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»Ein Mann ohne Tagebuch (er habe es nun in den Kopf oder auf Papier geschrieben) ist, was ein Weib ohne Spiegel. Dieses hört auf Weib zu sein, wenn es nicht mehr zu gefallen strebt und seine Anmut vernachlässigt; es wird seiner Bestimmung gegenüber dem Manne untreu. Jener hört auf, ein Mann zu sein, wenn er sich selbst nicht mehr beobachtet und Erholung und Nahrung immer außer sich sucht. Er verliert seine Haltung, seine Festigkeit, seinen Charakter, und wenn er seine geistige Selbständigkeit dahin gibt, so wird er ein Tropf. Diese Selbständigkeit kann aber nur bewahrt werden durch stetes Nachdenken über sich selbst, und geschieht am besten durch ein Tagebuch. Auch gewährt die Unterhaltung desselben die genußvollsten Stunden.«
Diese Worte habe ich vor fünf Jahren, im Heumonat 1838, in meinem neunzehnten Jahre, niedergeschrieben, ohne daß ich bis jetzt irgend einmal ein Tagebuch angefangen hätte. Ich denke aber, es geht mir nicht allein so, und ich habe schon oft geahnt und an mir selbst erfahren (ich müßte denn eine tüchtige Abnormität sein), ich habe schon oft bemerkt, sage ich, daß in der Welt sehr viel Schönes, Wahres, sehr gründlich und solid Scheinendes, dem, der es sagt, zur Ehre Gereichendes gesprochen, geschrieben und behauptet wird, ohne daß es dem Autor im mindesten in den Sinn käme, das mit so viel Energie Geäußerte auf sich selbst anzuwenden oder auszuüben.
So ist es mir nun auch mit meinem Tagebuch gegangen, und ich habe die so lehrreiche Zeit meines ersten Ausfluges in die Welt, die drei Jahre, welche ich in München zubrachte, samt allen Eindrücken, die ich dort empfangen, das heitere, schöne Künstlerleben, die bangen sorgenvollen Tage, die ich erlebt, und sonst noch so vieles, was mein Gemüt lebhaft ergriffen; die Rückkehr und Flucht ins mütterliche Haus: das alles habe ich handelnd und leidend an mir vorbeiziehen lassen, ohne eine Silbe darüber niederzuschreiben.
Ich habe mir zwar das ganze Bild in seinen Umrissen und mit seinen Lokalfarben ziemlich treu bewahrt, und wenn ich einst aus mir selbst heraustreten und, als ein zweites Ich, mein ursprüngliches eignes Ich in seinem Herzkämmerlein aufstören und betrachten, wenn ich meine Jugendgeschichte schreiben wollte, so würde mir dies, ungeachtet ich bis jetzt nie ein Tagebuch führte, und nur früher, vor bereits sechs Jahren, dann und wann, aber sehr selten, einzelne abgerissene Vorgänge der Außen- und Innenwelt aufzeichnete, dennoch ziemlich gelingen. Aber wie viele, viele Gedanken und Ideen, wie sie Sonne und Mond uns bringen, gingen mir nicht verloren? Wie viele Erfahrungen und Erlebnisse hatten keinen oder nur wenigen Nutzen für mich, weil ich sie mir nicht genugsam einprägte?
Wie viele poetische Motive und künstlerische Erscheinungen gingen wie Traumbilder, auf die man sich beim Erwachen nicht mehr besinnen kann, an mir vorüber? Und wie viel reizende und bedeutungsvolle Geschichten, Vorfälle und Anekdoten verweben sich dem sinnigen Menschen in sein tägliches Leben, aus denen er oft die schönsten Geistesblumen ziehen könnte, und die meistens spurlos verloren gehen, wenn er nicht einen gehaltvollen Briefwechsel oder ein Tagebuch führt!
Der Hauptgrund aber, der mich zur Führung eines solchen trieb, liegt in der Beschäftigung an sich selber, die sie mir verleiht. Das Tagebuch wird mir ein Asyl sein für jene grauen, hoffnungslosen Tage, die mir oft in stumpfem Nichtstun vorübergehen und spurlos in die dämmernde Vergangenheit verschwinden. Es sind dies die Tage, welche man, gehemmt durch äußere, widerliche, oft miserabel kleinliche Umstände, oder durch innere Erschöpftheit, Rat- und Mutlosigkeit dahinbrütet, ohne einen frischen Entschluß zur Arbeit fassen zu können. Ich weiß wohl, es gibt Leute, welche diese Tage nicht kennen; sondern jahraus jahrein, vom Morgen bis Abend, arbeiten können; ich meine hier nicht die Handarbeiter, sondern die Geisteshandlanger, die glücklichen Wesen, welchen materiell kein Augenblick verloren geht, den sie nicht benutzen können, wie man Nadel und Zwirn, Waschwasser u. dgl. benutzt, welche mit der unerträglichsten, selbstzufriedenen Emsigkeit die Werkel- und Schmutztage hindurch fuseln und schlampen und am Sonntage mit fetter Behaglichkeit nichts tun, nichts denken, nichts sehen; sondern ihren Gänsebraten verzehren und mit Weib und Kind hinausschlendern, nicht um Wald und Au zu sehen, vielmehr um Basen und Gevattern anzutreffen, und den feinen, wohl konservierten Sonntagsrock zu lüften; welche nur sprechen: Heute ist Feiertag! und sich dann vor allem Denken so wohl verwahren können, wie man sich vor dem Sonnenscheine schützt, indem man nur in den Schatten tritt. Glücklich sind diese Leute, und ich bin geneigt zu glauben, daß diese Behaglichkeit, verbunden mit einem geregelten, ersprießlichen Fleiße, mit den spätern Jahren auch feurigern und kräftigen Naturen, wenn sie lange genug gelitten und gekämpft haben, zuteil werden könne. Denn jeder Mensch wird am Ende Philister, nur mit dem Unterschiede, daß es der eine innerlich, der andere äußerlich, der dritte aber traurigerweise total wird.
Ich aber bin noch nicht, noch lange nicht so weit, daß alle meine Entwürfe, oder nur der kleinere Teil derselben, so gediegen, klar und unabänderlich wären, daß nicht Tage, ja Wochen und Monate der Unterbrechung und der Niedergeschlagenheit kämen, wo nichts ans Sonnenlicht dringen will in freudiger Klarheit. Es gibt Zeiten, wo man, geschweige einen warmen Menschen, nicht einmal ein warmes, lebendiges Buch zur Hand hat, an dem man sich bereichern und erquicken könnte. In diesen Zeiten soll das Tagebuch mein Trost sein! Wenn ich einen lieben langen Tag nichts Bleibendes getan habe, so will ich wenigstens dies hineinschreiben, und dann wird das Buch mir entweder einige Gedanken geben, oder einige entlocken, so daß doch etwas, daß doch einige Worte zurückbleiben von der luftigen Blase, der Zeit.
Aber nicht bloß in Tagen der Mutlosigkeit – nein! auch in Tagen der festlichen, rauschenden Freude will ich stille Momente verweilen und ausruhen im traulichen Schmollwinkel meines Tagesbuches. Ich will die schönsten Blüten erlebter Freude hineinlegen, wie die Kinder Rosen- und Tulpenblätter in ihre Gebetbücher legen; und wie sie sich dann in späteren Jahren wehmütig erfreuen, wann ihnen so ein verblichnes Blumenblatt in einem alten Buche zufällig wieder in die Hände fällt: so will ich mich in meinen letzten Erdentagen erfreuen an den Bildern entschwundener Freuden. Wann dann zwischen dreihundertfünfundsechzig Regentagen des Leidens nur ein Sonnentag der heiteren Freude und des Mutes hervorlacht, so will ich alle jene Regentage vergessen und mein dankbares Auge nur auf diesen sonnigen Freudentag heften und den Herren preisen, daß er mir wenigstens diesen gegeben hat. Wann ein junger Mensch in die Fremde hinauszieht, so gibt man ihm ein Wanderbuch mit, durch dessen Blätter alle sich eine gefärbte Schnur schlingt, die auf dem letzten Blatte mit einem Siegel befestiget ist. Dies Tagebuch soll mein Wanderbuch sein, das ich bei jeder neuen Station meines Lebens meinem höchsten Tribunale, dem Gewissen, vorweisen werde, und der grüne Faden, der dasselbe durchzieht, ist die Hoffnung, und das Siegel, das diesen grünen Faden abschließt, ist der Tod mit dem Bildnis der Ewigkeit. Ich werde vertrauend hoffen und immer hoffen, bis meine Augen brechen; und wann dann die Menschen mich auslachen und sagen werden: «Siehe, du hast umsonst gehofft, du stirbst arm und verlassen, wie du geboren wurdest», so werde ich zu ihnen sagen: «Ihr Toren! jetzt geht die Hoffnung erst recht an!»
Dann soll man mein Wanderbuch mir in den Sarg geben und unter mein Haupt legen, daß es darauf ruhe. Das Papier und das Irdische, Schwere darauf wird mit meinem Leibe verwesen; das Bessere aber wird mit dem Geiste hinaufschweben, wo das neue, hellere Leben beginnt. Werden dann nicht die Erfahrungen und Ahnungen dieses Lebens, geläutert und gereinigt in dem verborgnen Feuer des Grabes, unser neues und schöneres Gewand bilden, in welchem wir die ewige Reise unseres Seins fortsetzen?!