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Was uns nottut

Es ist keine Frage, daß es mit Europas Kultur und Bedeutsamkeit für den weiteren Menschheitsfortschritt zu Ende gehen kann. Meine schlimmsten Befürchtungen treffen, eine nach der anderen, ein. Nirgends haben die führenden Schichten die vorausschauende Einsicht bewiesen, die zweifelsohne dem Verhängnis hätte steuern können. Fehler über Fehler ist begangen, Gelegenheit über Gelegenheit versäumt worden; es ist, als hätte das gebildete Europa nichts Angelegentlicheres zu tun gehabt, als seine eigene Fortbestandsmöglichkeit zu untergraben. Der Weltkrieg mit seinen Erscheinungen und Folgen bedeutete nur eine offensichtliche Feststellung dessen, was längst schon da war; der Zusammenbruch, den er einleitete, zumal in Deutschland, war längst vorauszusehen. Jener ist recht eigentlich als Liquidationsprozeß zu verstehen, denn sein eigenstes Produkt ist nicht das wenige Positive, das er zutage gefördert, sondern der Bolschewismus (das Wort im weitesten Sinn begriffen), der ohne ihn nie zu einer geistigen, geschweige denn zu einer materiellen Macht erwachsen wäre.

Die europäische Zivilisation jüngsten Datums hat sich selbst ad absurdum geführt. Der große intellektuale Fortschritt, den sie bezeichnet, hat allgemein auf Kosten des Seelenlebens stattgefunden, und wenn man vor dem Anbruch des Weltkriegs noch hoffen durfte, daß dieses die Oberhand rechtzeitig wiedergewinnen würde, so steht heute fest, daß wir durch die vielleicht tiefsten Niederungen der europäischen Geschichte hindurch müssen, um im Sinne dessen, was Schiller die »Menschheit im Menschen« nannte, auch nur die Höhe wieder zu ersteigen, auf der unsere nächsten Vorfahren standen, denn die Seele ist in einem seit dem Ende der Antike unerhörten Maße zersetzt, und ihr Charakter bestimmt des Menschen Rang. Was bedeutet es denn letztlich – um auf ein allen geläufiges Beispiel hinzuweisen –, daß der Weltkrieg allerseits mit einer nie dagewesenen Hemmungslosigkeit geführt worden ist, daß nie dagewesene Haßmengen und sonstige Afterprodukte der Seele sich über der Welt entladen haben, daß das Völkerringen ausklingt in greulicher Massenschieberei, daß die unaufhaltsam um sich greifende Weltrevolution, mag diese im übrigen das Idealste anstreben, alle Kulturgestaltung des Westens zu rasieren beginnt und schon rasiert? – Daß die Masse der europäischen Menschheit jede seelische Struktur verloren hat. Sie ist vollkommen hemmungslos geworden. Der seit dem 18. Jahrhundert immer mehr sich emanzipierende Verstand hat nach und nach die meisten der seelischen Organe und Gestaltungen, die den Menschen die innere Form gaben, als Vorurteils- oder Zufallsgebilde erwiesen, damit aber geschwächt und schließlich abgetötet. Als unangekränkelt kann heute, dem Ziel des russischen Nihilismus genau gemäß, nur mehr das Naturhaft-Naturnotwendige und, in geringerem Grad, das Ewig-Wertvolle in abstrakt-absolutistischer Fassung gelten – diese beiden Regionen geben aber keine Grundlage ab für eine mögliche Kultur, weil jene unterhalb, diese oberhalb ihrer gelegen ist Vgl. über das russische Wesen meine Einleitung Der russische Christ zum Buche gleichen Namens (München 1922, Drei Masken- Verlag), das eine selten schöne und schön übersetzte Auslese aus den das Christentum betreffenden Stellen in den Werken der großen russischen Meister enthält.. Demgemäß braucht nichts von dem, was die europäische Bildung ausmacht, bestehen zu bleiben, denn der Glaube an alles Geschichtlichgewordene ist verloren gegangen, und ohne Glauben gibt es keine psychische Wirklichkeit. Die Monarchie, zuerst in Rußland, dann in Deutschland, war im Handumdrehen erledigt, weil jeder Glaube an deren Daseinsrecht entschwunden war: im gleichen Sinn gefährdet zum mindesten sind alle historischen Daseinsformen, von den Glaubensinhalten über die Ehr- und Rechtsbegriffe hinweg bis zu den sozialen Institutionen. Durch die französische Revolution hindurch bestanden die meisten der geistig-seelischen Gestaltungen, die bis dahin die Völker und Gruppen zusammengehalten hatten, fort, deshalb hat sich der geistige Fortschritt, den jene vertrat, im ganzen positiv auswirken können. Heute aber stellt die Seele der Massen, was die Gebundenheit durch Vergangenes betrifft, eine so vollständige tabula rasa dar, wie solches kein philosophischer Empirist des 17. Jahrhunderts für das erkennende Bewußtsein jemals angenommen, ein Gebild von so vollständiger Amorphie, wie dies kein Protozoon jemals dargestellt hat. Überall gilt der individuelle Verstand als letzte Instanz; was er nicht anerkennt, erscheint gerichtet, und daß er kurzsichtig oder gar blind sein könnte, fällt niemandem ein. Deshalb steht das Weiterfortleben alles dessen, was von menschlicher Willkür überhaupt abhängt, unmittelbar in Frage. Man male sich einmal aus, was es bedeutete, wenn die bolschewistische Absicht, alle Staatsanleihen, alle Äquivalente überhaupt für ökonomische Werte zu annullieren, auf der ganzen Erde auf einmal ausgeführt würde: damit wäre Eigentumsrecht und alles, was mit diesem zusammenhängt, wirklich vernichtet, denn dieses beruht letztlich auf einer menschlichen Forderung, kann deshalb als solches aufgehoben werden und muß aus der Erscheinungswelt verschwinden, als wäre es niemals dagewesen, sobald der Glaube und das Vertrauen, das sie in dieser festhielten, verloren gingen Vgl. über die geistige Basis aller Ökonomie den Vortrag Wirtschaft und Weisheit in Politik, Wirtschaft, Weisheit. Darmstadt 1922.. Damit wäre das Gebäude ökonomischen Lebens buchstäblich abgetragen. Theoretisch ist solches sehr wohl denkbar; theoretisch geurteilt, könnten alle letztlich vom Bewußtsein bedingten Gestaltungen auf diese Weise aus der Welt hinaus dekretiert werden, also nicht allein Institutionen wie die Ehe, die soziale Hierarchie usw., sondern die bloßen Qualitätsunterschiede zwischen den Menschen, da ja solche, um sich auszuwirken, der Anerkennung bedürfen – denn sie alle haben ihren Halt an inneren Bindungen, also Vorurteilen, die der Verstand nicht anzuerkennen braucht. Praktisch liegen die Dinge deshalb anders, weil dieser nicht wirklich, physiologisch, die letzte Instanz ist. Das meiste dessen, was der Verstand als Vorurteil verwirft, liegt seinem Wesen (nicht dem jeweiligen, immer vergänglichen Ausdruck) nach so tief im Leben begründet, daß es seine Geltung auf die Dauer immer wiedererlangt. Doch eine gegebene Welt zu zerstören, vermag jener leicht. Auf diesem Wege sind wir nun schon recht weit gelangt. Nun aber kommt das eigentlich Kritische: wir werden, falls keine wirksame Gegenbewegung einsetzt, unabwendbar noch sehr viel weiter auf ihm gelangen, weil, was immer tatsächlich geschieht, das Zerstören dem Bewußtsein nicht als Ziel erscheint. Derselbe Verstand, der alle Vorurteile abträgt, ist andererseits dabei, auf und aus deren Trümmern Idealbilder eines Zukunftszustandes von unbezweifelbarer Schönheit aufzubauen. Dies ist, in der Tat, das Entscheidende: was die Kultur zu begraben droht, vertritt andererseits wirklich, gegenüber allem Vergangenen, die höheren Ideale. Und dieses kann es tun, weil reine Vernunft seine letzte Instanz bedeutet, weil die revolutionäre Menschheit sich gleichsam als Mathematiker zur Realität verhält. Wie diesem die Definition die Wirklichkeit schafft, wie ihm Räume von n Dimensionen genau so existent sind wie der gegebene, so geht auch jener jeder Sinn für die primäre Bedeutung der Welt der Erfahrung ab. Desto besser kann sie im Reich des abstrakt Möglichen konstruieren, desto unbefangener höchste Ideale als erreichbar hinstellen, desto leichteren Herzens behaupten, sie werde das Himmelreich hienieden demnächst verwirklichen. Und dieses Himmelreich vermag sie wirklich besser, als jeder nicht weltfremde Empiriker und Relativist, zu schauen. Auch der Bolschewismus verspricht im großen ganzen das Himmelreich, seine Ideale sind unbestreitbar hoch, höher als die seiner Gegner. Daher seine unheimlich werbende Macht. – Nun beweist die Erfahrung freilich je und je, daß die Verwirklichung des Absoluten auf Erden am wenigsten frommt, daß, wer engelgemäße Zustände begründet, die Menschheit damit vorläufig zu Teufeln macht. Aber was bedeutet dem Mathematiker die Empirie? – Ehe die Erkenntnis nicht die Vorherrschaft wiedererlangt, daß anderes als Verstand und Verstandeskonstruktion die Lebensgestaltung bestimmt, daß der fixierte Charakter der Seele vielmehr entscheidet, ist an eine Besserung unseres Zustandes nicht zu denken. Der furchtbare Irrtum dieses Zeitalters war, um es in einem Satz zu sagen, der, daß es die Forderung der Freiheit, die der Geist mit Recht vertritt, jene schönste Errungenschaft des sterbenden 18. Jahrhunderts, auf das Seelenleben übertragen hat. Damit verkennend, daß die wesentliche Freiheit des Menschen, um in diesem Medium darstellbar zu sein, ganz anderer Bedingungen bedarf; daß nur die organisierte, nicht die amorphe Seele frei sein kann.

 

So sinkt die westliche Menschheit unaufhaltsam aus dem Kosmos ins Chaos zurück. Das kann nicht anders sein, eben weil die Seelenwelt zersetzt ist oder sich zersetzt. Der Weltkrieg wurde gemäß der Definition, daß Krieg Krieg ist (a = a), nach rein militärischen Gesichtspunkten, ohne jede anderweitige Rücksicht (also, rein Verstandesgemäß betrachtet, ideal) geführt, mit dem Erfolg, daß er die Menschen, wie keiner je zuvor, vertiert hat, weil eben die bloß verstandesgemäße Form keine Möglichkeit bot, die Leidenschaften in geregelte Bahnen zu lenken. Desgleichen begannen die großen inneren Umwälzungen der letzten Jahre im Zeichen millennialer Erwartung: alles sollte, mußte besser, vollkommen werden. Tatsächlich aber setzte bald ein Kampf aller gegen alle ein auf der Ebene der niedersten Natur, der um vieles vorsintflutlicher wirkt als der Mythos von den Titanenkämpfen: die Ideale waren freilich hoch, aber alle die seelischen Gebilde, welche jene in konkreten Zusammenhang mit dem Leben, wie es nun einmal ist, hätten bringen können, erwiesen sich als vernichtet, so daß der immer wachen niederen Natur keinerlei Schranken gesetzt erschienen und die Ideale, wenn nicht in Vergessenheit gerieten, so doch jede praktische Wirkungsmöglichkeit verloren. Wir leben heute in einer Periode unaufhaltsam sich steigernder Barbarei. Wie Gestalt überhaupt den Organismus macht, so ist ausgeprägte Form die Grundvoraussetzung jedes höheren Lebens. Das, was dem Verstand als Vorurteil erscheint und dieses häufig auch ist, ist andererseits Körper des Seelenlebens und muß, wo seine Wirkung sich als günstig erwies, so lange als bestmöglicher Körper gelten, bis daß der tiefer erfaßte Sinn dem vorhandenen Gehalt eine höhere Körperbildung ermöglicht. Heute nun gibt es wohl vielerlei Verstandesgestaltungen, aber überhaupt keine anerkannte Seelenform; es gibt Millionen, die einer Weltanschauung fanatisch anhängen, aber unter diesen nur ganz wenige, bei denen der Glaubensinhalt das Leben von innen heraus gestaltet hätte. Dies illustriert, schreckhaft deutlich, gerade der Sozialismus, dessen Jüngerschaft in ihrer überwältigenden Mehrheit von sozialer Gesinnung weniger spüren läßt, als gleiches von seinen beschränktesten Gegnern gilt; ohne Zweifel ist es heute die sozialistische, also die Welt, welche die weitestverstandene Solidarität als Ideal bekennt, welche das Schauspiel schrankenlosester Selbstsucht bietet. Es gibt eben keinerlei Hemmungen mehr, die einen Verlaß böten, keine Dogmen, keine Glaubenssätze, keine Ehrbegriffe. Und da nur die höchstentwickelte Seele ohne »Namen und Form« ihre Vollkommenheit finden kann, so bewirkt dies einen kaum dagewesenen Niedergang alles Seelenlebens.

Was ist hiergegen zu tun? – Überall sieht man Reaktionsbewegungen entstehen. Aus der richtigen Erkenntnis heraus, daß das Frühere besser war als das Gegenwärtige, sieht man viele der Besten einer Restauration jenes zustreben, sei es auf politischem, religiösem oder ethischem Gebiet. Aber dies bedeutet aus zwiefachem Grunde ein Mißverständnis. Erstens sind viele der alten Lebensformen so gründlich tot, daß eine Wiederbelebung ausgeschlossen erscheint. Von den zeitweilig erledigten aber, welche, grundsätzlich betrachtet, wiederaufleben könnten, weil ihre Vitalität noch nicht erschöpft ist, werden es sehr viele deshalb nicht tun, weil bis zu ihrer möglichen Wiederauferstehung zu viel Zeit dahingehen dürfte. Im Venedig von 1812 erinnerte man sich kaum mehr der Beherrscherin der Meere: was einer vor seinem 14. Lebensjahre erlebt, bedeutet ihm wenig; so werden Folgen zufälligen Umsturzes leicht zur selbstverständlich anerkannten Voraussetzung. Dies gilt nicht bloß für politische Umstürze, sondern für ganze Kulturwenden. – Zweitens aber könnte eine Restauration des Früheren schon deshalb nicht gelingen, weil der Verstand sowohl im Verurteilen, jenes als auch im Wesentlichen dessen, was er positiv anstrebt, soweit seine Sphäre in Betracht kommt, absolut im Recht ist. Wir sehen geistig wirklich klarer und weiterhin als unsere Vorfahren, die Ideale, welche der emanzipierte Intellekt als Forderungen aufstellt, sind unzweifelhaft hoch, und wer nur die Theorie beachtet, muß anerkennen, daß die Fortschrittler tatsächlich für den Fortschritt kämpfen. Daß sie solchen nicht faktisch herbeiführen, liegt nicht an ihren Programmen, sondern an anderen, außerintellektualen Umständen. Wer nach Restauration eines früheren Zustandes strebt, begeht daher offenbar einen Fehler in der Fragestellung. Wenn eine bestimmte seelische Form, zum Teil auf Geistesblindheit begründet, besser war als die heutige Formlosigkeit, so folgt hieraus nicht notwendig, daß jene wiederherzustellen sei: es folgt hieraus vielmehr, daß die Bestandteile des inneren Menschen, nun deren frühere Harmonie zerstört ist, sich zu neuer Wohlgestalt zusammenschließen müssen. Hat der Verstand eine gegebene Seelenform zersetzt, so ist es Aufgabe, eine neue zu bilden, einer weiteren und tieferen Geisteseinsicht gemäß. Das Ideal wäre ein vollkommenes Seelenleben, welches gleichzeitig vollkommenem Wissen entspräche, also nicht eigentlich ein vorurteilsfreies Menschentum, sondern ein solches, dessen Vorurteile sämtlich zugleich richtig wären. Hier, in der Tat, liegt die Aufgabe. Eine neue Synthese von Geist und Seele tut uns not. Eine Synthese, welche die verschiedenen Teile des Menschen nicht dem zurückgebliebenen, sondern dem am weitesten entwickelten zu, aufs neue ins Gleichgewicht brächte.

 

Eine Synthese der verschiedenen Bestandteile des Menschen zur Totalität gelingt desto schwerer und seltener, je mehr einer derselben vorherrscht. Dies erweist die Geschichte mit großer Anschaulichkeit. Daß es den Slawen, deren Gesamtanlage von allen europäischen weitaus die reichste ist, so überaus schwerfällt, zur kulturellen Vollendung zu gelangen, liegt daran, daß die Gefühlsbegabung bei ihnen alle anderen so sehr überwiegt, daß ihre dank diesem Umstand flüssige Seele einer festen Gestaltung nahezu unfähig scheint. Der Idee nach müßte das europäische Menschentum im Slawen dereinst seinen höchsten Ausdruck finden, weil eben der Körper der Gefühle des Menschen unmittelbarstes Ausdrucksmittel ist, doch wird dies praktisch nicht früher möglich sein, als bis Jahrhunderte der Bildung und Tradition dessen Seele nicht einigermaßen gefestigt haben werden. Dennoch ist überwiegendes Gefühlsleben gegenüber einer Hypertrophie des Intellekts das geringere Hindernis. Diesem nämlich fehlt jede notwendige Bezeichnung zur Totalität des Lebens, er ist seinem Wesen nach zersetzend und erneuernd, und jeder nicht intellektualen festen Gestaltung feind. So haben die Griechen, gerade wegen ihrer wunderbaren, alle übrigen Bestandteile ihres Wesens übertreffenden Geistesbegabung, trotz des herrschenden Ideals der Kalokagathie, keinen vorbildlichen Dauerzustand erreicht und hätten solchen auch nicht erreichen können. Eine kurze Zeit lang gelang ihnen allerdings eine einzig dastehende, weder früher noch später je wiederholte Synthese von körperlicher und geistiger Vollkommenheit, aber die griechische Seele ließ immer viel zu wünschen übrig, und gar bald ward deshalb aus dem Idealhellenen der windige Graeculus. Heute nun, wo kein Volk die sonstigen Gaben der Griechen besitzt, gilt von allen, welche dem westlichen Kulturkreis gehören, dank dem objektiven Fortschritt der Erkenntnis, eben das, was jene verdarb: der Intellekt mit seinen Gestaltungen überwiegt und überwiegt in einem Grade, wie im Fall von Völkern nirgends und nie zuvor. Dabei sind die Seelen der Mehrzahl nicht allein unentwickelter als jemals früher – deren Entwicklung wird überhaupt nicht mehr bewußt als Forderung gestellt. So kann es geschehen, daß unbefangene Menschen Fragen der Gattung aufwerfen, wie solche die feinfühlige Gattin eines Bolschewistenführers einmal einer baltischen Edelfrau gegenüber stellte: woher es wohl komme, daß die meisten, welche die richtige Weltanschauung bekennten, schlechte und so viele von verkehrter oder zurückgebliebener Lebensansicht gute Menschen seien. Gesinnungsadel, Bildung überhaupt, ist eben eine Eigenschaft der Seele, d. h. des Gesamtmenschen, wie er sich in seinen Leidenschaften, Hemmungen, Wollungen, Gefühlen und Entschlüssen darstellt, nicht des bloßen Intellekts. Für sie gelten die gleichen Forderungen wie für ein Kunstwerk, sofern es schön sein soll: jedes Element muß vom Ganzen seinen Ort und seine Bedeutung zugewiesen erhalten; in diesem Zusammenhang sind sittliche Vorzüge immer zugleich auch ästhetisch zu verstehen. Daher die ungeheure, immer wieder auf das grausamste sich erweisende Bedeutung alter Kultur, auf dem Gebiet der vornehmen Gesinnung nicht minder, als auf dem der schönen Form. Innerhalb der alten Kulturschichten, soweit diese nicht degeneriert sind, wachsen edlere Seelen als unter dem Volk, so oft dieses sich jenen intellektuell überlegen erweisen mag, weil Tradition allein, der Atmosphäre der Kinderstube mitgeteilt, während der entscheidenden Wachstumsjahre als Forderung wirkend, die Organisierung der Psyche erzielt, welche diese sowohl wohlgestaltet an sich als im übrigen fähig macht, neue Geistesinhalte harmonisch dem Gesamtleben einzuverleiben. So danken die Franzosen jene Charakterüberlegenheit, die sich während des Weltkrieges wieder einmal erwies, vor allem dem Alter ihrer Kultur, das dank dem Umstand, daß Frankreichs eigentliche Lebensquelle ein konservatives, kerngesundes Provinzlertum ist, keine Entartung der Mehrheit bedingt hat. Der Organismus der französischen Seele kann seinen Stammbaum bis zur Antike zurückverfolgen, was von keiner anderen auf diesem Erdteil in gleichem Maße gilt. – Das vorbildlichste Menschentum ist bisher, was nach dem vorher Gesagten niemand wundern wird, in der Masse wenigstens, von unintellektuellen Völkern verwirklicht worden, sofern deren Seele ein günstiges – sowohl reiches als vor allem haltbares – Material bot. Dies galt von den Römern in beschränktem Maß, weshalb diese ein höheres Idealbild als das des vollkommenen politischen Menschen nie erschaffen haben; es gilt in sehr hohem von den Engländern. Intellektuell meist recht mittelmäßig, stehen diese auf einer in Europa sonst unerreichten seelischen Entwicklungshöhe, was hier nicht den Reichtum, sondern die ursprüngliche gefestigte Wohlgestalt der Seelenanlage zur Ursache hat, welche Anlage dann durch ein weises Erziehungssystem auf das wirksamste ausgebildet wird. Dieses, nicht auf größtmögliches Wissen oder spezialisierte geistige Meisterschaft bedacht, sondern auf die Heranbildung eines möglichst »feinen« Charakters, schafft aus dem Engländer in erster Linie einen Menschen, weshalb alles, was er betreibt, aus dem Zentrum seines Wesens stammt oder auf dieses zurückweist. Seine Instinktsicherheit auf jedem seiner Anlage gemäßen Gebiet ist der naturgemäße Ausdruck dieses Verhältnisses. – Das bisher vollkommenste Menschentum als Normalerscheinung überhaupt hat China herausgearbeitet, und auch dieses Mal rührt der Erfolg zum großen Teil daher, daß es sich um ein Volk handelt, in dessen konservativer Gesamtanlage seelische Qualitäten über den geistigen überwogen, mochten diese noch so erheblich sein. Indem der nationale Vollkommenheitsstandard verlangte, daß die Weisheit als Anmut zutage träte, indem dort die Schönheit als Gradmesser der Tiefe beurteilt wurde und die Moralität als gebildete Natur, indem vor allem der Mittelpunkt des Lebens ins Moralische verlegt wurde, zentrierte es sich tatsächlich im Wesenszentrum, und Chinas werbende Kraft, welche diejenige Englands noch um ein Vielfaches übertrifft, beweist, daß es den Akzent auf die richtige Stelle gesetzt hat. – Doch was hilft uns China, hilft uns alle fremde oder vergangene Vollkommenheit? Wir haben mit dem Material, unter den Voraussetzungen zu arbeiten, die uns gegeben sind. Und da gilt es, sich einzugestehen, daß dem überintellektualisierten Europa keiner der früher gewiesenen Wege zur Vollendung mehr weiterfrommt. Chinas Kultur beruhte wesentlich auf Autoritätenglauben, der nur auf dem Boden geistiger Unbeweglichkeit oder kritischer Unzulänglichkeit gedeiht; diejenige Englands zum großen Teil auf cant, der nicht zwar Unaufrichtigkeit bedeutet, wohl aber ein Nicht-sich-Eingestehen der seelischen Wirklichkeit, ein Voraussetzen für-gut-geltender Motive überall, was wieder auf Autoritätenglauben hinausläuft; die konservative Grundanlage, die sich zur Verewigung eines Vergangenen überall als unerläßlich erweist, kann heute nirgends mehr als Macht vorausgesetzt werden, denn die Massen, welche heute entscheiden, haben allgemein keinen Teil mehr an der Tradition. Alle vergangenen Autoritäten sind für das moderne Bewußtsein als tot zu betrachten, mögen sie im übrigen als retardierende Motive noch lange nachwirken. Die bloße Möglichkeit der Vollendung auf der Ebene des früheren unkritischen Zustandes besteht für dasselbe nicht mehr. Seine Ideale sind Urteilsfreiheit, Aufrichtigkeit, Bewußtsein, Verstehen des Sinns. Was der Kritik nicht standhält, wird nie mehr dauernd herrschen können. Allem Vorurteilsbedingten gegenüber hat der Bolschewismus leichtes Spiel, der bezeichnenderweise gerade im Orient eine stetig anwachsende Zahl von Anhängern wirbt. Was ist zu erwidern, wenn bewiesen wird, daß es sich bei dem, was dem Leben bisher Halt und Form gab, um Vorurteile handelt? Auf gleicher Ebene nichts. Daher das unwahrscheinlich schnelle Dahinsterben aller seelischen Bindungen überall. Man kann füglich behaupten, daß nicht allein die Massen ganz Europas, sondern alle jüngsten Vertreter des modernen Zeitgeistes die überkommene Kultur überhaupt nicht mehr verkörpern, sondern dieselbe als Außenstehende sich gegenübersehen – so wie dies, in etwas anderem Sinn, von Amerika gegenüber Europa schon lange galt.

 

Hier nun ist der Deutsche besonders übel dran, wegen der eigentümlichen Irrealität seines Geistes. Bei keinem Menschen steht das Denken von Hause aus dem Leben so fremd gegenüber; bei ihm trifft wirklich zu, was Schopenhauer allgemein als wahr behauptete: daß der Intellekt Parasit sei auf dem Willen. Mehr als jedem anderen Menschen fehlt ihm der unwillkürliche, selbstverständliche lebendige Zusammenhang von Denken und Sein, was ihn bald unpraktisch, bald blind-geschäftig, bald zum Ideologen, bald zum skrupellosen Geschäftsmann, was ihm die Darstellung irgendeiner Lebensganzheit äußerst schwer macht und, im besonderen, einer echten Seelenkultur bei ihm desto größere Hindernisse in den Weg legt, als die deutsche Seele von Hause aus undifferenziert und schwerfällig ist. Aber gerade aus diesen Gründen ist die Sehnsucht nach der neuen Synthese, die allen not tut, in Deutschland besonders groß. Nirgends wird das Unzulängliche des heutigen Menschheitverstandes deutlicher und schmerzlicher empfunden als gerade hier; die deutsche Literatur, das deutsche Gottsuchen, die deutsche nicht schulmäßige Philosophie, die deutsche Jugendbewegung in all ihren Schattierungen sind ein einziger Sehnsuchtsschrei in diesem Sinn. Deshalb ist die heutige Wende gerade für Deutschland so aussichtsreich. Da alles Große aus der Sehnsucht heraus geboren wird, weil nur der Suchende findet, nur der Nicht-Habende gewinnt, weil eben nur der, welcher nicht von vornherein am Ziel ist, überhaupt Probleme kennt, so besteht hohe Wahrscheinlichkeit, daß die neue Synthese auf deutschem Boden zuerst gelingen wird. Noch immer bisher sind die seltenen Großen, auf die alle Neuerung zurückgeht – denn der Originalitätsmangel der Menschen ist unermeßlich groß – dort aufgetaucht, wo sie als stärkste Gegensätze wirkten. So war Jesus Jude. Noch immer bisher haben die idealfernsten Völker die größte Anwartschaft auf »Auserwähltheit« gehabt. Es ist tief symptomatisch, daß das deutsche Volk heute wieder einmal das bestgehaßte ist. Warum wirkt es diabolisch, trotz seiner Biederkeit und Gutmütigkeit? Weil es am meisten vom Baum der Erkenntnis gegessen und insofern wirklich mehr als alle anderen seine Unschuld verloren hat. Aber die Unschuld ist kein Höchstes: das Höchste ist, durch Wissen über Gut und Böse hinauszugelangen. Dieser Umstand verstärkt nun Deutschlands Zukunftsaussicht. Nicht allein, daß er die erste Geburt des Neuen auf deutschem Boden noch wahrscheinlicher macht: in Deutschland geboren, käme der erforderlichen neuen Synthese von Seele und Geist, welche überall nottut, die größte Bedeutung zu, weil er in diesem Fall allein von vornherein so bewußt in die Erscheinung träte, daß ihr Beispiel unmittelbar bewußtheitfördernd wirken müßte. Aus diesem Grunde ist es persönliche Aufgäbe jedes Deutschen, sein tiefstes Wollen unmittelbar auf das höchste Ziel zu richten. Nichts muß innerhalb der Menschheit geschehen, es sei denn, es werde bewußt erstrebt. Die historische Notwendigkeit bezieht sich immer nur darauf, daß Bestimmtes zu gegebener Zeit vor allem gewollt werden soll und dann seitens irgend Eines auch meistens mehr oder weniger rechtzeitig gewollt wird. So gilt es heute vor allen Dingen in Deutschland, aus dem Dämmerlicht des Uneingestandenen, des Verdrängten ins Licht der vollen Bewußtheit hinanzustreben, sich am eigenen Bild vollkommen einzugestehen, was am Zustande aller verfehlt ist, dieses Unzulängliche mit Geist und Seele nachzuerleben. So gilt es vor allem in Deutschland, aus jener Irrealität, die für den selbständig gewordenen Geist überall, aber für den deutschen besonders verhängnisvoll charakteristisch war, zu vollem Wirklichkeitsbewußtsein zu gelangen, bei keiner Vorstellung als solcher mehr stehenzubleiben, sondern zu fordern, daß jedes Wort zu Fleisch, jede Erkenntnis zu Leben werde, seinen ganzen Willen diesem Ziele dienstbar machend. So gilt es hier vor allem, sich so zu wandeln, daß das Leben nicht der herausgestellten abstrakten Erkenntnis dienstbar bleibt, sondern innerlich, organisch erkenntnisbedingt wird Über diesen für die Zeitlage wichtigsten methodischen Unterschied lese man alles Nähere betreffend, das ich hier nicht wiederholen kann, meine Studie Erscheinungswelt und Geistesmacht in Philosophie als Kunst nach.: und die Wiederverknüpfung von Geist und Seele wird beginnen. Sie wird nur bei wenigen zunächst beginnen, aber auf diese wenigen gerade kommt es an.

Es gilt für den modernen Abendländer, auf höherer Bewußtseinsstufe wieder ganz zu werden, wie dies der mittelalterliche Mensch in hohem Grade war, wie dies vom Morgenländer noch heute vielfach gilt. Im Einzelfall bedeutet dies unter anderem: es gilt aufs neue ins Gleichgewicht zu kommen. Es gilt einzusehen, daß, wo der Intellekt bestimmt, die Psyche nicht stillstehen darf, daß der mannesartige Geist die weiblich geartete Seele zu sich herauferziehen muß, daß aber sie – diese Einsicht geht dieser Zeit am meisten ab – das eigentlich Lebendige und insofern Ausschlaggebende am Menschen ist. Warum schwärmten die hochgebildeten Slawophilen in Rußland für den Mushik? Weil in diesem das normalerweise vorlag, was sonst niemand in Rußland, außer im Falle von Ausnahmemenschen, zur Darstellung brachte: eine vollendete Synthese von Seele und Geist. Es sollte aber höhere Lebenseinheitsformen geben können als die des rohen Bauern, und daß es diese in Rußland nicht gab, hat das historische Schicksal der dortigen Oberschicht besiegelt. Ebenso sollte das moderne Westeuropa, dem vergangene Schönheit nichts mehr sagt, zu Höherem aufschauen können als zur simplistischen Tugend des Amerikanertums. Allein auch dem für gebildet geltenden Durchschnittseuropäer von heute, dessen Typus sich immer mehr nach dem »Mann auf der Straße« orientiert, fehlt bei großer Intellektualität und bedeutenden Kenntnissen in der Regel jede Bildung. Daher seine Irreligiosität, seine Immoralität, sein Vonsichweisen aller gehaltschaffenden oder »erhaltenden Formen. Bis dieses nicht anders wird, kann die westliche Menschheit aus dem Chaos unmöglich hinausgelangen. Sie muß innerlich neu geformt werden. Solches ist aber heute nur mehr möglich vom Intellekte her, durch Bereicherung und Vertiefung der Einsicht. Kein noch so hohes Beispiel ursprünglicher seelischer Schönheit oder spiritueller Durchdringung kann die Wendung herbeiführen, sofern das höhere Sein nicht von gleichwertigem Verstehen und Wissen begleitet wird. Daher wird das Heil dieses Mal von keinem neuen Glauben kommen, so groß die Sehnsucht gerade nach diesem sei Die Neuverknüpfung von Seele und Geist muß von diesem ausgehen, auf der Höhe höchster Geistigkeit, damit Entscheidendes, prinzipiell Bedeutsames geschähe, damit nicht bloß zufällig einmal ein Beispiel vollkommenen Seins die Welt beglückt, sondern allen der Weg zur Vollendung neu ermöglicht würde. Hieraus ergibt sich das Folgende: die wichtigste Aufgabe kommt heute nicht der Religion zu, sondern der Philosophie.

 

Der Philosophie? Der wirklichkeitsfremdesten aller Wissenschaften? dem für das Leben überflüssigsten Ausdrucksgebiet des Abstraktionsvermögens? – Sofern sie nicht mehr, nichts Besseres als dieses ist, wohnt ihr freilich keine Heilkraft inne. Aber Philosophie ist weder trockene Wissenschaft noch geistiger Sport: ihrem Inbegriff nach ist sie Erfüllung der Wissenschaft in der Synthesis der Weisheit.

Daß Philosophie jemals zu einer wissenschaftlichen Disziplin unter anderen hat werden können, ist vielleicht das krasseste Beispiel jener Fragmentarisierung und Entseelung, welche der intellektuale Fortschritt überall am Leben bewirkt hat. Gewiß sind Erkenntniskritik, Gegenstandstheorie, Phänomenologie und Logik wichtige Wissenszweige, und daß sich das, was vormals einheitlich Philosophie hieß, in diese zerteilt hat, bedeutet ein unbedingtes Weiterkommen in der Einzelerkenntnis. Aber daß darüber der Sinn für die lebendige Synthesis verlorengegangen ist, so sehr, daß man sich dahin verstiegen hat, in der Philosophie die »Wissenschaft der Wissenschaften« zu sehen und im Philosophen einen Enzyklopädisten – dies war ein reines Übel. Wahrscheinlich war es unvermeidlich. Die frühesten Synthesen der Philosophie hielten der Kritik nicht stand, die Ausdrücke antiker Weisheit schienen besserer Begründung oder der Vervollständigung fähig – also lag es nahe, den Wert der Synthese überhaupt in Frage zu stellen, um so mehr, als solche, je weiter die Wissenschaft fortschritt, desto ausschließlicher in der Form abstrakter Systeme vorstellbar erschienen; oder aber die Synthese wurde nur an der Grenze des Möglichen für berechtigt anerkannt, in dem Sinn etwa, wie Gott für Hegel »wesentlich Resultat« war. Tatsächlich ist aber die Synthese die zeitlos-ewig-gegenwärtige Forderung, die implizite Voraussetzung zugleich jedweder Analyse, und deren Produkte stellen immer nur ein Vorläufiges dar, vom Standpunkt ihrer Entstehung her betrachtet, an sich aber Teilausdrücke und Organe, genau wie die Teile eines lebendigen Tiers. Wir mögen noch so weit in der Wissenschaft gelangen: Endziel kann diese niemals sein; sie wird immerdar ein Organ des Lebens bleiben müssen, und beansprucht sie mehr, so wächst sie sich zum Krebsschaden aus. Wir mögen noch so viel Disziplinen unterscheiden und voneinander reinlich abzugrenzen lernen: mehr kann dies nimmer bedeuten, als daß der Organismus des Geisteslebens kompliziert und vervollkommnet wird, genau im gleichen Sinne wie das Tier, je höher organisiert, aus desto mehr voneinander unabhängigen und gleichsam frei zusammenarbeitenden Organsystemen besteht. Dieses immer gegenwärtige allem zur Voraussetzung dienende einheitliche Leben nun bedeutet, auf dem Gebiet des Erkennens, die Philosophie. Man könnte sagen: auch diese ist immer da, nur tritt sie als solche nicht immer in di e Erscheinung; jede Wissenschaft setzt, in der Idee, eine sie ermöglichende Philosophie voraus. Aber während die Unbewußtheit des Lebens als solchen auf der Ebene des automatisch sich abrollenden physischen Daseins keine Nachteile bedingt, wenn Gleiches noch für ungebrochenes Seelenleben gilt und für alle die Vorgänge, welche aus sicherem Instinkte hervorgehen, so erweist es sich auf der Ebene des bewußten Geistes, die immer mehr zur Bewußtseinslage des ganzen Menschen wird, daß Unbewußtheit des Urzusammenhangs oder dessen Mißverstehen das Leben geradezu gefährden kann. Für die Chemie, für die Sprengstoffkunde als solche bleibt es sich freilich gleich, welchem philosophischen Bekenntnis der Zeitgeist anhängt; für den Menschen, die Menschheit nicht. Denn ein Irrtum im spezifischen Gewicht, der bei der allgemeinen Gewichtsverteilung einem bestimmten Geistesausdruck zugeteilt wird, ein Versehen bei der Akzentverlegung, ein Mißverstehen des eigentlichen Sinns kann da zur Folge haben, daß der Urzusammenhang sich lockert, zerfällt oder der Gesundheit verlustig geht, was nicht nur im Sinn der akuten oder chronischen Erkrankung, sondern des Vitalitätsverlustes und des zuletzt unvermeidlichen natürlichen Todes geschehen kann. Je mehr der Mensch sich zur Bewußtheit entwickelt, desto irrtumsfähiger wird er, und desto verhängnisvoller werden seine Mißverständnisse. Es ist ein Zustand nicht allein denkbar, sondern wahrscheinlich, wo bewußtes Verstehen des lebendigen Zusammenhangs unmittelbare Voraussetzung seines Bestehens sein wird, wo alle Selbstregulierung der Natur in einer bestimmten Sphäre aufgehört haben und das glückliche Funktionieren des ganzen Menschen vom bewußten Willen abhängen wird. Dann werden Irrtümer unmittelbar tödlich wirken. Es ist nicht wahr, so oft es behauptet wird, daß der Fortschritt im Automatisch werden des zuerst bewußt Getanen besteht: nicht er selbst, sondern seine Grundlage besteht darin. Wie der Automatismus der organischen Funktionen Geistesfreiheit ermöglicht, wie der Künstler seine Technik »im Schlaf« beherrschen muß, wenn er sich völlig unbehindert ausdrücken soll, so ruht der Nachdruck überall nicht auf dem Unbewußtwerden, sondern umgekehrt der Bedeutungs-Steigerung des Bewußtseins, welches sich, über neu entstehende Automatismen hinaus, auf immer höherer Ebene erhebt. Was dort nun geschieht, wird immer mehr entscheiden, je mehr der Lebensapparat sich kompliziert. Deshalb kann es wörtlich wahr werden, daß geistige Irrtümer unmittelbar den Tod nach sich zögen. So weit sind wir freilich noch nicht, aber wir sind nicht mehr gar so weit davon entfernt. Die Zersetztheit des abendländischen Lebens rührt eben daher, daß der Zusammenhang des Lebens falsch beurteilt wird und jede Einzelseele entweder mehr oder weniger krebskrank ist oder doch an gelinderen Organveränderungen und funktionellen Störungen leidet. Dies hat in der Summe einen allgemeinen Vitalitätsverlust zur Folge. Hier kann offenbar nur Eines helfen: das Wiedererwecken, das Steigern, Vertiefen und Verdeutlichen des lebendigen Urzusammenhangs. Eben das aber ist die eigenste Aufgabe der Philosophie.

Die Philosophie muß von der Sonderwissenschaft, vom geistigen Sport aufs neue zur Weisheit werden. Was sie einstmals war, was sie im Differenzierungsprozeß der Erkenntnis zu sein zeitweilig aufgehört hatte, das muß sie, in erhöhter Integrierung, wieder werden. Wenn das naturhafte Leben vollendet in die Erscheinung tritt, in glücklichstem Gesamtgleichgewichtszustand; wenn die Höherentwicklung Disharmonie zur ersten Folge hat, so geschieht die Höchstentwicklung im Zeichen des Vollendungsideals. So erfüllt sich auch die Philosophie, die als wie selbstverständliches Weisen-Wissen begann, welche später in viele Forschungszweige zerfallen war, im Ideal der vollendeten Weisheit. In dieser werden Praxis und Theorie zu eins, verschmelzen Erkennen und Sein zu schöpferischer Wirkungseinheit. Auf dem Wissen aber ruht der Akzent. Das erkennende Subjekt wurzelt tiefer als das tätige im Wesen; bei jenem liegt, sobald es erwacht, alle letzte Entscheidung. Deshalb lehren die Inder mit Recht, daß alle Erlösung in Erkenntnis besteht. Deshalb widerstreitet es der eigensten Natur der Dinge, wenn bei hochentwickelter Bewußtheit das Heil trotzdem von Vollendungsstufen niedrigeren Bewußtheitsgrades erwartet wird. Was Hegel um ein Jahrhundert zu früh als wahr verkündete, ist heute der Fall. Heute sind wir tatsächlich so weit, daß der Philosoph, nicht der Religionslehrer, auch nicht der praktische Ethiker, die für das Leben wichtigste Aufgabe hat: es gilt Geist und Seele in lebendigen Einklang zu bringen, aber nicht von dieser her, wie jede Kirche, auch jede bisherige Schule dies erstrebt, sondern von jenem aus.

 

Die historische Konjunktur ist heute, in der Tat, eine ähnliche wie zu der Zeit der großen Weisen Griechenlands. Auch damals waren die überkommenen Seelenformen in Zersetzung begriffen oder schon zersetzt; auch damals konnte nur bessere Erkenntnis vor dem Verderben retten. Auch dieser Zeit kann nur mehr Weisheit Heilung bringen, denn in ihr allein wird das Wissen, vom toten Ballast, vom zersetzenden Element, zur aufbauenden Lebensmacht. Aber im übrigen ist so vieles seit den Tagen der Griechen anders geworden, daß das Unterschiedliche über dem Gleichartigen überwiegt. So umfaßt das Wort Weisheit, an sich so alt wie die Welt, zur heutigen Zeit einen neuen, einzigartigen Inhalt, wie denn Worte überhaupt nur das bedeuten, was jeweilig in sie hineingelegt werden kann. Alle bisherige Weisheit lag, mehr oder weniger deutlich, parallel dem Vollendungsideal der katholischen Kirche: es galt die Realisierung bestimmtgestalteter Wahrheiten, die eben damit zu formgebenden Lebensmächten wurden. Die Synthese, welche die Teilausdrücke des Lebens zur harmonischen Einheit zusammenfassen wollte, war also vorgegeben. Heute nun sind alle überlieferten Synthesen durch den Verstand zu Tode getroffen, heute ist das, was er nicht als berechtigt anerkennt, nicht lebensfähig. Heute kann keine bestimmte Gestalt als letzte Instanz mehr gelten, dazu reicht unser Bewußtsein schon zu tief hinab. Heute gilt es daher, die Vollendung, die allein uns wieder zu ganzen Menschen machen kann, nicht in der Gebundenheit durch gläubig anerkannte, im übrigen noch so wahre Überlieferung zu finden, sondern in voller Erkenntnisfreiheit: dies soll das Ziel des Weisheitsstrebens sein.

Dieses Problem stellte sich für die Weisen Griechenlands noch nicht. Wohl verwarfen diese die Autorität der Volksreligion, aber die eines anderen: der Vernunft, der Logik, welche nach griechischen Begriffen mit vielem von dem, was wir heute der bloßen Grammatik zuzählen, zusammenfiel, stand ihnen desto fester. Als die Philosophen dann zum zweiten Mal in der Geschichte des Abendlands, im 18. Jahrhundert, von der Welle des historischen Prozesses zur ausschlaggebenden Geistesmacht emporgetragen wurden, da wiederholten sie im ganzen den hellenischen Fehler, ja sie übertrieben ihn, denn die französische Raison, für jene Zeit die letztentscheidende Instanz, bezeichnete ein um vieles Engeres, als der griechische Logos. So erwiesen sich die Philosophen in beiden Fällen, und dies mit Notwendigkeit, auf die Dauer nicht als aufbauende, verknüpfende, sondern als zersetzende Mächte. Lebensförderer waren in Griechenland nur die frühesten Weisen, die noch aus ungebrochener Weisheit heraus lehrten, und dann wiederum die spätesten, die sich zu einer neuen, bald einer neuen Religion als Vorstufe dienenden Synthese hindurchgerungen hatten. Daß Sokrates von den Athenern als Jugendverderber verurteilt wurde, bedeutete sonach kein unbedingtes Mißverständnis. Nun ist aber gerade dieser das Prototyp des abendländischen Philosophen geblieben, und daher rührt es vor allem, daß auf unserer Hemisphäre nie auch nur die Vorstellung des vollkommenen Weisen, als des Wissenden, nicht des Wahrheitssuchers, konzipiert worden ist, wie dies in Indien früh, und in bisher unerreichter Tiefe und Deutlichkeit geschah. Deshalb sind unsere wahren Weisen, so seltsam dies klingt, eigentlich nie Philosophen gewesen, welche Behauptung Goethe, der größte von allen, am klarsten beweist – während unsere größten Denker kaum jemals Weise waren. Deshalb ist Weisheit eigentlich noch nie bewußtes Ziel des abendländischen Strebens gewesen. Nun leben wir aber, wie gezeigt, in einer historischen Konjunktur, innerhalb welcher Weisheit im Sinne eines wissengewordenen Lebens allein zur Retterin werden kann. Der Verstand hat zersetzt, was zu zersetzen war; des Sokrates Werk kann als vollendet gelten. Die Kritik, ob von Luther ausgehend, von Voltaire oder Kant, hat alle Schranken abgebaut, die dem Denken von außen her das Betätigungsfeld einengten; sie hat dem Geist die volle Freiheit, die ihm gebührt, für immer gesichert. Aber sie hat damit zuletzt dem Leben selbst die Axt an die Wurzel gesetzt, denn sie hat dahin geführt, daß alles nicht verstandesgemäß Begreifliche am Leben in seiner Existenz gefährdet scheint. Die Religiosität droht zu verschwinden, die Moralität, jeder unmittelbare innere Halt. Diesem natürlichen Gefälle gegenüber haben die vielfach ansetzenden, häufig künstlichen Gegenbewegungen wenig Macht. Was nützt es, neue Religionen zu begründen oder alte wiederherzustellen, wenn der Glaube an die Daseinsberechtigung von Religion überhaupt entschwunden ist? Was nützt alle ethische Kultur, wenn Moralität überhaupt als vorurteilsgeboren gilt? – Heute gibt es nur einen Weg zum Heil: daß die Kritik selbst, zu ihrem höchsten Ausdruck gebracht, dem Wiederaufbau der Lebensganzheit dienlich werde. Es gilt den Sinn der Moral, den Sinn der Religion, den Sinn alles dessen zu erweisen, was dem Leben nachweislich zu seinem Heile Halt bot, durch vorläufige Kritik aber als unbegründet verurteilt schien, es gilt dies im tiefsten metaphysischen Verstand zu tun, nicht in dem oberflächlichen jener Pragmatisten, die sich bei der erwiesenen Nützlichkeit als letzter Instanz bescheiden. Dies eröffnet denn der Philosophie eine neue Sphäre, die sie im Abendland noch nie betreten hat. Diese soll fortan, auf allen kritischen Errungenschaften fußend, in tiefster Einsicht selbstherrlich begründet, von dieser aus die neue Lebenssynthese, die allein der einmal erstiegenen Stufe geistiger Bewußtheit entspricht, in Angriff nehmen. Sie allein ist heute überhaupt fähig dazu, eine Synthese zu schaffen. Es ist höchst charakteristisch, daß die modernen Wiedergeburten früherer Lebensformen, die neuerdings so zahlreich, aus dem Geist der Verzweiflung über das zersetzungsbedingte Nichts, in allen Breiten aufkommen, im allgemeinen den niedersten und rohesten Stufen entsprechen; dies gilt vom politischen Kommunismus ebensowohl als von jenem besonderen Okkultismus, der, in Wahrheit primitivster Aberglaube, nur zu vielen religiös sein sollenden Verbänden spiritistischer oder theosophischer Signatur zur Grundlage dient: wo der Mensch, vom Verstand ins Nichts hineingehetzt, nicht weiter kann, dort wendet er sich am leichtesten von aller Vernunfterwägung ab. In Wahrheit aber gilt es nicht, der Einsicht zu entsagen, sondern diese so weit zu vertiefen, daß sie die Ganzheit des Lebens aufzunehmen, zu spiegeln und aus sich heraus wieder aufzubauen fähig wird. Es gilt sonach ein Höheres, als es griechische und französische Philosophen jemals angestrebt: nicht die abstrakte Vernunft, deren Grenzen schon Kant mit wunderbarer Klarheit erkannte und absteckte, zur Alleinbeherrscherin des Lebens zu machen, sondern einen Bewußtheitsgrad zu erreichen, in welchem die Ganzheit des Lebens sowohl seiner Tatsächlichkeit nach bewußt, als seinem Sinne nach verstanden wird, und diesen Sinn als Lebensbasis auszubauen. Hier hielten wir denn den Schlüssel zum Problem, inwiefern heute nicht dem Religionsstifter, nicht dem Ethiker und Pädagogen, sondern dem Philosophen die wichtigste Aufgäbe zufällt: das Reich des Sinnes liegt oberhalb aller Gestaltung des Intellekts. Um diesen Sinn hat Wissenschaft sich nie gekümmert, noch soll sie es tun. Sie kann nicht tiefer vordringen, als bis zum empirischen Sinn, wie er sich der Naturforschung oder der Textkritik enthüllt. Sie kann im Falle Jesu z. B. höchstens erweisen, wie dieser es persönlich gemeint hat. Worauf es aber wesentlich ankommt, ist der metaphysische Sinn seiner Lehre, das heißt die ewige Wahrheit, die sie noch so verkleidet zum Ausdruck bringt. Solche ewige Wahrheit gibt es; sie ist auch des irrtümlichen Glaubens tiefster Grund. Nur war die Menschheit bisher zu buchstabenfromm, um sie zu fassen. Jetzt muß sie hierzu angeleitet werden, denn eine andere Rettung gibt es für sie nicht.

 

Wie soll nun der Philosoph seiner höchsten Aufgabe gerecht werden? Er muß sich dazu zum Weisen vollenden. Er muß sich vom Ideal der vollkommenen Wissenschaftlichkeit zu dem der Weisheit, das heißt des erkenntnisbedingten Lebens hinanwenden, sein Bewußtsein im Reich des Sinns zentrieren. Zu dem Ende muß er lernen, die geistigen Mächte, über die er verfügt, von der Bildfläche des bloß Vorgestellten auf das zentrale Leben zurück- und in dieses hineinzubeziehen Vgl. hierzu, alles nähere betreffend, Erscheinungswelt und Geistesmacht in Philosophie als Kunst.. Er muß, durch entsprechende Akzentverlegung, eine Umorganisation seines Geisteswesens einleiten, so daß ihm der wissende Mensch, nicht der Denker, Wisser und Versteher, zum Ideale wird. Anstatt darauf hinzuzielen, möglichst viel tiefsinnige Bücher zu schreiben, die ihn selbst unverwandelt lassen, muß er darauf bedacht werden, sämtliche Äußerungen seiner Natur zu unwillkürlichen Ausdrücken seines tiefsten Wissens zu gestalten. Er muß seinen Typus von Grund aus wandeln. Selbst der echte Philosoph galt im Westen bisher als exzentrische Erscheinung, und war es auch, denn, wirklichkeitsfremd, vertrat er nur zu oft entweder ein Wissen, welches zur Wirklichkeit in entfernter Beziehung steht, oder aber er stand außerhalb der Welt, diese rein betrachtend, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, sein persönliches Leben zum Körper seiner Erkenntnis zu machen. Der Weise hin gegen, als welcher sein ganzes Leben aus dem Geist des höchsten Wissens wiedergeboren hat, bezeichnet die höchste Erfüllung im Konzentrischen, welche diesseits der Heiligkeit vorstellbar ist. Deshalb stellen Weisentum und Weisheit nichts Abliegendes dar, sondern die eigentliche Krönung des Lebens. In meinem Reisetagebuche habe ich dargelegt, was es mit den Heiligen und Weisen – und dementsprechend, in der abstrakten Sphäre, mit den absoluten Werten – im Letzten für eine Bewandtnis hat: in ihnen erklingen die Grundtöne des Lebens, auf die hin alle übrigen sich abstimmen sollen. Im Zusammenhange dieser Betrachtung muß man sagen: in ihnen erfährt dessen Ganzheit seine geistige Sublimierung. Deshalb bedeutet Weisentum nichts anderes, als die höchste Stufe des Vollmenschentums, die zu Fleisch gewordene Universalität. Deshalb kann es, als Ideal und Vorbild vorgestellt, einen jeden fördern. Deshalb ist Weisheit keine besondere, gar exzentrische Betätigung, sondern vielmehr jedermann zugänglich in der Idee. Wenn die Erfahrung, wenn das bloße Alter mehr oder minder weise macht, und zwar unabhängig von der vorhandenen Begabung, so bedeutet dies doch, daß ein mögliches Bewußtwerden der ganzen erlebbaren Wirklichkeit und deren Sinns sowie die Durchdringung aller Äußerungen durch diesen auf der natürlichen Bahn des aufsteigenden Lebens liegt. Dieser normale Prozeß muß nur beschleunigt, er muß vertieft werden, von der Ebene der Erkenntnis, daß etwas notwendig und nötig ist, bis zu der tieferen des Verständnisses, warum dem also ist, dieses »warum« natürlich nicht empirisch-causal, sondern bedeutungsmäßig verstanden. Also handelt es sich bei der Erziehung zur Weisheit keineswegs um eine Forderung für wenige Bevorzugte. Wohl wendet sich die dunkle Weisheit begabter Eigenbrödler, und solcher höchsten Könnens, nur an wenige, weil diese tatsächlich abseits liegt, nur aus bestimmter Perspektive verständlich scheint, nur einzelne Sonderbegabungen fördert. Aber die Weisheit eines Christus, eines Krishna, eines Buddha schließt niemanden aus. Sie geht jeden an und wirkt auf jeden, weil sie die Krone des normalen konzentrisch gelebten Lebens ist und daher auch dort überzeugt, wo die Organe fehlen, um ihren ganzen Sinn zu fassen. Sie wirkt unmittelbar als beglückende Verdeutlichung dessen, was jeder im Tiefsten seiner Seele als wirklich und richtig ahnt, als Offenbarung, von außen her, des eigenen innersten Wahrheitswissens. Sie steht zu jedem in prästabiliertem Verstehensverhältnis, wie der Grundton zu beliebiger Melodie, die sich auf ihn bezieht. Mag deshalb herausgestellte tiefste Erkenntnis nur für wenige bestimmt sein – lebendige spricht jeden an. Nicht zwar notwendig sein Bewußtsein, destomehr sein Wesen, das unter allen Umständen vielmehr weiß, als der beste Verstand. Deshalb ist Erziehung zur Weisheit grundsätzlich für alle bestimmt, weil jeder, innerhalb der Grenzen seiner Begabung, der Einstellung fähig ist, die im Falle höchster den Weisen macht. Dieser allein darf freilich lehren. Aber alle können ihn, soweit es ihnen frommt, verstehen. Genau wie zu gläubigen Zeiten religiöse Wahrheit aller Leben formte, gleichviel, wie weit sie jeweilig eingesehen wurde, so kann und wird es in Zukunft mit der Sinnes-Erkenntnis sein.

Das Höhere wirkt ansteckend auf das Niedere und wandelt dieses, sich selbst entsprechend, um. Deshalb gilt vom Weisen, genau wie vom Religionsstifter, vom Pädagogen, daß sein Dasein, nicht sein Tun die Hauptsache ist; seine eigenste Sache, als Grundtons in der Lebenssymphonie, ist rein zu erklingen, als Grundton tonangebend zu sein. Indem der Weise durch sein Beispiel die Grundtöne des Lebens im Bewußtsein aller wacherhält, ermöglicht er es auch allen, sich auf diese hin richtig abzustimmen, die Dissonanzen immer erneut in harmonischen Einklang aufzulösen. Indem er ferner im gegebenen Augenblick die Tonart oder die Tiefenlage wechselt, beweist er die Initiative, die allen Fortschritt letztlich innerlich bedingt, und bewirkt die Beschleunigung des Gesamtlebens, deren dieses immer erneut bedarf, um nicht zu verknöchern oder zu verfallen. Das Leben an sich ist unaufhörliche Neuschöpfung. Diese wird dadurch ausgelöst, daß der Entwicklungsprozeß immer wieder beschleunigt wird, was seinerseits durch befruchtende Initiative geschieht. Hier gilt ein gleiches Schema von der physischen Zeugung, über den Geschichtsprozeß hinweg, bis zu den Höhen reinster Geistigkeit. Überall muß, damit kein todverheißender Stillstand einträte, der sonst in Wiederholung bestehende stete Neuschöpfungsvorgang in gewissen Abständen durch Mutation eine Wandlung oder Richtungsänderung erfahren. Tritt nicht durch solche Impulse immer wieder ein beschleunigendes Motiv ins Leben hinein, so erfolgt Verknöcherung, Entartung, schließliches Aussterben. So entwertet sich auf die Dauer jeder zu lang unverjüngte und unverwandelte Menschentyp. So wird jeder Kunststil auf die Dauer zum Cliché (S. 54). So erstarrt jede bestimmte Philosophie, früh oder spät, in öder Scholastik. Der Mutationsprozeß nun, dessen Charakter im Falle der Artentwicklung in vollständiges Dunkel gehüllt erscheint, der im Fall des rechtzeitigen Geborenwerdens und Eingreifens großer Männer in die Geschichte rätselhaft bleibt, ist jedem wenn auch nicht verständlich, so doch geläufig im Fall der individuellen Initiative. Initiative ist das geistige Äquivalent der natürlichen Urschöpferkraft, soweit diese sich zur Neuschöpfung potenziert; jene bedeutet recht eigentlich bewußtes Schaffen aus dem Urquell der Natur heraus; das rechtzeitige Erfinden dessen, was gerade not tut, das rechtzeitige Erfassen und Erfüllen des Gebots der historischen Stunde hat genau den gleichen Sinn, wie das rechtzeitige Entstehen der neuen, den veränderten Verhältnissen einzig gemäßen physischen Lebensform. Wer immer Initiative beweist im Geist, bringt ein neues, beschleunigendes Motiv in die Geisteswelt hinein und bedeutet mehr, als der scharfsinnigste Fortsetzer überkommener Gedankenreihen. Solche beweist jeder schöpferische Geist. Die Macht des Weisen ist größer. Er und er allein bedeutet jene Stillstandsgebärde im Reich des geistig-seelischen Werdens (s. S. 90), die allein das Leben als solches erneut. Wer durch sein Dasein einen tieferen Grundton anschlägt, kann Fortschritt einleiten, nicht bloß Veränderung. Stellt sich, wie heute, die neue Aufgabe, das vorgeschrittene Wissen ins Gesamtleben hineinzubeziehen, aus tiefster Einsicht dieses neu zu beseelen, so ist ihr von Hause aus nur der gewachsen, welcher selbst nicht allein ganz Initiative des Geistes ist, sondern geistbestimmten Lebens; dessen Bewußtsein, im schöpferischen Urgrund verwurzelt, aus diesem genährt, unaufhaltsam Ursprüngliches hervorbringt, damit dauernd eine Lage bewahrend, die allem Nachmachen, Fortsetzen, Blind-Glauben, So-oder-anders-Meinen, Vorurteilen, und was der Eigenschaften mehr sind, die allem schulmäßigen Geistesleben anhaften, ursprünglich überlegen ist. Solches gilt naturgemäß von dem, der in der Welt des Sinnes seine Heimat hat. Solches gilt aber zugleich von ihm allein. Deshalb, noch einmal, tut der Weise als Typus unserer Zeit am meisten not. Wohl ist es diesem wesentlich nur um den Sinn zu tun, der sich ewig gleich bleibt durch alle Veränderung. Aber gerade weil er auf ihn allein bedacht ist, so nimmt zur gegebenen Stunde mit Unvermeidlichkeit auch der Erneuerungsimpuls von ihm den Ausgang, dessen es jeweilig bedarf, auf daß das Leben vor« und aufwärts schreite und nicht stehenbleibt. Denn gerade der gleiche Sinn erheischt zu verschiedenen Zeiten verschiedenen Ausdruck.

 

Die Grundtonänderung, die allein die verendende europäische Menschheit noch erretten kann, besteht in der Rückbeziehung aller Gestaltung auf den Sinn und in der Zentrierung des bewußten Gesamtlebens in dessen Reich. Diese Aufgabe stellt sich, seitdem es Menschen gibt, zum erstenmal, denn Sinneserfassung im hier geforderten Verstand war früher nicht möglich. Heute stellt sie sich aber gebieterisch, weil nur der angeschlagene tiefere Grundton überhaupt zu neuer Melodiebildung führen kann. Daß dem aber also ist, ist andererseits erfreulich, denn es beweist, daß die heutige Krisis sich in echten Fortschritt auflösen kann, nicht in bloße Veränderung. Hier bleibe man ja nicht bei halber Einsicht stehen. Wenn die Religiosität im Argen liegt, auf der Ebene des Köhlerglaubens nimmermehr eine dauernde historisch-bedeutsame Wiederbelebung erfahren wird, andererseits aber Verstehen des Sinns der Religion den Menschen unmittelbar mit der Gottheit neuverbindet, so bedeutet dies einen unbedingten Fortschritt in der Geistesentwicklung. Wenn die überkommenen Moralbegriffe zersetzt sind, Verständnis für den Sinn des sittlichen Strebens jedoch Gleiches und Besseres erzielt, wie vormals Bindung durch blindgeglaubte Gebote, so bedeutet dies, daß die Menschheit aus der Gebundenheit unaufhaltsam auf die Stufe steigt, auf der vollendete Selbstbestimmung möglich wird. Wenn keine Einzelgestaltung als solche mehr ernstgenommen wird, was zunächst freilich chaotische Zustände zur Folge hat, Verständnis des Sinns der Formen indessen bewirkt, daß ohne »Namen und Form« ein gleicher Kosmos erzielt wird, wie früher nur vermittels ihrer, so tritt damit zutage, daß die Menschheit reif dazu wird, ihren Seins- und Bewußtseinsmittelpunkt oberhalb der Gestaltung zu haben und damit ihr Dasein ganz und gar im Reich der Freiheit zu begründen. Die Richtung der neuesten Entwicklung führt, in der Idee, unzweifelhaft Höchstem zu. Uns kommt es aber vor allem auf die Verwirklichung des ideell Möglichen an. Diese gelingt nie ohne zielbewußtes Wollen. Deshalb gilt es, innerhalb des Geisteslebens bewußtermaßen den Bedeutungsakzent auf das zu legen, was jetzt vor allem not tut, und praktisch entsprechend zu handeln.

Folgendes ist zu begreifen und in Taten umzusetzen. Die ausschlaggebende Geistesmacht für diese Zeit ist nicht die Religion, sondern die Philosophie. Der offizielle Bedeutsamkeitsakzent ist daher auf diese zu verlegen. Die Philosophie, auf die es ankommt, ist aber ihrerseits nicht das, was sie die letzten Jahrhunderte über gewesen: sie ist keine exzentrische Geistesbetätigung, sondern Leben in Form des Wissens. Das Ziel des Philosophen liegt jenseits aller Kritik, im Bewußtsein jenes tiefsten Lebensgrundes, der alle Gestaltung von innen her bedingt Inwiefern Metaphysik Leben in Form des Wissens ist, habe ich in den Prolegomena zur Naturphilosophie, Vortrag V, zuerst gezeigt.. Dieser ist zu erreichen. Es ist möglich, durch Selbstvertiefung einen Bewußtheitsgrad zu erringen, der die Hilfskonstruktionen der Vernunft, welcher Logik und Theoretik in hohem Grade überflüssig, den Wahrheitssucher zum ursprünglich Wissenden macht: einen Bewußtheitsgrad, durch den der Geist den Irrungen der reflektiven Erkenntnis physiologisch überlegen wird, wo Denken und Sein insofern eins werden, als jenes, anstatt dieses bloß mehr oder weniger verzerrt zu spiegeln, zu dessen unmittelbarem Ausdrucksmittel wird. Dieses Ziel wird aber damit erreicht, daß das Leben in seiner Ganzheit ins Bewußtsein hineinbezogen, daß die Synthesis a priori jenes in diesem gespiegelt wird; daß der erkennende Geist somit seiner parasitären Stellung verlustig geht, und, verwurzelt in allen Tiefen der Seele, als sein Mittelpunkt den ganzen Menschen regiert. – Diese Form einer lebendigen, nicht abstrakten, Philosophie ist selbständig zu begründen, in dem ihr einzig gemäßen äußeren Rahmen. Endlich ist das lebendige Weisentum, auf das es ankommt, sowohl an sich zu ermöglichen, durch vorbedachte Typisierung, als zur erforderlichen Wirksamkeit zu bringen. Es muß dem allgemeinen Bewußtsein klargemacht werden, daß unsere Zeit tatsächlich eine besondere, neue Aufgabe hat. Dann müssen die neuen Gestaltungen erschaffen werden, welche den neuen Sinn in der Welt der Erscheinung unmittelbar wirksam machen. Diese sind unbedingt erforderlich. Neuen Wein in alte Schläuche zu gießen, frommt nur dann, wenn es sich um Wein gleichen Gewächses handelt. Dieses ist hier nicht der Fall. Das Philosophentum, dessen Aufgabe die unmittelbare Vertretung der Welt des Sinnes wäre, paßt weder in den Rahmen der Kirche hinein (was sich von selbst versteht, was ich aber doch ausdrücklich anführe, weil diese vor bald zweitausend Jahren die Erbin der antiken Philosophenschule wurde, so daß in ihr noch am meisten davon fortlebt, wovon jene einstmals das Wirkungszentrum war), noch auch in den der Universität. Diese kann ihrer Natur nach kein Sein vermitteln, sondern nur Wissen und Können. Die Gestaltung, die eine Verknüpfung von Geist und Seele von höchster Wissensbasis aus zum Ziele hätte, die das Gesamtleben, nicht bloß den Geist, neuformte, deren Tradition auf ein Sein, kein bloßes Erkennen und Können ginge, ist erst zu erschaffen. Hiervon demnächst. Zuvor aber noch, rückblickend, das Folgende: jenes Weisentum, auf das es ankommt, wird schon lange als Ziel erstrebt, aber ohne deutliches Erfassen des eigentlich Gewollten, weil für den Begriff des Philosophen als Wissensverkörperers im Westen schon lange jede Anschauung fehlt. Daher herrscht im allgemeinen Bewußtsein über diesen Punkt die seltsamste Unklarheit. Es werden einerseits Denker als Weise verehrt, die solche nicht waren, andererseits wird (seit Schopenhauer) zwar gewaltig gegen die Professorenphilosophie geschimpft, dem Professor jedoch nicht der Weise, sondern der – Privatgelehrte, wenn nicht gar der Literat entgegengestellt, welcher doch in keiner Weise besser und mehr zu sein braucht, als der beamtete Denker. Nur Nietzsches hellseherische Sehnsucht hat das, was eigentlich not tut, klar erkannt. Dieser wahrhaft prophetische Geist hat in Blitzlichtbeleuchtung wieder und wieder den neuen Seinstypus hingezeichnet, welcher den Westen erretten kann. Aber freilich: er hat ihn in so extremer Besonderheit gesehen, so gegensatzbedingt, so verneinungsfroh, daß er als Bild der Erfüllung nur den fördert, der ohnehin schon weiß.

 

Gehen wir jetzt zur neuen Praxis über. Es ist vornehmste Aufgabe dieser Zeit, so sagten wir, den Weisen als Typus zu ermöglichen, heranzuerziehen und ihm die notwendige Resonanz und Wirkungsmöglichkeit zu bieten. Die Weisheit soll im selben Sinn zum unmittelbaren Lebens- und Vermittlungsziel werden, wie dies von jeher, seitens der Kirche, für den Glauben und die Tugend gilt, und in der modernen Welt hauptsächlich für die Wissenschaft. Der Weise muß für das allgemeine Bewußtsein zur selbständigen Autorität werden. Auf ihn hin ist deshalb ein neuer Anstaltstypus zu begründen. Auf daß sie hinausgelangten über den heutigen chaotischen Zustand, müssen die Werdenden unmittelbar dazu erzogen werden, nicht Fragmente, sondern Menschen zu werden, keine Denkmaschinen, sondern lebendig Wissende, keine Nachplapperer und Verewiger fremder Gedanken; der Bildung zur Weisheit Ziel soll sein, daß jene keine Befolger überkommener Routine würden, sondern voll verantwortliche, durchaus ursprüngliche Wesen, welche nur das bekennen, was sie aufrichtig meinen, nur das meinen, was ihnen wirklich entspricht, und die nicht rasten, bis daß das Wort, das sie als ihre Wahrheit erkannt haben, in ihnen zu Fleisch geworden ist. Dies gelänge allein in einer Schule, in welcher Verstehen des Sinns und die Neufassung aller Erscheinung aus ihm heraus vom Lehrer zum Schüler vermittelt würden; die genau auf der Ebene zu stehen käme, welche sich immer wieder, im Lauf dieser Abhandlung, als Bewußtseinsebene des vorgeschrittensten modernen Menschen herausstellte: der, auf welcher Verstehen und Sein zusammenhängen und unmittelbares Beeinflussen dieses durch jenes möglich ist. Sie liegt mitten inne zwischen den Daseinsflächen der Kirche und der Universität, prinzipiell aber jener näher als dieser, weil die Schule der Weisheit in erster Linie das Sein beeinflussen soll. Nicht aber – dies ist ihr Niedagewesenes – durch gläubige Hinnahme des Richtigen, sondern durch persönliches Verstehen. Heute handelt es sich darum, die Vollendung, die früher Glaube allein gewirkt, aus dem Geist vollkommen bewußten Wissens heraus erreichbar zu machen, an die Stelle des gläubigen Nachschaffens überall, auf dem Gebiete der Ethik ebenso sehr wie dem der Theorie, die schöpferische Initiative zu setzen. So würde die Schule der Weisheit wesentlich eine Schule der Bewußtheit darstellen, aus dem Geist äußerster Wahrhaftigkeit und stärkster Willensanspannung heraus. Als solche nun richtig geleitet, könnte sie nicht umhin, das erwünschte Ziel zu erreichen. In der Tat: würden die Werdenden ständig dazu angehalten, nicht allein selbst zu denken, sondern sich bei jedem Gedanken zu fragen, ob er ihnen tatsächlich entspricht, sich bei keiner Instanz vor dem letzterreichten Bewußtheitsgrade zu bescheiden, von jedem noch so bewährten Satze zu verlangen, daß er ihnen seinen Sinn vollkommen klar enthülle, wodurch sie zu vollkommener Aufrichtigkeit erzogen würden, zur Wahrhaftigkeit gegen sich selbst im äußersten Verstand, dann würden alle Hirngespinste wie im Wind zerreißen, und alle Vorstellung Ausdruck oder Spiegel von Wirklichem werden. Würde ihnen ferner stetig der Weg dahin gewiesen, aus dem Geist des Wissens heraus das Leben zu formen, nur das zu tun, was ihrem tiefsten Wissen entspricht, in sich selbst keinerlei Vorläufiges gelten zu lassen, dann müßte unbedingt eine Neuformung ihres ganzen Wesens stattfinden, eine Synthesis entstehen von Wille, Seele und Geist, die sie hinausführt über die Zersplitterung und Zersetztheit des jetzigen Zustandes zur Ganzheit freien, vollbewußten Menschentums, und zwar eines Menschentums von tieferer Geistesverwurzelung, als es je bisher als Typus geherrscht hat.

Jetzt ist wohl deutlich, daß es sich bei solcher Schule um ein völlig Neues handeln würde, und daß es eben dieses Neue ist, das diese Zeit vor allem verlangt. Manche, im Bewußtsein, daß schöpferisch-persönliche Einwirkung wichtiger ist als Wissensvermittlung, und ethische Beeinflussung der Jugend notwendiger als ihre Anleitung zum Forschen, wollen die Universität daraufhin pädagogisieren: den Hauptnachdruck bei der künftigen Dozentenwahl auf die Lehrbefähigung legen; aber hiermit würde nur die Stätte freien Forschens zur Mittelschule zurück herabgedrückt, der Geistesfortschritt würde Einbuße erleiden und das bestdenkbare Ergebnis des neuen Bildungsprozesses würde die Formung von biederen Durchschnittsmenschen sein auf einmal anerkannter Erkenntnisbasis. Mehr würde jedenfalls nicht erreicht, als die Erziehung durch die Kirche bewirkt, oder, im Höchstfall, die konfuzianische Lehrmethodik. Freilich bedarf es dessen: je weiter die Demokratisierung fortschreitet, je breiter die Basis der Bildungspyramide wird, desto mehr bedarf es solcher Anstalten, welche der Masse die beste Bildungsmöglichkeit bieten und dafür sorgen, daß das allgemeine Niveau, trotz der allgemeinen Nivellierung nach unten zu, die Demokratisierung mit Unvermeidlichkeit bedingt, unter einen gewissen Horizont doch nicht herabsinke. Aber worauf es heute vor allem ankommt, ist die Fortleitung der Impulse, die von den Gipfeln kommen, in die Bahnen des allgemeinen Menschheitsfortschritts, und da kann es sich offenbar nicht um die Pflege einer bestimmten Gestaltung handeln, sondern um eine Pflege des Schöpferischen als solchen, jenes tiefsten und wesentlichsten im Menschen, aus dem alle bestimmte Schöpfung immer erneut hervorgeht; um eine Heranbildung dessen im Menschen, und von dem her, was seinem Wesen nach unobjektivierbar ist und daher in keinerlei auf Gegenständliches bezüglichen Lehrplan paßt.

 

Die Schule der Weisheit muß also ein Drittes werden neben Kirche (das Wort im weitesten akonfessionellen Sinn verstanden) und Universität. Zu jener stände sie in dem Verhältnis, daß sie gleich ihr den ganzen Menschen zu bilden, seine Seele zu spiritualisieren trachtete, überdies aber eine Synthesis anstrebte zwischen Seelenleben und selbständig-vollbewußtem Geist, so daß nicht Glaube die letzte Instanz bezeichnete, auch nicht abstraktes Wissen, sondern Glaube, Wissen und Leben zu eins würden in lebendiger höherer Bewußtseinseinheit. Zu dieser stände sie im Verhältnis einer Krönung. Einer Krönung, insofern sie zur Aufgabe hätte, das in der Hochschule gewonnene Wissen einer Lebenssynthese einzuverleiben, die sich die äußerste abstrakte Erkenntnis organisch einzugliedern vermöchte und den bloß »Könnenden« dergestalt zum »Seienden« umschüfe. Viele meinen – sofern sie sich die Frage überhaupt gestellt –, daß solche Weisheitsschule überflüssig sei: es genüge, wenn die Meister frei, durch Bücher oder Gelegenheitsvorträge wirkten; oder auch, sie sei unverwirklichbar; es sei unmöglich, die anregenden lebensspendenden Kräfte, die von jenen ausstrahlen, in geregelter Form der Gesamtheit dienstbar zu machen. Allein sie irren. Die Erschaffung eines äußeren Wirkungsrahmens für den Weisen ist erforderlich erstens, damit der typischen Neigung jedes, aber besonders des deutschen Geistesmenschen, im Ideellen zu verschweben, vorgebeugt werde. Nie und nimmer darf der Geist, sofern Weisheit sein Ziel ist, den Zusammenhang mit der Wirklichkeit verlieren, und dieser Gefahr wird am ehesten dadurch gesteuert, daß er von vornherein eine bestimmte Aufgabe in ihr erhält, oder veranlaßt wird, sich von vornherein einem Typus einzubilden, der eine bestimmte Rolle in ihr spielt. Weisheit bedeutet Erfüllung im Konzentrischen, die geistige Sublimierung des Vollmenschentums. Also ist ihr Reich ganz und gar von dieser Welt. Der Geistesmensch nun bescheidet sich allzuleicht bei einem selbstgenügsamen Denk- und Vorstellungsleben, und wird er zur Synthesis von Geistes-, Seelen- und Willensleben nicht gezwungen, was im Fall der Mehrheit nur von außen her geschehen kann, so wird aus ihm schwerer ein Weiser, als aus einer naturhaft-normalen verheirateten Frau. Was liegt in deutschen Büchern nicht an Geist verstreut! Dieser bleibt aber meist wirkungs- und bedeutungslos, weil er in eigener Sphäre rein für sich lebt und gewöhnlich sogar nicht mehr bedeuten will, als daß er ist. Wie lebensfremd ist typischerweise der Gelehrte! So günstig dies unter Umständen für die Spezialforschung sei – wo es sich um Wirklichkeitserfassung handelt, gleichviel in welchem Sinn, macht es den Menschen blind und unzulänglich. Man gedenke der vielen Hirngespinste, die Philosophen ausgeheckt, der Unfähigkeit der meisten Historiker, die Geschichte im Werden zu verstehen, der verhängnisvollen, geradezu verbrecherischen Rolle, die Intellektuelle und Professoren während des Weltkrieges gespielt: auf deren Irrealität hauptsächlich ist es zurückzuführen, daß der Krieg allerseits im Geist des Wahns geführt worden ist und der entsetzlichste Unsinn zuletzt gesiegt hat. Es muß von vornherein eine Typisierung vorgesehen werden, deren Höchstausdruck Weisen- und nicht Gelehrtentum wäre, die ihre Vergegenständlichung in einer Anstalt fände, die ihrer Ur-Einstellung nach auf Seins-, nicht auf Könnenskultur abzielte. Auf die Einstellung, in der Tat, kommt alles an Diesen Gedanken führt der Vortrag Was wir wollen genau aus.. Aus jedem Menschen kann grundsätzlich alles werden; diese Wahrheit kündet das Sprichwort »Wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch den Verstand«. Wozu er wird, hängt davon ab, wie er sich einstellt. Insofern sind alle Seinsgestaltungen Willensprodukte. Deshalb kann die Hochschule das, was die Heimstatt für die Weisheit bewirkte, nie erzielen. Bei dieser handelte es sich um den Körper einer bestimmten geistig-seelischen Einstellung, um den ideellen Mittelpunkt, von dem aus diese sich auswirken könnte. Die Frage, was im besonderen in ihr geschähe, ist sekundär, denn grundsätzlich kann alles im Geist der Weisheit geschehen und dieser zuführen. – Die zweite Erwägung, welche die Erschaffung eines äußeren Wirkungsrahmens für den Weisen unbedingt geboten erscheinen läßt, betrifft die Notwendigkeit, ihm eine Plattform zu erbauen, welche ihn weithin sichtbar machte, die Absicht seines Wirkens von vornherein spezifizierte und ihm einen gleichsam offiziellen Charakter verliehe. Nur das schon Anerkannte bemerkt der Durchschnittsmensch, und nur das seinem Wesen nach Erkannte und willig Entgegengenommene vermag voll zu wirken. Keine Religion hätte einen bildenden Einfluß auf Massen ausgeübt, wenn sie das, was sie wollte, in einem autoritätsbedachten Priestertyp nicht aus sich herausgestellt hätte; im gleichen Sinn merkt jeder Gelehrte, noch so ungern, früh oder spät, daß er sich, um vollen Einfluß auszuüben, einem angesehenen Lehrkörper eingliedern muß. Den Weisen als Typus nun kennt das abendländische Bewußtsein überhaupt noch nicht, und ehe dieser Typus nicht herausgearbeitet und anerkannt, ehe seine Aufgabe nicht spezifiziert und ein äußerer Lebensrahmen nicht geschaffen ist, der ihm die Möglichkeit, seiner Sendung gemäß zu wirken, sicherte, wird der Weise – und sei er in noch so vielfacher Gestalt schon da – seinen notwendigen Einfluß nicht ausüben können. Wer im Philosophen unwillkürlich den Gelehrten und Professor sieht, wird nur in diesem Sinne von ihm lernen; man kann von anderen immer nur das empfangen, was man ihnen innerlich zugesteht. Deshalb muß es dem allgemeinen Bewußtsein deutlich gemacht werden, daß der Philosoph ein grundsätzlich anderes ist als der Gelehrte und Forscher. – Aber nicht minder irren die, welche wähnen, es sei unmöglich, die anregenden Kräfte, welche von Meistern stammen, in gleichsam kanalisierter Form der Gesamtheit dienstbar zu machen. Freilich sind Initiative im Geist und Leben aus dem schöpferischen Urgrund heraus noch weniger »lehrbar«, als jene Tugend, welche Sokrates für lehrbar hielt. Wenn schon Klosterschulen typischerweise nie Heilige, sondern bloß routinierte Mönche herangebildet haben, so ist es völlig ausgeschlossen, einen abstrakten Lehrplan zu ersinnen, der das Subjektivste, Intimste im Menschen, den lebendigen Mittelpunkt von Seele, Wille und Geist als solchen zu wecken und auszubilden wüßte. Aber es handelt sich bei dem, was not tut, auch um keinerlei Anstalt im überkommenen Sinn: es handelt sich um ein völlig Neues, der heutigen, nie dagewesenen Bewußtheitsstufe allein Gemäßes. Die Schule der Weisheit soll kein Können, sondern ein Sein vermitteln, folglich wird sie ganz auf die lebendige Persönlichkeit einzustellen sein. Diese wird vor allem dazusein haben; ob dauernd, ob nur zeitweilig, wird die jeweilige Betätigungsmöglichkeit ergeben. Sie hat den Grundton anzuschlagen für die Seinsgestaltung, deren jeweiliger Charakter jedesmal von der Sonderart des Schülers abhängen wird, jenen stetig im Bewußtsein lebendig zu erhalten, das jeweilige Einzelne auf ihn immer wieder zurückzubeziehen, von ihm aus die entsprechenden Gestaltungen anzuregen. Deshalb wird die Erhaltung einer lebendigen Tradition in der Schule der Weisheit die Hauptsache sein, nicht das Gegenständliche der Lehre. Wenn es schon im Fall der Universitäten nie die Schule als solche, sondern der immer erneut mit dieser verknüpfte große Lehrer war, welcher den Fortschritt des Geisteslebens bedingt hat, so wird die Anstalt in jenem nur gleichsam die Schnur sein, auf die sich Perle an Perle reiht. Wer selbst im Reich des Sinns sein Bewußtseinszentrum hat, der vermag jenes durch persönlichen Einfluß auch anderen zu erschließen. Wie das Kind im allgemeinen den Sinn des Worts erfaßt, bevor es dieses begreift (vgl. S. 4), wie der normale Weg aller Erziehung von innen nach außen geht, so wirkt auch der metaphysische Sinn, falls überhaupt im Bewußtsein gespiegelt, primär und unmittelbar. Was dem Verstand, weil unobjektivierbar, subjektiv in der Bedeutung von unwirklich erscheint, erwiese sich dergestalt als objektive Macht. So würde der westländische Vergegenständlichungstrieb sein Höchstes in dem Augenblicke leisten, wo es ihm gelänge, der Persönlichkeit die äußerste Wirkungsmöglichkeit zu sichern. Indem er sich insofern selber aufhöbe, erfüllte er zugleich seine letzte und vornehmste Bestimmung. Von seienden Wesen sind wir zu bloß könnenden geworden; in unserem heutigen Zustand dient das Ganze dem Teil, der Zweck dem Mittel, die Seele dem Werkzeug. Jetzt gilt es, von äußerster Differenziertheitsbasis aus die Integrierung zur Einheit zu vollziehen. Von der Sachlichkeit führt der Weg wieder zur Persönlichkeit. Diesen aber vermag nur Persönlichkeit zu weisen.

 

Über die eigenste Form der Heimstatt für die Weisheit, wie sie mir vorschwebt, will ich hier nichts äußern. Nur so viel noch, im Zusammenhang mit dem bereits Gesagten: von vornherein ist klar, daß ihre Verwirklichung nicht Sache des Staates ist, noch sein kann. Der Staat kann seinem bloßen Begriff nach keine Menschen brauchen, sondern nur Organe, und dies wird sich immer deutlicher erweisen, je näher er seiner eigenen Vollendung kommt. Schien es zeitweilig anders, so lag dies an seiner spezifischen Unvollkommenheit. Was vom in seiner Art vollendetsten Staatswesen der letzten Zeit, dem deutschen galt, wird im höchsten Maß vom Ideal des Staates überhaupt, dem sozialistischen (falls es zu diesem kommen sollte) gelten, wie es von den ausgebildetsten Staatsformen der Vergangenheit, der griechischen Polis, der römischen res publica in beschränkterem Maß, und im höchsten bisher meines Wissens dargestellten vom Reich der Inkas gegolten hat: die Zwecke des Staats werden den Einzelnen absolut regieren. Da dieses nun aber das genaue Gegenteil von dem bedeutet, was der Menschheit als Ideal voranschwebt, so ergibt sich hieraus mit Notwendigkeit ein wachsender Prestigeverlust des Staats als solchen auf der ganzen Welt Genau ausgeführt habe ich diesen Gedanken sowie das mir vorschwebende neue Idealverständnis zwischen Volk und Staat in meinem Buch Politik, Wirtschaft, Weisheit.. Und da ferner ein Zurückgehen auf frühere, rudimentäre Formen (wie solche in England zum Teil noch heute, zum Heile dieses Reichs, bestehen) unmöglich ist, weil historische Prozesse unumkehrbar sind und der moderne Staat dem bloßen Begriff nach allen früheren überlegen ist, so muß dies dahin führen, daß der Staat sich immer mehr auf die Aufgaben beschränken wird, für die er unentbehrlich ist – auf die Auswirkung der Zweckeinheit der nationalen Gesamtheit im Sinn der Selbstbehauptung und des natürlichen Wachstums. Alles andere im Staat wird immer unabhängiger vom Staat leben, möglichst in sich selbst gegründet, möglichst Selbstzweck sein, was in neuer Gestaltung einer Wiederherstellung des früheren optimalen Gleichgewichtszustandes zwischen dem Einzelnen und der Gesamtheit zuführen wird. Daß wir dazu zeitweilig durch extremen Etatismus hindurchmüssen, ändert nichts am Ziel des Prozesses: hierbei handelt es sich um die gleiche provisorische Zusammenfassung aller Kräfte zur Erreichung eines bestimmten Zwecks – hier der sozialen Reform – wie sonst im Krieg. Das Ziel der jüngsten Entwicklung ist überall der Abbau des Staats, nach Sprengung seines überkommenen Begriffs, und seine Ersetzung, nach innen zu, durch einen wirklichen Volksorganismus, der, gleich jedem lebendigen, im Zusammenwirken vielfacher selbständiger, voneinander unabhängiger Organisationseinheiten bestände, und nach außen zu durch das, dessen Wesen die vorläufige Idee des Völkerbunds zu fassen sucht: eine einheitlich-übernationale Zusammenfassung dessen, was seinem Wesen nach alle Menschen über die Volks- und Ländergrenzen hinaus verknüpft. Diese Entstaatlichung, alles, was nicht notwendig zum Staate gehört, wird nun in Deutschland, falls dieses seinem Heile zu fortschreiten soll, am ausgesprochensten vor sich gehen müssen. Erstens, ganz allgemein, weil Deutschland von allen Reichen am meisten verstaatlicht war und der Staat hier daher am meisten geschadet hat. Zweitens, weil die weitere Verstaatlichung dessen, was diesem Prozeß verfallen kann und muß, hier wohl im äußersten Maß, im Sinn des Sozialismus stattfinden dürfte, wodurch sich der wesentlich außerstaatliche Charakter aller sonstigen notwendigen Gemeinschaftsbildungen besonders deutlich erweisen wird. Drittens, weil dem deutschen individualistisch-partikularistischen Temperament entsprechend, das hierin zumal dem französischen entgegengesetzt ist, alle Vereinheitlichung Nivellierung nach unten zu bedingt, weshalb eine Reuniversalisierung der Universität z. B. aus der Fachschule und dem Forschungsinstitut zu dem, was sie vor hundert Jahren war, ein aussichtsloses Unternehmen bedeutete. Endlich, weil auf Grund des parasitär-irrealistischen Charakters des deutschen Geistes ein Teilhaben an mächtigen äußeren Verbänden den deutschen Menschen leichter als irgendeinen anderen entseelt, fragmentarisiert und zum bloßen Organe macht, weshalb jede Entwicklung nach einer Synthese des Lebens zu auf der Grundlage des Individualismus und des Partikularismus stattfinden muß. Ja, dieser Prozeß der Entstaatlichung wird in Deutschland, allen augenblicklich herrschenden Tendenzen zum Trotz, schon aus äußeren Gründen früher und ausgesprochener, als irgendwo anders stattfinden müssen, weil der Deutsche Staat, dank dem unglücklichen Ausgang des Weltkrieges, recht eigentlich dem Ausland verfallen ist, so daß alles, was ihm gehört, in der Idee wenigstens, gepfändet oder pfändbar erscheint, was vom Privatbesitz genau nur insoweit gilt, als der Staat darauf besteht, es für sich in Anspruch zu nehmen – und daher gar nicht in der Lage sein wird, alles Notwendige und Wünschbare von sich aus in Angriff zu nehmen. Andererseits aber sind die Bedürfnisse für Geist und Seele vom ganzen Abendland in Deutschland wiederum die größten. So müßten denn, der Natur der Dinge nach, in Deutschland zuerst nichtstaatliche Gebilde entstehen, die als Privatanstalten dem dienten, was die Nation zu ihrer Entwicklung am dringendsten braucht. Unter diesen sollte an erster Statt die Schule der Weisheit in die Erscheinung treten.

 

Aber liegen die Dinge wirklich so, daß die Lösung eines geistig-seelischen Problems, und sei dieses noch so fundamental, eine Wendung im Gesamtleben herbeiführen kann? Die Massen, die heute entscheiden, bekunden wenig Sinn für geistige Problematik überhaupt. Sehr viele Einzelne haben die Bewußtseinsstufe, die hier vorausgesetzt wird, noch gar nicht erstiegen. Kommt es daher nicht viel mehr, dem Geist dieser Epoche entsprechend, auf soziale Reformen und unmittelbare Massenveredelung an? – Es ist freilich wahr, daß auf geschwinde Beeinflussung der Niederung von der Höhe her heute weniger als jemals früher zu rechnen ist. Aber eine schnelle und zugleich nachhaltige Beeinflussung findet niemals statt; auf solche muß von vornherein verzichtet werden; sie gelingt auch den reinen Volksbeglückern nicht. Bei der Überwindung einer so gewaltigen Krisis, wie der heutigen, handelt es sich um einen jahrhundertelangen Prozeß. Und da kommt es, unter Geführten wie unter Führern, niemals auf die Zurückgebliebenen, sondern auf die Vordersten an: zu aller Zeit waren es einzelne, ob Individuen oder Typen, auf deren Beispiel und Einfluß die Richtung, in welcher die Menschheit sich jeweilig fortbewegte, zurückgegangen ist. Jene Beispiele und Einflüsse sind, zur Zeit, da sie unmittelbar wirksam waren, oft kaum gemerkt worden. Aber ihre Wirkungskraft steigerte, ihr Wirkungsfeld verbreiterte sich, sofern sie stark waren an sich, im Laufe der Zeit. Nach Jahrhunderten, nach Jahrtausenden, nachdem ihr Historisches längst verflüchtigt, nachdem alles Faktische im Symbolischen aufgegangen war, erwiesen sie sich manchmal als schier allmächtig. Deshalb kommt es auf die Dauer nur auf die an, die ihrer Zeit voraus waren. Es liegt keinerlei Anmaßung in dem Glauben, daß die Lösung eines bestimmten, nur wenigen zunächst faßlichen geistig-seelischen Problems durch einen kleinen Kreis die wichtigste Zeitaufgabe bedeutet, daß von einer neuen Typisierung der Anlagen, einem neuen Anstaltstypus gar das Heil kommen kann. Es irren vielmehr die Vielen, die da glauben, daß das Ziel der Menschheitsvergeistigung in den Tiefen und nicht auf der Höhe zu fassen ist, wie notwendig und nützlich deren Bestrebungen im übrigen seien. Alle Entscheidung erfolgt auf der Höhe. Sie kann nur auf ihr erfolgen. Dem Nachweis dieses Sachverhaltes widme ich den letzten Abschnitt dieser Schrift.

Gleichwie der Schnittpunkt der Schenkel den Winkel bestimmt, dessen Größe keine Rundfahrt innerhalb dieser zu erkennen gestattet, und zwar desto weniger, je weiter man sich von jenem entfernt; wie jede Philosophie in ihrer ursprünglichen Fragestellung eindeutig enthalten ist, in vollendeter Ausgestaltung jedoch zu den verschiedensten Mißdeutungen Anlaß gibt: so ist das klare Erfassen des Urproblems einer Zeit der einzig mögliche Weg zu seiner endgültigen Lösung. Mit der Klarheit hat es nämlich eine eigentümliche Bewandtnis: sie bedeutet nicht allein den Höhepunkt des intellektuell Befriedigenden, sondern organische Krisenlösung. Probleme würden den Menschen nicht beunruhigen, ganze Zeitalter nicht unentwegt um die Wahrheit ringen, wenn es sich bei der Dialektik, die sich für die Vorstellung im Reich der Abstraktionen abspielt, nicht um die gegenseitige Auseinandersetzung wirklicher, d. h. lebendiger geistiger Mächte handelte. Darum handelt es sich in Wahrheit. Deshalb bedeutet richtige Problemstellung und Verfassung recht eigentlich gute Strategie, Problemlösung Kampfesentscheidung, und die gewonnene volle Klarheit den erreichten Dauerfriedenszustand. Diesseits der Klarheit ist Entscheidung deshalb faktisch ausgeschlossen. Solange die Grundfrage einer Zeit nicht vollkommen deutlich erfaßt ist und den strategischen Ausgangspunkt bildet, bleiben alle Heilversuche, desto mehr, je mehr sie aufs Ganze gehen, letztlich ziellose Massenbewegungen; solange jene als solche nicht gelöst ist, ist an Sieg nicht zu denken, desto weniger, je größer die im Spiel befindlichen Kräfte sind. Nur Massenmord im ungeheuersten Maßstabe kann erfolgen, und an der Grenze gegenseitige Vernichtung. Daher das letztlich Unbefriedigende aller Lehren, welche, richtig an sich, doch ihren Wesensgrund nicht anzugeben wissen: sie vermögen die Krisis nicht zu lösen. Sie haben ihren Ort in der Sphäre der Wirkungen, wo alles Schöpferische aus derjenigen der Ursache stammt. Bei dieser nun handelt es sich um die Sphäre höchster Geistigkeit, jener Sphäre, die dem griechischen λόγος σπερματιχός entspricht. Von ihr, der Region ewiger Klarheit, kommt alle Entscheidung.

Von ihr allein kommt sie auch in dem Fall, wo, äußerlich betrachtet, Massenbewegungen siegen. Christentum und Buddhismus haben Welten erobern können, weil Gautama und Jesus nicht an die Masse dachten, sondern, nach bitterem Kampfe selbst zur Klarheit gelangt, in ihren Lehren letzte Entscheidungen verkörperten. Diese sind dann in einer immer wachsenden Anzahl von Seelen angeklungen, von innen heraus, einer dem Bewußtsein meist unzugänglichen, nur den wenigsten geistig erfaßbaren Tiefe her, und auf die Dauer hat dann eine Verwandlung aller stattgefunden, die überhaupt in der Einflußsphäre der neuen Lehre lebten. So ist alle Entscheidung von jeher auf der Höhe gefallen, und kommt daher. Wohl zieht das Unklare, das Vorläufige, zumal in Übergangszeiten wie der heutigen, weite Kreise an, weil es deren Zustande am besten entspricht. Eben deshalb wird es auch leichter verstanden, als das Klare, aber es bewirkt nichts Wesentliches; oder wenn es doch etwas bewirkt, so liegt dies am prinzipiell Geklärten, das sich in der Unklarheit verbirgt. Solches gilt in vielen Hinsichten vom Sozialismus. So wird auch die lauterste Wahrheit immer mißverstanden, und wirkt doch fort, weil deren innere Leuchtkraft so groß ist, daß sie die dichtesten Hüllen, noch so gedämpft, durchdringt. Aber Entscheidendes bewirkt allein das Klare, klar erfaßt.

Bei allen mir bekannten Heilversuchen am Zustand dieser Zeit handelt es sich um das Auswirken einer Idee, welche als solche nicht erfaßt ist. Letzteres bedeutet aber die Hauptsache: ehe dieses nicht geschehen, fehlt die Gewähr, daß eine gegebene Bewegung, zunächst förderlich, in der richtigen Richtung verbleibt. Bisher sind alle, früh oder spät, nach rechts oder links zu abgebogen, anstatt gerade fortzuschreiten. Von allen, und seien sie noch so berechtigt und zielsicher, gilt, daß sie Entscheidendes zu erreichen nicht vermögen. Dies vermag keine, welche ihr Wollen unmittelbar einer Tiefen- oder Mittellage anpaßt, denn auf der Ebene der Auswirkungen einer Idee entscheidet sich nichts. Dies geschieht immer nur in deren eigenem Reich. Alle überhaupt, die heute Positives anstreben, wollen wohl Gleiches; im letzten Grund kenne ich unter diesen nur Gesinnungsgenossen, wie verschieden die besonderen Anschauungen und Ziele immer seien. So habe ich mich mit Sozialisten und Individualisten, mit Suchern neuer Religion und Verteidigern alter, mit Theosophen und deren Gegnern vom New Thought, mit Gläubigen fester Ordnung oder der Anarchie, von der Basis des Sinns her, unmittelbar verständigen können. Desto entschiedener aber stelle ich das Problem, mit dem diese Arbeit sich befaßt, als wichtigstes hin, weil dieses (um das erste Beispiel wieder aufzunehmen) im Schnittpunkt des Winkels liegt, während alle anderen weiter unten, im weiten Raum, ihren schwankenden Ort haben. Alle positiven Bestrebungen dieser Zeit setzen, in der Tat, das, was ich befürworte, in der Idee voraus. Heute, wo die gesteigerte Intellektualität alle überkommene Seelenorganisation zersetzt hat, ist das Urproblem die Neuverknüpfung von Seele und Geist. Dank dem besonderen Zustand der heutigen Menschheit liegt dieses tiefer als das der religiösen Verinnerlichung, der völkischen Erneuerung, nicht zu reden von der sozialen Reform. Alle diese Probleme werden dann erst ins richtige Licht rücken, wenn jenes erfaßt ist. Die Wendung kann heute nur von der Philosophie her kommen. Daher tut deren Bedeutungssteigerung vor allem not. Daß Philosophie, zumal in dem hohen, hier vertretenen Verstand, nur für sehr wenige eine unmittelbare Angelegenheit sein kann, tut nichts zur Sache. Auf die wenigen gerade kommt es an. Die Menschheit ist nicht anders organisiert als der einzelne Mensch: wie es bei diesem eine bestimmte Wesensschicht ist, in der die Entscheidungen fallen, so sind es bei jener Einzelne, höchstens Gruppen. Diese brauchen auch nicht unmittelbar ins Weite zu wirken. Sie müssen überhaupt zu Wirkungszentren werden. Im Grunde ist das Wesentliche ja stets ein äußerst Einfaches. Gelingt es nur, das Licht auf die richtige Höhe zu stellen, so wird eine immer wachsende Anzahl von Spiegeln dasselbe auffangen und fortreflektieren.

Was dieser Zeit vor allem not tut, ist in der Tat ein sehr Einfaches, im Grunde Selbstverständliches: es ist Gesundheit. Das heißt das Zusammengestimmtsein aller Wesensteile des Menschen, bei deren Vollentwicklung, zu harmonischer Einheit. Das Tier ist kaum je krank, oder erholt sich doch leicht, weil sich die Natur in ihm von selbst reguliert. Gleiches gilt noch vom Menschen als physischem Wesen, soweit die Seele wenig mitbestimmt. Prinzipiell aber hat der Aufschluß der psychischen Sphäre das natürliche Gleichgewicht bei ihm zerstört, denn er hat ihn irrtumsfähig gemacht; die Gefahr seiner Dauererkrankung wächst desto mehr an, je mehr Geist und Seele sich entfalten. Immer mehr liegen alle Entscheidungen beim persönlichen Bewußtsein, und dieses muß vollendet entwickelt sein, um die Sicherheit der Natur zu erreichen. So wird Gesundheit, zunächst das Selbstverständliche, zuletzt zum schier unerreichbaren Ideal. Mit den verschiedenen Teilen seines Wesens gehört der Mensch verschiedenen Seinsordnungen an; der natürlichen, der sittlichen, der spirituellen. Dies tut er ursprünglich, ob er's weiß oder nicht. Aber da das persönliche Bewußtsein bei ihm entscheidet, so mag er den Tatbestand verkennen, und tut er dies, so bleiben schlimme Folgen nicht aus. Jedes Mißverstehen muß er bitter büßen. Ferner sind die verschiedenen Teile seines Wesens andauernd in nicht paralleler, nicht notwendig zusammenhängender Veränderung begriffen. So stellt das Gesundheitsproblem sich immer erneut. Nun muß er, inmitten des Fortschreitens, andauernd zurücksuchen, zurückfinden zu dem, was dem naiven Naturwesen gegeben war. Dieses ist der letzte Sinn alles Naturforschens, alles Weisheitsstrebens, alles Gottsuchens. Freilich bedeutet »Gesundheit« auf jeder Entwicklungsstufe ein Höheres. Im Vergleich zum tierischen Gleichgewichtszustand ist der noch so krankhafte des strebenden Menschen vorzuziehen. Aber formell bleibt Gesundheit auch für diesen das Ideal. Sie muß jeder auf seiner Stufe anstreben. Ein göttlicher Gesundheitszustand – göttlich insofern, als das Göttliche im vollentwickelten Gesamtmenschen harmonisch in die Erscheinung träte – ist unser aller Ziel. Je mehr die Psyche sich entfaltet, desto mehr bestimmt deren Zustand den des ganzen Menschen. Je höher das Geistige sich entwickelt, desto ausschließlicher liegt bei ihm alle letzte Entscheidung. Heute sind wir so weit, daß nur Verstehen des Sinns dem Abendländer die Gesundheit wiedergeben kann. Daher, noch einmal, die ausschlaggebende Bedeutung der Philosophie.

Einführung in die Schule der Weisheit


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