Gottfried Keller
Das Tagebuch und das Traumbuch
Gottfried Keller

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15. September 1847

Heute nacht besuchte ich im Traum meine Mutter und fand eine große Riesenschlange auf dem Tabouret zusammengeringelt liegen, wie früher unsere rote Katze, welche gestorben ist. Die Schlange bildete eine ordentliche Pyramide auf dem kleinen Stühlchen, auf dem obersten engsten Ringe lag der kleine Kopf, und neben ihm ragte das spitzige Schwanzende empor, welches aus dem hohlen Innern des Turmes vom untersten Ringe her aufstieg. Da ich erschrak, so versicherte meine Mutter, es sei ein ordentliches gutes Haustier, und sie weckte dasselbe. Wirklich entwickelte sich die Schlange sehr gemütlich, gähnte und reckte sich nach allen Seiten, wobei sie die schönsten Farben schimmern ließ. Dann spazierte sie in hohen Wellenbewegungen in der Stube umher, über den Schreibtisch und über den Ofen hin, stellte sich auf den Schwanz und fuhr mit dem Kopfe, da sie sich bei weitem nicht ganz aufrichten konnte, rings an der Stubendecke umher, als ob sie Raum suche. Dann folgte sie der Mutter in die Küche und auf den Estrich, wo sie hinging. Auch ich tat bald vertraut mit dem Tier und rief es gebieterisch beim Namen, den ich vergessen habe. Plötzlich aber hing die Schlange tot und starr über den Ofen herunter und nun fürchteten wir sie erst entsetzlich und flohen aus der Stube. Da wurde sie wieder munter, putzte sich, lachte und sagte: »So ist es mit euch Leutchen! Man muß immer tot scheinen, wenn man von euch respektiert werden soll.« Wir lachten auch, spielten mit ihr und streichelten sie. Da stellte sie sich wieder tot, sogleich wichen wir entsetzt zurück; sie machte sich wieder lebendig und wir näherten uns wieder, sie erstarrte nochmals und wir sprangen immer wieder fort. So trieb sie das Spiel, während ich mich in andere Träume verlor, die sehr schön waren; denn es reut mich sehr, daß ich alles vergessen habe. Ich glaube, ich träumte von der Winterthurerin, weil mich immer noch eine Sehnsucht treibt, diese Träume auszugrübeln, aber es ist vergebens. Man sollte sich während besonderer Träume bestimmte Kennzeichen machen können. Dies erinnert mich an einen Traum, den ich vor einigen Jahren hatte, wo ich, von schrecklichen Bildern gequält und gepreßt, mich kurz und gut entschloß, mich an der Nase zu zupfen, damit ich erwache. Dies geschah auch und ich fühlte beim Erwachen noch deutlich den Druck des Daums und Zeigefingers an meiner Nase. Als ich diesen lustigen Vorfall erzählte, machten die Leute ungläubige Gesichter, obgleich ich durch ihre eigenen Erzählungen ähnlicher Träume dazu veranlaßt war. Sie stießen sich auch nicht am Sonderbaren, sondern nur am Zutreffenden und Passenden dessen, was ich zum Gespräche und Stoff desselben beitrug. Weil viele Schwätzer die Gewohnheit haben, von jeder Sorte von Erfahrungen und Merkwürdigkeiten, die gerade verhandelt werden, auch eine noch auffallendere besitzen zu wollen, so schienen die Leute mich auch in diese Klasse zu stellen. Aber da mir sonst immer der Vorwurf der Einsilbigkeit und mürrischen Wesens gemacht wird, bewies mir dies nur wieder die beleidigende Gedankenlosigkeit der meisten Leute. Auch dem Schulz werde ich beim Frühstücke keine Träume mehr erzählen, weil er den Verdacht aussprach, daß ich dieselben vorweg ersinne und erfinde. Er kennt nur die einfachsten Träume als: heut träumte ich von einem Sarg, oder von Rauten, oder: ich fing Fische, oder: ich sah einem die Nägel abschneiden usf. Weil er keine Phantasie hat, welche auch im Schlafe schafft und wirtschaftet, so hält er einen wohlorganisierten Traum, der einen ordentlichen Verlauf und schöne künstlerische Anschauungen hat, für unmöglich. So geht es! Der gute Schulz kann mit mir darüber zanken, daß ich in religiösen Dingen noch weniger Glauben haben will, als er, er kann sich sogar im Eifer in dogmatische Redensarten verirren: aber das Nächste und Einfachste, an einen schönen Traum glaubt er nicht, weil er ihm anspruchslos beim Frühstück erzählt wird und nur drei Schritte von ihm geträumt worden sein soll, vielleicht auch, weil sich keinerlei Bedeutung daraus ergibt, wenigstens für ihn nicht; denn in diesem Punkt ist er sehr gläubig und verlangt unsere Aufmerksamkeit für die abgeschmacktesten Dinge, welche er behauptet. Es ist doch sonderbar, wie auch der vortrefflichste Mensch solche Eigenschaften haben muß, gleich einem stolz segelnden Schiffe, welches Ballast braucht, um zu seiner guten Fahrt gehörig schwer zu sein.

Was habe ich für Ballast! – – o weh mir armen Treckschuite! eigentliche Kalkblöcke, die noch so greulich brausen, wenn das Meerwasser hereindringt! Als mein Lebensschiff aus Ostindien zurückging, nachdem es seine Ladung abgegeben, wurden ihm als Ballast ausgestopfte Krokodile und wüste Seetiere, Tiger und Hyänen mitgegeben für die Raritätensammlung in Europa, um wenigstens einigen Nutzen mit der Fracht zu verbinden. Schwere Kisten voll wunderlicher Schnecken und Muscheln und Stachelpflanzen pfropfte man in die tiefen Räume und als man das Schiff immer noch zu leicht befand, nahm man noch eine Truppe sündhafter nackter Bajaderen in die Kajüte, welche nach Paris bestimmt waren! Aber es fällt mir ein, daß es ein schlechter Spaß ist, mit seinen schlimmen Eigenschaften und Fehlern und gar mit seinen Sünden zu kokettieren; denn es ist kokettiert, wenn man witzige Bilder braucht, um sie zu bezeichnen, und vor einer höheren Einsicht verschwinden diese Seifenblasen der Phantasie. Nur eins noch! Es könnte viel Kummer und Verdruß verhütet werden, wenn jeder Mensch sich dreimal besänne, ehe er gute Ladungsstücke eines andern für Ballast und diesen letzteren als gute Fracht erklärt. Wenn man sich selbst ein wenig auf die Eisen geht, so kann man entdecken und muß gestehen, daß man sich vieler Dinge eigentlich zu schämen hat, welche an einem gelobt werden und umgekehrt. Das erstere tut unserer elenden Eitelkeit freilich nicht so weh, wie das letztere. Ich weiß nicht, welches empfindlicher ist: um gewisser Eigenschaften willen, die gerade nicht jedermann hat und daher für originell gelten, nichtsdestoweniger aber Schwachheiten sind, auf die zudringlichste Weise immer hervorgezogen und ausgezeichnet, oder um einiger Schroffheiten und Unebenheiten willen, die einem guten und löblichen Boden entspringen, immer getadelt zu werden.

Studiere dich selbst, jetzt und immer, deine Vergangenheit und Gegenwart, vergleiche deine strengen Betrachtungen mit dem, was andere, Freunde und Feinde, von dir halten, und du wirst zu zweierlei Resultaten kommen: entweder wirst du milder und friedlicher und umgänglicher – oder feiner und strenger und gewinnst an Stärke über die Gedankenlosen, je nach deinem Grundcharakter, in beiden Fällen aber wirst du, wie mich dünkt, nur gewinnen.


Ich schlenderte heute vormittag über den Fischmarkt. Weber, der Kupferstecher, lief mir nach und forderte mich auf, einen Frühtrunk zu nehmen. Ich hatte ihn vor vielen Wochen einmal in einer Kneipe, als wir in später Nacht ziemlich warm waren, verhöhnt, daß er immer sauren Wein söffe, was ihn fürchterlich aufbrachte, so daß wir uns ziemlich laut zankten beim Nachhausegehen und er mir endlich einen Stoß gab, daß ich auf den Hintern purzelte, worauf ich wütend auf- und ihm an den Kragen sprang. Die Freunde fuhren zwischen uns, die Polizeier und Nachtwächter umringten uns – kaum aber hatte mich einer dieser letzteren erkannt, so schrie er seinen Gesellen zu: »Fort mit uns! Das ist einer von den ›Freien Stimmen‹. Da werden wir in dem Saublatt herumgezogen!« Worauf sie sämtlich sich zurückzogen und uns ungeschoren ließen. Ich bin nämlich stark verdächtigt, Mitarbeiter jenes Spott- und Schmähblattes zu sein, was mich nicht sehr freut. Diesmal aber rettete uns dieser Verdacht; da die konservativen Spießer von Zürich, vom Patrizier bis zum Nachtwächter, nichts so fürchten, wie die Öffentlichkeit, rettete uns dieser Verdacht vor unwürdigen Polizeiaffären, worein uns unsere Torheit, die wir schon lange abgelegt glaubten, zu verwickeln drohte.

Weber kam mir heute versöhnlich lachend entgegen, ich hatte ihn seither nicht mehr gesehen. Er erzählte mir von einem Weinschenk, welcher, kürzlich aus Neapel zurückgekehrt, ein Faß Sizilianer Wein mitgebracht hätte, welches er wohlfeil verzapfe. Wir gingen hin und fanden einen aufgeweckten Mann, der als Mechanikus im Süden hantiert hatte. Alle Wände hingen voll greller Gouachebilder, der speiende Vesuv glühte wohl in zwölf verschiedenen Variationen, dazwischen Palermo, Sorrent, Salerno, Capri, Amalfi, Messina, Catanea, kurz alle lieben Namen und Orte von hüben und drüben, diesseits und jenseits der Meerenge bunt durcheinander, übertrieben und bunt, aber sonnig gefärbt. Dazu schleppte der Wirt einen alten Hut voll Laven, Bimsstein und Tropfsteinbrocken her; alle diese hundertmal gelesenen, besprochenen und geahnten Dinge, so naiv und abgelegen sie hier erschienen, machten doch in Verbindung mit dem südlichen ahnungsvollen und sehnsuchtweckenden Weine ihren gehörigen Eindruck. Der Wein erwies sich indessen als zu schwer und ungeheuerlich, ich dachte auch an jene südlichen Weiber, an die Hitze, an die Skorpionen, so daß sich mit dem Sprichwort: Bleib im Land und nähre dich redlich, in mein Herz das Verlangen nach einem feinen heimischen Liebesglücke in bestimmtester nobelster Form einschlich.

Weber fing an von meinem Freunde Ruff, dem anderen Kupferstecher, zu sprechen, mit dem ich seit mehreren Wochen auf unerklärliche Weise erkältet bin. Weber ist genial liederlich, unzuverlässig und unstät – Ruff ist talentvoll, geistreich, gewissenhaft, fleissig und vorsichtig. Beide kommen zu nichts. Aber Ruff bringt sich ehrenvoll durch die Welt, lebt mit ihr, äußerlich, im Frieden und hat immer sein gutes Glas Wein auf dem Tisch; aber er wagt nicht viel – Weber hingegen übernimmt eine Menge Arbeiten, läßt sich Geld darauf geben und beendigt sie nicht oder spät. Er lebt mit allen Kunstunternehmern in einem ewigen Intrigenkrieg und nennt dies Lebensklugheit und Erfahrung. Er verliert sich in die größten Unregelmäßigkeiten und genießt wenig Achtung, weil er nie bares Geld hat und liederlich aussieht. Ruff bringt auch die undankbarsten Arbeiten immer anständig und mit Geschick zu Ende, Weber schmiert und sudelt und ist höchst ungleich. Nun war es sehr ergötzlich, die Beschwerden Webers anzuhören: Ruff sei ein Tüftler und Rechner und gehe einen falschen Weg. Man müsse heutzutage intrigieren und den Kunsthändlern die Spitze bieten, man müsse in einen gewissen Jargon des Geschäftslebens eingehen, das fleißige Sitzen tue nicht alles – kurz, es war der ganze Zorn eines Zerfahrenen und Zerstreuten gegenüber einem Ruhigen und Bewußten, es war das Brummen und Sträuben des bösen Gewissens, oder milder und richtiger gesagt, des verkommenen Bewußtseins. Da ich merkte, daß der arme Teufel gern die ganze Sache auf Genie usf. hinausgespielt hätte, so half ich ihm, Ruffs Interessen unbeschadet, nach, und gab eine Menge kleiner Züge und Eigentümlichkeiten an, welche ich aus eigener Erfahrung und Beobachtung kenne und die dem Genie, oder wie man es nennen will, ankleben, aber leider ihm mehr schaden, als nützen. Ich konnte als Poet und Büchermensch dies alles natürlich und ziemlich gut vorbringen, so daß der gute Kerl ganz feurig und angenehm überrascht wurde, wie ich alles das so schön sagen könne, was er schon tausendmal gedacht habe. Ich muß leider gestehen, daß ich doch einige wirkliche Fehler Ruffs mit zutage bringen half und kann mich nur damit entschuldigen, daß dieselben just in seinem nörgelnden und überkritischen Wesen bestehen, das sich dann doch wieder inkonsequenterweise mit weniger als nichts begnügt, was nämlich die Gesellschaft betrifft. Übrigens wird die Zukunft lehren, was in diesem sonderbaren Menschen eigentlich steckt, dem ich mich so plötzlich während der letzten zwei Jahre meines Lebens rückhaltlos und durchaus angeschlossen habe, und der mir ebenso schnell zu entschwinden scheint. Sollte er eine Bestie sein, so fahre er zu den Vorfahren; vielleicht aber ist er spröd, verschämt und zu Mißverständnissen geneigt, wie ich. Es ist grauenhaft, wie man so ungewiß werden kann über Menschen, mit denen man jahrelang das Geheimste verhandelt hat.


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