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Die Arbeit war getan; ich war frei. Eigentlich wollte ich ja hinauf zum Hirtenhaus, aber ehe ich mich's versah, schlenderte ich doch wieder zum Forellenbauer hinab. Ich redete mir ein, ich müsse mich um mein Sorgenkind Piesecke bekümmern, und so nebenbei könne ich ja nach Eva fragen, deren kranker Fuß allerdings von einem Kollegen behandelt wird. Das Mädchen saß vor der Haustür auf der grüngestrichenen Bank und putzte Gemüse. Sie heißt hier einfach »Hanne«. Einen Familiennamen führt sie nicht, ebensowenig wie Anneliese, die sich in »Bärbel« umgetauft hat.
Am Hoftor blieb ich stehen. Ein liebliches Bild! Abendsonne bestrahlte das schöne Mädchen, eine weiße Taube saß auf der Rückenlehne der Bank, ein goldgefiederter Hahn blinzelte mit seinen Äuglein zu dem Mädchen empor, wartend, ob für ihn etwas abfalle. Dann kam der große Zottelhund, wedelte mit seinem buschigen Schwanz den Hahn gutmütig, aber bestimmt zur Seite, nahm dessen Platz ein und saß in stummer Bewunderung vor der schönen Frau.
Und noch ein anderer schaute verliebt zu dem Mädchen hin, das war Piesecke, der an der Stalltür lehnte und eine Sense in der Hand hielt. Oh, den armen Piesecke scheint es ganz arg erwischt zu haben. Er verdrehte die Augen und seufzte einmal so laut, dass man es über den Hof hinweg hörte. Ich ärgerte mich über den Menschen.
Gleich wurde mir eine Genugtuung. Eine derbe Faust kam aus der Stalltür heraus, gab dem träumenden Piesecke einen Stoß in den Rücken, dass er samt seiner Sense in den Hof taumelte, und eine rauhe Stimme rief:
»Schlaf nicht, du Döskopp! Mach, dass du aufs Kleefeld kommst!«
Die schöne Hanne blickte auf und lachte, Piesecke geriet in Wut, fuchtelte mit seiner Sense ein wenig vor der inzwischen geschlossenen Stalltür herum und ging dann niedergeschlagen über den Hof. Am Tor traf er mich.
»Das ist eine Gemeinheit«, sagte er und hatte Tränen in den Augen.
»Piesecke«, tröstete ich ihn, »ich bin Zeuge dessen gewesen, was jetzt vorfiel. Das ist gegen jede Ordnung, ist gegen den Sinn unseres Ferienheims. Der Knecht Ignaz hat sich gegen einen Kurgast solche Frechheiten nicht herauszunehmen. Ich werde energisch mit dem Bauern reden. Oder soll ich Sie auf einem anderen Hofe unterbringen?«
»Um Gottes willen nicht«, rief Piesecke erschrocken; »ich – ich – da hielte ich's ja gar nicht aus auf einem anderen Hofe ... ich – ich hab mich ja schon so – so – an den Grobian gewöhnt.«
Und er ging gesenkten Hauptes mit seiner Sense davon.
Ich begrüßte eben die blonde »Hanne«, da trat auch schon der Bauer Barthel aus der Haustür. Das war mir nicht lieb, und so sagte ich ein bisschen unwirsch:
»Barthel, das geht aber nicht, dass Sie Knechte mieten, die unsere Kurgäste verprügeln. Denken Sie mal, wenn das in der Öffentlichkeit bekannt würde! Da käme niemand mehr zu uns. Den langen Ignaz müssen Sie entlassen.«
»Ich kann nich, Herr Dukter«, erwiderte Barthel achselzuckend. »Ma kriegt so schwer 'n gutten Knecht. Kurgäste kriegt ma zehnmal leichter wie 'n Knecht. Und a Ignaz, den kenn ich vu Jugend uff, das is a ganzer Kerle. Der schofft's! Wos sull ich machen, jetzt, wu die Ernte kummt? Ich kann doch nich die Ernte mit 'm Piesecke machen! Se sullten mal zusehn, Herr Dukter, wenn der Piesecke Gras haut. Bluß die Spitzen schneid't a ab, de Sense fuchtelt immer in der Luft 'rum. Oder sie bleibt in eem Maulwurfhaufen stecken. Es ist jämmerlich!«
»Wie lange wird denn Herr Piesecke hierbleiben?« fragte Hanne.
»Das dürfte ich eigentlich nicht sagen«, erwiderte ich, »aber ich glaube ein ganzes Jahr!«
»Um Gott's willen!« stöhnte Barthel. »A Jahr lang! Da hat mir der Kerl 'n ganzen Hof ruiniert. Was soll ooch so'n Sargfabrikant von der Bauernwirtschaft verstehen.«
»Wieso – Sargfabrikant?«
Barthel lächelte überlegen.
»Eener vom Grundhofe kennt ihn. Piesecke is Sargfabrikant in Hannover und heeßt eegentlich Robert Ebbing. Ich hab das vom Sargfabrikanten gleich geglaubt; denn 'n sehr traurigen Eindruck macht a doch. Aber ich hab mir gesagt, a muss doch da was von der Tischlerei verstehn. Da sollt a mir vorgestern 'ne Kiste zunageln. Das hätten Se sehn müssen! Olle Nägel krumm oder in die Luft gekloppt. Das weeß ich: in een Sarg, den der Piesecke gemacht hat, leg ich mich amal nich! Eh da die Sänger mit ›Es ist bestimmt in Gottes Rat‹ fertig wären, bräch der Boden und ich läg draußen!«
»Also, das alles glaub ich nicht«, warf die blonde Hanne lachend ein; »Piesecke stammt aus einer besseren Familie; das merkt man ihm schon an.«
Ich zuckte die Achseln.
»Es darf hier ein jeder vermuten, was er will.«
»Meinetwegen mag er sein, was er Lust hat«, sagte Barthel brummig; »Hauptsache, ich wär ihn los.«
»Geduld, Barthel, Geduld!«
»Geduld braucht ma mächtig viel mit den Städtern. Also fünfundzwanzig Stück Kurgäste hab ich jetzt. Außer mit der kleen'n Bärbel hab ich mit allen Schererei. Na, ich brumm nicht etwa, Herr Dukter; für die Ärgerei mit a Städtern bin ich ja da und hab ich mein feines Auskumm'. Ich sag bloß: Ärger machen se alle.«
»Aber doch nicht ich!« rief Hanne.
»Sie ooch«, sagte Barthel melancholisch; »meine Alte is uff Sie eifersüchtig.«
»Barthel!«
Dem Mädchen blieb der hübsche Mund offenstehen.
»Ja, ja, ich hab ihr zwar gutt zugeredt und gesagt: Alte Schraube, es passt sich nich, dass du uff deine alten Tage eifersüchtig wirst. Aber se sagt, es passt sich nich, dass ich su oft mit Ihn'n plaudere, und ich tät Augen machen.«
»Was täten Sie machen?«
»Augen! Nu ja, ich kann doch nich als Blindekuh vor Ihn'n stehn!«
Das Mädchen machte ein erheuchelt ernstes Gesicht.
»Also, Barthel, diese Augen lasse ich nicht auf mir sitzen. Ich werde Ihre Frau Gemahlin zur Rechenschaft ziehen.«
»Um Gottes willen nich! Wenn das 'rumkummt, schrei'n ja die Leute Feuer!«
Da trat Frau Susanne Barthel aus der Haustür.
»Hatt' ich mir's nich geducht? Steht a nich schon wieder?« sagte sie.
»Ja, Frau Barthel«, rief Eva, »und er macht Augen auf mich!«
»Nich wahr, Fräulein Hanne, Sie haben ooch Ihren Spaß an dem alten Esel?«
Das Weiblein fing an zu lachen, dass ihr die Augen tränten.
»Also, wenn der Augen macht«, schluchzte sie unter Lachen, »da kommt keen gestoch'nes Kalb dagegen auf.«
»Weib«, schrie Barthel erbost; »du bist eifersüchtig. Du hast keen'n Grund dazu!«
»Nee, nee«, schlenkerte die dicke Susanne prustend mit den Händen; »du kannst um de ganze Welt 'rum Augen machen, 's fällt keener druff 'rein!«
Und sie ging vergnügt ins Haus zurück. Barthel stopfte ob des vernichtenden Urteils über seine männliche Anziehungskraft die Hände in die Hosentaschen und sagte:
»Das is eene Gemeinheit! Immer lacht se, schon wie se noch meine Braut war, lacht se mich immer aus.«
»Seien Sie doch froh, Barthel, dass Sie eine so lustige Frau haben.«
»Nee, nee, Herr Dukter, olles mit Respekt gesagt, aber das verstehen Se nich! Sie sind nicht verheirat't. Sehn Se, wenn a Weib schimpft, oder wenn se flennt, oder wenn se mit Tellern schmeißt, oder wenn sie furtlooft, könn'n Se sich immer noch Ihren Kopp ufsetzen; aber wenn se lacht, sind Se geliefert.«
Nach dieser Bemerkung hob der Philosoph aus dem Volke den Kopf und lachte selber. Und ich benutzte die Gelegenheit und bat Barthel, mir seine Meinung über seine Kurgäste mitzuteilen. Sowenig ich mich sonst um den Stand der von mir persönlich nicht behandelten Kurgäste kümmere – wer auf dem Forellenhof lebt, weiß ich. Ach, ich wollte es mir ja immer noch nicht zugestehn, aber ich glaube oft, dass ich selbst »Augen« auf die schöne Eva Bunkert mache, die hier »Hanne« heißt. Und wenn ich ehrlich sein will, ist das auch der Grund, warum ich gerade die Besucherliste des Forellenhofes kenne. Jetzt sagte ich gutgelaunt:
»Also, Barthel, schießen Sie mal los mit Ihrem Ärger über unsere Kurgäste.«
Ich hatte mich inzwischen zu Hanne auf die Bank gesetzt, Barthel hockte auf einem umgekehrten Kartoffelkorbe uns gegenüber. Er machte sein philosophisches Gesicht und sagte:
»Ärger kann man's eigentlich nich nennen, man muss mehr sagen, keen richtigen Respekt nich. Also, vom Piesecke will ich nich reden, der ärgert mich wirklich. Das is 'n Huhn! Wahrscheinlich hat a zuviel Särge gemacht, zuviel Geld eingenummen, und da is es halt su geworden. Aber zum Beispiel der Lempert. Also, in dessen Kurverordnung, die er mir als 'm Hausherrn doch abgeben muss, steht: Aufstehn halb sechs. Um halb sechs geht der Ignaz wecken. Lempert brummt nich amal. Um dreiviertel weckt Ignaz wieder. Lempert schreit: a sull die Schnauze halten! Um sechse geh ich selber und hau an die Tür. Lempert schmeißt seine Stiefel dagegen und schreit, ich sull mich zum Teufel scheren. Um viertel sieben trommeln wir beide so an die Tür, dass 's ganze Haus wackelt, 's rührt sich nischt. Um halb sieben droh'n wir, die Tür einzuhauen. Da kummt Lempert hinter uns die Treppe 'rauf und fragt seelenvergnügt, warum wir eigentlich vor seiner Tür so eenen Skandal machen; a wär doch schon lange munter. Is der Kerl heimlich uffgestanden und hat die Tür von außen verschlossen. Nächsten Tag dieselbe Chose. Um halb sechs Ignaz (Lempert brummt), um dreiviertel sechs Ignaz (Schnauze halten!), um sechs ich (er schmeißt mit Stiefeln). ›Jetzt, Ignaz‹, sag ich, ›is Schluss, jetzt steht er heimlich uff.‹ Um neune is 'n Bote vom Rathaus bei mir, warum der Lempert nich zur Kur gekommen sei? Schläft der Vagabund noch! Da soll ma sich nich ärgern!«
Lempert war ein Rechtsanwalt aus Leipzig.
»Fahren Sie fort, Barthel. Schildern Sie mir noch einige Ihrer Kurgäste.«
»Also, da ist der Emmerich, der komponiert mir 'n ganzen Hof voll. Auf'm neubehobelten Kartoffelwagen hat a 'n ganzes Brett vollkomponiert, er komponiert die Hausflurwände voll, er komponiert ans Butterfass, er komponiert auf die Tischtücher, er hat sogar (entschuldigen, Fräulein Hanne!) auf den Klosettdeckel einen Rundgesang komponiert. So ein verrücktes Huhn is das! Ich hab'n gefragt, ob er Kapellmeister oder Kantor war, da hat er gesagt: Nee, er wär Gesanglehrer in eener Taubstummenanstalt. Von sein'n Schülern ließe er seine Kompositionen aufführen. Das nennte sich primitive Kunst. Und gerade so 'n Schmierfinke wie der Emmerich is der Maler Methusalem. Das is erst eine Nummer! Der behauptet, er wäre 998 Jahre alt. In zwei Jahren zu Pfingsten feiert a seinen tausendsten Geburtstag. Da will er uns alle einladen. Den nächsten Tag tät er dann sterben, da könnten wir gleich zum Begräbnis dableiben. Die Sache hätte sich so zugetragen, dass er vor etwa tausend Jahren 'n mächtiger König gewesen wär; aber er hätt' 'n Verbrechen begangen, und da hätt' 'n een sehr kräftiger Fluch getroffen, und da hätt' er gleich nach seinem Tode sich immer wieder aus 'm Grabe 'rausbuddeln und in anderer Gestalt 'n neues Leben beginnen müssen, und es sei immer sehr bergab gegangen mit sein'n diversen Leben, bis er zuletzt hätte als deutscher Maler auf die Welt gemusst. Da sei das Maß seiner Buße voll geworden, und er dürft jetzt definitiv sterben. Also – was hat dieser Methusalem gemacht? Ich hab ein neues Schaff gekauft. 's erstemal kommt's in Gebrauch. Schneeweißes Buchenholz. Da schüttet meine Frau Rüben in das Schaff, pfeift 'm Methusalem und sagt: ›Methusalem, stampfen Se mal die Rüben hübsch klein!‹ Was macht er? Er beguckt sich das schöne weiße Schaff, dreht's um, schüttet die Rüben aufs Pflaster und malt auf 'n auswendigen Boden vom Schaff meine Alte. Die is nu immer wieder hergelaufen gekommen, hat gelacht und geschimpft auf den Methusalem, und er hat sie immer angeguckt und drauflos gestrichelt. Da is se ausgerückt und er 's Schaff sich über'n Kopf gestülpt und immer hinter der Susanne her. Und wo er sie erwischte, schnell ihr ins Gesicht geguckt und 'n paar Striche gemacht. Und dann ging die Jagd von neuem an. Das nennt sich nu landwirtschaftlicher Betrieb bei uns!«
»Hat denn der Methusalem die Zeichnung fertiggestellt?«
»Freilich! Fünf Tage lang is a mit sein'm Schaff auf 'm Kopp hinter der Susanne wie wahnsinnig hergewest. Se is ganz außer Atem gekommen und hat gesagt, a müsst wirklich 'n sehr schwerer Verbrecher sein. Aber das Bild is nu fertig. Ich sag Ihn'n, su 'ne alte Eule haben Se Ihrer Lebtage noch nicht gesehen.«
»Kann man das Bild nicht mal sehn? Sie haben dieses Schaff hoffentlich nicht wieder als Schaff benutzt?«
»Nee! Meine Alte hat das Bild abscheuern woll'n, aber da haben alle Kurgäste Lärm gemacht.«
»Die Zeichnung ist köstlich!« warf Eva ein.
»Wo ist denn das Schaff?«
»Oben in seiner Stube hat's der Methusalem eingeschlossen. Aber ich hab ja 'n zweiten Schlüssel.«
»Holen Sie's mal!«
»Wenn mich die Susanne erwischt, kommt sie gleich mit der Schmierseife und der Scheuerbürste hinter mir hergesaust.«
»Holen Sie es. Wir stehen Posten.«
Ich wusste, dass dieser Methusalem ein bekannter ausgezeichneter Karikaturist war. Als Barthel mit dem Schaff ankam und ich die Zeichnung sah, war ich entzückt. Ich sah ein Meisterwerk! Diese ganze pfiffige, durchtriebene, lachlustige, dicke Susanne lebte, atmete, schimpfte, lachte, kommandierte, pfiff auf der Zeichnung.
»Es ist herrlich«, rief ich; »es ist zum Küssen schön!«
»Weib!« schrie da Barthel begeistert, »Weib, komm 'raus, der Doktor will dir 'n Kuss geben.«
Susanne kam heraus, sah das Schaff, kreischte, versuchte einen wilden Angriff auf ihr Bildnis und erstarrte, als ich ihr sagte, wenn Herr Stefenson die Zeichnung sähe, würde er wahrscheinlich ein- oder zweitausend Mark dafür zahlen.
Die erblasste Susanne rief:
»Ich kann doch keene so scheußliche alte Schachtel sein wie die da!«
»Das ist keine scheußliche alte Schachtel«, sagte Eva freundlich; »das ist eine sehr liebe, lustige Muttel!«
»Siehste, Alte«, höhnte Barthel, »wenn du um die ganze Welt reistest, 's könnte dich keen Maler schöner uffmalen, als du eben bist. Aber ich bin nich eifersüchtig, wenn ooch der Methusalem fünf Tage hinter dir hergerast is wie verrückt.«
Mit dieser rachsüchtigen Bemerkung schlug Barthel seine Gattin aus dem Felde.
»Holdrioho hoho!« jodelte einer draußen vor dem Tore.
»Um Himmels willen«, rief Barthel, »das is der Methusalem. Wenn der spürt, dass ich in seiner Stube gewest bin! Der tausendjährige Kerl hat Kräfte wie 'n Bär.«
Und Barthel nahm das Schaff auf den Kopf und verschwand eilends im Hause.
Eva-Hanne sagte:
»Ich hab immer gern in meinem Leben gelacht, aber so viel wie in den drei Wochen, da ich hier bin, noch nie.«
»Lachen ist gesund.«
»Ganz gewiss. Ich sehe, wie alle um mich her täglich gesünder und heiterer werden. Heiter kann man es zwar nicht nennen, mehr ausgelassen.«
»Ja, sehen Sie, Eva, die Ausgelassenheit ist nur ein ansteigender Talweg zu dem Berge der Gesundheit und des Glückes, die Heiterkeit ist der letzte, klare Gipfel. Zu ihm gelangen wir spät, erst, wenn wir lange und mühevoll gestiegen sind, erst, wenn es still und einsam um uns geworden ist, erst, wenn unsere Augen weithin sehen können, über alle Tiefen, die unter uns, und alle Höhen, die über uns waren.«
»Sind Sie selbst schon auf der Höhe?«
»Ich gewiss nicht. Ich bin nichts als ein Wegzeiger, der im Tale steht, die Hand ausstreckt und sagt: Da geht es hinauf!«
»Vielleicht ist's gut so«, meinte Eva nachdenklich; »wenn Sie selbst schon oben ständen, könnten Sie nichts anderes als winken. Und da würde sich mancher sagen: was will der winkende Mann auf dem steilen Gipfel; er ist wohl in Not und fürchtet sich allein dort oben? «
»Ich finde, Fräulein Eva, dass wir uns gut verstehn!«
Ich sah ihr heiß in die Augen. Ihr Blick begegnete mir freundlich, aber kühl. Dann senkte sie das Haupt und sah vor sich hin. Der lange Ignaz schlurfte vorbei. Er brummte einen Gruß und rückte kaum am Hut.
»Ein unfreundlicher Mensch«, sagte ich, nur um etwas zu reden. »Wenn er nur nicht mal Unheil anrichtet!«
»Der Bauer braucht ihn. Aber er ist mir auch manchmal unheimlich.«
»Holdrioho hoho!« jodelte es nun dicht vor dem Tore. Ein starker Kerl erschien, der brachte eine dicke Weibsperson auf einem Schiebkarren gefahren.
»Das ist Methusalem«, belehrte mich Eva; »er bringt die dicke Cenzi vom Felde heim.«
Cenzi war – wie ich wusste – die Gattin eines Berliner Bankiers. In ihrem Dirndlkostüm sah sie ein wenig schnurrig aus. Methusalem fuhr seine holde Last bis in die Mitte des Hofes, kommandierte »Alles aussteigen!« und kippte den Schubkarren um. Cenzi quiekte, überkugelte sich zweimal, kam dann jauchzend auf uns zu in einer merkwürdigen Gangart, die etwa so aussah, wie wenn eine Ente den Trippelschritt einer Taube versucht, und sagte:
»Denken Sie, der schlechte Mensch; auf dem Schubkarren fährt er mich, aber zeichnen mag er mich nicht!« Methusalem schnitt ein Gesicht hinter ihr, das deutlich ausdrückte: »Lohnt nicht den Fassboden!« Dann sagte er: »Ich bin kein Zeichner; ich bin ein Feldarbeiter. Und das Schubkarrenfahren ist wichtiger für Sie, Cenzi, als das Geporträtiertwerden. Sie haben drei Heukappen auf einen Platz zusammengetragen und waren daher mit Recht so erschöpft, dass Sie per Achse nach Hause gebracht werden mussten.«
»Er ist über so viele Steine hinweggefahren«, klagte Cenzi; »ich bin buchstäblich wie gerädert.«
»Das wird besser werden, Cenzi«, tröstete Methusalem, »wenn unser Vater Barthel erst einen Schubkarren mit Federung und Gummirad angeschafft hat. Es ist ein Skandal, dass er noch keinen solchen besitzt. Er ist ein rückständiger Landwirt.«
»Oh, Sie Spötter!« flötete Cenzi; »aber passen Sie auf, morgen habe ich wieder drei Pfund abgenommen. Denken Sie, Herr Doktor, neun Pfund habe ich bei Ihnen in zwei Wochen abgenommen, und das ohne jede Medizin.«
Sie setzte sich zu mir und wollte mich in den Zauber eines Gesprächs über ihren Gesundheitszustand verwickeln; ich aber sagte, sie möge das alles ihrem Arzt in der Sprechstunde mitteilen. Da war sie denn auch zufrieden.
Ein Hilfsbriefträger erschien. Er übergab Eva einen Brief. Den Brief hatte die Reichspost mit der richtigen Adresse im Rathaus abgegeben. Dort war der Brief in einen neuen Umschlag gesteckt und mit »Hanne – Forellenhof« adressiert worden. So hatte ihn der Hilfsbriefträger überbracht. Er blieb nach dieser Amtshandlung wartend stehen.
»Nanu, Briefträger«, sagte Methusalem, »Sie warten wohl auf 'n Trinkgeld? Sie wissen doch, dass wir alle in diesen gesegneten Landen nicht 'n roten Heller in der Tasche haben.«
»Eine Zigarre möcht ich gern«, sagte der Briefträger.
»Gibt's nicht«, schimpfte Barthel aus der Haustür heraus. »Drei Stück sull a bloß am Tage roochen, und die kriegt a ooch täglich geliefert. Nu is a extra Briefträger geworden, dass a in a Höfen um Tabak rumschnorr'n kann.«
Der Briefträger (er war im Zivilleben Fabrikbesitzer im westfälischen Industriebezirk) machte einen niedergeschlagenen Eindruck.
»Drei Stück so leichte Zigarrchen ist ja nichts für einen, der ein starker Raucher gewesen ist«, sagte er.
»Die drei Dingerchen hole ich mir früh um sieben ab und verrauch sie alle drei nach dem Frühstück. Und dann habe ich den ganzen Tag nichts.«
»Trösten Sie sich«, sagte Barthel grob, »vielleicht werden Sie ooch noch gescheidt um 'n Kopp!«
Nur die dicke Cenzi war mitleidig. Sie hatte sich eben eine Zigarette angesteckt und sagte:
»Briefträger, ich krieg bloß zwei Stück am Tag. Aber Sie dürfen einmal dran ziehen.«
Sie steckte dem Briefträger ihre Zigarette in den Mund, und der sog sich gierig daran fest, blies den Rauch durch die Nase, sog so fest, dass er binnen Sekunden die ganze Zigarette aufgefressen hätte, wenn Cenzi sie ihm nicht entrissen hätte.
»Den lass ich nie wieder ziehen!« sagte sie empört.
Eva hielt ihren Brief in der Hand. Sie war ein wenig unruhig geworden.
»Er ist von meinem Vater«, sagte sie leise zu mir.
»Begleiten Sie mich bis zum Tor!«
»Also«, fuhr sie fort, während wir langsam gingen und sie sich auf mich stützte, »hat er meinen Aufenthaltsort erfahren. Ich mag den Brief jetzt nicht lesen. Ich weiß, dass er nichts Erfreuliches enthält, und ich will mir den schönen Abend nicht verderben.«
So war der alte Streit zwischen Waltersburg und Neustadt in einer ganz neuen Form wieder ausgebrochen. Die Tochter des Konkurrenten war bei uns zur Kur, und der Vater protestierte. Anders konnte es nicht sein.
»Es wäre sehr, sehr schade, wenn Sie unser Heim verlassen müssten«, sagte ich und fühlte, dass eine heiße Angst in mir aufstieg.
Sie sah finster zu Boden.
Dann riss sie den Brief auf.
»Ich will nicht feig sein!«
Sie las – las – staunte. Dann reichte sie mir den Brief.
»Oh! Das hätte ich nicht gedacht! Lesen Sie!«
»Liebes Kind! Es ist ja nicht nett von Dir, dass Du hinter meinem Rücken ins Lager unseres sogenannten Feindes übergegangen bist. Aber die Sache kann sich noch gut zurechtschieben. Die Neustädter, deren ganzer Sache ich auf die Beine geholfen habe, machen mir schon seit langem das Leben sauer und möchten mich nach und nach übrig machen. Nun erhielt ich gestern von Mister Stefenson aus Amerika einen Brief, in dem er mich anfragt, ob ich geneigt sei, den Bau der noch fehlenden zwanzig Höfe in der Waltersburger Kuranstalt zu übernehmen und auch fernerhin die baulichen Unternehmungen dort zu leiten. In diesem Falle möge ich mit der Waltersburger Direktion, die verständigt sei, in Verbindung treten. Ich bin nach Lage der Verhältnisse gar nicht abgeneigt, der Sache näherzutreten, und freue mich jetzt, dass Du bereits Dein Interesse für das jedenfalls sehr aussichtsreiche Waltersburger Unternehmen bekundet hast. In den nächsten Tagen werden wir uns sehen.«
Ich gab Eva den Brief zurück.
»Sie werden nicht glauben, dass ich eine Ahnung von diesen geschäftlichen Dingen gehabt habe«, sagte sie ängstlich.
»Gewiss nicht; ich habe selbst auch davon nichts gewusst.«
Ihre Stirn war finster.
»Es ist schwer für mich, das zu sagen – aber Sie sollen mich nicht falsch beurteilen; es gefällt mir nicht von meinem Vater, dass er von den Neustädtern zu den Waltersburgern übergeht. Er hätte drüben Stange halten müssen – jetzt erst recht!«
»Braves, liebes Mädel!« dachte ich; doch ich sagte, um sie zu beruhigen:
»Sie sind ja auch zu uns gekommen!«
»Das ist etwas anderes. Ich bin nicht Eva Bunkert, ich bin Hanne vom Forellenhof. Ich schade den Neustädtern nichts. Aber mein Vater – der Gründer von allem! Wenn der übertritt!«
»Fräulein Eva, Ihr Vater ist wohl längst da drüben nicht mehr ganz mit dem Herzen dabei. Seine ursprünglichen Waldheime sind dem öden Hotelbetrieb gewichen. Ich glaube, er mag darunter gelitten haben. Kaltherziger Geschäftskonzern spricht allein in Neustadt. Wenn sich nun Ihrem Vater ein Feld neuer Tätigkeit bietet, das ihn mehr befriedigt, ist es recht von ihm, wenn er zusagt.«
»Sie sind ein lieber Mensch«, sagte sie dankbar, und meine Augen flammten auf, und auf einen Augenblick war es mir, als flöge meine Seele einem seligen Lande zu. Das Herz stockte, der Atem setzte auf Sekunden aus, ein seliger Taumel fasste mich ...
Draußen an der Tür erhob sich ein Singen:
»Abend wird es wieder;
Über Wald und Feld
Säuselt Frieden nieder,
Und es ruht die Welt.«
Das alte Abendlied wurde von vierstimmigem Chor gesungen. Da öffnete der lange Ignaz das Tor. Er hatte in der Nische gelehnt, und ich hatte ihn vorher gar nicht gesehen. Vielleicht hatte er alles gehört, was wir gesprochen hatten. Jetzt blickte er mich mit finsterem Gesicht an. Aber ich beachtete ihn gar nicht. Ich sah auf die Sänger, die durchs Tor zogen. Sensen und Rechen trugen sie über die Schultern, alle mit Feldblumen geschmückt, voran schritt Emmerich, der Chormeister, mit einem mit Kornblumen geschmückten Taktstock:
»Nur der Bach ergießet
Sich am Felsen dort,
Und er braust und fließet
Immer, immerfort.
So in deinem Streben
Bist, mein Herz, auch du,
Gott nur kann dir geben
Wahre Abendruh!«
Als letzte in der Reihe kamen die kleine Luise und eine Frau, die das Kind an der Hand führte. Diese Frau war wohl noch jung; sie war von hoher, schöner Figur. Das Gesicht konnte ich nicht sehen, weil das bunte Kopftuch, das sie trug, weit vorgeschoben war. Luise, die jetzt sehr häufig auf dem Forellenhofe war, schmiegte sich dicht an ihre Begleiterin.
»Wie heißt die Frau, mit der Luise geht?« fragte ich Eva.
»Sie nennt sich Magdalena, ist sehr still und bleibt fast immer für sich allein. Aber das Kind hängt an ihr.«
Behutsam zog ich mein Notizbuch. Dort hatte ich die Kurgäste des Forellenhofes verzeichnet.
»Magdalena ..., geschiedene Frau Kaufmann Agnes Blassing aus Aachen, behandelnder Arzt Dr. Michael«, stand dort verzeichnet.
Das Abendlied verklang; die Leute zerstreuten sich an der Brunnenröhre oder am Bach; die meisten aber zogen doch vor, ihre Abendtoilette auf dem Zimmer zu besorgen.
Draußen auf der Straße knarrte noch ein Wagen. Trotzdem schloss der lange Ignaz das Tor. Das war eine neue Heimtücke von ihm; denn vor dem Tor stand Piesecke mit einem Fuder Klee und wusste nicht, wie er es anstellen solle, die Zügel der Pferde, von denen eines sehr unruhig war, nicht loszulassen und doch an das Tor zu klopfen.
So schrie er: »Es ist zu! Es ist zu! Bitte, machen Sie gefälligst auf!« und es klang wie ein jammernder Hilferuf. Die Leute, die noch im Hofe waren, lachten, und niemand dachte daran, Piesecke in seiner Not beizustehen. Da eilte die kleine braune Anneliese über den Hof und versuchte das schwere Tor zu öffnen. Ich half ihr dabei, und ich sah zum erstenmal, wie reizend dieses Mädchen war. Wie eine süße, junge, rote Rose! Ihre Sternenaugen grüßten mich wieder so freundlich, und ich glaubte, zu ihrem Herzen würde ich den Weg wohl leichter finden als zum Herzen dieser stolzen Eva. Und sah doch wieder zu dieser Eva hin.
Nun sollte zur Abendmahlzeit gerufen werden. In anderen Höfen geschah das durch eine Glocke. Hier im Forellenhof trat Emmerich mit seiner Leibgarde auf. Vier Mann, zwei mit Becken, einer mit einer Trommel, einer mit einer Pauke. Dieser Tischruf war so gewaltig, dass die Leute drunten in Waltersburg wussten, wann im Forellenhof gegessen wurde. Damit aber auch der lyrische Teil dieser Emmerichschen Kunstleistung nicht fehle, wurde ein Kanon gesungen, den Emmerich gedichtet und komponiert hatte:
»Lobt den Herrn, hat's zu bedeuten,
Wenn zur Ruh die Glocken läuten,
Doch dabei nicht zu vergessen,
Kommt zum Essen! Kommt! Kommt!«
Die vier Sänger sangen diesen Kanon mit tiefem Gefühl. Bald sammelten sich die Abendgäste an der großen Tafel im Garten. Emil Barthel saß an der Spitze und präsidierte. Es gab Bratkartoffeln, Milch, Weißkäse, Butter und Brot, grünen Salat, frische Kirschen und Haselnüsse. Dieses Abend-»Menu« habe ich glatt von Lahmann im »Weißen Hirsch« übernommen, weil es kein besseres gibt.
Piesecke behauptete, wenn er Milch, Kirschen, grünen Kopfsalat und Weißkäse zusammen äße, bekäme er auch zusammen die Ruhr, den Typhus und die Cholera. Er war deshalb mit noch einem anderen Kurgast an einen Extratisch gesetzt und bekam besondere Kost. Nach vierzehn Tagen, als Piesecke sah, dass die Gäste am »Normaltisch« sich sehr wohl fühlten, wurde er seiner Einsamkeit überdrüssig und verlangte zu den anderen.
Ich aß an diesem Abend mit im Forellenhof, und ich hatte große Freude, zu sehen, wie herrlich es den Leuten schmeckte. Auch die Tischgespräche, die geführt wurden, gefielen mir. Weit weg war alles gespreizte, verlogene Getue, weit weg aller Phrasenklüngel, alles ästhetisierende Jongleurtum, alle pseudophilosophische Geistreichelei, jede auch noch so versteckte Prahlerei mit wirklichen oder vermeintlichen Werten aus dem früheren Leben.
Der dicke Franzel erzählte dem dürren Heinrich (einem Zoologen aus München), dass er drei Maulwürfe erlegt habe, worauf Heinrich entrüstet erklärte, das sei eine ungeheure Dummheit, da der Maulwurf als Insektenvertilger und nachweislicher Nichtpflanzenfresser niemals ein Würzelchen der Wiese, dagegen aber täglich so viel schädliche Engerlinge verspeise, wie er selbst schwer sei. Vater Barthel, zum Schiedsrichter angerufen, entschied: »Den Büchern nach ist der Maulwurf sehr nützlich, aber dem Bauernverstande nach schlagen wir ihn tot. Von wegen seiner Haufen!« Heinrich zuckte die Schultern und sagte, es werde wohl auch in diesen finsteren Aberglauben noch einmal Licht kommen. Vom Ausroden zweier Weiden erzählte einer, vom Pflanzen von Sellerie ein Mädchen, von der Aussaat von Winterrettich und Wirsing eine andere. Die meisten sprachen von der lustigen Heuernte, von dem rotblühenden Kleefeld oder von dem Wiesenwässerlein, über das eine neue schmale Brücke mit einem birkenen Geländer gelegt worden war. Bäuerliche Themen, manchmal mehr altklug behandelt, wie Kinder schwätzen, als wirklich erfahren, wie Vater Barthel war, der aber sehr wohlwollend alles anhörte. Weil es an St. Barnabas geregnet habe, erklärte ein Rheinländer, würden die Trauben dieses Jahr von selbst ins Fass schwimmen, und wie das Wetter am Johannistag sei, so würde es bis Michaeli sein, behauptete ein anderer. Ich sah mir die Leute an, die so sprachen. Sie gehörten alle zu den gebildeten Schichten der Bevölkerung. Würden sie je in ihrem eigenen Leben solche Unterhaltung führen, so wären sie Sonderlinge, als komische Käuze, vielleicht als albern gebrandmarkt. Hier wären sie lächerlich, wenn sie von hoher Politik, von gesellschaftlichen Ereignissen und Beziehungen, von künstlerischen oder philosophischen Streitfragen zu reden begännen.
Diese Leute haben wirklich alle Ferien vom Ich gemacht. Und ich sehe, dass ich meine Idee nicht bis in die Einzelheiten selber auszudenken brauche; hier dichten alle mit an dem großen Sturmlied, das wir gegen den Jammer unseres modernen Lebens anstimmen wollen; hier hilft jeder bauen an der Brücke, die über den Strudel der Zeit zu dem stillen Eiland des Friedens führt, hier stützt einer den andern. Betrachtet den Soldaten, der schwer beladen sein junges Leben in täglich vielstündigem mühseligem Marsch gegen die Feuerschlünde der Feinde schleppt – er würde auf seiner furchtbaren Reise erlahmen, liegenbleiben, verzweifeln nach der dritten oder vierten Stunde, wenn er allein wäre. Aber der Rhythmus der Masse hält seine Glieder im Gang; am klingenden Bewusstsein der Gegenwart von tausend anderen hält er sich aufrecht.
So ist es hier auch. Nimm den einzelnen Kulturmenschen, setze ihn in eine Bauernstube, heiße ihn leben und arbeiten, wie es ein Bauer tut, und das Heimweh packt ihn am achten Tage und treibt ihn davon. Mit Hunderten, ja mit Tausenden seinesgleichen aber ist er glücklich, legt er alle Tage Strecken auf dem Wege der Gesundheit zurück, deren er sonst nie fähig wäre, kommt er trotz aller Anfeindung durch sein bequemes, verzärteltes, tyrannisches Ich zum Siege.