Gottfried Keller
Das Tagebuch und das Traumbuch
Gottfried Keller

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Traumbuch 1846

Nacht vom 5. auf den 6. August 1846

Ich legte mich um elf Uhr etwas unwohl zu Bett und glaubte einiges Fieber zu haben; es war sehr schwül. Kaum war ich eingeschlafen, so weckte mich die Feuerglocke; vom Mondschein und dem geröteten Himmel war die Kammer seltsam erhellt; ich stieg aber zu oberst unter das Dach hinauf, um das Feuer zu sehen. Es war auf dem Lande. In der Gegend der Limmat stieg die rote Rauchsäule feierlich zum Himmel. Die Luft war lau und das Mondlicht fast wie berauschend; von der unmittelbaren Säule hinweg sammelte sich der Rauch in eine horizontale Schicht und trieb wie eine große Streifwolke weit gegen Westen hinaus oder vielleicht gegen Osten her, ich weiß es nicht mehr, wenigstens hing er am westlichen Himmel. Nachdem ich das Zusammenstürzen des Daches, welches sich immer durch ein letztes gewaltiges Auffahren von Rauch und Glut auch in der Ferne bemerklich macht, vergeblich hatte abwarten wollen, ließ ich Feuer und Mondnacht und eilte wieder hinunter ins Bett. Befangen und aufgeregt und unwohler als vorher, fürchtete ich, daß mir die noch immer fortwährende Feuersbrunst in Schlaf und Traum hineinbrennen und eine schlimme Nacht verursachen möchte. Ich hatte gegen Morgen folgenden Traum:

Den 15. September 1847 fortgesetzt, der Traum ist mir noch ganz gegenwärtig.

Ich stand in der Dämmerung auf dem Rathausplatze unter einem jener großen Volkshaufen, die sich zu versammeln pflegen, wenn irgendein Verbrecher auf die nahe Hauptwache geführt wird. Es war schon dunkel, als langsam ein Wagen durch das Gedränge gefahren kam, auf welchem eine unkenntliche schlanke Weibsperson saß, quer auf den Knien lag ihr ein totes Kind, sie aber saß aufrecht und reglos. Da kommt die Kindsmörderin, summte das Volk, in einer halben Stunde wird sie geköpft. Als ich die hohe Gestalt über den Häuptern der Menge dahinschwanken sah, hatte ich, wie ich mich ziemlich bestimmt erinnere, das Gefühl: ich wünschte ihr noch, daß das genossene Liebesglück kein gemeines und so groß gewesen sein möge, als das gegenwärtige Leid, dann sei es schon gut. Es war jetzt ganz Nacht geworden. Eine weiche, weiche Hand faßte die meine. Ein ganz unbekanntes fünfzehnjähriges Mädchen, dessen Augen ich in der Dunkelheit funkeln sah, flüsterte mir ins Ohr: Gottfried Keller, komm, wir wollen zu mir heim gehen! und zog mich geschickt und sachte aus dem Gedränge. Wir gingen durch allerlei dunkle Gäßchen, die ich in Zürich bisher gar nicht gekannt hatte und die auch nicht existieren. Das Mädchen schmiegte sich an mich und war ein unsäglich buseliges und liebliches Wesen, welches mich ungemein behaglich machte; ich verwunderte mich auch nicht, als auf einmal ihrer zwei daraus wurden, deren jede an einer meiner Seiten hing. Sie waren ganz gleich, nur mit dem Unterschiede einer etwas jüngeren und älteren Schwester. Als wir in einem Sackgäßchen angekommen vor einem hohen, schmalen Hause standen, hiessen mich die Kinder leise und behutsam gehen. So stiegen wir viele enge und steile Treppen hinan, jeden Tritt berechnend in der schwarzen Finsternis, sie führten mich an beiden Händen, oftmals hielten wir an, und die guten Mädchen suchten dann mein Gesicht und küßten mich herzlich, aber vorsichtig auf den Mund; sie konnten, wie mich dünkte, die Küsse sehr gut und vollkommen ausprägen, ohne Geräusch zu machen, sie fielen von ihren Lippen, wie neue goldene Denkmünzen auf ein wollenes Tuch, ohne zu klingen. Darum brauchten wir eine lange Zeit, bis wir endlich oben, in einem kleinen Dachkämmerchen, waren. Dasselbe war ganz vom Monde erhellt. Die runden Scheiben der Fensterchen waren auf den Boden gezeichnet. Sogleich zogen wir alle die Schuhe aus, um nicht laut aufzutreten. Man sah aus dem Fenster, vor welchem ein hohes Dach hinabging, über viele Dächer hinweg, unter denen man kaum die Fenster als schwarze Vierecke erkennen konnte; der Mondschein schwamm auf den Dächern, die Stadt war eingeschlafen und still, wir waren auch mäuschenstill, denn die Mädchen sagten, daß viele alte, böse Weiber in den benachbarten Dachkammern wohnten, welche ihnen immer aufpaßten und jede Freude zu verbittern suchten, wenn eine aufwache und uns höre, so seien wir des Todes. Wir saßen an einem kleinen Tischchen zwischen dem Fensterlein und dem Bette, welches mit einem schneeweißen Tuche sehr ordentlich und glatt bedeckt war. Wir durften natürlich kein Licht machen und saßen auch lieber so im Halblichte. Wir aßen und tranken etwas, aber ich weiß nicht mehr was, nur daß wir vergnüglich und leise die blinkenden Gläser aufhuben und wieder absetzten; und wenn etwa eines an einen Teller stieß, so zuckten wir ängstlich zusammen. Als eines der guten Kinder aufstand, das Bettuch abnahm und sehr sorgfältig zusammenlegte und dabei sagte: Wenn wir schläfrig werden, so können wir uns nun gleich aufs Bett legen und rechtschaffen schlafen: da durchfuhr mich ein ganz seliges Gefühl, aber nicht eigentlich sinnlich. Sie setzte sich wieder ans Tischchen und bot mir ihre weißen jungen Schultern zum Liebkosen, da fuhr sie plötzlich zusammen und sagte: Herr Jesus, die Weiber kommen! Halbtot vor Schrecken duckten sich beide fast in mich hinein und ich umfing sie, indem wir alle drei atem- und lautlos aufhorchten. Wirklich hörte ich deutlich, wie jemand über das Dach hinschlarpte, an einem benachbarten Dachfenster anklopfte, wie dort ebenfalls jemand herausstieg auf das Dach, dann sahen wir verschiedene Schatten vor unserm Fenster vorbeihuschen, es war offenbar, die alten Weiber weckten und versammelten sich; die Ziegel rasselten unter ihren schlurfenden Füßen, es kam immer näher über unsern Köpfen, es flüsterte: »Langt nur 'nein, sie haben gewiß einen bei sich!« Ein Ziegel wurde aufgehoben, eine lange, magere Hand langte herein, tappte herum und erwischte meine Haare, welche gen Berg standen, das Blut schien in meinen Adern zu gerinnen, als ich erwachte und tief aufatmete. Der bleibende Eindruck des Traumes war aber ein angenehmer und ich bin froh, daß es so abgebrochen wurde. Dieser Traum hatte mich erquickt für viele Tage, wie wenn ich das artige Abenteuer wirklich erlebt hätte.


 << zurück weiter >>