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X.
Revolten.

Die Betäubung, die über den Goethanen lag, wich nur langsam. Von einem Ausgang überzeugt, der nicht eintraf, – von einem Angriff und einer Drohung erschreckt, die sie nicht verstanden, – von dem doppelten Druck des Urteils und des vulkanisch erregten Landes befreit, saßen sie da und sahen sich verständnislos, mit aufgerissenen Augen an. Dann brach Paracelsus plötzlich in ein ungeheures Gelächter aus. Er lachte keuchend, pfeifend, blaurot im Gesicht, konvulsivisch zuckend. Das Lachen brachte Gunner zum Bewußtsein seiner Lage zurück. Er warf sich der Länge nach auf die Bank und zappelte mit den Beinen. Die Juristen und die Sekretäre standen da und lachten mit offenem Munde und tränenden Augen. Der Dolmetsch bemühte sich um Paracelsus, der nach Luft rang. Gunner sprang über die Bänke der Vormünder bis an die Rückwand des Saales und versetzte der Waage einen Fußtritt. Sie klirrte. Er brüllte vor Lachen. Die Schalen der Waage schwankten, und plötzlich fiel klingend das Schwert herunter, ihm gerade vor die Füße, blank und drohend. Er schrie laut auf und lief wie ein Gehetzter aus dem Saal.

Die Anderen liefen ihm nach. Die Panik lauerte immer noch in allen Winkeln. Sie hatten nur den einen Wunsch: fort von hier! So schnell wie möglich! Man hatte keine Schlitten geschickt, um sie abzuholen. So liefen sie einer hinter dem anderen gleitend und stolpernd den Weg zum Gasthaus hinunter. Es war geschlossen. Vor der Türe standen die Schlitten, und ihr Gepäck lag darauf. Das war die stumme Gebärde, mit der man sie hinauswarf.

Hungrig und durchkältet bestiegen sie die Schlitten. Die Abfahrt vollzog sich schneller als die Auffahrt. Sie war auch milder. Sie hatten den Wind im Rücken. Sonne lag über den kleinen Seen, von denen sie in der Nacht nichts vermutet hatten. Es war, als freue sich das Land, von ihnen befreit zu werden.

Sie waren schon auf hoher See, als sie endlich zur Besinnung kamen.

»Jetzt müssen wir mal in Ruhe bedenken« sagte Gunner mit schwacher Stimme, »was zu tun ist. Zunächst mal ein Telegramm an Odoaker: kein urteil gesprochen stop rückkehr morgen stop alles wohl stop trefft vorbereitungen zum empfang.«

Paracelsus lag in einem Deckstuhl ausgestreckt. Die Aufregungen hatten ihm Herzbeschwerden verursacht. Er goß mit zitternden Händen Digitalis-Tropfen in ein Glas. »Ich bin gegen einen Empfang« murrte er. »Genug der Aufregung. Ich möchte nicht, daß man uns fragt: warum ist kein Urteil ergangen?«

»Es ist keines ergangen. Das ist mir genug« beharrte Gunner.

»Sind alle einundsiebenzig Vormünder erschienen oder nicht?«

»Nein!« schrie Gunner. »Nur siebenzig. Zu der Zeit, als das Urteil angesetzt war, sind nur siebenzig erschienen. Warum dieser rotblonde Idiot zu spät gekommen ist, weiß ich nicht. Geht mich auch nichts an.«

»Und warum hat er uns so gedroht?«

»Weiß ich nicht. Geht mich nichts an.«

»Vielleicht« sagte Paracelsus zögernd, »vielleicht ... hat er etwas über ... Labienus erfahren ...«

Gunner sah ihn von der Seite an. »Ja, der Labienus ... Fühlen Sie sich jetzt wohler, wo Sie Ihre Rache an ihm genommen haben?«

»Die Kommission von Goethanien« sagte Paracelsus scharf, »hat sich seiner als Hauptverteidiger bedient. Es könnte die Frage entstehen, warum Herr Gunner dann nicht den Mut gehabt hat, dieses Amt auf sich zu nehmen. Ein bischen Urkundenfälschung allein tut es noch nicht ...«

Gunner zuckte zusammen. Aber er beherrschte sich. »Wir wollen nicht streiten. Wir haben aus der Situation für uns das beste zu machen. Also haben wir zu erklären, warum Labienus nicht mit uns zurückkommt.«

»Tun Sie es bitte« schnappte Paracelsus.

»Gewiß« sagte Gunner ruhig. »Labienus hat sich von der Kommission entfernt, nach dem er mit seinem Plädoyer die Verteidigung Goethaniens in einer Weise gefährdet hat, die einer Sabotage gleichkommt.«

»War das seine Absicht?«

Gunner grinste. »Vielleicht war es nicht die Absicht seines geistigen Schöpfers. Aber vielleicht seine eigene, soweit er überhaupt noch eine hatte. Ich habe es jedenfalls nur mit den äußeren Zusammenhängen zu tun. Nämlich: Woolf flieht nach Demosien, nachdem er die Erfinderkommission auf sein eigenes Vaterland gehetzt hat. Demosien kündigt das Darlehen. Demosien stellt die Lieferungen von Stahl ein. Demosien sendet trotzdem einen speziellen Beamten. Ich schließe daraus, daß alles eine abgekartete Sache war. Und in diesem Sinne werde ich unserem Volke berichten.«

»Was wollen Sie mit solcher Lüge bezwecken?« fragte Paracelsus.

»Das ist keine Lüge. Das ist Propaganda. Und Propaganda ist die Wahrheit der Idee. Ich werde ein zweites Telegramm abschicken: labienus nach versuch die verteidigung zu sabotieren verschwunden.«

Einer der Sekretäre kam zu ihnen heran, besorgt flüsternd. »Wir vermissen Angelika, die Übersetzerin. Ihre Kabine ist leer. Nur Ihr Gepäck ist da. Wissen Sie etwas von ihr?«

Paracelsus war ehrlich besorgt. »Diese sympathische schlanke Blonde? Das ist ja befremdlich. Wir müssen sofort nach Reykjavik telegrafieren. Oder an das Gasthaus oben beim Turm.«

Gunner pfiff leise vor sich hin. »Gewiß müssen wir das« sagte er. »Aber wir wollen keine unnützen Aufregungen verursachen.« Er wandte sich zu dem Sekretär: »Weiß niemand vom Personal etwas über sie? Fragen Sie noch einmal jeden einzelnen ganz genau, ob er irgend etwas weiß. Und geben Sie mir sofort Bescheid.«

Der Sekretär ging. Paracelsus höhnte: »Ein gewisser Gunner als zärtlich besorgter pater familias ... eine überraschend neue Note.«

Gunner zuckte die Achseln. »Ich brauche die Bestätigung, daß niemand etwas von ihr weiß.«

»Und wenn Sie die Bestätigung haben?«

»Dann ist niemand da, der den Tatbestand widerlegen kann, den ich mit meinem geistigen Auge sehe ...«

»Was für ein Auge?« fragte Paracelsus ernsthaft.

Gunner ging nicht darauf ein. »Angelika hat alle Aussicht, nationale Karriere zu machen, das heißt: National-Heldin zu werden.«

»Leicht übertrieben« sagte Paracelsus. »Entweder ist sie verunglückt, vielleicht bei dem vorgestrigen Erdbeben, dann liegt darin kein Verdienst. Oder sie hat sich zu einem der jungen Burschen geschlichen, dann ist sie keine Heldin ... sondern eine begabte Kokotte.«

»Kokotte oder nicht: das ist für den Charakter des Heldischen ganz unwichtig. Immerhin besteht eine Möglichkeit: daß sie sehr bewußt gehandelt hat; daß sie angesichts der Gefahr, in die uns der Labienus gebracht hat, verhindern wollte, daß 71 Vormünder zum Urteilsspruch erscheinen; daß sie sich also deswegen, wie Sie es auszudrücken belieben, zu einem der jungen Burschen geschlichen hat. Dann hätten wir also eine reine Jungfrau vor uns, die ihre Unberührtheit der nationalen Idee opfert, die um den Preis ihrer Jugend einen der Richter daran hindert, rechtzeitig zum Urteilsspruch zu erscheinen. Und dann ...« seine Stimme senkte sich zu dramatischer Trauer, »und dann verschwindet sie spurlos. Vielleicht hat sie sich ein Leid angetan. Für den Heldenmythos ist das übrigens egal. Wir können so eine Art Angelika-Kult einmal gut verwenden.«

Paracelsus streckte sich gelassen in seinem Deckstuhl aus. »Ein solches Maß von Charakterlosigkeit kommt schon einem Charakter gleich« murmelte er und schlief ein.

Er wurde eine Stunde später geweckt. Gunner stand über ihn gebeugt und schüttelte ihn aufgeregt. »Die Telegramme kommen! Die Telegramme von Goethanien!«

»Na und?« fragte Paracelsus verschlafen.

»Mensch, verstehen Sie doch! Das ist der Anfang unseres Triumphes! Sie haben überhaupt noch nicht bedacht, welche Möglichkeiten wir jetzt vor uns haben!«

Paracelsus richtete sich mühsam auf. Er sprach sehr ernst. »Ich wünsche, daß Sie mich mit Ihrem Enthusiasmus ein für alle mal in Ruhe lassen. Ich habe meinen eigenen Enthusiasmus. Er ist rein wissenschaftlich. Er beruht auf den wunderbaren medizinischen Möglichkeiten, die der letzte Weltkrieg uns eröffnet hat. Es ist doch ein Gotteswunder, was man alles ausfindig gemacht hat, um ein beschädigtes Menschen-Exemplar wieder zusammenzustückeln und wieder reif für die Fortsetzung des Kampfes zu machen. So kann man viele Exemplare zweimal gebrauchen, und manche sogar dreimal. Und was kann man, vom Technischen abgesehen, sozusagen psychisch aus ihnen machen! Alles, was man will, wenn man nur seinem chemischem Laboratorium richtig auf die Spur kommt. Der Mensch hat keine Seele. Er hat Drüsen. Er ist weder gut noch böse. Er hat normale oder anormale Sekretionen. Seine Religionen sind infantile Sexualstörungen. Seine Kriege sind Pubertätskrisen. Früher waren sie echt und unverfälscht. Heute sind sie mit Zuckerschaum garniert, das heißt: mit jener nervösen Reizbarkeit des Gehirns, die wir Geistigkeit nennen und die nur verlagerte Mannbarkeitskomplexe sind. Was die Klique um Odoaker tut, ein gewisser Gunner eingeschlossen, sind auch solche Pubertäts-Spielereien. Man könnte sie genau so gut auf etwas ganz anderes lenken. Ich tue bei denen nur mit, weil ich da Menschenmaterial bekomme, Versuchs-Meerschweinchen. Von mir aus könnte es eine Bewegung sein, die den ewigen Frieden auf Erden propagiert, oder die zum Maternat als Grundlage der Gesellschaft zurückkehren will. Nun wissen Sie Bescheid.«

Gunner war blaß vor Wut. Er suchte nach irgend etwas, womit er diese formlose Fleischmasse beleidigen konnte. Er sagte hämisch: »In diesem Falle hätten Sie vielleicht besser daran getan, sich statt an Odoaker an Frau Vesta zu klammern ...«

Paracelsus lehnte sich langsam zurück. Er sagte leise und betont: »Sie sind ein altkluges Kind, Gunner. Solche Kinder pflegen früh zu sterben ...«

Gunner horchte eine Sekunde auf. War das eine Drohung? Mußte man sie ernst nehmen? Aber er wurde abgelenkt durch das Aufdröhnen der Lautsprecher, die auf dem Dache der Funkerkabine aufgestellt waren. Über das Deck hin schmetterten kurze, in militärischem Stil gehaltene Nachrichten. Der Leiter der Regierung kündigte dem Volke die Rückkehr der Kommission an und sprach ihr den Dank der Nation aus. Der Justizminister pries mit gemessenen Worten das Walten der Gerechtigkeit, die der Sache Goethaniens zum Siege verholfen hatte. Dann folgten Anweisungen, daß mit Rücksicht auf die allgemeine Situation von jedem Empfang und jeder Ovation Abstand genommen werde.

Die Mitglieder der Kommission waren enttäuscht. Die Menschen daheim wußten ja nicht, was sie ausgestanden hatten. Sie hätten gerne als Ausgleich dafür ein wenig Feierlichkeit in Empfang genommen. Gunner las ihnen die Enttäuschung vom Gesicht ab. Er war unmäßig vergnügt. Er sagte vertraulich: »Sehen Sie, meine Herren: die alte Art der Propaganda schrieb immer im Detail vor, was geschehen sollte. Morgen um 9 Uhr 15 Minuten wird die Volksseele spontan zu kochen beginnen. Diese Art ist in Verruf gekommen. Die neue Methode arbeitet mit Psychologie. Sie bringt die Menschen nur auf die Spur dessen, was sie eigentlich tun könnten. Sie werden erkennen, welches System besser arbeitet.«

Es stellte sich heraus, daß Gunners System besser arbeitete. Die Nachricht, daß kein offizieller Empfang veranstaltet werde, brachte die Menschen um Odoaker wirklich auf den Gedanken, daß man einen Empfang veranstalten könne, wenn auch nur im kleinen, privaten Rahmen. Es war keine Verabredung, sondern nur eine Addition von gleichen Gedankengängen, daß viele sich entschlossen, doch für alle Fälle gegenwärtig zu sein, wenn der Zug mit den Mitgliedern der Kommission in der Hauptstadt eintraf. Sie hatten kein Programm. Nur dabei sein wollten sie. Und dann geschah, was immer geschieht, wenn viele Menschen bereit sind, das gleiche zu tun: sie hören auf, einzelne Menschen zu sein und werden Masse. Der Einzelne stirbt und es entsteht ein neues Lebewesen. Es sieht nur so aus, als habe es tausend Köpfe. Es hat nur einen Kopf, einen gewaltigen Schädel. Kein Gehirn ist groß genug, diesen Schädel zu füllen. Darum schwimmt darin eine trübe Flüssigkeit, die auf jeden Anstoß hin ihr Niveau verlagert und Wellen wirft und den großen Körper hin und her schleudert, wie kein Gehirn den Körper eines Einzelnen schleudern kann.

Wie die ersten zehn, zwanzig Menschen auf dem Bahnsteig standen, nickten sie sich nur zu, wie bekannte Menschen sich zunicken. Als es fünfzig waren, regte sich schon in allen ein Gefühl der Zufriedenheit, eine Art Sättigungsgefühl, daß so viele Menschen zusammengehörten. Als es hundert waren, entstand schon die Spannung, in der die Körper bereit sind, sich in einen großen Leib aufzulösen und sich an eine Geste, einen Ausruf, ein Lachen, ein Mienenspiel auszuliefern, hinzugeben, wegzuwerfen. Einer hebt die Hand. Stände nur ein Einzelner neben ihm, er würde ihn fragen: warum hebst du eigentlich die Hand? Aber es stehen 500 neben ihm. Fünfhundert fragen nicht mehr nach Gründen. Fünfhundert heben auch die Hand. Einer bricht durch die Absperrung der Polizisten. Stände nur ein Einzelner neben ihm, er würde sich hochmütig abwenden und raisonnieren: warum respektierst du Gesetz und Ordnung nicht? Aber es stehen fünfhundert neben ihm, und fünfhundert durchbrechen gemeinsam den Kordon. Und die Polizisten lächeln. Wäre es nur einer gewesen, sie hätten ihn verprügelt, denn er wäre ein Gesetzloser. Aber es sind fünfhundert, und mit stolzem Lächeln quittieren sie den Enthusiasmus der Volksmenge, ihrer Volksmenge.

Mehr als tausend Menschen stürmten quer über die Geleise und besetzten den Bahnsteig, auf dem der Sonderzug langsam einfuhr. Sie schwenkten die Hüte und schrien wild. Sie schrien sich eine Spannung aus dem Leibe heraus, deren Inhalt keiner wußte und keiner wissen wollte. Gunner stand am Fenster des Salonwagens und schwenkte beide Arme. Die Menge schwenkte zurück. Ein Prachtjunge, dieser Gunner! Ihr Junge, der Gunner! Daneben tauchte Paracelsus auf, massig und gelassen. Er nickte der Menge zu und seine Augen wurden feucht. Seht doch nur, der gute, kluge Koloß! Er ist gerührt! Und da er gerührt war, waren sie alle bereit, in Weinen auszubrechen. Aber sie beherrschten sich männlich und schrien die Tränen nieder.

»Wunderbar!« flüsterte Paracelsus ergriffen vor sich hin.

Gunner hätte ihn umarmen mögen. »Nicht wahr? Dieses spontane Gefühl, diese Kraft der Begeisterung ...«

»Quatsch« sagte Paracelsus. »Dieser Gigantenschädel mit der chemischen Flüssigkeit darin. Wenn man die Formel wüßte ...«

Es war keine Zeit, enttäuscht oder verärgert zu sein. Die Wellen aus der Schädelflüssigkeit des großen Tieres sandten magnetische Schwingungen aus und verwandelten noch den kleinsten Sekretär der Island-Kommission zu einer Empfangs-Station für kollektive Erregungen. Unversehens standen sie alle auf Altären und teilten die Gnade aus, sich anbeten zu lassen.

Das große Tier trug sie auf den Schultern über die Geleise und setzte sie draußen in die Automobile, von denen niemand wußte, wer sie inzwischen mit Blumen geschmückt hatte. Selbst die Motoren unterlagen dem großen Zwang und trieben die Wagen so langsam vorwärts, wie es dem Schritt des großen Ungeheuers angemessen war.

Die feierliche Einholung der Island-Kommission war im vollen Schwunge. Der Zug bewegte sich in Richtung auf die Hauptstraße der Stadt. Da war sein Flußbett, in dem die kleinen Gewässer vom Rande her mitgerissen wurden. Und der Fluß begann plötzlich zu singen, genau im Rhythmus, in dem er voran glitt. Es war ein seltsames Lied. Nicht alle, die da im Fluß schwammen, kannten es. Nur Gruppen, hier und da verteilt, kannten es. Sie sangen es sich über die Hüte der anderen hin zu. Es waren kurze, eckige, scharfkantige Rhythmen. Ein Marschlied, wenn man so will. Ein aufstörendes, aufreizendes Lied. Eines jener Lieder, die sich aus dem Nebel über der trüben Flüssigkeit in solchen Gigantenschädeln seit Jahrtausenden gebildet haben. Verstört, und doch in einem dunklen Triebwinkel angenehm aufgestört, versuchten die anderen, das Lied mitzusingen und seinen Rhythmus – fast körperlich – zu genießen.

Aber plötzlich brach eine kleine Störung in diesen Rhythmus ein. Man wußte zuerst nicht recht, woher er kam. Von rechts und links aus den Nebenstraßen waren Menschen an den feierlichen Zug herangetreten. Man hatte erst geglaubt, sie gehörten zu den kleinen Gewässern, die in dem großen Strom mitplätschern wollen, die im Rhythmus mitstampfen wollen. Aber das wollten sie nicht. Sie hatten ganz betont einen anderen Rhythmus, einen gelassenen, weiträumigen, der quer in den Strom hineintrieb, kleine Wirbel verursachte, Störungen und Reibungen hervorrief. Sie redeten diesen und jenen an und gaben ihm eine kleine Druckschrift in die Hand. Sie blieben mitten im Zuge stehen und brachten ihn in Unordnung. Sie sangen nicht. Sie riefen mit freundlicher, eindringlicher Stimme einen eintönigen Ruf: »Die Protokolle des Azoren-Gerichts über die Waffenfabrik unter der Paradiesheide!« Es war wie der eintönige Ruf eines Verkäufers auf dem Jahrmarkt. Aber gerade diese Eintönigkeit zerbrach den Rhythmus des Marschliedes. Der Zug spaltete sich auf in Inseln und in Bruchstücke von Singenden und Nichtsingenden. Und immer dazwischen, eindringlich und störend: »Die Waffenfabriken unter der Paradiesheide!«

Das Tier mit dem großen Schädel begann zu schwanken. Es fühlte sich bedroht. Es setzte zu einer Aktion der Notwehr an. Zehn, zwanzig Menschen sammelten sich um einen der Störer und waren bereit, ihn zu Boden zu schlagen. Aber alle diese Störer, die da Druckschriften verteilten, hatten sich gut gemerkt, was Philippos ihnen eingeschärft hatte: Ruhig bleiben. Auf keine Provokation eingehen. Keine Hand heben und nicht zuschlagen. Dann werden sie auch nicht schlagen.

Es war so. Das große Tier wollte springen. Aber das Opfer lief nicht davon und spornte nicht die Verfolgungslust an. Es verkroch sich nicht und reizte dadurch das Kraftgefühl nicht. Es ignorierte das große Tier, wich gelassen zur Seite, wo es zu stark bedrängt wurde; es störte damit den Strom noch mehr, uneindringlich und eintönig blieb der Ruf: »Die Waffenfabrik unter der Paradiesheide!«

Schon standen Menschen da und lasen in den Druckschriften. Einige schüttelten ungläubig den Kopf; aber die Freude an dem Triumphzug war ihnen gestört. Andere waren verärgert, schieden aus den Reihen aus und schlichen über die Bürgersteige, als hätten sie nie zu dem großen Tier gehört. Andere fühlten eine plötzliche Ernüchterung, das Aufwallen eines Zornes über einen gigantischen Betrug, einen plötzlichen Haß gegen das große Tier, das nicht schön und naturnahe war, wie sie geglaubt hatten, sondern böse und entartet. Der Strom zerbrach. Der Festzug war gesprengt. Er löste sich auf.

Aber das große Tier starb damit noch nicht. Es teilte sich nur und wurde doppelt. Das Wort ‚Waffenfabriken unter der Paradiesheide‘ hatte es gespalten. Das eine Tier wußte darum. Es hatte lange heimlich darum gewußt und hatte nichts zu wahren brauchen als die Heimlichkeit. Jetzt hatte irgend jemand sein Geheimnis an die Öffentlichkeit gezogen und es preisgegeben. Es wußte noch nicht, wie das geschehen konnte. Aber es witterte mit richtigem Instinkt, daß es nicht mehr ein Geheimnis zu wahren galt, sondern den Gegenstand des Geheimnisses: die Waffenfabriken selber, den Inhalt ihres verborgenen Wissens und ihres verborgenen Stolzes. Noch konnte man die anderen hindern, sich davon zu überzeugen, ob es hier um Wahrheit oder um Phantasie ging. Man mußte nur die anderen daran hindern, die Waffenfabriken zu finden, die geheimen Eingänge zu entdecken. Man mußte sie besetzen, schnell und unauffällig.

Worte wurden hin und her geflüstert. Menschen begannen sich aus dem Tumult abzulösen und wegzulaufen. Einige Straßen weiter vereinigten sie sich wieder, schlugen die gleiche Richtung ein, wurden wieder vom gleichen Drang getrieben, und wurden wieder ein einheitliches Tier.

Die ungeordnete Masse, die auf der Hauptstraße zurückblieb, stand verloren da; wie Dinge, die man ohne Nachdenken hier und da abgestellt hat. Aber sie bekamen sehr bald Einheit und Richtung. Hinter dem Erkerfenster eines Eckhauses, von dem man einen Blick die Straße hinauf und hinunter hatte, stand Philippos. Neben ihm stand Annina. Philippos war sehr blaß. Er konnte es nicht verhindern, daß seine Knie zitterten. Er mußte sich am Fensterkreuz halten. Jetzt weiteten sich seine Augen. »Es laufen so viele weg! Ob sie Verstärkung holen?«

Annina hatte den stärkeren Instinkt. »Sie laufen zur Paradiesheide und besetzen die Werke. Nichts anderes.«

Philippos sah sie überrascht an. »Ja. Das leuchtet ein. Also müssen wir unsere Menschen sofort dorthin dirigieren. Ich werde ihnen den Schacht zeigen.«

»Sie werden nicht von hier weggehen« sagte Annina entschieden. »Sie dürfen nicht sichtbar werden. Ich bin die Stiege in den Schacht hinein öfter geklettert als Sie. Ich werde hinuntergehen.«

Ehe er noch etwas sagen konnte, hatte sie den Hut mit dem Schleier aufgestülpt und war fort.

Kurz darauf entstand ein neuer Wirbel im unordentlichen Strom der Straße. Wieder lösten sich Menschen aus dem Tumult und liefen davon. Auch sie vereinigten sich einige Straßen weiter, schlugen die gleiche Richtung ein, wurden vom gleichen Drang getrieben und wurden ein einheitliches Tier. Und dieses Tier wollte dem anderen Tier zuvorkommen, wollte ihm sein Geheimnis ganz entreißen, wollte die Waffenfabriken unter der Paradiesheide besetzen. Die beiden Tiere liefen um die Wette.

Es war ein Wettlauf mit dem gleichen Ziel, aber auf verschiedenen Straßen. Das eine Tier lief dorthin, wo im Westen das Fabrikgelände der Stadt an die Paradiesheide grenzte; dorthin, wo die kleine Musterfarm war, deren Gebäude den Eingang unter die Erde verdeckten. Und das andere Tier lief dorthin, wo im Osten der Friedenshügel an die Paradiesheide stieß und mitten zwischen schütterem Gehölz unauffällig der Lüftungsschacht aus der Erde stieg. Sie erreichten das Ziel etwa zu der gleichen Zeit. Aber da sie verschiedene Zwecke und verschiedene Impulse hatten, reagierten sie auf verschiedene Weise. Die Beschützer der Waffenfabriken hatten nur ein Ziel vor Augen: den Anderen, den sie Bedrohenden den Zugang zu den Fabriken nicht freizugeben. Sie hatten sogar die Möglichkeit erwogen, daß den Verfolgern der genaue Ort der Eingänge nicht bekannt sei. So oder so war es ein Gebot der gesunden Strategie, draußen zu bleiben und nur die Eingänge zu besetzen. Und als letzte Kriegslist ersannen sie, gerade diejenigen Häuser der Musterfarm zu besetzen, die wirklich nichts waren als Häuser.

Nur wenig später langte die Gruppe des Philippos beim Schacht an. Annina gab keine Erklärungen ab. Sie stieg hinein. Die anderen folgten ihr blindlings. Schritt um Schritt enthüllte sich das große Geheimnis vor ihnen. Sie kamen an die Wendeltreppe. Sie gingen durch Korridore, die mit Türen gespickt waren. Sie kamen in Gewölbe, in denen Maschinen unheimlich groß und lässig dastanden. Sie kamen durch Werkstätten, in denen feine Handwerkskunst kleine, geschmeidige Waffen herstellte. Sie kamen durch Gießereien, in denen erkaltete Öfen sie leer anstarrten. Sie kamen durch Lagerhäuser, in denen es von langen, blanken Rohren glänzte. Alles war halbdunkel und schweigsam. Sie fürchteten sich, weiter zu gehen. Sie blieben stehen.

»Wo sind die Menschen?« fragte einer. »Warum ist alles so tot?«

Annina beruhigte sie. »Man hat sie nach Hause geschickt, solange Island drohte. Morgen werden sie wieder da sein und weiter arbeiten.«

»Aber wo sind die, die von der Hauptstraße weggelaufen sind. Wo haben die sich versteckt?«

»Wir werden sie suchen« sagte Annina. »Nehmt euch Waffen mit.«

Sie nahmen die kleinen, blanken Waffen in die Hand. Sie hatten nie gelernt, Waffen zu handhaben. Sie faßten sie ungeschickt an. Ihr Mißtrauen war groß. Sie hatten auch keine Munition. Also war die Waffe keine Waffe. Aber doch – sie hatte eine seltsame Gewalt. Sie verzauberte sie. Sie gab ihnen eine zusätzliche Kraft, die sie eben noch nicht gehabt hatten. Jedes Gewehr, stumm wie es war, war wie ein Zauberstab. Sie waren Männer in Waffen.

Sie gingen weiter. Niemand begegnete ihnen. Sie begannen zu schleichen, wie der primitive Jäger der Urwelt instinktiv ein Wild beschleicht. Noch immer war niemand zu sehen. Lagerhallen – ein Eßraum – ein kleines, verlassenes Büro – der Schacht eines großen Fahrstuhls – und daneben Treppen, Treppen ...

Annina blieb stehen und legte die Hand auf den Mund vor Überraschung. »Wir haben den richtigen Eingang gefunden!« flüsterte sie. »Wir müssen jetzt hinauf. Vielleicht sind sie noch garnicht angekommen. Vielleicht haben sie einen sehr weiten Weg. Aber hinauf müssen wir. Kommt! Aber leise, leise!«

Sie stiegen schmale Betontreppen hinauf. Sie landeten in einem halbdunklen Korridor. Eine eiserne Türe schloß ihn ab. Sie öffneten zaghaft ... und standen in einem leeren Kuhstall. Es roch nach Heu. Von beiden Seiten waren kleine Bogenfenster. Sie gingen mit schleichenden Schritten zu der großen Holztüre ... versuchten, ob sie geschlossen war ... nein, sie gab dem Druck nach ... öffnete sich sofort ... sie traten in einen breiten Hof hinaus ... quollen hinaus wie ein Lindwurm aus einer Höhle ... ein von Waffen starrender Lindwurm ...

Ein Schrei hielt den Lindwurm auf. Es war ein Schrei aus hunderten von Kehlen, aus der einen Kehle des einen großen Tieres, das da drüben vor den anderen Gebäuden stand; ein Tier, das jagen wollte, und plötzlich den Jäger in seinem Rücken auftauchen sieht; ein Tier, das waffenlos in die Falle gelockt, in die Enge gejagt, vor dem Jäger steht, vor dem waffenstrotzenden Lindwurm. Darum schrie das Tier.

Aber für eine Sekunde war auch der Lindwurm kein Lindwurm, sondern ein vor Erstaunen gelähmtes, zahmes Tier. Es vergaß einen Augenblick, daß es eigentlich auf der Jagd sei. Hatte es nicht dazu eine Waffe in der Hand? Ach ja, die Waffe! Und mit einem Ruck wußte es, daß es Sieger sei. Die blanken Gewehrläufe hoben sich ernsthaft und drohend. Das erlegte Tier wußte nicht, daß diese Waffen nur drohen, aber nicht sprechen konnten. Es erlag dem Begriff ‚Waffe‘. Verzweifelt ließ es den Kopf sinken. Es war besiegt. Ein Wunder oder ein ungeheurer Verrat hatte es besiegt.

Das Tier zerfloß wieder zu Einzelnen, und diese Einzelnen begannen zu denken. Gestern waren sie noch in heimlicher Revolte gegen die Welt der neuen Ordnung gewesen. Heute hatte die neue Welt der Ordnung ihre Gegenrevolte angesagt und hatte sie im ersten Gang gewonnen. Die Revolutionäre von gestern hatten in all ihrer unterirdischen Tätigkeit noch nicht einen einzigen Schuß abgefeuert. Die Revolutionäre von heute konnten keinen einzigen Schuß abfeuern. Dennoch waren beide Revolten vollzogen ...

Sie waren vollzogen, aber sie waren nicht abgeschlossen. Denn während der Jäger und das erjagte Tier einander gegenüberstanden, fuhr plötzlich in rasender Fahrt eine Kolonne von Automobilen in den Hof der Versuchsfarm. Es schien eine Wettfahrt zu sein, die alle Vorschriften der öffentlichen Ordnung verspottete. Zwei Wagen passierten neben einander das enge Tor und wären beinahe gegen einander geprallt. In dem einen Wagen stand Gunner. Im anderen stand ein Mann, bei dessen Anblick Annina sich blitzschnell duckte: Irvin Jacobs von Thomas Baker & Sons. Die beiden Wagen bremsten hart neben einander und schlugen mit den Kotflügeln zusammen. Gunner strauchelte. Aber noch im Fallen hob er den Arm und rief: »Ich erkläre hiermit ...« Aber die Stimme von Irvin Jacobs übertönte ihn. Er schwenkte einen Brief und rief durchdringend: »Ich verzichte hiermit auf mein Rücktrittsrecht!« und warf Gunner den Brief zu.

Gunner verstummte. Einen Augenblick war er hülflos, und dieser Augenblick besiegte ihn vollends. Irvin Jacobs sagte: »Wollen Sie bitte veranlassen, daß niemand die Werke betritt, bis meine Ingenieure einen genauen Bestand der von mir gekauften Gegenstände aufgenommen haben. Die Sachen gehören mir und niemandem sonst!«

Aus den übrigen Wagen stiegen ernsthaft aussehende Männer Sie gingen wortlos auf die Gruppe der bewaffneten Jäger zu und begannen, die Waffen einzusammeln. Sie fanden keinen Widerstand. Dann verschwanden sie in dem leeren Kuhstall. Irvin Jacobs ging als letzter. Er schloß die große Holztüre mit einem Ruck und Knall hinter sich.

Das jagende und das gejagte Tier waren sich selber überlassen. Sie gingen beide stumm davon und trugen eine unausgegorene Revolte mit sich. Sie war wie ein verhaltenes Unbehagen im Körper, wie ein Zahnschmerz, der von jedem Zahn zu kommen scheint. Es gab dagegen kein Heilmittel. Man konnte nur dumpf schweigen oder ärgerlich schelten.

Odoaker war der erste der ärgerlich zu schelten begann. Es blieb ihm keine andere Wahl, als den alten Weg der Demagogen zu gehen: gewisse Tatbestände mit der Unbefangenheit eines Geisteskranken zu ignorieren und auf dem Fundament der halben Wahrheit weiter zu bauen. Schon am gleichen Abend stand er vor dem Mikrophon und tobte, als habe er ein Auditorium von Tausenden vor sich. Er war für sein Volk gekränkt und beleidigt. Island hatte kein Urteil gefällt, aber der kleine Nachbarstaat Demosien hatte aus eigenem Gutdünken ein Urteil gefällt. Es hatte die Lieferung von Stahl an Goethanien eingestellt. Es hatte gegen das internationale Gesetz vom Austausch der Güter verstoßen. So wenig wie Getreideländer das Recht hatten, getreidearme Länder auszuhungern, so wenig hatten stahlreiche Länder das Recht, stahlarme Länder in ihrer Industrie, in der friedlichen Beschäftigung ihrer Bürger zu behindern.

Von dieser Voraussetzung aus führte Odoaker einen doppelten Schlag, einen nach innen, einen nach außen. Er erklärte, daß er sich zu seinem Leidwesen gezwungen sehe, vorerst mindestens 10000 Arbeiter aus den industriellen Betrieben auszusperren. Sodann schlug er nach außen. »Wir werden uns unser Recht zu schaffen wissen!« schrie er. »Wenn man uns den Stahl verweigert, werden wir uns ihn holen! Und wir werden nicht eher einen Pfennig an Demosien zahlen, bis unser verbrieftes Recht auf Stahl nicht befriedigt ist! Und wenn Demosien sein Geld eher haben will: mag es kommen und es sich holen! Wir werden ihm einen warmen Empfang bereiten!«

Das war eine Sprache, die man in dieser neuen Weltordnung zum ersten male hörte. Man hatte geglaubt, daß der alte Bramarbas nicht mehr existiere. Und jetzt war diese Tonart wieder da, ein männlicher Ton, eine unvermutete Tuba in einem Streichorchester. Als Petros die Sendung hörte, war er einer Ohnmacht nahe. Er ging sofort zu Caliban, um sich dort im Gespräch Anregung für die Antwort zu holen. Aber er fand Caliban seltsam verschlossen. Er ging mit leerem Gehirn wieder fort.

An Abend sagte Caliban zu Betrix: »Es ist an der Zeit, daß wir Petros ausbooten.«

Betrix erstarrte. »Aber das geht doch nicht!« wandte sie ein. »Er ist doch vom Volke gewählt. Wir können doch nicht einfach wie die alten Völker eine Kabinettskrise provozieren und jemand anders wählen!«

Caliban streichelte lächelnd ihren Arm. »Schau, Betrix, du hast noch nicht begriffen, daß wir schon einer neuen Zeit verfallen sind. Wenn wir Petros nicht abschaffen, wird das Volk ihn abschaffen. Es wird revoltieren ...«

»O nein« rief Betrix. »Richtige Demoten wissen nicht, was Revolution ist. Da ist nichts zu befürchten.«

Er hörte nicht auf, ihren Arm zu streicheln und zu lächeln. Sie saß da wie gelähmt, wie einer Hypnose verfallen. »Betrix, es werden nicht sieben Nächte vergehen, ehe du die neue Zeit siehst. Wer ihr nicht entgegen geht, wird von ihr verschlungen. Und ich will nicht, daß du verschlungen wirst. Ich will dich an der Spitze der neuen Zeit sehen. Ich will, daß du in der Legende der Menschen lebst als eine neue Heilige Johanna, als die Jungfrau Betrix ...«

Sie preßte die Hände über die Brust: »... die ein Kind von dir unter dem Herzen trägt ...«

Er stutzte eine Sekunde. Dann packte er beinahe gewaltsam ihren Am. Seine toten Augen leuchteten. »Ist das so? Das ist gut. Das wird ein Knabe sein. Das wird der erste Sproß der jungen Menschheit sein, einer Menschheit, die wirklich – verstehst du mich? – die wirklich durch eine Revolution gehen wird. Aber du wirst die Legende bleiben. Du wirst die Jungfrau Betrix bleiben, die große Mutter des neuen Umsturzes in der alten Welt.«

Sie sah ihn nicht an. Ihr Gesicht glühte. So wie sie dieses Kind von ihm empfangen hatte, so empfing sie auch seine Vision aus erblindeten Augen: fraglos, hingegeben, von einer Naturgewalt in ihren Strom gezogen und fruchtbar gemacht. Nur aus Herkommen und Pflicht und Gewöhnung wehrte sich in ihr eine Welt der Ordnung gegen das neue Chaos. Sie murmelte: »Man kann Petros nicht absetzen ... ich darf es nicht ... das Volk hat gewählt ...«

Caliban beruhigte sie. »Du sollst nichts tun, was dein Gewissen belastet. Ich sorge dafür, daß auf dich kein Schatten fällt. Nur eines sollst du tun: du sollst mir für eine Woche den Rundfunk von Demosien freigeben.«

Sie zog mit ihren starken Armen seinen Kopf an sich. »Deine Stimme müßte in der ganzen Welt gehört werden ... die Stimme des Propheten ...«

Acht Tage lang beherrschte Calibans klingende Stimme den Ätherraum, und acht Tage lang horchte die Welt, erstaunt, ungläubig, beunruhigt und mit wachsender Empörung. Die Sendung dauerte jeweils nur kurze Zeit, aber sie wurde acht Tage lang in kurzen Abständen wiederholt. Sie hatte ein einheitliches Thema: die Erlösung der Welt. Der Aufbau war einfach, aber eindringlich. Er begann mit einer Revue der Institutionen und der neuen Ordnung, die die Welt sich nach dem Zusammenbruch in der Mitte des Jahrhunderts geschaffen hatte. Dann ging sie unvermittelt dazu über, Urkunden zu verlesen. Die Sitzung der Erfinder-Kommission, ihre Debatten und ihre Zuspitzung; die Aussagen Woolfs vor dem Azoren-Gericht; die Wiedergabe der Schallplatten, auf denen die Sitzung des Azoren-Gerichts in Goethanien reproduziert war; zwei Briefe von Thomas Baker & Sons; ein Bericht über das Verschwinden des demosischen Gesandten Labienus; eine Reportage über die Jagd nach den Werkstätten unter der Paradiesheide, und dann die Rede Odoakers am Rundfunk. Der Abschluß war eine schlichte Frage: »Was will Goethanien?« Und die Antwort war wie ein gutmütiges Achselzucken: »Wohl nichts besonderes. Es will wohl nur die Welt von ihrer schlechten Neuordnung erlösen.«

Die Wirkung dieser Sendungen war ungeheuer. Sie ging in zwei Richtungen. Sie machte sich zunächst in Demosien selbst bemerkbar. Es war eine Reaktion der zornigen Nüchternheit. Die Demoten waren gute Bürger des neuen Weltstaates. Für sie war Friede ein Selbstzweck. In diesem Frieden lief ihr arbeitsreiches und sparsames Leben ungestört ab. Arbeit und Sparsamkeit waren für sie Früchte des Friedens. Was Goethanien tat, störte zugleich den Frieden und ihre Ersparnisse. Und das brachte sie in Wallung. Das nahm ihrem Leben und ihrem Arbeiten den Sinn. Das bedrohte ihr Alter, jene geruhsamen Tage, in denen sie das Recht hatten, auszuruhen und aus der Kasse des Staates, aus dem von ihnen selbst verdienten Gelde zu leben.

Die Diskussionen entbrannten. Einen großen Anteil daran nahmen die Frauen. Da sie weit früher als die Männer von der Pflicht zur Arbeit befreit wurden, hatten sie eine längere Lebensspanne vor sich, in der sie vom Behagen des Daseins kosten konnten. Warum sollten sie sich die Zeit verkürzen lassen, in der sie ihr Leben recht eigentlich genießen konnten? Nur darum, weil in der Regierung allzuviel Männer saßen, die offenbar nicht ihre Pflicht getan hatten, die nicht aufmerksam genug gewesen waren? Es wäre ihnen nie in den Sinn gekommen, Betrix zu beschuldigen. Betrix war ihre eigene, ihre weibliche Repräsentation. Man konnte nicht von ihr erwarten, daß sie jede Einzelheit der Regierungs-Geschäfte überwachte. Es war schon genug, daß sie da war, groß, mächtig, stattlich, mütterlich in der Gebärde und jungfräulich im Wesen. Es waren die Frauen, die zuerst den Zorn der enttäuschten Bevölkerung auf Petros als den verantwortlichen Leiter der Staatsgeschäfte lenkten.

In den Fabriken gingen gehässige Parolen um: ‚Arbeitet mehr, damit Petros mehr wegzuwerfen hat.‘ Hier und da stellten Gruppen die Arbeit ein. Sie sahen keinen Sinn darin, neue Werte zu schaffen, wenn andre sie verschlingen sollten. In Zusammenrottungen, die immer häufiger wurden, tobte sich eine Unruhe aus, die noch keine bestimmte Richtung hatte. Sie hatte bislang nur ein negatives Ziel: Petros zu beseitigen, der an dem großen Fiasko ihrer Sparsamkeit Schuld war.

Bis eines Abends der große Ausbruch erfolgte, der in seiner Art ein Novum in der Geschichte Demosiens darstellte. Es war die Mitte des Monats, an jenem Tage, an dem jeder arbeitende Mensch seine Anweisung auf die Staats-Bank erhielt. Jemand hatte eine Phrase dahingeworfen, die halb Ironie, halb Zorn war: »Bringen wir doch unsere Anweisungen zu Petros, damit er sie gleich ins Ausland schicken kann.« Es war eine dumme Redensart, ein Füllsel in einem unsachlichen Gespräch, eine rhetorische Phrase, der niemand einen ernsthaften Hintergrund verlieh. Aber sie erlitt das Schicksal aller Phrasen, die nicht mehr von einem Einzelnen, sondern von dem großen Tier gesagt werden: sie hörte auf, ein unverpflichtendes Wort zu sein, und sie begann, ein Stachel zu werden, der zu Handlungen antreibt. Aus einer Gruppe, die geschlossen ein Fabrikgebäude verließ, klang die Phrase schon wie eine Parole und wie eine ärgerliche Drohung. Sie zog andere an sich, wie ein Magnet das Ruhende, das Unbewegte an sich zieht. Gruppe zu Gruppe gefügt ergab schon wieder eine Masse, die im Kraftfeld des Magneten einherschreitet, die selber eine neue Kraft darstellt. Sie zogen durch die Straßen, ihrer Kraft bewußt, und rissen von den Fußsteigen andere mit sich, wie ein Strom, der die Ufer annagt und seine weichen, nachgibigen Wellen durch stürzende Bäume zu einem Rammbock der Gewalt macht.

Sie stampften im Gleichschritt durch die Straßen. Sie waren nicht mehr eine Gruppe von Unzufriedenen. Sie waren ein Zug von Demonstranten, die sich gegen etwas empören und ihm Ausdruck geben. Es war kein Befehl, es war der Trieb in dem großen Tier, der sie zum Regierungs-Palast lenkte. Und als sie davor standen, als sie den Ort sahen, in dem das geschah, was ihre Seele aus dem Gleichgewicht warf, brach die Tat sich von selber Bahn. Sie wurden aus Demonstranten zu Revolutionären.

Die Masse drängte gegen das Gebäude an. Die Rufe und Schreie ballten sich zu unförmigem Getöse. Wächter kamen aus den Eingängen und baten hülflos um Ruhe. Ein wütendes Gelächter fegte sie beiseite. Es bedurfte keinerlei Gewalt. Freilich, die Regierung arbeitet! Wir wollen ihr beibringen, was Arbeit heißt! – Und hinein in gestauten Massen brach der Strom.

Betrix in ihrem Arbeitszimmer sprang auf. Sie wollte hinaus, der Masse entgegen, zu ihr sprechen, sie beruhigen. Aber Caliban hielt sie mit eisernem Griff fest. »Noch nicht« sagte er. »Es ist noch nicht deine Stunde. Schick Petros. Er soll zur Masse sprechen. Er ist dein Vertreter nach außen. Schick Petros! Schnell!«

Sie gehorchte, wie immer. Sie schickte Petros. Er lief mit ängstlichen Schritten den langen Korridor entlang. Er war so verwirrt, er war so im Kopf benommen, daß er die Türe zum Fahrstuhl verfehlte. Er lief hülflos weiter. Am Ende des Ganges sah er eine breite, mit Stoff belegte Treppe, die an hohen, schmalen Fenstern vorbei, sich immer selber überkreuzend, hinunter führte in die Eingangshalle. Er war diese Treppe nie gegangen. Sie schien ihm unheimlich. Sie war wie ein Weg, auf dem man sehenden Auges in die Hölle hinuntersteigt. Wenn er nur den Fahrstuhl gefunden hätte! Jetzt sprang er Stufe auf Stufe, seinem Schicksal entgegen.

Er lief und lief, während Stimmen ihm entgegen liefen. Es waren Stimmen, wie er sie nie in seinem Leben gehört hatte, Stimmen eines Ungeheuers mit vielen Köpfen und vielen Hälsen. Er wollte vor ihm fliehen. Aber er konnte nicht. Eine unbekannte Kraft trieb ihn immer weiter die Stiegen hinunter, in den großen, schreienden Rachen hinein. Unter ihm in der Halle wogte das Ungeheuer, vielfüßig, vielköpfig, lärmend. Sein kleines Gehirn vermochte den Schrecken nicht zu erfassen. Er erinnerte nur dunkel, daß Betrix ihm befohlen hatte, zu der Menge zu reden. Aber niemand hatte ihm gesagt, was er reden sollte. Er stand jetzt auf der letzten Biegung der Treppe, wenige Meter über der Masse. Und jetzt sahen sie ihn. Jetzt wandten sie sich mit einem Ruck und Schwung auf ihn hin. Es war wie ein ungeheures Atemholen. Und dann ein einziger, geballter Ruf: »Petros!!«

Petros fühlte diesen Ruf wie einen Hieb vor die Stirne. Der letzte Rest klarer Besinnung wich von ihm. Es blieb nur eine dunkle Erinnerung: ich muß zu der Masse reden. Er antwortete auf diese dunkle Erinnerung mit einer instinktiven Gebärde, aus der Gewohnheit der Jahre her. Er hob den rechten Arm. Es war die Geste des Redners. Die Menge nahm sie wahr und schwieg für eine Sekunde. Sie starrte ihn mit tausend Augen an. Vor diesem Schweigen und diesem Starren wich Petros entsetzt zurück. Den Arm hatte er noch erhoben, aber statt aller Rede brach nur ein hoher, spitzer Schrei der Angst aus seiner Kehle. Er wandte sich um und begann die Treppen wieder hinaufzulaufen, als hätte er den Tod im Nacken ...

Und er hatte den Tod in Nacken. So wie ein Tier dem anderen nachjagt, nur weil es läuft, nur weil es flieht, und weil diese Flucht den alten Jagdinstinkt in ihm wachruft – so begann die Menge plötzlich hinter Petros herzujagen. Sie jagten, als hänge ihr Leben und ihre Zukunft davon ab. Sie jagten nicht Petros, sie jagten das andere Tier, das da vor ihnen floh, das den Arm gegen sie erhoben hatte, das sie mit einen spitzen, grellen Schrei angeschrien hatte. Tier jagte Tier, die Stiegen hinauf, die Korridore entlang, wie benommen von der Weite der Gänge, von der Lautlosigkeit der Schritte über schwere, weiche Teppiche, ein lautloses, jagendes Tier, hinter einem anderen her, das mit greller Stimme schrie.

Petros suchte irgend eine Türe, hinter der er sich bergen konnte. Er kam an hundert Türen vorüber, aber er sah keine. Er sah nur einmal, am Ende eines Korridors, eine gläserne Türe, die zu einem Balkon hinaus führte. Das schien ihm Rettung, Ausweg, Entkommen vor dem bösen Tier. Er sprang mit letzter Kraft zur Türe hin, riß sie auf und stand auf einen Balkon, der weit über dem Eingang da unten den Platz überragte.

Das jagende Tier hinter ihm sah ihn verschwinden. Es sprang an, gelangte zur Türe, riß sie wieder auf und drängte auf den Balkon. Petros stand gegen das schwere eiserne Geländer gelehnt, den Blick nach unten auf den Platz gerichtet, als erwarte er von da Rettung. Er wandte sich nicht um, wie die Menschenmasse auf den Balkon hinausdrängte. Der Balkon war groß, aber er hatte nicht Platz für beide, für das jagende und das gejagte Tier. Eines mußte hinunter. Es gab einen Ruck, einen Stoß, das Anpacken von Armen eines riesenhaften Polypen, und ein Körper, der Körper des Petros flog durch die Luft und schlug mit seiner ganzen Schwere unten auf das Pflaster ...

Die Beute war nicht mehr da. Das Tier stand verloren und ratlos da. Es hatte keinen Zweck und keine Aufgabe mehr. Es erwachte zu dem, was es außerhalb der Jagd war: ein Haufe von Menschen. Und in diesem Haufen begann es zu dämmern, daß etwas geschehen war, das außerhalb seines freien Willens lag. Man hatte Petros ermordet. Wer? Man, irgend wer, irgend eine Addition von entfesselten Kräften. Jetzt war diese Kraft in sich zusammen gefallen. Jetzt waren sie wieder schwach, und jetzt fühlten sie sich schuldig. Strömend, übereilig, geräuschlos, verwundert über sich selbst drängten sie die langen Gänge entlang und die Stiegen hinunter und durch die große Vorhalle über die breite Freitreppe auf den offenen Platz. Das große Gebäude lag im tiefen Schweigen, als wäre nichts darin geschehen.

Caliban hatte alle Stadien von Flucht und Verfolgung und Mord mit untrüglichen Sinnen abgehört. Betrix hatte die Hände über die Ohren gepreßt und ihren Kopf an seiner Brust vergraben. Sie wollte nichts hören und nichts sehen. Aber jetzt stand Caliban auf und zog sie mit sich empor. Seine Stimme war ruhig, aber wie ein Befehl, dem man nicht ausweichen kann. »Jetzt ist deine Stunde gekommen. Du brauchst nichts zu tun, als fünf Minuten Kraft zu haben. Du brauchst nichts zu sagen. Komm mit mir.«

Sie erhob sich folgsam wie ein Kind. Er führte sie durch den langen Gang bis zu der Türe, die zu dem Balkon des Mordes hinausführte. »Geh hinaus« sagte er. »Du brauchst nichts zu sagen. Geh bis zur Brüstung und mach irgend eine Geste zu den Menschen hin. Vergiß nicht, daß sie nicht anders handeln konnten. Gib ihnen ihre Ruhe wieder. Mach sie nicht zu Mördern.« Und er schob sie durch die Türe auf den Balkon hinaus. Er selbst blieb im Spalt der halboffenen Türe stehen.

Betrix schritt voran. Sie wußte genau, daß nicht sie es war, die da ging. Es war etwas außer ihr, das sie gehen machte, etwas, das stärker war als sie. Aber da es schon im Kern Ihres Lebens saß, wehrte sie sich nicht mehr dagegen, so wie man sich nicht gegen sein eigenes Leben wehren kann. Sie trat an die eiserne Brüstung heran. Da unten wogte die Menge in zweckloser Bewegung, erregt und unsicher, verängstet und schuldbewußt, und darum tief innerlich böse und zornig. Da sahen sie Betrix auf dem Balkon hoch über ihren Köpfen erscheinen. Sie sahen hinauf. Das Herz schlug ihnen bis zum Halse. Was wird Betrix sagen? Alle hatten an sie geglaubt. Würde sie heute diesen Glauben rechtfertigen und sie verstehen, die da aus dem Abgrund des Gefühls gehandelt hatten? Sie hielten den Atem an.

Betrix sah zu ihnen hinunter. Aber in Wirklichkeit sah sie nichts. Sie fühlte nur etwas: tief in ihrem Inneren, in ihrem fruchtbar gewordenen Leibe, die Ahnung einer zuckenden Bewegung, ein fernes Signal von einem neuen Leben. Sie wußte nicht, daß unten ein Mensch ermordet lag. Sie wußte nur, daß Neues in ihr keimte. Und von diesem Wunder erschüttert, von diesem Geheimnis aufgewühlt, daß ihr das Herz weh tat, erhob sie langsam beide Hände. Vielleicht wollte sie beten. Vielleicht wollte sie ihr Geheimnis bedecken. Denen, die da unten standen und auf Worte der Anklagte und des Zornes warteten, war es wie ein Gruß, wie eine stille, beschwichtigende Gebärde, wie eine wortlose Andeutung der Nachsicht, des Verstehens, des Verzeihens. Am ersten fühlten das die Frauen. Sie spürten das Mütterliche in der Gebärde. Sie schluchzten zu Betrix hinauf. Die Erregung warf sich über den ganzen weiten Platz. Sie hatte das Joch der Schuld von ihren Herzen genommen. Sie waren nicht mehr Mörder. Betrix hatte sie verstanden und freigesprochen. Sie jubelten zu ihr hinauf. Ein Ruf wurde hörbar: »Betrix soll uns führen!« Und im Nu war das große Tier wieder da, verwandelt, nicht mehr böse, sondern treu wie ein Haustier, das seine Kraft den Herrn unterordnet. Das Tier schrie nach Halsband und Kette. Es rief: »Betrix soll uns führen!« Sie nickte, ohne zu verstehen. Sie zog sich zurück und sank halb ohnmächtig in Calibans Arme. Er geleitete sie sorgsam in ihr Zimmer zurück.

Er lächelte still. Er wußte: die Revolution in Demosien ist vollzogen. –


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