiers und Marokkos, wo die Marabous allein reich, dafür aber allen Nomaden zu helfen und Zuflucht zu gewähren verpflichtet sind. Damals klagte, dort klagt kaum jemand. Freilich handelt es sich hier um primitive Zustände, welche niemand zurückwünschen kann. Aber nicht zwar Gleiches, wohl aber Gleich sinniges muß auch bei uns werden. Erst dann, wenn die Erkenntnis, daß aller Besitz Verantwortung ist, daß es kein subjektives Recht gibt, daß jeder entsprechend dem, was er empfängt, auch geben muß – dies selbstverständlich nicht in gleicher Münze, sondern seinem Besten entsprechend – zur selbstverständlichen Voraussetzung geworden ist, kann die sozialökonomische Frage gelöst werden. Dann wird es aber auch ganz von selbst dazu kommen. Dann werden auch alle Versuche, durch äußere Dekrete, entgegen den Normen der Natur, die Welt zum Paradiese umzugestalten, von selber aufhören. Sie sehen: im einen Postulat der reinen Selbstbestimmung und -verantwortung, das die Schule der Weisheit vertritt, liegt im Keim die Lösung der meisten praktischen Fragen – und zwar allein in ihm. Ich will dies noch kurz an den anderen vorhin berührten erweisen. Dem Neid, der ihm entsprechenden Nivellierungssucht ist allein dadurch erfolgreich zu begegnen, daß das noblesse oblige zum Leitmotive aller Menschen wird. Allerdings muß nivelliert werden, nur nicht nach unten, sondern nach oben zu. Die selbstverständliche Eigenliebe jedes Menschen muß zum Ausdrucksmittel einer tieferen Gesinnung werden, wie beim Genie von jeher typischerweise geschah, das freilich rücksichtslos sich selber auslebt, doch zu dem Ende, um der Menschheit sein Höchstes geben zu können. Die Selbstsucht soll also gar nicht aufgehoben – sie soll zum Ausdrucksmittel eines tieferen Sinnes werden. Hier wären wir denn zu unserem Hauptleitmotiv zurückgelangt. Nicht auf das »was«, sondern das »wer« kommt es letztlich an. Vom »wer« allein her lösen sich die brennendsten Fragen. Gewiß sind sie auch so nicht schnell zu lösen: in jedem kleinen »wenn« der vorhergehenden Gedankengänge liegen praktisch Jahrhunderte erbitterter Kämpfe beschlossen. Aber die sind keinesfalls zu umgehen. Es kommt nur darauf an, in welchem Geiste sie geführt werden. So lange die Fortschrittsfreudigen nicht einsehen, worauf es eigentlich ankommt, werden sie umsonst kämpfen. Stellen sie sich hingegen richtig ein, dann ist der Endsieg ihnen gewiß.

 

Sie sehen also: obschon sie kein einziges unmittelbar praktisches Ziel verfolgt, kommt die Schule der Weisheit allen unmittelbar zugute, weil nur der, welcher den Sinn erfaßte und diesen zu seinem Bewußtseins- und Schaffenszentrum erhob, dem bloßen Weltalphabet überlegen ist. Mehr über diese Fragen in abstracto zu sagen, hat keinen Zweck, denn nur konkrete Beispiele wirken verständnis- und lebensfördernd, vor allem aber möchte ich den Anschein vermeiden, daß ich mich auf ein bestimmtes Programm festlegte, das ich dann doch sofort zu desavouieren hätte. Die Schule der Weisheit will als solche, dies wiederhole ich immer wieder, nur das Eine: die richtige Einstellung vermitteln. Nur ergibt sich aus dieser eben ganz von selbst die richtige Lösung auch der praktischen Probleme, die sich jeweilig stellen, zu welcher gewiß nicht die Weisheitslehrer berufen sind, wohl aber die ihrer Schüler, deren Begabung und Tätigkeitsfelder entsprechend liegen. (Hier verstehe ich das Wort »Schüler« natürlich nicht buchstäblich – ich meine die, welche so oder anders den Darmstädter Impuls in sich verarbeiteten.) Zum Abschluß der vorhergehenden praktischen Auseinandersetzungen will ich nur noch kurz die neue Einstellung zu Beruf und Arbeit skizzieren, die sich aus unserer allgemeinen als notwendige abgeleitete ergibt. Was ich über beide im ersten und zweiten Heft des Wegs zur Vollendung ausgeführt habe, brauche ich wohl nicht zu wiederholen. Hier möchte ich das Problem vom Grundsatz der Schule der Weisheit her beleuchten, jede Sprache, jede Weltanschauung, jede Anlage zunächst als gleichwertig anzusehen. Der besagte Grundsatz bezieht sich selbstverständlich auch auf die Sonderstellung des Einzelnen im Leben. Doch seine Gültigkeit auf diesem Gebiete leuchtet anscheinend nicht so ohne weiteres ein: unter den Arbeitern, Handlungslehrlingen, Kaufleuten, Industriellen, welche mich hier besuchen, kamen nicht wenige zunächst mit dem geheimen Wunsche, umzusatteln und Philosophen zu werden. Sofern ihr Beruf ihrer Natur einigermaßen entsprach, riet ich ihnen dringend ab: philosophische wie künstlerische Leistung sei nur im Höchstfalle überhaupt wertvoll, im Gegensatz zu jeder praktischen, welche es immer ist; Philosophie als Beruf habe nur für solche entsprechend Begabte Zweck, die an deren wissenschaftlichem und historischen Material zeitlebens Beschäftigung zu finden geeignet sind; nichtwissenschaftliche Philosophie jedoch gedeihe als Nebenbeschäftigung am besten, weil Lebensweisheit nur erwachsen kann, und dies am besten gelingt, je weniger Zeit auf einmal das Bewußtsein auf sie aufwenden kann. Dann aber lehrte ich sie, die Frage des Berufes umzustellen. Nicht darauf kommt es an, welchen man technisch ausübt, sondern was man vermittelst desselben an inneren Werten zur Auswirkung bringt. Man soll, anstatt Philosoph werden zu wollen, um Höherem leben zu können, unmittelbar sein Menschentum vertiefen, und dessen erhöhte Qualität alsdann mit den Mitteln auswirken, die einem gerade zur Verfügung stehen. Abstrakte Philosophie ist ihrerseits nur ein Ausdruck lebendiger Tiefe; ihre Sprache ist nicht allzuvielen verständlich, vor allem wissen nur sehr wenige das in ihr vielleicht Verstandene in andere, praktischere Sprachen zu übersetzen. Deshalb sind besonders viele noch so tiefe berufsmäßige Philosophen für ein Volk kein Glück. Viel wichtiger ist eine möglichst große Zahl tiefer Menschen in allen Lebensstellungen, weil nur durch solche das, was der Philosoph vielleicht am besten zu sagen weiß, als lebendiger Impuls in alle Schichten eindringt. Inwiefern der Sonderberuf selbst auf diese Weise zum Ausdruck tieferer Gesinnung werden kann, habe ich vorhin am Beispiel des Annoncengeschäftsinhabers, und allgemeiner in meinem Vortrag über Wirtschaft und Weisheit, auseinandergesetzt. Hier ist kein Rezept möglich; wer selbst tiefer geworden ist, wird ganz von selbst seinen Sonderberuf in tieferem Geist, auf höhere Ziele hin, betreiben. Aber auf ein anderes, entscheidend Wichtiges, sei hier noch hingewiesen: wer von Beruf ein Kaufmann, zur Sinneserfassung und -verwirklichung vorgedrungen ist, wird fähig sein, sein besseres Wissen seinen Berufsgenossen in solcher Sprache mitzuteilen, die sie verstehen können. Praktischen Leuten Metaphysik zu predigen, hat selten Zweck; ihnen theoretische Vorhaltungen darüber zu machen, wie man's im allgemeinen machen soll, noch weniger. Es fände aber ein Kaufmann die beste Lösung eines bestimmten praktischen Problems, die nur von tieferer Sinneserfassung her möglich war, und diese anderen werden sich bereit finden, ihrerseits tiefer zu werden. Weisheit ist eben keineswegs an die Philosophie als Beruf und Ausdrucksmittel gebunden. Worauf es für den Menschen in diesem Zusammenhange einzig ankommt, ist das, was ich im Reisetagebuch Vollendung nannte, und hier am besten wohl Erfüllung hieße. Gleichwie in jedem Menschen das ewige Leben pulsiert, so läßt sich auch durch jeden Beruf hindurch das Tiefste ausdrücken – nur muß ihn der Mensch mit seiner Tiefe füllen. – Und aus diesen Erwägungen nun ergibt sich eine neue Einstellung zu Beruf und Arbeitsart als Werten. Jede Arbeit ist grundsätzlich gleich wertvoll, jeder Beruf gleich edel. Nur darauf kommt es an, wer sie ausübt. Bis zum Ende der Zeiten, trotz aller nur möglichen Maschinen, wird es immer alle Arten von Arbeit geben; nur deren sogenannte höhere Arten dem Menschen aufzusparen, wird nie gelingen. Die bloße Hoffnung darauf ist mißverständlich. Aber wenn alle Arbeit als gleich wertvoll und edel anerkannt wird – und das kann und muß sie werden –, dann wird auch das Bedürfnis schwinden, an diesem Buchstaben des Lebens viel zu ändern. Solche Auffassung von Beruf und Arbeit ist nun die einzig sinngemäße. Stellen Sie sich vor, was geschähe, wenn der Akzent allgemein darauf gelegt würde, wer Beliebiges tut – sofort sähe unsere Erde anders aus. Dann würde der Nachdruck nicht mehr darauf ruhen, daß etwa Schriftstellern edler als Schustern ist, sondern daß jenes ungleich größere Verantwortung impliziert und deshalb sehr viel vornehmere Gesinnung voraussetzt. Ein liederlicher Schuster schädigt hie und da einen einzelnen Fuß – ein leichtfertiger Schriftsteller vergiftet leicht ein ganzes Volk. So wäre es ganz sinngemäß – nicht etwa sachliche Zensur, jeder Mensch mag denken, was er will, alle Parteien haben als Sprachen ihre Berechtigung –, sondern einen Persönlichkeitszensus für Schriftsteller einzuführen. Heute liegen die Dinge ganz verrückt. Je größer die Macht eines Menschen, desto mehr scheint er geneigt, sie zu mißbrauchen. Dem gegenüber denken die meisten Schuster als Gentlemen, denn sehr wenige halten sich für berechtigt, schlechte Schuhe zu machen. – So erschiene die ganze Frage umgestellt, wenn als Hauptsache gälte, nicht was einer, sondern wer etwas tut. Und entsprechende Antwort im großen brächte unsere Erde schneller dem Paradieseszustand nahe, als jede nur erdenkliche äußere Reform. Denn Fortschritt gibt es nun einmal nur nach innen zu. Am Alphabet der Welt wird niemals viel zu ändern sein. Alles kommt darauf an, was man vermittelst desselben sagt. Würde nun tiefere Sinneserfassung und entsprechende Gesinnung aller Arbeit und aller Berufe Hintergrund, wirkten in allen zuletzt ausschließlich überlegene Menschen, dann dürften wir von einem so gewaltigen Fortschritt reden, wie es deren noch nie einen gab. Dann drückte sich durchgehend Höchstes und Geistigstes durch das Medium der Menschennatur aus, kein Einsichtiger stellte mehr die Frage, das Äußere der Erde zu dem Ende zu verwandeln, damit das Himmelreich sich schließlich auf ihr verwirklichte, denn die Erde wäre schon so ein Geistesreich.

Hiermit hätte ich Ihnen schon mehr Greifbar-Praktisches über unsere Ziele gesagt, als ich zu sagen die Absicht hatte. Bevor ich mich dem dritten und letzten Grundziel der Schule der Weisheit zuwende, möchte ich noch auf eines hinweisen: mit der Akzentverlegung auf das Schöpferische und die persönliche Überlegenheit stehen wir, gottlob, schon lange nicht mehr allein; wir tun nur vom höchsten Erkenntnisstandpunkt aus, was unbewußt gleichsinnig auf den verschiedensten Ebenen bereits geschieht. Wer immer den Genius im Kinde in erster Linie pflegt, nicht die Vorstufe des erwachsenen Zweckmenschen, der handelt in unserem Geist und Sinn Man studiere in diesem Zusammenhang Gustav Hartlaubs überaus lehrreiches Buch Der Genius im Kinde (Breslau 1922, Ferdinand Hirt), in dem über die betreffende Pflege eingehend berichtet wird. In ihm finden sich auch alle Hinweise auf sonstige hierhergehörige Literatur.. Am meisten grundsätzliche Einsicht unter den mir auf diesem Gebiet bekannten (über ihre praktischen Erfolge habe ich kein Urteil) beweist Maria Montessori Vgl. Selbsttätige Erziehung im frühen Kindesalter. Deutsche Ausgabe, Stuttgart 1913, Julius Hofmann Verlag.. Nach dieser gilt es beim Kinde vor allem die Initiative zu wecken; alles an dessen Betätigungen verfolge in Wahrheit kein äußeres, sondern ein inneres Ziel, das lebendige Wachstum – wer dieses verstehe und in der Erziehung den Nachdruck darauf lege, der wirke wahre Wunder, denn jedes Kind erwiese sich recht eigentlich als schöpferischer Geist; aus jedem könne ein seelisch so uns verbogenes, vornehm gesinntes Wesen gemacht werden, wie solche sonst nur unter den bevorzugtesten Klassen erwachsen; die Erziehung dürfe nicht auf Wissen und Können, nicht auf Inhalte und fertige Schablonen, sie müsse in erster Linie auf Gesinnung und innere Einstellung ausgehen: klingen diese Sätze nicht sämtlich wie Zitate aus meinen Vorträgen und Schülergesprächen? Was die Montessori mit dem physiologisch angehenden Menschen ausführt, eben das erstreben wir mit dem, der die bisher als höchste geltende Erziehung hinter sich hat. Denn uns beginnt die Menschenbildung erst auf der Stufe, welche der überwältigenden Mehrzahl leider noch als durchaus befriedigender Abschluß gilt.

 

Das erste Ziel der Schule der Weisheit ist, der Erkenntnis praktisch die Bahn zu brechen, wie unbedingt schöpferisch wir Menschen sind; das zweite, unbedingte Selbstbestimmung und -verantwortung zu lehren. Das dritte und wichtigste aber ist, dem Menschheitsbewußtsein die Erkenntnis einzubilden, daß die letztentscheidende Frage bei allen, welche den Wert betreffen, die des Niveaus ist. Darauf kommt alles an. Si duo faciunt idem, non est idem. Es ist unmöglich, Werte ein für alle Male zu bestimmen, unabhängig von der Tiefeneinstellung, die sie jeweilig vertreten; Nietzsche würde sagen: unabhängig vom Rang. Ein niederer entwertet die äußerlich edelste Tat. Umgekehrt verleiht ein höherer jeder Sonderbetätigung einen höheren Wert. Der abstrakte Wert mißt sich am Grad der konkreten Überlegenheit, nicht umgekehrt. So ist es, trotz aller Professorenphilosophie. Wäre es anders, so bedeutete Sein nicht mehr als Können, Gesinnung nicht mehr als Tüchtigkeit, Tiefe nicht mehr als Oberflächlichkeit. Daß die Anerkennung dieser Wahrheit gerade heute außerordentlichen Widerständen begegnen muß, ist klar: das Niveau der heutigen Menschen ist dermaßen niedrig, daß Selbsterhaltung sie zwingt, die richtige Fragestellung abzulehnen. Aber ohne daß sie siegte, gibt es für die Welt kein Heil. Ohnedem kann der Qualitäts- den Quantitätsgedanken nicht überwinden. Wenn die Entwicklung nach dem jüngsten Abstieg wieder aufwärts gehen soll, dann muß eine qualitativ bestimmte hierarchische Ordnung, entsprechend dem indischen Dharmabegriffe, wiederentstehen, wie solche ihre letzte europäische Verkörperung in mittelalterlichem Zustand fand (vgl. S. 214) – nur natürlich unserer höheren Einsichtsstufe gemäß. Vormals glaubte man, edles Blut als solches garantiere höhere Qualität. Demgegenüber lehrte Leo Tolstoi, nur der Bauer, lehrt der Bolschewismus, nur der Proletarier sei wahrhaft Mensch. In beiden Fällen handelt es sich um eine Verwechselung des Sinns mit seiner Erscheinung. Wo edles Blut mit Recht als Erstes und Letztes gelten durfte, dort bedeutete dies, daß man physiologisch noch so weit gebunden war, daß es unmöglich schien, mit geistigen Mitteln Gleiches zu erreichen. Und wenn im Rußland Tolstois tatsächlich nur der Bauer als höherer Mensch passieren durfte, so folgt daraus nur eins: wie tief der Russe noch stand; er stand noch so tief in seiner inneren Entwicklung, daß er nur die allerbeschränktesten Ausdrucksmittel vertrug. Wenn einer nichts mehr taugt, sobald er nur etwas Bildung genossen hat, so beweist dies einen erschreckenden Tiefstand. Heute sind die vorgeschrittensten Völker Europas soweit, das Problem jenseits aller empirischen Bindungen zu stellen. Die persönliche Qualität als solche soll fortan entscheiden, jede Rückversicherung in der Vererbung, von äußerlichen Beziehungen zu schweigen, soll entfallen, jedermann, gleichviel, als was er geboren sei, die ihm angemessene Stellung erlangen. Dies will allerdings auch die Demokratie. Aber wozu hat die Forderung der freien Bahn den Tüchtigen bisher geführt? Zur Vorherrschaft des Parteibonzen, des Demagogen und des Schiebers. Dies kann nicht früher aufhören, als bis die Niveaufrage in jedem einzelnen Fall mit äußerster Schärfe gestellt und als ausschlaggebend anerkannt wird, bis daß das öffentliche Urteil von der Erkenntnis ausgeht, daß das Sein über den Wert des Könnens, das »wer« über den des »was«, der Sinn über den des Tatbestandes entscheidet. Gegenüber dem heutigen Zustand war die auf die Vererbung aufgebaute Hierarchie entschieden der bessere, denn bis zu einem gewissen Grad vererbt sich das Niveau. Da nun eine Restauration des letzteren Zustands undenkbar und auch unwünschbar ist, denn die rein persönliche Qualität perpetuiert Vererbung nicht, so muß eben die Niveaufrage schärfer gestellt werden, als je vorher. Dies geht, gegenüber früheren Gebundenheitszuständen, so weit, daß jede ein für allemalige Festlegung fortan als Subalternität beurteilt werden muß. Wenn einmal der Mensch erst beim Baron anfing, so wird die unterste Bedingung zur Führerschaft, auf welchem Gebiete immer, fortan in einem erreichten inneren Zustande bestehen, wo der Mensch selbstverständlich zum mindesten über Fachmanntum, Berufsbestimmtheit und Buchstabenglauben hinaus ist, wo er voll verantwortlich aus seinem schöpferischen Selbst heraus lebt. Soviel galt implizite, von der geistigen Seite der Frage abgesehen, in jeder historischen Aristokratie. Was jetzt werden soll, ist die Begründung eines gleichsinnigen Zustands auf höherer geistiger Basis, befreit von aller Vorurteils- und Kastenwirtschaft, denn auf anderem Wege kann es keinen Aufstieg geben. Deshalb liegt in der obigen extremscharfen Stellung der Niveaufrage die dritte Hauptaufgabe, die das Ziel implizite einschließt, der Schule der Weisheit, und historisch wahrscheinlich ihre wichtigste. Indem sie sich selbst ganz auf Niveau einstellt, dessen Frage bei allen Sonderproblemen entscheiden läßt, vermittelt sie, durch das gegebene Beispiel und ihre Schülerschaft hindurch, die richtige Einstellung der ganzen Welt. Es ist natürlich ganz unmöglich, daß alle ein gleich hohes Niveau erreichten, soviel weiter jeder einzelne gelangen kann als es war, und so sicher das allgemeine, bei richtiger Erziehung nur weniger Generationen, dem höchsten typischen der obersten Kasten aller Völker gleichkommen könnte. Aber es ist auch nicht notwendig; Gleichheit ist nirgends und nie ein Glück, weil Ungleichheit allein die Spannungen erzeugt, welche den Rhythmus des Fortschritts im Gang erhalten, und spezifische Unterlegenheit überdies spezifischer Überlegenheit meistens korrelativ ist. Notwendig ist allein, daß alle Niveau als das Entscheidende anerkennten, denn hieraus allein schon ergäbe sich eine Umorganisation des Menschheitskörpers, die einer ungeheuren Niveauerhöhung der Gesamtheit gleichkäme. Tarde hat gezeigt Vgl. seine Lois de l'imitation, Paris, F. Alcan., daß nicht allein das kosmische, sondern auch das historische Geschehen zum allergrößten Teil in reiner Wiederholung besteht, welche in letzterem Fall auf Nachahmung beruht. Unglaublich wenige originale Impulse sind vom Menschengeiste ausgegangen, vielleicht kann man solcher zwanzig, dreißig zählen, seitdem es Menschen gibt. Alle weitere Entwicklung beruhte auf Nachahmung – denn auch solche Weiterbildung, die nur in logischer Fortentwickelung, Differenzierung und Integrierung besteht, darf man füglich Nachahmung heißen, weil solche Geistesarbeit nicht die mindeste Ursprünglichkeit erfordert. Nun kommt offenbar alles darauf an, was nachgeahmt wird. Wird Äußerliches vor allem nachgeahmt, dann entsteht eine mechanische Zivilisation, wie es die jüngste war. Aber wenn Niveau an sich als vor allem nachahmungswert zu gelten begänne, nun, dann würde es sich auch fortpflanzen. Dann bestimmte nicht allein auf die Dauer das jeweilig Höchste, was schon einen ungeheuren Fortschritt bedeuten würde, es fände unwillkürlich und desto unaufhaltsamer eine stetige allgemeine Niveauerhöhung statt. Es bedeutet den historischen Vorsprung der angelsächsischen Völker vor den übrigen, daß ihnen insofern Niveau als vor allem nachahmenswürdig gilt, als jedermann Gentleman und unabhängig sein will, als jeder vor allem persönliche Initiative zu entfalten strebt – so erwächst jeder, ganz unabhängig vom Blut, wie die Einwanderer beweisen, vom Subalternen zum Herrn, so gelangen echte Führer höchster Qualifikation unvermeidlich an die Spitze; wogegen es Deutschlands allergrößter Nachteil ist, daß es die Niveaufrage am wenigsten von allen Völkern stellt, weil so keine allgemeine Höherentwicklung stattfinden kann: jeder will der bleiben, der er war, ganz im Geist des indischen Kastensystems; der höhere Mensch wird nie zum allgemeinen Vorbild. Ganz folgerichtig wird in Deutschland auch bei jeder Berührung des Niveauproblems die groteske Frage gestellt, woran man ein höheres Niveau denn erkennen könne, welches der Maßstab sei, an dem man messen müsse. Man kann Niveau allerdings nicht »beweisen«, etwa durch Rückbeziehung auf eine anerkannte Werteskala, weil jeder Wert erst, auf ein bestimmtes Niveau bezogen, von einer hohlen Abstraktion zur Wirklichkeit wird. Niveau ist eine unmittelbare Gegebenheit, eine Qualität, wie auf anderer Ebene Farbe und Form, welche man sehen lernen muß und die jeder auch ganz selbstverständlich sieht, soweit er sie hat. Menschen hohen Niveaus erkennen einander unmittelbar, während die niedrigen sich ihrerseits untereinander gut verstehen und nur höherem gegenüber im Urteil versagen. Woran es fehlt, ist also lediglich die Ausbildung des Verständnisses dafür, was einem ungleich ist, und dessen richtiger Einschätzung. – Die Schule der Weisheit öffnet allen, die sie besuchen, in erster Linie das Organ für das Niveau. Da nun die Welt so wird, wie man sie sieht, so genügt dieses öffnen der Augen allein schon, um eine Umorganisation der Menschheit auf Qualität hin einzuleiten. Und da sie das höchste Niveau vor allem pflegt, ein Niveau, das historisch noch nie bewußtermaßen wirksam war, so tut sie damit das, was für den Fortschritt der Menschheit in deren heutigem Zustand vielleicht das Wichtigste ist.

 

Ich bin am Ende. Gerade in Deutschland fällt es, ich weiß es, der Mehrheit äußerst schwer, sich so umzustellen, daß es nicht auf Sachliches und Inhaltliches ankommt. Von allen Völkern ist das deutsche das sachlichste; deshalb gelingt es ihm leichter, Tiefes abstrakt zu verstehen, als lebendig zu erleben und in Taten umzusetzen Vgl. Deutschlands Beruf in der veränderten Welt in Philosophie als Kunst.. So werden sich auch heute noch vermutlich viele mit Versuchen einer Definition des Sinnes abquälen. Bitte lassen Sie das. Bitte lassen Sie die Impulse dieses Vortrags einfach auf sich wirken, und warten Sie ab, was er in Ihnen persönlich zeugt Vgl. meinen Aufsatz Von der einzig richtigen Art des Aufnehmens im 2. Heft des Wegs zur Vollendung.. Darauf allein kommt es für Sie an. Was ich als Person denke, kann Ihnen völlig gleichgültig sein. Durch Definition veräußerlichen Sie nur das, was Sie ohne solche ohne weiteres verstehen müssen. Jeder Mensch weiß, was Sinn, was Bedeutung heißt. Ich meine nichts anderes, als was jeder unmittelbar einsehen kann. Verdeutlichen Sie sich, wie es ein Anhänger der badischen Philosophenschule hier einmal tat, das, was ich Sinn nenne, durch Rückbeziehung auf »Werte«, so bestimmen Sie Bekanntes und Evidentes durch Unbekanntes und Zweifelhaftes, das Ihnen aber deshalb besser einleuchtet, weil Sie es gewohnt sind. Nein, verzichten Sie auf alles Definieren-Wollen. Lassen Sie das, was ich geben kann, einfach auf sich einwirken, und sehen Sie zu, was daraus entsteht. Jedem Schöpferischen unter Ihnen wird so ganz gewiß auf die Dauer die Lösung solcher Sonderprobleme aufgehen, die ihm liegen – in der Richtung zwar, welche dieser Vortrag grundsätzlich wies. Nur das will ich erzielen. Die Philosophie des Sinnes ist kein Inhaltliches, sondern ein lebendiger Impuls aus einer größeren Tiefe, als sie die meisten leider kennen, daher werden ihre echten Früchte ihr äußerlich niemals ähnlich sehen. Wer fortan als Industrieller, Kaufmann, Staatsmann, Künstler sinnvoller schafft als früher, der hat mich besser verstanden als jeder, der meine abstrakte Philosophie genauer bestimmt oder weiter ausbaut. Nur ein Definitionsartiges will ich Ihnen zum Schluß doch noch sagen, und da ich dies in Ihnen geläufigen Begriffen tun werde, so wird es Ihnen vielleicht dazu verhelfen, leichter ganz zu verstehen. Das letzte, an sich Undefinierbare, dessen Logosseite ich als Einstellung bezeichne, ist nichts anderes als das Leben selbst. Durch das Leben erhalten doch dessen Inhalte allererst Bedeutung. Durch das Leben werden Sauerstoff und Stickstoff im Körper zu anderem, als sie draußen sind; durch das Leben des Einzelnen wird das, was er tut, zu einem Sinnbilde seines Wesens. Nun ist Ihr Leben jedem unter Ihnen eine unmittelbare und selbstverständliche Gegebenheit, obschon sie es auf keine Weise definieren und auf der Ebene der Erscheinung als solcher sogar niemals feststellen können. Ebenso selbstverständlich hat jeder unter Ihnen eine Ureinstellung, die alles besondere genau so bedingt, wie Kants Fragestellung seine kritischen Ergebnisse bedingte. So hängt es unter allen Umständen von Ihrer Einstellung, welche das schlechthin Tiefste und Letzte in Ihnen ist, ab, ob Sie hoch oder niedrig stehen, edel oder gemein sind, ob Sie sich vorwärts bewegen oder rückwärts schreiten. Die Psychoanalyse stellt nun des Häufigen fest, daß der letzte Bedeutungszusammenhang, der ein gegebenes empirisches Leben trägt, eine Lüge bedeutet. Diese wirkt sich zuletzt in physischer Erkrankung aus. Und man kann den Betreffenden nur heilen, indem man an Stelle der Lebenslüge die Lebenswahrheit setzt. Nun, sind die meisten gesunden Europäer nicht in ähnlicher Lage? Unsere überkommene Einstellung genügt nicht mehr zur Meisterung unseres Schicksals. Aber wir können diese ändern. Wie dieses möglich ist, haben wir gesehen. Wir können unserem Leben eben damit einen neuen, tieferen Sinn geben. Indem wir aber dergestalt scheinbar vom Inhaltlichen aufs Formale zurückgehen, ziehen wir uns in Wahrheit vielmehr in das Allerlebendigste zurück. Wir legen allen Nachdruck auf das Leben selbst, nicht auf dessen Inhalte. Von der Religion her ist diese Akzentverlegung jedem bekannt. Wir tun es im gesamten Bereich des Lebens. Damit beziehen wir nun dessen Gesamtheit auf das Tiefste zurück. Ebendeshalb ist nichts an diesem uns zu gering. Was wir erstreben, ist eine Verwurzelung des ganzen Daseins im Geist im gleichen Sinn, wie es zu theokratischen Zeiten in Gott verwurzelt war. Nur eben in der neuen Form, die unserer erhöhten Bewußtseinsstufe entspricht. Religion, konkret bestimmt, setzt unter allen Umständen eine besondere Einstellung voraus, und diese zu universalisieren, geht nicht an, weil man damit gegen die Gesetze der Wirklichkeit verstößt. Insofern war es eine berechtigte Etappe in der Menschheitsentwicklung, daß jene zeitweilig zu einer Spezialdisziplin herabsank, die sich zum eigentlich schöpferischen Leben exzentrisch verhielt. Was heute geschehen kann und soll, ist deshalb keine Wiedererhebung der Religion auf die urtümliche Stufe, sondern die Erhebung aller Lebensformen dahin, wo bisher die Religion allein stand: hier liegt in der Tat das Ziel. Philosophie, Politik, praktisches Handeln sollen hinfort den gleichen tiefen Hintergrund erhalten, den jene allein bisher besaß.

So weit, so gut. Nun mögen aber einige einwenden: Sie orientieren uns erdwärts. Sie haben selbst gesagt, das Reich des Weisen sei durchaus von dieser Welt. Wie verträgt sich dies mit der letzten Sehnsucht der Seele? Hierauf will ich Ihnen zum Schluß mit wenigen Worten antworten, die mein persönliches Glaubensbekenntnis enthalten – ich fasse mich kurz, weil jede Weitläufigkeit, die letzten Dinge betreffend, deren Wesen zunahe tritt. Wieder und wieder habe ich darauf hingewiesen, daß das Himmelreich eben dadurch überhaupt wirklich wird, daß es sich auf Erden verwirklicht. Seine Verwirklichung bei uns bedeutet zugleich seine eigene geistige Daseinsdimension. Aber es hat einen uns noch näher angehenden Grund, daß ich die Menschen erdwärts, nicht himmelwärts weise: es gilt die Aufgaben dieser Erde restlos zu erfüllen, weil es hier allein Freiheit gibt. Im Jenseits fallen Freiheit und Schicksal restlos zusammen, da entbehrt der Begriff jener des Sinns. Dort ist folglich auch keine gewollte Höherentwicklung mehr möglich. Was dort geschehen mag, ist immer nur Ergebnis des Impulses zum Fortschritt, welcher hier angeregt wurde. Dort wirkt sich nur aus, was hier begonnen wurde. Deshalb spricht die indische Lehre wohl wahr damit, daß die Götter als Menschen geboren werden müssen, um über ihr Göttertum hinauszuwachsen. Deshalb haben Christentum und Islam wohl recht damit, daß dieses Leben letztlich entscheidet. Wer die zeitliche Aufgabe ganz erfüllt – der allein wirkt, über die Zeit hinaus, für die Ewigkeit.


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