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Sie mußte doch ein wenig geschlafen haben, denn als sie jetzt auffuhr, schien es ihr, als sei sie fortgewesen irgendwo, wo sie geborgen war, wo sie bekannte Stimmen hörte, und nun fiel sie wieder jäh in diesen fremden Traum hinein. Es war noch da, dieses Zimmer, mit der dumpfen Luft, die Wände mit den sachte zitternden Schatten, die weichen roten Kissen saßen um sie her und warteten, alle waren sie noch da und mußten weiter geträumt werden. Und dann stand da noch jemand vor dem Bett ganz regungslos. Es war Boris, aber auch er seltsam fremd und unheimlich. Das flatternde Licht der Kerze ließ Schatten über sein Gesicht hinfahren und es schien, als verzöge es sich, nur die dunkelen Flecken der Augen waren unbeweglich auf sie gerichtet. Müde und mutlos lehnte sich Billy in die Kissen zurück und schloß die Augen.

»Was ist geschehen«, sagte sie ganz leise.

»Nichts ist geschehen«, erwiderte Boris ebenso leise.

»Ist er fort?« fragte Billy weiter.

– »Ja, Ladislas ist fort.«

»Warum stehst du so da?«

Als Boris nicht antwortete, wiederholte Billy die Frage weinerlich und klagend. Da hörte sie, wie er am Bette niedersank. Er umschlang sie mit seinen Armen, sie fühlte, wie sein Gesicht kalt und schwer auf ihrer Brust lag, wie ein seltsames Beben seinen Körper schüttelte, als weinte er.

»Du sagtest doch, es wird alles gut werden«, sagte Billy und ihre Stimme klang wieder weinerlich und gereizt. »Warum sprichst du nicht? Ich weiß ja nicht, ich glaubte, daß ich bei dir sein muß, daher ging ich mit. Du sagtest doch, es wird alles gut werden.«

Boris klammerte sich fester an Billys Arm, er schob sich hinauf, jetzt lag er mit dem Oberkörper auf ihr, sein Gesicht war dem ihren ganz nahe, nun küßte er sie mit trockenen hungrigen Lippen. »Ja,« flüsterte er, »es wird alles gut, wenn du nur willst. Aber ich fürchte mich so furchtbar vor dem einen ....«

»Du fürchtest dich auch,« erwiderte Billy tonlos, »ja dann –«

»Nein, hör',« fuhr Boris fort und sein Flüstern wurde seltsam heiß und leidenschaftlich, »wenn du nur willst. Ich fürchte mich vor morgen, wenn es grau und hell wird, und wir müssen etwas tun und müssen sorgen, und die Menschen kommen, und alles ist so häßlich, die anderen und wir, und unsere Liebe, ach Billy, das habe ich nie ertragen können, so der nächste Morgen nach einem Glück –«

»Wir können es doch nicht ändern, daß es Morgen wird«, meinte Billy immer noch mit dem gereizten Ton.

»Doch, wir können das«, sagte Boris atemlos vor Erregung und seine Hände preßten sich um Billys Schultern so fest, daß es sie schmerzte. »Wir sind doch beisammen, wir können so glücklich, so glücklich sein, daß wir keinen Morgen mehr sehen wollen. Das gibt es. Du wirst sehen. Komm', du und ich, und dann vertragen wir nichts als zu sterben.« Er stammelte das, ganz nah auf sie hinabgebeugt, das Gesicht bleich und böse und seine Hände zerrten fieberig an Billys Kleid.

– »Wie können wir denn sterben?« versetzte Billy müde.

»Wie – ist gleich,« erwiderte Boris ungeduldig, »du wirst sehen, wir können dann nicht weiterleben.«

Billy schlug die Augen auf und schaute Boris scharf und angstvoll an. »Hast du das schreckliche, kleine Revolver, welches du mir zu Hause im Garten zeigtest, und von dem du sagtest, daß es dein Freund sei?« fragte sie.

»Ja, ja, aber warum davon sprechen,« antwortete Boris ungeduldig, »wir denken jetzt nur an uns, an unser Glück. Willst du, sag'? Wir sind einer bei dem anderen und nichts ist da, als nur wir und wir sterben lieber, als daß irgend etwas anderes nahe kommt.«

Billy richtete sich ein wenig auf, sie schob Boris' Hände, die heiß an ihrem Körper entlang fuhren, wie etwas Lästiges fort. Ihre Augen wurden groß und klar vor Angst, aber ihre Lippen zuckten wie in einem spöttischen und ein wenig verächtlichen Lächeln: »Glücklich sein – hier bei diesen häßlichen, roten Kissen. Ach bitte geh jetzt. Du – du bist wie das andere hier, ich fürchte mich auch vor dir!«

Boris ließ Billy los und richtete sich auf. Jetzt kniete er vor dem Bett, ließ die Arme schlaff niederhängen und nagte an seiner Unterlippe. Sein Gesicht trug den Ausdruck kummervoller Enttäuschung. Billy lehnte sich wieder in die Kissen zurück, wandte das Gesicht zur Wand und schloß die Augen. Regungslos lag sie da wie ein geängstetes Kind und horchte gespannt auf das leiseste Geräusch. Boris schwieg eine Weile, dann sagte er einmal: »Aber Billy«, und dies war wieder die Stimme, die sie kannte; aus ihr wehte es sie an wie der duftende Atem des heimatlichen Gartens, und der Boris, den sie kannte, und die Billy, die sie kannte, und ihre Liebe – alles war für einen Augenblick wieder da. Sie wollte sich umwenden, allein sie schloß die Augen nur noch fester, sie wußte, wenn sie die Augen aufschlüge, dann wäre das alles doch fort. Sie hörte sich selbst sagen, überlegen und verdrossen: »Sterben, nein, gewiß nicht. Wenn du sonst nichts weißt!«

Wieder schwieg Boris und Billy wartete in angstvoller Spannung. Da hörte sie, wie er sich erhob, einige Schritte machte, vor sich hinmurmelte: »Ja, das ist etwas anderes, da ist nichts zu machen« und dann langsam und zögernd aus dem Zimmer ging. Sie hörte, daß er die Tür nur anlehnte, im Nebenzimmer auf- und abschritt, stehen blieb, etwas in ein Glas goß und wieder auf- und abging. Sie lauschte aufmerksam dem leisen ruhelosen Knarren dieser Schritte, lauschte mit jener schmerzhaften Wachsamkeit, mit der wir etwas verfolgen, das uns droht, das uns angreifen will. Denn dieser Ton wurde seltsam ausdrucksvoll. Billy glaubte aus ihm kurze ärgerliche Worte, eine mißmutig vor sich hinscheltende Stimme herauszuhören. Als dann der Rhythmus dieser Stimme sich änderte, hielt Billy in Erregung den Atem an. Jetzt geht er auf den Fußspitzen, sagte sie sich, jetzt nähert er sich der Tür. Boris trat wieder sachte in das Zimmer und blieb an dem Bettende stehen. Sie hörte deutlich das leise Aneinanderklingen der Berlockes an seiner Uhrkette, dann wurde es ganz still. Billy rührte sich nicht, sie wartete mit der Ergebung, die wir im Traum haben, auf deren Grund unbewußt die Hoffnung ruht, das Erwachen wird kommen und uns von den Traumereignissen erlösen. Boris begann zu sprechen, klanglos, müde: »Natürlich schläfst du nicht. Du willst mich täuschen. Bitte, bitte, laß dich nicht stören. Ich bitte nie zum zweiten Male. Man versteht mich oder man versteht mich nicht. Du verstehst mich nicht, gut, gut, es ist immer dasselbe. Ihr versteht immer nicht.« Er hielt inne und es war wunderlich, wie das Mädchengesicht mit den geschlossenen Augen, den fest aufeinandergepreßten Lippen errötete und erbleichte. »Es wundert mich nur,« fuhr Boris fort, »daß du hierhergekommen bist. Um korrekt zu sein, dazu brauchen wir nicht hier zu sein. Ja, aber so ist es immer, man glaubt zusammen sehr hoch zu stehen, hoch über allem, was klein und dumm ist, man glaubt, nun kommt der große Augenblick, auf den man sein ganzes Leben gewartet und dann ist es wieder nichts, man ist doch allein und du, du bist doch dort unten geblieben in der Welt von – von – Madame Bonnechose«.

Er schwieg wieder und Billy dachte: »Lachte er jetzt?« Es war in seiner Stimme etwas gewesen, das so klang. Sie drückte die Augenlider fester zu; nicht um eine Welt hätte sie dieses traurige und hochmütige Lachen sehen wollen, vor dem sie sich immer gefürchtet hatte auch in Augenblicken, in denen sie Boris am stärksten liebte. Boris machte einige Schritte, blieb wieder stehen: »Nur Verantwortung auf mich nehmen, sonst nichts, nein ich danke. Aus etwas, das ganz schön und groß hätte sein können, machst du etwas Häßliches und Albernes. Da spiele ich nicht mit. Lächerlich zu sein verstehe ich nicht, dazu haben wir Polen kein Talent.« Wieder machte er einige Schritte, wieder wartete er, ja er wartete, das wußte Billy, allein es kam ihr keinen Augenblick der Gedanke, sie könnte die Augen aufschlagen, sie könnte zu ihm sprechen, ihn zurückrufen, sie hatte nur einen Gedanken, ganz still liegen, sich nicht regen, dann geht vielleicht auch das vorüber. Boris war jetzt an der Türe, sie hörte das leise Knarren der rostigen Türangeln und auf der Schwelle sagte er noch mit einer Stimme, die seltsam fremd und verändert klang, mit der Stimme eines, der irgendwo ganz allein kummervoll und hoffnungslos zu sich selber spricht: »Nein, das nicht, das bin ich so müde, immer nur für ein Mißverständnis leben.« Er ging und lehnte die Tür wieder an und Billy hörte wie er im Nebenzimmer hin und her schritt und sich dann auf das alte knackende Sofa warf.

Das Gewitter hatte aufgehört, beruhigt und gleichmäßig rann ein feiner Regen nieder und klopfte ganz sachte an die Fensterscheiben. Billy lag noch immer still da. Warum sollte sie sich regen? Warum sollte sie die Augen aufschlagen? Um sie her war nichts, das zu ihr gehörte, das teil an ihr hatte, nichts, das sie als Leben empfand. Ein nie erlebtes Gefühl des Alleinseins ergriff sie körperlich, etwas, das sie krank machte, sie frieren ließ.

Boris hatte mit seiner seltsam veränderten Stimme von Glücklichsein und Sterben gesprochen. Diese Worte hatte sie schon einmal gehört zu Hause zwischen den Johannisbeerbüschen, aber dort klang es anders, dort klang es traurig und schwül und süß, sie verstand es dort und es erschien ihr als etwas Mögliches und Leichtes, wenn Boris es wollte. Allein hier – sterben, das war unverständlich und widerwärtig wie alles andere hier, das war eben dieses furchtbar rätselhafte Gefühl der Einsamkeit, das jetzt kalt über sie hinkroch. Sie muß daliegen und das Leben ist unendlich weit, sie sieht es wie einen Fleck ganz gelb von Sonnenschein, ganz bunt von Herbstblumen und bekannte Figuren gehen durch diesen Sonnenschein; vor dem Waschhause steht die Wäscherin mit der weißen Schürze, am Nelkenbeete kniet der Gärtner mit dem großen gelben Strohhut und unter dem Birnbaum steht ihr Vater und zieht den Duft der Augustbirnen und der Pflaumen in seine lange weiße Nase. Billy sieht das, spürt das, riecht das und doch lebt das alles ohne sie, ja sie selbst ist dort, sie sieht sich, ihre Liebe ist dort, Boris, alles, aber sie kann nicht zu sich selber hinkommen. Billy richtet sich auf, die Augen weit offen, der Mund sehr rot im weißen Gesicht und um die Lippen den entschlossenen eigensinnigen Zug, den sie anzunehmen pflegten, wenn Billy fühlte, daß sie etwas haben mußte, nach dem sie sich sehnte.

Sie stieg leise aus dem Bett, schlich zur angelehnten Türe und schaute durch den Spalt. Boris lag auf dem Sofa und schlief. Das Haar hing ihm wirr in die Stirn, das bleiche Gesicht trug den gramvollen und zugleich hilflosen Ausdruck, den ein schwerer Schlaf über ein Gesicht breitet. Auf dem Tisch stand die Sektflasche und ein halbgeleertes Glas. Die Kerze war tief niedergebrannt und der einzige Ton im Zimmer war ein leises Stöhnen, das aus Boris' halbgeöffnetem Munde drang, klagend und dann wieder wie in kleine hohe wie spöttische Laute umschlagend. Billy zog die Türe vorsichtig an. Geschäftig nahm sie nun ihren Mantel und ihren Hut, ging an das Fenster und öffnete es. Der Zugwind verlöschte die Kerze; draußen schien es noch dunkel, der Regen flüsterte in der Finsternis, die großen Tannen rauschten, ein lautes tiefes Rauschen, ein herrlich befreites Atmen aus unendlich weiter Brust, und Billy mußte auch atmen, ganz tief, sie schwang sich auf das Fensterbrett und sprang hinaus.

Der Wind trieb ihr den Regen in das Gesicht und benahm ihr den Atem. Sie stand einen Augenblick da, leicht vorgebeugt, wie jemand, der im Seebade steht und erwartet, daß eine Welle über ihn hingehe. Dann lief sie in die Finsternis hinein mit festen eigensinnigen Schritten, über dem nassen Wege lag eine matte, blinde Helligkeit. Dieser folgte Billy. Klatschend sprang das Wasser an ihren Beinen hinauf, wenn sie in die Pfützen trat, von ihrem Hut rannen kleine kalte Bäche hinter ihren Mantelkragen. Alles war gegen sie, alles war feindlich, was da rings um sie her flüsterte, gurgelte, kicherte und rauschte. Es war furchtbar und sie fürchtete sich auch, aber sie hatte es nicht anders erwartet und sie mußte eben vorwärts. Dabei fand sie in sich etwas, das sie bisher nicht in sich gekannt hatte, sie fand in sich das erregende Gefühl böser Wachsamkeit und gleichsam verbissener Neugier, die das Wesen des Mutes sind. Denken konnte sie nicht, sie hatte nur auf der Hut zu sein. So stürmte sie fort. Der Weg wurde jetzt dunkel. Die großen Tannen rauschten ganz nahe um sie her, zuweilen schlug ein nasser Zweig nach ihr oder wollte sie festhalten und dann stieß sie ihn von sich ingrimmig und kampflustig. Eine große, traumhafte Resignation dem Unbekannten und Lauernden gegenüber machte sie fast gefühllos. Wunderlich war es dabei, wie die ganze Zeit über ein Bild vor ihr stand und empfunden und gesehen werden wollte. Sie sah sich selber deutlich, als ginge sie neben sich selber her, die schmale Gestalt im braunen Regenmantel, den nassen Hut auf dem Kopf, ein wenig vorgebeugt, wie sie die fremden schwarzen Wege entlang lief, unaufhaltsam und willenlos wie eine Kugel, die eine kräftige Hand hinausgeschleudert hat, vorwärts über die Wurzeln, die sich ihr hinterlistig in den Weg stellten, unter Zweigen durch, die sie aufhalten wollten und sie mit Wasser überschütteten, an großen dunklen Vögeln vorüber, die über den Weg rauschten und erschreckende Klagetöne in die Nacht hineinriefen. Aber das mußte so sein, so war das Leben außerhalb der Gartengitter von Kadullen, so war es, wenn man sich wieder zu den Gartengittern von Kadullen durchkämpfen mußte. Und es war Billy, als fühlte sie, daß da in der finsteren Welt um sie her viele solche einsame Gestalten schwarze Wege hinabliefen eilig, eilig. Diese Kameradinnen der Nacht empfand sie so stark, daß sie ihr unheimlich und dennoch ein wenig tröstlich waren. Der Weg wurde immer deutlicher und blanker, Bäume und Sträucher standen jetzt deutlich in einem grauen Licht, Nachtraben klatschten mit den Flügeln, der Tag kam. Aber Billy schaute nicht auf. War es furchtbar diesen Traum zu träumen, so fürchtete sie sich dennoch davor, aus ihm zu erwachen. Sie wußte, dann würde dieses Fieber des Mutes und der gedankenlosen Ergebung von ihr weichen, dann würde sie keine Kraft mehr haben. Den Kopf auf den Weg niedergebeugt stürmte sie weiter, zuweilen war sie mitten in einem weißen Nebel, dann ging sie wieder über Moos hin wie über grün und roten Sammet. Merkwürdig still war es um sie geworden, Regen und Wind mußten ausgehört haben. Plötzlich ging sie ganz in rotem Licht. Sie fühlte dieses Licht wie etwas, das wehe tut, sie kniff die Augen zusammen und beugte den Kopf tiefer. Allmählich wurde das Licht golden, überall lag greller Glanz, überall flimmerte es, in der Luft begann es zu summen, im Moose zu rascheln. Billy fühlte, wie um sie her geschäftiges Leben erwacht war und sie ging schneller, es war wie ein Wettlauf mit diesem Tage, der so ruhig und wach in all seinem Glanze herankam.

Wie lange Billy so gegangen war, wußte sie nicht, es schien ihr unendlich lange. Die Sonne stand schon hoch am reinen, blauen Himmel und stach unerbittlich herab. Es schien Billy, als müßte sie eine sehr warme Last mit sich forttragen, dazu wurden ihr die Füße so schwer, bewegten sich langsam und mechanisch wie Dinge, die nicht zu ihr gehörten, sie waren ihr gleichgültig wie alles an ihr, sie fühlte sich wie eine wunderliche Sache, die mühsam durch den Sonnenschein fortgetrieben wird. Da plötzlich auf einer kleinen grellbeschienenen Waldlichtung sank sie auf einen Mooshügel nieder. Köstlich war es, die Beine von sich zu strecken, den Rücken in das warme Heidelbeerkraut zurückzulehnen. Etwas Schöneres konnte es im Leben nicht geben. Um die Lichtung standen junge Föhren und Tannen blank wie Metall und so regungslos, daß die Tropfen, die noch hier und da an ihren Nadeln hingen, gefroren schienen. Alles war regungslos unter diesem gelben Lichte, die Halme, die Moosblüten, die kleinen blauen Falter, eine Hummel kroch in die Glocke eines Benediktenkrautes und blieb dort hängen wie verzaubert. Im Dickicht kam ein Fuchs daher, den Kopf suchend niedergebeugt, und plötzlich blieb auch er stehen ohne ein Glied zu regen und starrte vor sich hin die Lichter durchsichtig wie grünes Glas, gebannt von dem gewaltsamen Schweigen der Stunde. Billy saß da und auch auf ihr lastete diese Regungslosigkeit, die so wunderbar wohltat, dieser köstliche Rausch des Lichtes, des Schweigens und all der heißen Düfte, welche die Blätter, die Tannennadeln, die großen sich sonnenden Schwämme ausatmeten. Auch sie starrte vor sich hin, sie fühlte, wie auch ihre Augen so glashell wurden wie die Lichter des Fuchses dort und alles in ihr nur dazu da war die sonnige Stille zu trinken. Aufgeregt erscholl jetzt der Ruf des Eichelhähers, als wollte er jemand rücksichtslos wecken. Der Fuchs war fort und auch Billy fuhr auf, sie lehnte sich zurück, hob die Arme empor, streckte sich und machte ein Gesicht, als wollte sie weinen. Etwas sehr Schönes war vorüber. Mühsam erhob sie sich, was half es, sie mußte ja doch weiter.

Ein breiter Waldweg, mit kurzem Rasen bedeckt, führte durch eine junge Föhrenschonung hin und als der Weg eine Biegung machte, lag ein Stück Heideland vor Billy, mitten darin standen einige Häuschen, standen da mit dem goldbraunen Gebälk, silbergrauen Dächern wie kleine, blanke Kästchen auf der rotblühenden Heide. Eine Kuh blökte dort langgezogen und schläfrig, ein Hahn krähte und Rauch stieg aus dem Schornstein gerade in den Himmel. Billy blieb stehen; das hier ergriff sie so stark, sie wußte nicht, warum; die Augen wurden ihr feucht und doch mußte sie lächeln. Sie ging gerade auf das Haus zu, ein niedriger Lattenzaun umhegte einen Garten, in den Billy durch die halbgeöffnete Tür eintrat. Lange Gemüsebeete, Stachelbeerbüsche. Hie und da legten blaublühende Zichorien und dunkelroter Mohn grelle Farbenflecken in den gleichmäßigen Glanz des Mittaglichtes. Überall standen Bienenkörbe umher. Vor einem derselben kniete ein Mann und machte sich mit den Bienen zu schaffen. Billy ging auf ihn zu, er hörte wohl den Kies unter ihren Schritten knirschen, er hob den Kopf, ein altes, wie von unten nach oben zusammengedrücktes, kleines Gesicht schaute Billy aus trüben, ganz hellblauen Augen ruhig an.

»Guten Morgen,« sagte Billy.

»Guten Morgen,« erwiderte der Mann, die Hände hatte er vorsichtig vor sich hingestreckt, denn sie waren dicht mit Bienen wie mit goldgelben Sammethandschuhen bedeckt. Als Billy schwieg, wandte er sich wieder seinem Bienenstocke zu.

»Bin ich weit von Kadullen?« begann Billy wieder.

»Zu gehen drei Stunden«, erwiderte der Mann, ohne aufzuschauen. Wieder schwiegen beide. Der starke Duft der Küchenkräuter in den Beeten, der säuerliche Geruch des Honigs, das leise Summen der Bienen, all das legte sich über Billy wie eine unendlich wohlige Trägheit. Hier ausruhen, dachte sie. »Darf ich hier sitzen?« fragte sie und wies auf einen Schiebkarren, der umgekehrt auf dem Kieswege lag. Der alte Mann nickte nur, während er die Bienen vorsichtig von seinen Händen streifte, und Billy setzte sich, streckte die Füße von sich, ließ die Arme schwer niederhängen, seufzte tief auf, mehr brauchte sie nicht. Ach, es war ja doch nicht so schwer, zu leben.

»Sie sind das Fräulein aus Kadullen?« sagte der alte Mann endlich wieder, »ich komme da oft hin, um Honig zu bringen. Sind wohl naß, wie?«

»Ja.«

»Sind wohl in der Nacht im Regen draußen gewesen, nun wollen Sie wohl nach Hause?«

Ja, Billy wollte nach Hause. Der alte Mann nahm seinen Strohhut ab und fuhr sich bedächtig mit der Hand über den nackten, blanken Schädel. »Man kann anspannen,« meinte er. Dann wandte er sich zur anderen Seite und rief: »Lina!« Drüben vor dem kleinen Stall stand eine rote Kuh und davor hockte ein Mädchen im blauen Leinwandkleide und melkte die Kuh. Das Mädchen richtete sich langsam ein wenig mühsam auf, stand einen Augenblick da, verzog das Gesicht vor dem Sonnenschein, schaute mißmutig zu Billy hinüber und wischte sich die großen, roten Hände an der weißen Schürze. »Komm nur«, sagte der Alte. Da kam Lina langsam die Gemüsebeete entlang, auf dem großen, starken Körper saß ein kleiner Kopf, ein pausbäckiges, sehr erhitztes Kindergesicht unter der schweren Fülle brauner, fetter Haare. Die Hände hielt sie noch immer auf ihrer Schürze, als wollte sie es verbergen, daß sie guter Hoffnung war. Vor Billy blieb sie stehen und fragte verdrossen: »Was denn, Vater?« »Nimm das Fräulein mit hinein,« sagte der Vater, »ziehe ihr trockenes Zeug an, gib was zu essen, nachher, Fräulein, fahren wir.«

Lina wandte sich um und schritt dem Hause zu.

Billy erhob sich, um ihr zu folgen, da schaute der Alte verschmitzt, so von der Seite auf die beiden hin, wies mit dem Daumen auf seine Tochter und sagte: »Die is auch liederlich gewesen.« Lina schaute nach Billy zurück, fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen und lächelte ein wenig. Das Wohnzimmer, in welches Billy geführt wurde, mußte frisch getüncht worden sein, denn es erschien ihr so überraschend grellweiß. Der Sonnenschein lag so wunderlich schwer und honiggelb auf den weiß und roten Kattunbezügen der Möbel und den Tannenbrettern des Fußbodens. Dazu kam noch ein eifriges, lautes Durcheinander von Vogelstimmen, die einander überschreien wollten, überall an der Decke und am Fenster hingen Vogelbauer mit Kanarienvögeln, es mochten ihrer zehn oder zwölf sein und die Tierchen, vom Lichte erregt, schlugen, als seien sie berauscht vom eigenen Gesänge.

»Oh die Vögel«, sagte Billy überrascht.

»Die!« meinte Lina verdrießlich, »die bellen den ganzen Tag.«

Billy mußte sich auf das Sofa setzen und Lina begann sie zu entkleiden. Sie zog ihr die Schuhe aus, die Strümpfe. »Die kleinen Füße,« murmelte sie, »in einer Hand halte ich so'n Fuß wie'n Vogel.« Sie war ganz in ihrer Arbeit versunken und sprach vor sich hin wie ein Kind, das still in einer Ecke mit seiner Puppe spielt. »Die feine Wäsche, und durch und durch naß und 'n Haut wie Seide haben wir, so, so, und nun kommt das Hemd, ganz neu ist es, für die Hochzeit habe ich es mir gemacht.«

»Für die Hochzeit?« fragte Billy, die willenlos den großen, vorsichtigen Händen gehorchte. »Die Hochzeit, nu ist ja doch nichts damit«, meinte Lina, während sie geschäftig zwischen den Kästen und Billy hin- und herging. »So, dieses Kleid hier, mir ist es ein bißchen zu eng, für Fräulein wird es gut sein. Ne, ne, es ist doch zu weit, das muß man zusammenstecken«, und die beiden Mädchen begannen über das zu lose Kleid zu lachen, ganz laut, ganz hilflos. Lina setzte sich, schlug sich auf die Knie und hielt sich die Seiten. Die Kanarienvögel versuchten das Lachen der Mädchen zu überschreien. Nun war Billy fertig. Sie ließ sich einen Spiegel geben, betrachtete sich aufmerksam, dann legte sie den Spiegel befriedigt fort und sagte: »Sehr gut, Ihre Kleider sind beruhigend wie Baldriantropfen.« Lina ging hinaus um etwas zum Essen zu besorgen und Billy lehnte sich in das Sofa zurück und schloß die Augen. Ja, es war ihr wirklich, als hätte sie mit ihren Kleidern die Sorgen und Unruhen der früheren Billy abgelegt. Mit dem blau- und weißgetüpfelten Leinwandkleide, mit dem großen Kragen und dem groben Hemde, das ihr die Haut rieb, schien es ihr, als hätte sie etwas von dem sorglosen, fast schamlosen Frieden eingesogen, mit dem Lina ihren von der Mutterschaft entstellten Körper faul und bequem an den Gemüsebeeten des Gartens entlang bewegte.

Nun brachte Lina Milch, ein blankes, braunes Brot und sehr viel Honig. Billy begann zu essen; zuerst heißhungrig, dann langsam mit Genuß, fast mit Andacht, sie erinnerte sich nicht, daß ihr je etwas so gut geschmeckt hatte.

Als sie satt war, stützte sie die Arme schwer auf den Tisch. In den ungewohnten Kleidern trieb es sie, Bewegungen zu haben, die sie sonst nicht hatte, die Lina vielleicht haben konnte. Ihre Wangen waren wieder gerötet, ihre Augen blank und Lebensungeduld wärmte ihr Blut. Lina saß ihr gegenüber, die Hände flach auf die Knie gelegt, und schaute sie aus den kleinen, blauen Augen stetig und geduldig an. »Ich denke,« meinte Billy, »wir gehen jetzt zu der Kuh, den Hühnern, zu den Bienen.« Das war es, in diesem komischen, blauen Kleide wollte sie sich draußen im Hofe umtun; ja, sie war überzeugt, sie würde ganz so faul und gemütlich wie Lina zwischen den Gemüsebeeten entlang gehen können. Als sie jedoch aufstand, fühlte sie, daß ihre Beine steif waren und sie schmerzten. »Ach nein, bleiben wir lieber,« sagte sie, »sprechen wir lieber etwas.« Allein die Ruhe des großen, erhitzten Mädchens ihr da gegenüber machte sie ungeduldig. Konnte man diese Ruhe nicht aufstochern, wie sie als Kind die kleinen, stillen Ameisenhügel aufgestochert hatte, so daß sie gleich voll aufgeregten Lebens wurden. »Fürchten Sie sich nicht?« fragte Billy plötzlich.

»Fürchten?« erwiderte Lina, »warum? Ach so, sie meinen deshalb, ne, was kann man sich da viel fürchten?« »Aber manche sterben daran«, bohrte Billy weiter. Lina fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen und lächelte ein wenig. »Ja, manche sterben.« Die beiden Mädchen schwiegen eine Weile und lauschten dem Lärm der Kanarienvögel. Dann begann Lina zu fragen mit ihrer tiefen, ein wenig singenden Stimme: »Und Ihrer ist auch fort?« Billy errötete. »Ja, fort,« murmelte sie unsicher. Lina seufzte. »Ja,« meinte sie, »es ist ein Kreuz mit den Männern; immer gehen sie fort. So geht es uns allen.« Billy schwieg, aber sie empfand es wie Sicherheit und wie Frieden dieses uns, das sie einreihte in die Schar der Mädchen, die ruhig und stark das Leben auf sich nehmen.

Draußen hörte man das Rollen eines Wagens. Gleich darauf erschien der alte Mann in der Tür, eine Peitsche in der Hand und sagte: »Jetzt können wir fahren, Fräulein.« Billy mußte sich einen sehr großen, gelben Strohhut aufsetzen und dann fuhren sie.


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