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Gestern vormittag traf ich die kleine Luise, die sich eben von einem Haufen spielender Kinder trennte.
»Willst du schon aufhören zu spielen, Luise? Die Sonne scheint doch so schön.«
»Ich will zu meiner Mamma.«
»Zu deiner Mamma?«
»Ja, nach Hause!«
»Sagst du zu Magdalena jetzt Mamma?«
»Ja. Alle Kinder haben eine Mamma. Ich will auch eine haben. Meine Mamma soll Magdalena sein.«
»Hast du deine Mamma lieb?«
»Lieber wie dich!«
Das klang nicht frech, nur tief überzeugt.
»So. Hm. Lieber wie mich! Das glaube ich gern. Ihr spielt wohl schön zusammen?«
»Nein, wir schneidern. Wir machen ein Kleid für mich. Aber es passt immer nicht richtig, weil Mamma das Schneidern nicht gelernt hat, und da will uns jetzt die Selma kein neues Zeug mehr geben.«
Selma ist die Beherrscherin unserer weiblichen Schneiderei, eine etwas schwierige Alte. Das Mädchen ging neben mir her. Mit großer Munterkeit sagte sie:
»Wenn Pappa Stefenson da wäre, würde er die Selma mächtig ausschimpfen, weil sie sagt, es ist zu teuer, wenn man für ein Kinderkleid vierzig Mark verbuttert und nichts zustande kriegt. Ach, es wird doch so schön! Wir nähen alle Tage neue Schleifen dran.«
»Ich werde mit der Selma sprechen.«
»Ja? Wirst du wirklich? Fürchtest du dich nicht? Dann sage ihr, wir müssen ein Meter schottische Seide haben und unten ein bisschen Pelzbesatz. Ich hab mir's so ausgedacht: oben an dem Kleid will ich einen Matrosenkragen, in der Mitte will ich schottische Seide und unten Pelzbesatz. Das wird sehr fein!«
»Ja, das glaube ich. Will das deine Mamma auch so?«
»Mamma will so, wie ich will.«
Das war das Mädel, das vor einem Jahr in der Berliner Ackerstraße Schnürbänder verkaufte! Die Erinnerung an diese elende Vergangenheit ist in ihr völlig erloschen. Gut so! Und auch ihre Kleiderwünsche verstand ich. Die Kinder hupfen bei uns alle in einer gesunden, einfachen Tracht umher. Aber ein Mädchen hatte geprahlt, es hätte zu Hause ein Matrosenkleid, ein anderes hatte sich mit einem Kleide mit schottischer Seide großgetan, ein drittes sogar von Pelzbesatz gefabelt. So war in Luise der Wunsch entstanden, alle diese Herrlichkeit in einem einzigen Kleid zu vereinigen. Die Weibermode setzt über die höchsten Mauern, die man um ein Ferienheim ziehen kann. Dagegen lässt sich nichts tun. Auch unsere weibliche Ferienkleidung wird mit tausend Spitzfindigkeiten »modernisiert« und »stilisiert«. Was man allein mit einer heimlich angebrachten Sicherheitsnadel alles »raffen« kann, wieviel »Schick« man durch solch einfache Mittel in die vorgeschriebene Gewandung bringen kann, grenzt ans Wunderbare. Wenn in meinem Ferienheim überhaupt mal ein Aufstand entstehen sollte, wird es eine Frauenrevolution sein. Anfangs wollte ich für alle weiblichen Feriengäste ein und dieselbe Tracht. Aber selbst Selma, die, eine Aszetin an Einfachheit und an Grobheit, einem preußischen Kammerunteroffizier, der Helme und Stiefel »anprobiert«, weit überlegen ist, kam mir schließlich mit dem Vorschlag, vier verschiedene »Modelle« müssten eingeführt werden, eines für die Dicken, eines für die Dünnen, eines für die Langen, eines für die Kleinen. Damit habe ich mich einverstanden erklärt; inzwischen ist bereits noch durchgesetzt worden, dass die Blonden blaue, die Schwarzen rote Blusen bekommen.
Für die kühlen Abende werden farbige Umschlagtücher geliefert. Oh, wie groß sind die Wunder der Schöpfung! Manche unserer Damen drapieren das Tuch vom Gürtel abwärts um den Kleiderrock, die meisten tragen das Tuch rechts oder links über die Schulter malerisch geworfen, andere machen sich eine »ungarische Schürze« daraus, wieder andere eine Muff; Turbane um den Kopf werden ebenso geschickt aus dem Tuch hergestellt wie schlichte Nonnenschleier; einige tragen das zusammengelegte Tuch nur über dem Arm, und einige wenige greifen auf den ursprünglichen Zweck zurück, die schlagen das Tuch um die Schultern.
Dr. Michael hat die Putzsucht der Frauen für eine unheilbare Krankheit erklärt. Ich bin nicht seiner Meinung. Diese Putzsucht ist keine Krankheit, sondern eine Naturnotwendigkeit; das Weib muss sich putzen, so wie sich das Kätzchen beschlecken muss.
Neulich kam Piesecke zu mir, außerhalb der Sprechstunde. Er war noch erregter, als er sonst oft ist, und sprach zunächst eine Menge wirres Zeug durcheinander, aus dem hervorgehen sollte, dass er der unglücklichste Mensch der Welt sei. Ich unterbrach ihn.
»Piesecke, ich glaube jedes Wort, was Sie sagen, aber sprechen Sie langsamer! Sprechen Sie recht gelassen! Sagen Sie mir ohne alle Umschweife, was los ist.«
Er rang die Hände ineinander und jammerte:
»Ach Gott, ich liebe sie, ich liebe sie!«
»Wen? Mich?«
»Ach, doch nicht Sie, sondern sie!«
»Also Hanne vom Forellenhof.«
»Woher wissen Sie ...?«
»Ich weiß es. Sie haben sich oft genug auffällig benommen.«
»Und wissen Sie auch, dass sie fortzieht?«
»Ja, morgen nachmittag. Sie hat ein gutes Engagement an ein Stadttheater bekommen.«
»Ich ertrag es nicht; oh, ich ertrag es nicht. Sehen Sie, Herr Doktor, Sie können machen mit mir, was Sie wollen, Sie können der beste Arzt der Welt sein, Sie können hundert Sanatorien für mich bauen, wenn mich dieses Mädchen verlässt, bin ich verloren.«
»Gruselig!«
»Was sagten Sie?«
»Gruselig!«
»Herr Doktor, spotten Sie nicht! Diesen Verlust ertrage ich wirklich nicht; er bedeutet mein Ende.«
»Dann wird in Ihrer Landeszeitung ein schöner Nekrolog über Sie erscheinen.«
Er war empört.
»Sie haben kein Herz für mich. Aber es ist gut, dass Sie von unserer Landeszeitung gesprochen haben. Schließlich bin ich doch ein Prinz!«
»Hier nicht! Hier sind Sie Piesecke.«
»Das weiß ich; aber ich vergesse nicht, was ich draußen bin. O nein! Sehen Sie, und das habe ich ihr gesagt.«
»Was? Wem?«
»Der Hanne habe ich gesagt, dass ich ein Prinz bin.«
»Sie sind wohl verrückt geworden, Piesecke. Auf solche Indiskretionen steht die Strafe der Entlassung aus unserer Anstalt.«
»Schimpfen Sie nicht, Herr Doktor; ich bin heute schon genug ausgeschimpft worden.«
»Was hat denn Fräulein Hanne zu Ihrer Quasselei gesagt?«
»Ausgelacht hat sie mich. Sie hält mich für einen Sargfabrikanten aus Hannover. Stellen Sie sich vor, Herr Doktor, ausgerechnet für einen Sargfabrikanten hält sie mich.«
»Das Geschäft eines Sargfabrikanten ist ein sehr ehrbares.«
»Ach Gott, nun sind Sie auch noch gegen mich. Und ich hatte meine ganze Hoffnung auf Sie gesetzt. Sie sollten ja Fräulein Hanne sagen, dass ich wirklich ein Prinz bin und dass sie ein Engagement an unserer Hofoper annehmen soll.«
»Was hätten denn Sie davon, wenn Fräulein Hanne in Ihrer Residenzstadt sänge und Sie inzwischen hier bei uns Dünger fahren müssten?«
»Ich hatte gehofft, Sie würden mich für ein paar Wintermonate beurlauben.«
»Daran denke ich nicht im Traume. Bis zum Mai bleiben Sie laut unserer Abmachung hier. Das entspricht auch ganz den Intentionen Ihres Herrn Bruders, des regierenden Fürsten.«
Piesecke saß gebrochen vor mir.
»Mit mir ist's alle«, sagte er tonlos.
»Mit Ihnen war es alle, mein Lieber, als Sie zu uns kamen. Inzwischen haben Sie sich aber bei uns einen ganz netten Fonds neuer Lebenskraft gesammelt.«
Er schüttelte trostlos den Kopf.
»Wohl bin ich gesundheitlich vorwärts gekommen; aber das nützt mir alles nichts mehr – ich muss sterben. Es gibt Dinge, die ein Mensch nicht verwinden kann.«
Ich stand auf.
»Entschuldigen Sie, Piesecke, aber das Mittagessen wartet auf mich. Ich hab Hunger. Wenn Sie also aus dem Leben scheiden wollen, gehaben Sie sich wohl! Es freut mich, Sie mal kennengelernt zu haben. Mahlzeit!«
Da fasste ihn der Zorn.
»O nein, Herr Doktor, so entkommen Sie mir nicht! So mit einfach ›Mahlzeit‹, wenn es um mein Leben geht! Ich bin nicht mehr der willenlose Mensch, der ich im Mai war. Ich wehre mich meiner Haut. Und da muss ich Ihnen sagen, dass Ihr Sanatorium eine Mördergrube ist.«
»I, der Dauz!«
»Jawohl, Dauz! Ich werde Sie schon bedauzen! Wissen Sie, wer der neue Kurgast auf dem Forellenhof ist, der sich Fritz Steiner nennt?«
»Nein!«
»Ein Geheimpolizist aus meiner Vaterstadt ist er. Ich habe ihn wiedererkannt; denn ich hatte früher mal mit ihm zu tun. Nun habe ich gedacht, er sei hergeschickt, um mich zu überwachen. Denn er hat mich früher schon mal überwacht. Aber nein, wie ich ihn gestellt habe, hat er mir gesagt, dass er auf den langen Ignaz auf dem Forellenhof abzielt. Er wird den Beweis erbringen, dass Ignaz ein langgesuchter Raubmörder ist, ein früherer Fleischergeselle.«
Ich setzte mich wieder.
»Also, Piesecke, ist das wahr?«
»Habe ich Sie je belogen, Herr Doktor?«
»Nein, Piesecke, belogen haben Sie mich nie. Aber täuscht sich auch Herr Steiner nicht?«
»Das weiß ich nicht. Er wartet noch etwas vom Gericht ab – ich glaube, Fingerabdrücke oder so etwas – und dann will er zur Verhaftung schreiten.«
Mir wurde unbehaglich.
»Haben Sie auch eine Auseinandersetzung mit dem langen Ignaz gehabt?«
»Jawohl. Er will mich umbringen.«
»Bitte, erzählen Sie!«
»Er hat mich schon immer verfolgt und gemisshandelt; er ist ein sehr roher Kerl. Wie ich nun Fräulein Hanne das gesagt hab, dass – nun, dass ich eben doch ein Prinz bin, glaubte ich, ich sei mit ihr und mit Vater Barthel allein in der großen Stube. Auf einmal kommt der lange Ignaz hinter dem Ofen hervor, hat grüngelbe Augen und packt mich an der Kehle. Ich habe mich gewehrt; aber wenn Vater Barthel und Fräulein Eva mir nicht geholfen hätten, hätte mich der Kerl erwürgt. Wir haben dann den Mordgesellen zur Tür hinausgeworfen, aber er hat gedroht, er werde mich schon erwischen.«
»Hm. Also, lieber Piesecke, ich gebe Ihnen gern zu, dass mir dieser Knecht Ignaz auch in hohem Grade unheimlich und widerlich ist. Ist er ein Schuft, der sich in mein ehrliches, sauberes Heim eingeschlichen hat, dann werde ich der erste sein, ihn den Behörden ausliefern zu helfen. Aber auch wenn er nicht der von den Gerichten Gesuchte ist, wird der brutale Mensch entfernt werden. Das verspreche ich Ihnen.« Piesecke sank schon wieder in sich zusammen.
»Ach, selbst dieser Raubgesell ist in die blonde Eva verliebt. Und ich soll sie verlieren! Mag mich doch der Ignaz umbringen. Dann ist es wenigstens alle mit mir. Ich habe niemand, niemand, der mich gern hat, nicht einmal einen guten Freund!«
Da tat er mir leid.
»Piesecke«, sagte ich, »das dürfen Sie nicht sagen. Sie haben einen guten Freund. Und das bin ich. Ich will Ihnen das dadurch beweisen, dass ich Ihnen etwas sage, was noch niemand von mir gehört hat. Auch ich, Piesecke, habe die schöne Eva sehr liebgehabt und mir nichts sehnlicher gewünscht, als dass sie meine Frau werde.«
Er starrte mich an.
»Auch Sie, Herr Doktor? Und warum haben Sie die Eva nicht genommen?«
»Weil sie mich nicht will.«
»Sie nicht will?« wiederholte er verwundert. »Sie will nicht mal Sie, und da soll sie mich wollen?«
Es lag eine rührende Demut in dem Ton, in dem er das sagte.
»Sehen Sie, Piesecke, wenn man jemand wirklich liebhat, darf man nicht an sich selbst denken, soll man nur denken: Werde du glücklich! Es ist etwas Großes und Schönes um das Verzichten! Wir werden es zusammen tragen. Es gibt Frauen, die das Glück oder vielmehr das Unglück haben, dass alle Männer sich in sie verlieben, und gerade das Leben solcher Frauen bleibt oftmals ganz leer. Wir wollen unserer Eva wünschen, dass sie glücklich wird, und wir zwei wollen zusammenhalten.«
Seine leichtsinnigen und doch so grundgutmütigen Augen schauten mich feucht an.
»Ich glaube, dass Sie es gut mit mir meinen, Herr Doktor!«
»Ich habe Sie gern, Piesecke«, sagte ich und legte ihm fest die Hand auf die Schulter.