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Der kleine Wagen rüttelte stark, der schwere Schimmel trabte gleichmütig dahin und schüttelte sich geduldig die Bremsen ab, die ihn umkreisten. Die kleinen Schellen, die an seinem Geschirr befestigt waren, klingelten eine schläfrig eintönige Melodie. Eine Weile fuhr der Wagen noch durch die Föhrenschonung wie zwischen stillen, blauen Wänden hin, dann hörte der Wald auf, die Landstraße war da und weite Felder, über all dem lag ein heißer, blonder Staubschleier. Das Land erschien Billy so feierlich leer. »Man sieht keine Leute«, sagte sie.
Der Alte begann anhaltend und leise zu lachen. »Weil es Sonntag ist. Na ja, wenn man des Nachts spazieren geht, weiß man nicht mehr, was für'n Tag wir haben, aber so ist's nu mal mit den Mädchen; die Lina sieht nu auch da.«
»Kann er sie nicht heiraten?« fragte Billy zaghaft.
Der Alte schlug ärgerlich auf seinen Schimmel ein. »Heiraten? Wen denn? Wo ist denn der zum Heiraten? Wo ist denn unser schöner Maschinist von der Sägemühle? Weil er gelbe Katzenaugen hat, laufen sie ihm alle nach. Die Anna in der Wassermühle ist nun auch so weit. Ja, da hilft nichts; wie das Frühjahr kommt, sind die Marjellen in der Nacht draußen, unruhig wie die Bienen vor dem Gewitter, man kann sie hauen, man kann sie anbinden, hast du nicht gesehen – sind sie fort. Jetzt um diese Zeit ist schon seltener«, setzte der Alte hinzu und warf einen Seitenblick auf Billy. Sie lächelte. Ja, dachte sie, in der Frühlingsnacht, wenn wir unruhig werden wie die Bienen vor dem Gewitter, da gibt's das vielleicht dieses Glücklichsein und dieses Sterben, von dem Boris gesprochen hatte, aber dort – – – sie schauerte in sich zusammen, sie wollte nicht daran denken, sie hatten noch lange zu fahren, später würde sie alles überlegen. Gut, gut, aber jetzt nicht denken, nur dem schläfrigen Klingeln der kleinen Schellen zuhören.
Allmählich jedoch wurde die Gegend bekannter, hie und da stand zwischen seinen Feldern im Sonntagsrock ein Bauer, dessen Gesicht Billy sich erinnerte, und endlich tauchte in der Ferne Kadullen auf zwischen den großen Parkbäumen; ein kühler, grüner Fleck im sonnengelben Lande. Billy richtete sich auf; sie wurde plötzlich ganz wach; es war fast qualvoll, wie jäh all das Traumhafte von ihr abfiel und die frühere Billy wieder da war mit der Verantwortung für das, was sie getan, mit der Angst und Scham vor all denen dort. Sie sah deutlich Marions Augen, Tante Bettys hilfloses, kleines Gesicht und des Vaters strenge, weiße Nase. Sie hatten ja wohl den Zettel gefunden, den sie zurückgelassen. Was stand doch auf dem Zettel? »Ich bin bei ihm«, Gott, wie das dumm klang! Und nun näherten sie sich immer mehr dem Hause. Wenn sie nur unbemerkt über die kleine Treppe in ihr Zimmer kommen könnte, in Linas Kleidern würde niemand sie erkennen und oben in ihrem Zimmer würde sie die Türe zuschließen, niemand hereinlassen und schlafen – schlafen. Vielleicht nahm das etwas von ihr, vielleicht war dann, wenn sie erwachte, alles anders, alles besser. »Ach bitte,« sagte sie, »wir halten an der kleinen Türe der Parkmauer drüben.« Der Alte nickte gleichmütig, lenkte in den Seitenweg ein und hielt vor der kleinen Tür in der Parkmauer. Als Billy ausgestiegen war, blieb sie einen Augenblick stehen und sagte zögernd: »Ich muß wohl bezahlen.« – »Schon gut,« antwortete der Alte verdrossen, »ich gehe ohnehin in den Hof den Honig abliefern.« – »Aber nicht gleich«, bat Billy. – »Weiß schon, weiß schon,« murmelte der Alte, »kenne die Dummheiten.« Billy verschwand hinter der Tür. Vorsichtig eilte sie die kleinen Wege entlang, alles war still und menschenleer, das Haus mit niedergelassenen Jalousien lag da wie schlafend. Vorsichtig näherte sich Billy der Hintertreppe. Aus den Fenstern des Gesindehauses tönten langgezogene Töne eines Chorals, das Gesinde hielt seine Sonntagsandacht. Vor dem Waschhause stand die Wäscherin, legte die Hand vor die Augen und schaute in den Sonnenschein hinaus. Wo hatte Billy das eben gesehn? Ja, dort drüben im Traum. Nun lief sie leise die Treppe hinauf, jetzt war sie in ihrem Zimmer. Auch hier hatte alles unverändert auf sie gewartet und der bekannte Duft des Zimmers, das bekannte Licht, alles erschütterte sie so, daß Tränen mühelos und schmerzlos ihr Gesicht überströmten. Sie verschloß die Tür, riß sich hastig die Kleider vom Leibe und verkroch sich in ihr Bett. Weinen und schlafen wollte sie, nur das. Dann, wenn sie erwachte, nur ganz wieder zu all diesem zu gehören, das hier so unverändert, so still und hochmütig auf sie gewartet hatte.
Es war da ein wunderlicher Sonntag über Kadullen aufgegangen. Die Nachricht von Billys Heimkunft verbreitete sich schnell. Die Wäscherin hatte es dem Diener gesagt, der Diener meldete es Komtesse Betty, dann kam der alte Bienenzüchter in die Gesindestube und erzählte seine Geschichte. Er wurde zum Grafen geführt und da verhört, aber was half es, die Sache blieb so unverständlich wie zuvor. Warum war sie fortgegangen? was war geschehen? Marion wurde zu Billy hinaufgeschickt, meldete jedoch, Billy lasse niemand ein, wolle schlafen. Kummervoll saßen Komtesse Betty und Madame Bonnechose auf der Gartentreppe neben Lisa, die sich auf einen Liegestuhl hingestreckt hatte, denn sie fühlte sich sehr matt von all diesen Aufregungen. Die beiden alten Damen schwiegen, was sollten sie sprechen, sie verstanden la chère jeunesse nicht mehr. Nur zuweilen murmelte Madame Bonnechose: » C'est incompréhensible«. Komtesse Betty nickte, aber Lisa lächelte versonnen und sagte: »Verstehen, verstehen kann ich das alles.«
» Mais chère Lisachen, dites nous donc, ce que vous savez«, drängte Madame Bonnechose. Lisa schüttelte den Kopf. »Es gibt Dinge, die wir verstehen und für die es doch keine Worte gibt. Als ich damals mit Katakasianopulos auf der Ebene von Marathon stand, war es mir, als verstünde ich ganz deutlich all den Schmerz, der über uns kommen sollte, aber aussprechen, das hätte ich nicht gekonnt.«
»Ach, liebes Kind,« sagte Komtesse Betty kleinlaut, »das hilft uns jetzt nun nichts mehr.« Marion kam und meldete wieder einmal, daß oben bei Billy alles ganz still sei. »Ach Gott, ach Gott«, seufzte Komtesse Betty, sie konnte nicht so ruhig still sitzen, sie erhob sich und ging zu ihrem Bruder hinüber.
Graf Hamilkar lag in seinem Zimmer auf dem Sofa, er hielt die Augen geschlossen, sein Gesicht war wunderlich fahl, die Züge schienen spitzer und schärfer als sonst. Als seine Schwester vor ihm stehen blieb, öffnete er die Augen und schaute sie mit einem Blick an, der gleichgültig war wie der Blick eines Menschen, der uns zwar anschaut, aber mit seinen Gedanken und Träumen sehr weit von uns fort ist. »Immer noch keine Gewißheit«, sagte Komtesse Betty weinerlich. »Sie läßt niemand zu sich herein, sie sagt, sie will schlafen.«
»Sie soll schlafen«, erwiderte der Graf.
»Ja, aber sie kann uns doch zu sich herein, lassen,« klagte die alte Dame weiter, »was ist denn das alles? all diese Geschichten? das ganze Haus flüstert. Die Professors fahren heute fort und tragen es in die ganze Gegend hinaus und du Hamilkar, du sagst auch nichts.«
Der Graf richtete sich ein wenig auf. »Nein, Betty,« sagte er, »ich sage nichts, weil ich nichts weiß. Daß die anderen Leute sprechen, können wir nicht ändern, wir sollten nur sprechen, wenn es nötig ist. Das Kind soll schlafen, dann soll es dir alles sagen und dann, Betty, werde ich auch das Meinige sagen. Ist es bald Frühstückszeit?«
»Ach Hamilkar,« erwiderte Komtesse Betty eingeschüchtert, »du wirst zum Frühstück doch nicht erscheinen, du bist so angegriffen.«
Der Graf legte den Finger an die Nase und sagte scharf: »Ich werde erscheinen und ich hoffe, daß es pünktlich wie immer sein wird. Ich habe auch nicht gehört, daß ihr einen Choral gesungen habt, habt ihr eure gewohnte Andacht noch nicht gehalten?«
– »Nein, in der Aufregung, siehst du«, entschuldigte die alte Dame, aber der Graf war unzufrieden. »Du hast unrecht, Betty, haltet eure Andacht wie jeden Sonntag, aber wenn ich bitten darf im Bibeltext und im Gebet keine Anspielungen auf die Ereignisse, eine ganz gewöhnliche Andacht. Wir können nichts dafür, daß hier etwas zu uns hereingekommen ist, das nicht zu uns gehört, es ist aber kein Grund da, davor zu kapitulieren, wir bestehen auf unsere Art, also.«
Müde lehnte der Graf sich zurück und schloß die Augen, seine Schwester schaute ihn erschrocken an. »Wie ist dir, Hamilkar?« fragte sie, »du bist so bleich?« Der Graf winkte ungeduldig mit der Hand. »Es geht,« meinte er, »Blutumlauf und Herzschlag lassen sich von uns nun mal nichts dreinreden, das Schlimme ist nur, daß sie sich beständig um unsere Angelegenheiten kümmern. Da liegt ein Fehler im Kontrakt, den wir unser Leben nennen. Es ist übrigens das Alter, Betty, nur das, und das ist ja schließlich verständlich.«
Komtesse Betty verließ leise das Zimmer, draußen sagte sie kummervoll zu Madame Bonnechose: » Chère amie, mein Bruder verlangt, daß wir die Andacht abhalten, da ist nichts zu machen, bitte rufen Sie die Kammerjungfern und den Diener, o ma chère, il est terriblement philosophe.«
Das Leben auf Kadullen kapitulierte nicht, die Andacht wurde abgehalten, zum Frühstück erschien Graf Hamilkar bleich und müde, aber die Unterhaltung zwischen ihm und dem Professor stockte nicht. Sie sprachen von der gelben Rasse und als wäre das noch nicht fern genug vom Bismarck-Archipel. Auf den anderen Anwesenden lag ein verlegenes Schweigen. Egons und Moritz' Plätze waren leer, denn auf die Nachricht von Billys Verschwinden waren sie fortgeritten und noch nicht zurück. Lisa wies die Speisen von sich und schaute mit ihren schönen Augen über die Köpfe der Anwesenden hinweg. »Lisa ist heute ganz in »Marathon«, flüsterte Bob Erika zu. Selbst Herr Post und Fräulein Demme machten ernste, ja ein wenig hochmütig abweisende Gesichter. Herr Post hatte vor dem Frühstück zu Fräulein Demme gesagt: »Man sieht doch, diese sogenannte vornehme Kultur hält nicht stand, es ist doch manches innerlich faul«, worauf Fräulein Demme ihre kurzen locken schüttelnd geantwortet hatte, »es fehlt eben an innerer Freiheit.«
Nach dem Frühstück fuhren Professors fort, sie nahmen einen eiligen und zu herzlichen Abschied. Komtesse Betty hatte Tränen in den Augen. »Es war mir,« sagte sie später, »als sei Billy gestorben und die Professors hätten einen Kondolenzbesuch gemacht.«
Dann kamen die Nachmittagsstunden mit der stetigen Klarheit des Hochsommertages, mit dem stillen Brennen der Farben auf den Beeten, der sonntäglichen Ereignislosigkeit, dem kummervollen Beieinandersitzen und Warten. »Ach Gott, wenn man nur wüßte, worauf man wartet«, seufzte Komtesse Betty. Oben aber hinter der verschlossenen Tür lag das arme Rätsel und vor der Tür stand Marion den Kopf gegen die Tür gelehnt, die Augen zu groß in dem kleinen, bleichen Gesicht.
Einmal wurde die Stille durch den eiligen Hufschlag eines Pferdes gestört, ein Reiter sprengte auf den Hof, er stieg ab und trug einen Brief zu Graf Hamilkar hinein, dann ritt er wieder fort und wieder lag sonntägliche Stille auf dem Hause. »Was ist nun das wieder,« klagte Komtesse Betty, »Hamilkar sagt auch nichts, jeder sitzt wie eine Sphinx vor seinem Geheimnis.«
Und Lisa auf ihrem Liegestuhl sagte in Gedanken versunken: »Selbst wenn sie von uns gehen, haben sie etwas Hilfeflehendes, als wollten sie uns sagen: hilf mir von mir selber.« » Qui? monsieur Boris?« fragte Madame Bonnechose.
»Nein,« erwiderte Lisa, »Katakafianopulos.«
– » Ah ma chère, maintenant il ne s'agit pas de monsieur de Katakafianopulos«, meinte Madame Bonnechose ärgerlich.
Endlich nach dem Mittagessen, als die Sonne schon rot über dem Waldrande stand, verbreitete sich die Nachricht: Marion ist bei Billy drin.
Billy hatte sehr tief geschlafen. Jetzt lag sie auf ihrem Bette, die Arme im Nacken verschränkt, die Wangen gerötet, die Augen wunderbar blank. Sie schaute forschend zu Marion auf, die vor ihr stand und sie angstvoll anblickte.
»Vor allem,« sagte Billy, »sieh mich nicht so an, als ob ich gestorben wäre. Du hast Augen, die einen ansehen können, als ob man eine Spinne wäre.« – »Ach Billy, das ist nur, weil du gerade so wunderschön bist.«
Billy lächelte ein wenig »nun ja, das kann ja sein, setze dich her und erzähle.«
»Also du fandst den Zettel?«
– »Ja.«
»Du trugst ihn natürlich zu Tante und deiner Mutter?«
– »Ja.«
»Was sagten sie?«
– »Mama sagte › la pauvre petite, elle est perdue‹.«
»So, perdue, sagte sie. Erzähle doch weiter.« Marion war dem Weinen nahe. »Ich weiß doch nicht, Tante ging zu deinem Vater hinein. Deine Vetter ritten fort, um dich zu suchen, Moritz sagte, hätte ich diesen Polen nur vor der Pistole. Ich kochte für Tante und Mama Baldriantee.«
»Marion, Marion,« unterbrach Billy, »erzählen ist nicht deine Sache.«
»Nein,« sagte Marion, »du sollst ja erzählen.«
Billy wurde ernst: »Ach so, dazu haben sie dich hergeschickt, gut. Laß die Vorhänge nieder und setze dich dort ans Fenster, sieh' mich nicht an!« Sie schloß die Augen und ihr Gesicht nahm einen gequälten Ausdruck an. »Ich ging fort in der Nacht, du weißt, ich mußte. Es war auch ganz leicht. Ich konnte ihn nicht allein und beleidigt fortgehen lassen, ich wäre vor Mitleid gestorben. Und dann fuhren wir, es regnete, blitzte, endlich konnten wir nicht weiter. Wir stiegen in einem Kruge aus, da war ein Freund von Boris und ein alter Jude und eine Jüdin saß da und rührte sich nicht und sah mich an so wie Leute uns zuweilen in schrecklichen Träumen ansehen. Dann wurde gegessen und Champagner getrunken, Boris Freund sang und die Herren spielten Karten, aber da fing es an, da wurde alles anders, es wurde alles ganz traurig, und ich verstand nicht mehr warum ich da war. Ich ging ins Nebenzimmer und legte mich auf das Bett. Alles roch nach Staub und sehr schlechtem Parfüm, da waren furchtbare rote Kissen, irgendwo weinte ein Kind, alles war entsetzlich häßlich und traurig. Ich habe nicht geglaubt, daß etwas so häßlich sein kann. Boris kam herein. Auch er war ganz fremd. Hier bei den Berberitzen hatte er schon von Glücklichsein und Sterben gesprochen, aber dort, dort klang es furchtbar. Und er war böse und ging hinaus und ich stellte mich schlafend. Sag' Marion, könntest du lieben und tragisch sein oder glücklich sein und sterben, wenn eine der dicken grünen Raupen, vor denen wir uns so fürchten, auf dich herunterfällt und über dich hinkriecht und du kannst sie nicht fortnehmen und sie kriecht immer über dich hin. Sieh', so war alles dort, alles. Als alles still wurde und Boris schlief, sprang ich aus dem Fenster und lief, lief.«
– »Liebst du ihn nicht mehr?« fragte eine zaghafte Stimme von der Fensternische her. Billy schwieg einen Augenblick, dann rief sie leidenschaftlich: »Marion, frag' nicht solche Dinge. Ja, wahrscheinlich – – natürlich, hier werde ich ihn wieder lieben. Aber ich will nicht mehr davon sprechen, sie sollen mich nicht quälen. Geh', sag ihnen, was du willst, aber heute will ich Ruhe haben. Tante kann kommen und neben meinem Bett sitzen, aber sie darf nichts fragen, darf nicht von unangenehmen Dingen sprechen, sie kann von ihrer Jugend erzählen, wenn sie will.«
Billy wandte ihr Gesicht der Wand zu und Marion schlich leise aus dem Zimmer.
Es dämmerte bereits, als Komtesse Betty zaghaft in das Zimmer ihres Bruders trat. Graf Hamilkar saß auf seinem Sofa ein wenig in sich zusammengesunken und schaute zum Fenster hinaus. »Nun Betty«, sagte er ohne sich umzuschauen. Die alte Dame blieb vor ihm stehen, sie stützte sich mit den Händen auf die Lehne eines Stuhles, das bleiche Gesicht ihres Bruders erschreckte sie, es schaute so unnahbar böse drein, als sähe er da draußen vor dem Fenster auf etwas hinab, was er verachtete.
»Nun?« sagte er wieder.
»Sie hat es Marion gesagt«, begann Komtesse Betty und sie erzählte leise, zögernd, die Stimme hatte etwas wunderlich Ratloses. »Das arme Kind,« schloß sie, »ganz allein in der Nacht, was sie gelitten hat, der schlechte Mensch! Was sagst du, Hamilkar?«
»Ich«, sagte er und wandte sich seiner Schwester zu. Die Worte kamen jetzt überdeutlich, scharf und näselnd heraus. »Ich sage, Betty, was erziehen wir da für Wesen? die können ja nicht leben. Denen kann man ja das Ding, das wir Leben nennen, gar nicht anvertrauen. Ein Stubenmädchen, das zum Stallknecht schleicht und sich verführen läßt, weiß was es will, aber was wir da erziehen, Betty, das sind kleine berauschte Gespenster, die vor Verlangen zittern draußen umzugehen und wenn sie hinauskommen nicht atmen können. Das ist's, was wir erziehen, Betty.«
»Ich verstehe dich nicht, Hamilkar,« sagte die alte Dame, die ganz bleich geworden war, »sie ist ein Kind, sie weiß nicht, sie wird vergessen, die anderen werden vergessen, es wird alles gut werden. Gott hat sie behütet.«
Eine leichte Röte stieg in das bleiche Gesicht des Grafen und eine starke Erregung machte ihn ein wenig atemlos: »Daß sie das nicht vergißt, dafür hat der interessante Herr gesorgt, dafür hat er gesorgt, daß diese lächerliche Tragödie an dem Mädchen hängen bleibt wie eine häßliche Krankheit. Er hat es für gut befunden sich dort in dem Judenkruge zu erschießen – da.«
Er hielt seiner Schwester ein Papier hin, das er die ganze Zeit in seiner Faust gehalten und zu einem kleinen runden Ball zusammengeknittert hatte. Komtesse Betty nahm diesen kleinen Ball, mechanisch mit zitternden Fingern faltete sie das Papier auseinander, strich es glatt, versuchte zu lesen. Es waren einige Zeilen von Ladislas Worsky, in denen er Boris' Tod meldete. Eingeschlossen war ein kleiner Zettel, auf den Boris geschrieben hatte: »An Billy. So gehe ich denn allein. Boris.«
Komtesse Betty ließ das Blatt auf ihre Knie sinken und schaute vor sich hin gedankenlos, fast ausdruckslos, nur als der Graf jetzt böse auflachte, fuhr sie in furchtbarem Schrecken auf. »Das ist ein Abgang, was?« sagte er und er sprach jetzt schnell und keuchend: »Das sind diese Leute, die ihr Leben damit verbringen, wie die Schauspieler vor dem Spiegel zu stehen und sich Gesten einzuüben für ein Publikum. Ich liebe – wie steht mir das. Ich bin unglücklich, ich sterbe – wie steht mir das, was werden die anderen dazu sagen. Tod und Leben – – – Toilettensache und ein hübsches Mädchen, das uns liebt, ist auch nur Toilettensache, wie eine Gardenie, die man sich ins Knopfloch steckt, und wir erziehen unsere Mädchen als Gardenien für solche nichtsnutzige Snobs. Und das heißt dann Liebe, mit diesem Worte werden sie gefüttert und betrunken gemacht. Schön herabgekommen diese Liebe und das Leben und das Sterben, wenn sie zu Affären für Kinderstuben und Snobs geworden ist.« Er brach ab, die Erregung benahm ihm den Atem. Er lehnte sich müde zurück und schloß die Augen. Komtesse Betty weinte still in ihr Taschentuch hinein. Nach einer Pause begann der Graf wieder in seiner ruhigen langsamen Weise: »Weine nicht, Betty, ich bin heftig geworden, entschuldige.« Komtesse Betty hob ihr tränenfeuchtes Gesicht zu ihm auf und sagte flehend: »Aber sie darf es heute nicht erfahren.« Graf Hamilkar zuckte die Achseln – »Heute oder morgen, zu ihr und zu uns gehört das jetzt einmal.« Komtesse Betty erhob sich, trocknete sich die Augen und meinte: »Hamilkar, wie bleich du bist, du solltest zu Bett gehen.« Der Graf lächelte wieder sein verhaltenes, gütiges Lächeln: »Ja, Betty, ich werde zu Bette gehen. In aller Not bleibt uns dieser Ausweg immer.«
Billy hatte wieder tief und fest geschlafen, es mußte um Mitternacht sein, als sie erwachte, sie fühlte sich ausgeruht, wach und hatte Hunger. Den Tag über hatte sie ja böse alle Speise zurückgewiesen, sie überlegte, essen mußte sie. Sie entschloß sich zu der Mamsell Fräulein Runtze hinabzugehen und sich etwas geben zu lassen. Leise, um Marion nicht zu wecken, kleidete sie sich an, stieg in den unteren Stock hinab, um an die Tür der Mamsell zu klopfen. Es dauerte lange, bis Fräulein Runtze verstand, wer da bei ihr klopfte, und als sie es verstand, war sie sehr erschrocken. »Ach Gott, Komtesse Billy! was gibt es denn? wieder ein Unglück? essen wollen Sie? Na ja, das kommt davon, wenn man den ganzen Tag nichts essen will.« Leise vor sich hinscheltend ging sie vor Billy her in die Speisekammer. Dort fand sich kaltes Huhn und ein wenig Madeira. Billy begann heißhungrig zu essen. Als sie das Glas nahm und mit gespitzten Lippen von dem Madeira nippte, blinzelte sie über den Rand des Glases zur Mamsell hinüber, die vor ihr stand, das große Gesicht erhitzt vom Schlaf, eng von der weißen Nachthaube eingerahmt, die Mundwinkel ernst und unzufrieden herabgezogen.
»Nun Runtze, was sagen Sie zu dem allem?« fragte Billy.
»Mir hat es sehr leid getan,« erwiderte die Mamsell kühl und förmlich.
– »Warum?«
Die Runtze wandte sich dem Holzgestelle zu, an dem die Würste hingen, und begann mit der Hand sanft eine Wurst zu streicheln. »Nun ja,« meinte sie »eine Komtesse muß wie eine Mandel sein, die ich gut in warmes Wasser eingeweicht habe und aus der Schale pelle, schön weiß.«
Billy hatte sich wieder über ihren Hühnerflügel gebeugt. »So, so,« sagte sie während des Essens, »aber Bonnechose sagt, cette pauvre Runtze hat auch ihren Roman und ihre unglückliche Liebe gehabt.«
Die Mundwinkel der Mamsell zogen sich noch tiefer und säuerlicher herab. »In unserem Stand passiert alles Mögliche, da liebt man eine Zeitlang und dann liebt man wieder nicht und hat seine Ruhe. Aber bei Herrschaften ist das anders. Wenn unten im alten Sofa in meinem Zimmer ein Loch im Überzuge ist, so ist mir das einerlei, ich stopfe das mal, wenn ich Zeit habe, aber oben die Herrschaftszimmer müssen blank sein, dafür sorge ich jeden Morgen.«
»Er war doch ein Müller?« fragte Billy geschäftsmäßig.
– »Ja, Müller.«
»Blond?«
– »Nein, rothaarig.« Billy, nun gesättigt, lehnte sich in ihren Stuhl zurück. »So, rothaarig, das kann ganz hübsch sein, und das Gesicht gepudert von Mehl und dazu das rote Haar. Aber jetzt bin ich fertig.« Sie stand auf. »Ich danke Ihnen, Runtze, Ihr Essen war sehr gut.«
»Das ist die Hauptsache,« meinte die Mamsell, »man liebt, und dann liebt man wieder nicht, aber essen muß der Mensch immer.«
Billy ging hinaus, aber zu ihrem Zimmer, das so voll beängstigender Träume war, mochte sie nicht hinaufsteigen. Sie ging den Korridor hinab bis zur Außentür, die in den Garten führte. Es war ja ohnehin die Stunde, in der sie umzugehen pflegte in letzter Zeit. Sie kam sich selber geisterhaft und unheimlich vor. Allein der Garten war köstlich, heimatlich. Ein Stück Mond und sehr helle Sterne standen am Himmel. Der Nebel war von der Wiese bis in den Garten gekommen. Er schlich über die Rasenplätze und die Beete. Die Blumen standen schwarz in den weißen Schleiern. Eine sehr starke Freude wärmte Billys Herz, als sie fand, daß diese vertraute Wirklichkeit hier auf sie gewartet hatte und daß sie wieder zu all diesem gehörte. Sie ging die Kieswege entlang, sie fuhr mit der Hand den Rosen und Georginen über die taufeuchten Köpfe, sie aß von den Johannisbeeren, sie stand unter den Berberitzen und atmete den feuchten Erdgeruch ein, der aus der alten Kiste dort aufstieg. Aber wie sie so ging, kam eine stärkere Erregung über sie. All diese Orte sprachen von Boris, sie sah ihn, sie fühlte ihn wieder und die Sehnsucht nach ihm machte sie wieder elend und krank. Langsam war sie wieder zum Hause zurückgekommen, stand vor der still verschlafenen Gartenfassade, sah wieder Boris auf der Gartenveranda stehen oder die Gartenwege hinabgehen und mit den verträumten Augen in die Abendsonne sehen, sie hörte ihn wieder mit der feierlichen, singenden Stimme über den Schmerz um das Vaterland sprechen. Wie würde sie ohne all das weiterleben können? Plötzlich fiel ihr auf, daß es durch das schlafende Haus wie eine lautlose Unruhe ging. Da war Licht in Lisas Fenster und hinter den Vorhängen bewegte sich Lisas Schatten hin und her. Billy erkannte deutlich die Gestalt im langen Nachtkleide und dem über den Rücken niederhängenden aufgelösten Haar. Warum schläft sie nicht, dachte sie, warum geht sie umher, es ist doch meine, nicht ihre Liebesgeschichte. Aber nebenan Tante Bettys Fenster war auch erleuchtet. Da war auch der Schatten von Tante Bettys großer Nachthaube und neben ihr noch eine große Nachthaube. Wie die beiden Nachthauben sich leise zueinander bewegten, wackelten und zitterten. Warum schliefen sie alle nicht? War es ihretwegen? Und dort auf der anderen Seite, auch hier Licht, auch hier hinter den Vorhängen ein ruhelos auf- und abgehender Schatten. Jetzt näherte sich der Schatten dem Fenster, der Vorhang wurde aufgezogen, das Fenster geöffnet, Billy sah, wie ihr Vater sich hinausbeugte, mit den Händen riß er das Hemd auf der Brust auseinander, in dem kargen Mondlicht schien sein Gesicht ganz weiß, nur der geöffnete Mund und die Augen legten schwarze Schatten hinein. So stand er da und trank gierig und angstvoll die Nachtluft ein. Billy wich hinter die Buchsbaumhecke zurück. Es fröstelte sie vor Angst. Mein Gott, was hatten sie alle! War es nicht, als sei sie gestorben und als schliche sie nun als Geist ums Haus, um zu sehen, wie sie da drinnen alle um sie trauerten. Vorsichtig sich im Schatten haltend, ging sie zu der Ahornallee hinüber. Es trieb sie, von dort aus zu dem Balkon und dem Fenster ihres Zimmers hinaufzuschauen. Auf der Bank, ihrem Fenster gegenüber, saß jemand und schlief, den Kopf auf die Brust gesenkt. Es war Moritz. Billy blieb vor ihm stehen. Der gute Junge, hier hatte er gesessen und zu ihrem Fenster aufgeschaut und dieser Gedanke gab ihr das Gefühl einer angenehmen, warmen Geborgenheit. Moritz wurde unruhig, schlug die Augen auf und sah sie an. »Ach, Billy, du«, sagte er, als hätte er sie erwartet. Billy lächelte ihn an. »Hast du hier gesessen, Moritz, um zu meinem Fenster aufzusehen?«
»Ja«, erwiderte Moritz verdrossen.
»Das ist gut«, sagte Billy. Sie setzte sich neben ihn auf die Bank und lehnte sich leicht gegen seinen Arm. »Liebst du mich noch?«
»Ja,« erwiderte Moritz im selben verdrossenen Tone, »aber das kann dir ja gleichgültig sein.«
»Ach nein,« meinte Billy klagend, »das ist sehr wichtig, ich komme mir vor wie gestorben, und wenn man sehr geliebt wird, dann – – dann wird man, glaube ich, wieder lebendig.«
Moritz schwieg einen Augenblick, und als er zu sprechen begann, da machte eine große Erregung seine Stimme stockend und ungelenk. »Ach, Billy, wenn ich dir helfen könnte.«
»Wie kannst du das, Moritz«, antwortete Billy und er hörte ihrer Stimme an, daß sie weinte.
»Ich – – ich – sehne mich so schrecklich nach Boris.« Der Arm, an den sich Billy lehnte, zitterte ein wenig, es war, als strafften sich die Muskeln an ihm.
»Der – – « zischte Moritz mit geschlossenen Zähnen, »du darfst an den nicht denken ... wie konnte er dir das antun ... er durfte nicht sterben ... und nicht so sterben, und wenn das Leben ihm auch noch so ekelhaft war ... das tut man nicht, wenn man liebt, das war gemein.«
Es wurde einen Augenblick ganz still. Moritz fühlte nur, wie der Mädchenkörper sich ein wenig schwerer an ihn lehnte. Endlich begann Billy, und es klang wie die leise Klage eines Kindes: »Ist er tot?«
»Wie, Billy, du wußtest nicht – –«
»Doch, ich wußte es, ich fühle jetzt, daß ich's gewußt habe, die ganze Zeit – und schon damals dort, als ich von ihm fortging.« Sie schwieg eine Weile, es wurde so still, daß sie den Nachttau in den Blättern rascheln hörten. Plötzlich richtete Billy sich auf, sie stand vor Moritz, weiß und aufrecht, sie strich sich das Haar aus der Stirn, Mondlicht lag auf ihrem Gesicht, das wunderlich bleich und ruhig schien, und in fast geschäftsmäßigem Tone sagte sie: »Kommst du mit, Moritz?«
»Wohin willst du, Billy?«
»Ich muß doch zu ihm, das siehst du ein; ich habe ihn doch schon einmal verlassen. Er darf doch dort nicht allein in der schrecklichen Stube sein. Die Jüdin sieht ihn an und die Kinder stehen in der Tür. Nein, ich will ihn nicht wieder verlassen, aber wieder allein durch den Wald – bitte, Moritz, komm mit.« Sie schwankte ein wenig, stützte sich auf Moritz' Schulter und sank dann still und schwer vor ihm nieder. –
Billy war lange krank gewesen. Jetzt an einem sonnigen Septembernachmittage durfte sie zum ersten Male in den Garten hinaus. Auf dem Rasenplatze unter dem Birnbaum saß Billy in Tücher gehüllt, das Gesicht schmal und durchsichtig blaß, in den Augen den träge genießenden Blick der Genesenden, der gern lange auf den Gegenständen ruht. Auf dem anderen Rasenplatz lag Lisa auf ihrem Liegestuhl, Madame Bonnechose saß neben ihr und strickte an einem roten Kinderstrumpf. Komtesse Betty und Marion liefen beständig an den Georginenreihen entlang zwischen dem Hause und den Rasenplätzen hin und her. Graf Hamilkar machte seinen Nachmittagsspaziergang. Er ging langsam den Gartenweg entlang, stützte sich schwer auf seinen Stock, zuweilen blieb er stehen, roch in den Duft des reifen Obstes, der Blumen und der welkenden Blätter hinein und machte ein ernstes, böses Gesicht, ja er ärgerte sich. Hier lagen nun diese beiden schönen Wesen, vom Leben geknickt, zerzaust, hinterlistig angefallen. Warum? Warum diese Barbarei? Warum diese Verschwendung? Er zog die greisen Augenbrauen unzufrieden empor und blinzelte zum Waldrande hinüber, der dort fern in violettem Dufte lag. War sie nicht vielleicht ein Mißverständnis, sein Mißverständnis, diese hübsche Kultur, die er sorgsam um sich und die Seinen eingehegt hatte? Konnte man hier leben lernen? Als er an Lisa vorüberging, hörte er sie in ihrer elegischen Weise sagen: »Ich glaube nicht, daß Billy einen großen Schmerz verstehen kann, daß sie ihn genießen kann, denn man muß auch seinen Schmerz genießen können.« »Genießen, ma chère, quelle idée,« meinte Madame Bonnechose, ohne von ihrem Strickstrumpf aufzusehen.
Der Graf ging weiter und blieb vor Billy stehen. »Nun, wie geht es?« fragte er ein wenig streng. Billy errötete. »Danke, Papa, gut. Ich wollte dir etwas sagen.«
»So, so.« Der Graf setzte sich auf einen Gartenstuhl seiner Tochter gegenüber und schaute sie aufmerksam an.
»Ich wollte dich fragen,« begann Billy und schaute hinauf in den Birnbaum hinein, »ich wollte dich fragen, ob du mir verziehen hast.«
»Ja, gewiß,« antwortete der Graf langsam, als gälte es, ein Problem zu lösen. »Wenn wir jemandem verzeihen, so wünschen wir ihm damit über etwas, das er erlebt oder getan hat, hinwegzuhelfen. Dieses ist nun hier natürlich mein lebhaftester Wunsch.«
Befriedigt lehnte Billy ihren Kopf zurück und bewegte ihn sachte auf dem Kissen hin und her wie Fieberkranke zu tun pflegen. »Wenn wir krank sind«, meinte sie, »geht die Zeit, glaube ich, schneller; es liegt so weit, das, was vor der Krankheit war. Mir scheint es, als hätte ich in dieser Zeit der Krankheit so viel getan, besonders bin ich viel gegangen, immer gehen, immer unterwegs und immer solch wunderbar fremde Wege. Ich erinnere mich von all dem nicht mehr viel, nur eins weiß ich noch, ich ging auf einer gelben Landstraße und vor mir her ging jemand und vor diesem wieder jemand und so fort, viele Gestalten und sie trugen alle meinen braunen Regenmantel und mein Musselinkleid mit dem rosa Nelkenmuster, es waren überhaupt lauter Billys und ich wußte, es kommt darauf an, daß ich die Billy, die vor mir herging, einhole. Das schien mir sehr wichtig.«
»Hm!« bemerkte der Graf, »ein interessanter Traum. Das sind unsere Spiegelbilder, die sich im Traume emanzipieren. Und jetzt,« er lächelte seine Tochter an, »jetzt meinst Du, Du hast diese andere Billy erreicht.«
Billy schaute noch immer zum Birnbaum hinauf und wiegte sachte den Kopf. »Jetzt bin ich ganz glücklich«, sagte sie sinnend, »aber vielleicht darf das nicht sein. Lisa sagt, wer einen großen Schmerz hat, soll davor stehen wie ein Soldat auf der Wacht.«
Graf Hamilkar schob ärgerlich seine Unterlippe vor und sagte scharf: »Vor seinen Torheiten zu stehen wie der Soldat auf der Wacht, ist jedenfalls nicht empfehlenswert.«
Billy schien ihn nicht zu hören. Sie sprach noch immer verträumt zu den kleinen goldgelben Birnen hinauf, die über ihr hingen: »Und untreu sein, untreu sein ist so furchtbar häßlich.«
Der Graf beugte sich vor, hob seinen ausgestreckten Zeigefinger in den Sonnenschein hinauf und sprach langsam und eindringlich: »Meine Tochter, dafür daß wir unseren traurigen oder törichten Erlebnissen nicht untreu werden, treu bleiben, ist gesorgt. Die laufen uns ohnehin nach. Wir werden vielleicht immer andere und das ist gut. Aber das Konto bleibt dasselbe. Um auf Deinen merkwürdigen Traum zurückzukommen, wenn die eine Billy glücklich die andere Billy erreicht hat, so kannst Du sicher sein, daß die alte Billy der neuen Billy alles mit auf den Weg gibt, woran sie selber zu tragen hatte. Das ist nun mal nicht anders.«
»Alles – für immer«, sagte Billy leise und sie sah ihren Vater mit einem Blick so hilfloser Angst an, daß er die Augen niederschlug, denn ein starkes Mitleid verursachte ihm einen fast körperlichen Schmerz.
»Nun, nun«, lenkte er ein, »wenn man so viele Billys wie du vor sich hat, so kann es nicht fehlen, daß auch noch manches Gute mit auf den Weg genommen wird.«
»Nicht wahr, es muß noch sehr viel Gutes kommen«, rief Billy. Überrascht schaute der Graf auf. Er sah, daß Billy die Arme erhoben und die gefalteten Hände auf ihren Scheitel gelegt hatte. Sie lächelte dabei ein wunderbar erwartungsvolles Lächeln. »So, so«, murmelte er, »na ja dann – –.«
Er erhob sich, strich flüchtig mit zwei Fingern über Billys Wangen und ging wieder langsam den Gartenweg hinauf. Was sollte er da noch trösten. Dieses Kind war ihm mit seinem Glauben an das Leben weit voraus, da hatte er nicht mehr mitzusprechen. Er setzte sich auf die Bank am Rande der Wiese, er wollte sich sonnen. Wie sie das Leben liebten, diese armen Kinder, wie sie ihm vertrauten. Ja das will es, geliebt werden um grausam zu sein. Vielleicht eine gute Methode, immer vorausgesetzt, daß das einen Zweck hat. Er strich sich sachte mit der Hand über die Stirn und die Augen, wenn nur das Mitleid nicht so ermüdend wäre, immer das Leben der anderen mitleben, obgleich – dreiviertel unseres Lebens liegt irgendwo im Leben der anderen. Können wir das nicht mitmachen, so bleibt uns nur ein Viertel, das ist für den Rausch zu wenig, das ist fast Nüchternheit. Schön, schön, Nüchternheit bringt gewöhnlich Verstehen, nur ist es hier mit dem Verstehen so eine Sache. Er kniff die Augenlider zusammen, als wolle er das grelle Gold des Nachmittagslichtes in seinen Augen sammeln und zerdrücken. Wie war es doch, er wollte sich auf einen homerischen Vers besinnen. Das Gedächtnis ließ ihn auch im Stich, wie heißt es dort wo Hektors Seele laut jammert, weil sie das liebe Leben lassen muß. Er kam nicht darauf. Armer Teufel übrigens, mitten aus dem Rausch heraus. Eine der großen Mücken kam jetzt mit leise schnurrendem Fluge an Graf Hamilkar vorübergeflogen. »Srrr« machte er mit den Lippen und lächelte ein wirklich heiteres Lächeln, während er zuschaute, wie dieses wunderliche Bündel von Florflügeln und Goldfäden durch den Sonnenschein taumelte. Verrückt vor Leben, dachte er, wenn das nur alles einen Sinn hat. Immerhin, es ist mehr Chance für Sinn als für Sinnlosigkeit, obgleich – bin ich eine Zahl in der großen Rechnung, so habe ich zwar einen Sinn, aber das Resultat unter dem schwarzen Strich braucht mir deshalb noch lange nichts zu bedeuten. Es käme darauf an, eine Zahl im Resultat unter dem Strich zu sein, übrigens erschöpfte das Denken ihn. Warum mußte immer gedacht werden, auch so ein Vorurteil. Nicht denken, atmen. Er lehnte sich zurück und öffnete ein wenig den Mund. Das Atmen könnte auch eine leichtere und einfachere Angelegenheit sein. Er fror, er mußte wohl wieder ein wenig gehen, er wollte sich erheben; aber die Beine trugen ihn nicht. Er streckte die langen Arme aus, als wollte er in den Sonnenschein hineingreifen und sein Gesicht nahm einen ärgerlichen angstvollen Ausdruck an, dann fiel er zurück, wurde ganz still, sank in sich zusammen, ein wenig schief über die Seitenlehne der Bank hin, in jener müden Bewegung, die der erste Augenblick des Todes dem Menschen gibt, bevor die kühle Strenge kommt. Die Sonne stand schon tief und badete die schweigende Gestalt in rotes Licht, ein leichter Wind bewegte ein graues Haarbüschel an der bleichen Schläfe, die große Mücke flog wieder schnurrend zurück an der jetzt regungslosen weißen Nase vorüber. Ringsum fielen die reifen Früchte schwer in den Rasen und ließen für einen Augenblick das Wetzen der Feldgrillen verstummen. Drüben aber unter dem Birnbaum saß Billy, schaute mit fieberblanken Augen in die Abendsonne und lächelte noch immer ihr erwartungsvolles verlangendes Lächeln.
Ende