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Über die Entstehung der Sprache sind viele Theorien aufgestellt worden, die sich alle bemühen – eine jede von irgend einem dem Rationalen zugänglichen äußeren Grunde aus – einleuchtend zu machen, warum der Mensch eines Tages sprechen mußte. Aber so weit ich es übersehen kann, vernachlässigen sie alle ein Element, das unmittelbar mit der Hervorbringung der ersten artikulierten und differenzierten Lautfolgen verbunden gewesen sein muß: die auf den Sprechenden selbst rückwirkende Sensation, daß seine Folge von Lauten von dem, den er anspricht, so verstanden wird, daß diejenige Reaktion zustande kommt, die er mit seiner Wortfolge erzeugen wollte. Denn der Sinn alles bewußten Sprechens ist nicht darauf beschränkt, daß der Sprechende sich ausdrückt; der Sinn geht weit darüber hinaus auf das Ansprechen eines Objektes, sei es auch kein reales, sondern nur ein vorgestelltes, und der Sinn der Ansprache ist Wirkung auf das Objekt, sei es nun die beschwörende Anrufung magischer Gewalten (zu denen auch die menschliche Seele gehört) oder jene so überaus geheimnisvolle Wechselwirkung, die wir Gespräch oder Dialog nennen.
Im Dialog gesellt sich zu der Sensation, die Wirkung des Wortes auf andere wahrzunehmen, die nicht minder bedeutsame Sensation, von der Wirkung des Wortes betroffen zu werden. Und es kommt dabei nicht darauf an, ob das Wort mit dem Ohr aufgenommen wurde, oder mit dem Auge, denn auch das Lesen ist ein Dialog, in dem der Angesprochene stumme, aber nachhaltige Antwort erteilt.
Die Wirkung des Wortes ist meinem Bewußtsein zum ersten Mal nahe gebracht werden durch einen Brauch, der vielleicht nur lokal war und der sicher heute ganz in Vergessenheit geraten ist. Zu unserem Neujahrstag, dem Rosh-ha-shanah, pflegten wir unseren Eltern einen Brief zu schreiben, in dem wir unsere Wünsche und Glückwünsche für das kommende Jahr darbrachten und das Versprechen abgaben, dankbare und folgsame Kinder zu sein. Den Text gab uns jeweils unser Religionslehrer, und er wurde auf schönen, linierten Briefbogen geschrieben, deren Kopf mit Blumen oder sonstigen farbigen Symbolen geschmückt war. Auf tadellose Kalligraphie wurde äußerster Wert gelegt, und Fehler mußten durchaus vermieden werden, weil das die Anschaffung eines neuen Briefbogens bedeutet hätte, und sie waren teuer. Die ganze Zeremonie wurde in großer Heimlichkeit und mit verhaltener Aufregung vollzogen. Diese Aufregung galt natürlich nicht dem Briefe selbst, sondern der Situation, in der dieser Brief übergeben wurde. Es war in sich ein feierlicher Augenblick, aber das Entscheidende war die Wirkung der Worte auf die Eltern. Sie waren jedesmal – so wenigstens schien es uns – sehr gerührt, und da sie es waren, waren wir es natürlich auch. Ich nehme heute an, daß diese beiden Arten der Rührung durchaus verschieden gewesen sind. Aber das Wesentliche blieb doch die seltsame Entdeckung, daß von einem Worte, wenn es auch nur gelesen wird, so weitreichende Wirkung ausgehen kann.
Es hätte nun vielleicht nahegelegen, die Wirkung des Wortes, nachdem sie einmal bekannt war, auch entsprechend auszunutzen, denn in jedem Kinde liegt eine gesunde Portion von Utilitarismus und Egoismus. Aber ich habe eines Tages aufgehört, solche an die Rührung appellierenden Neujahrswünsche zu schreiben. Es war kurz vor meinem zwölften Geburtstag. Wir erhielten unseren Religions-Unterricht schon nicht mehr von unserem Kantor, sondern vom Rabbiner der Gemeinde. Er war es also auch, der uns die Texte für unsere Briefe gab. Entsprechend dem „höheren“ Niveau der jüdischen Bildung, die wir – jedenfalls in der Theorie – von ihm empfingen, stand auch der Text der Briefe auf einem höheren Niveau. Es war, wenn ich es heute erinnere, das Niveau der Predigten, die in den Synagogen West-Europas das eigentliche Kernstück des Gottesdienstes darstellten. Der Inhalt war der Gelegenheit angepaßt, und gab für das kommende Jahr mit hochtrabenden Worten eine Unsumme von ganz und gar phantastischen Versprechungen ab. Wir befanden uns alle in dem Stadium, das man die „Flegeljahre“ nennt, und unsere Unbändigkeit und Wildheit ließ nichts zu wünschen übrig. Es wurden geringschätzige Bemerkungen über den Inhalt der Briefe ausgetauscht. Bei den meisten machte sich der Trotz geltend, der solche Erklärungen nicht abgeben wollte. Ich wollte es auch nicht, aber aus einem anderen Grunde. Wenn ich die Leistungen des vergangenen Jahres überblickte, so war darin nur ein Plus: die Schulzeugnisse, obgleich auch darin die Rubrik „Betragen“ meistens mit sehr wenig schmeichelhaften Bemerkungen und mit einer peinlichen Strafliste wegen Aufsässigkeit und Verprügeln von Mitschülern gespickt war. Aber alle die Tugenden, die ich im letzten Neujahrsbrief meinen Eltern angelobt hatte, waren nicht zur Realisation gekommen. Sie jetzt noch einmal zu wiederholen, schien mir nicht nur aussichtslos, sondern auch unfair. Die Reaktion der Rührung, die zu erwarten stand, erschien mir jetzt peinlich, wie ein mit Bewußtsein geübter Betrug.
Ich beschloß also, den Brief nicht zu schreiben. Als der Neujahrstag herankam, war die Stimmung merkbar gespannt. Ich fühlte, daß ich meine Eltern um eine erwartete Situation gebracht hatte, auf die sie offenbar gewohnheitsmäßigen Anspruch erhoben. Ich wußte damals nicht, was mich so tief daran störte. Ich wußte es erst später: es war der Widerwille gegen die sozusagen programmgemäße Bereitschaft, sich zu ganz bestimmten Gelegenheiten in Rührung versetzen zu lassen. Sehr viel später habe ich in dieser sentimentalen Bereitschaft eine Ghetto- und Galuth-Erbschaft erkannt, jene unproduktive Haltung der seelischen Unfreiheit, die selbst dadurch nicht erträglich wird, daß man als ihre letzte Quelle die Leiden der Galuth-Zeit erkennt. Aber wenn man in dem berühmten, in Millionen Exemplaren unter den Frauen des jüdischen Osteuropa verbreiteten Andachtsbuch vor einem Gebet die Anweisung liest: „Hier weint man“ dann weiß man, was Mißbrauch des Wortes ist und was der Wert eines Gefühls sein muß, das durch Anweisung und überkommenen Brauch einfach kommandiert wird. Dieser Erscheinung bin ich später einmal in letzter Reinkultur in Tiberias begegnet. Ein Mann war durch einen unglücklichen Zufall tags zuvor nahe der Stadt erschossen worden. Der Beerdigungs-Zug ging durch die Hauptstraße der Stadt. Ich war dort schon einmal der abenteuerlichen Erscheinung berufsmäßiger Klageweiber begegnet, die vor dem Zug laut heulend herliefen, sich das Gesicht schlugen, und sich von Zeit zu Zeit zu den Leidtragenden umwandten, ob sie das Maß ihrer Trauer-Demonstration auch entsprechend zur Kenntnis nahmen. Diesesmal sah ich etwas verwandtes. Neben mir am Gitter des Städtischen Gartens standen zwei ältere Frauen, in ein angeregtes Gespräch vertieft. Als der Leichenzug herankam, unterbrachen sie ihr Gespräch. Sie fuhren sich mit der Hand über das Gesicht und brachen spontan in ein lautes Jammern aus. Aber die Gesichtszüge blieben unverändert und gleichmäßig. Als der Sarg vorüber war, fuhren sie ebenso spontan und gleichmäßig in ihrer Unterhaltung fort. „Hier weint man.“ Nun eben. –
Bald nach jenem Neujahrs-Brief, der nicht geschrieben wurde, war ich gezwungen, etwas zu tun, was in der deutschen Sprache so unübersetzbar komisch „das Wort ergreifen“ genannt wird. Ich mußte es „ergreifen“ aus Anlaß der traditionellen Feier der „Bar Mizwah“, an jenem Tage, an dem der junge Jude ein „Sohn der Pflicht“ wird. Es ist eine schöne Tradition, die hier im Lande trotz ihrer eifrigen Wiederbelebung durch die Betonung des nur weltlichen Charakters erheblich ihren sittlichen und moralischen Sinn eingebüßt hat. Allerdings hatte sie damals auch für uns schon im wesentlichen einen weltlichen Sinn. Diese Feier stellte uns für einen ganzen Tag in den Mittelpunkt des Interesses und legte nebenher den Grundstock zu der Bibliothek von später. Allerdings hatten wir Gegenleistungen zu geben, darunter auch die, bei dem Festmahl nach dem Gottesdienst eine Ansprache zu halten. Sie war im Prinzip ein verlängerter, gesprochener Neujahrs-Brief. Der Verfasser war der Rabbiner, was jeder wußte und jeder bewußt ignorierte, weil das Entscheidende nicht die literarische Leistung war, sondern die Bereitschaft, sich rühren zu lassen. Obgleich mir das damals nicht so klar war, hatte ich doch aus eigener Initiative den Zensor gespielt und verschiedene Stellen der Ansprache etwas von ihrem Pathos befreit und sie durch eigene Wendungen ersetzt, die mir unverfänglicher schienen und die sich im Rahmen dessen hielten, was wir in Schulaufsätzen zu sagen pflegten. Mein Gewissen war dabei nicht ganz sauber, denn schließlich hatte ich doch an einem unter geistlicher Autorität verfaßten Schriftstück Verfälschungen vorgenommen. Aber es gab kein zurück mehr, und ich trug mein Misch-Produkt vor. Ich kann nicht beurteilen, ob die Rührung stärker war als sie bei solchen Anlässen als üblich galt; aber sie war jedenfalls stark genug, um mich zu erstaunen ... und ein klein wenig zu enttäuschen. In welchem Sinne? Das war mir nicht klar. Ich wunderte mich nur, daß Menschen, die erwachsen waren und so viel mehr wußten als ich, sich von einer Ansprache bewegen ließen, die mir ausgesprochen öde und leer erschien. Und das verübelte ich ihnen.
Daß es sich hier – neben manchem anderen – um einen der typischen Fälle handelte, in denen dem Worte eine ganz inadäquate Wirkung verliehen wird, wurde mir erst Jahre später bewußt; dann allerdings war es ein boshaftes Vergnügen, diese Wirkung bewußt zu erzielen. Wir waren in den oberen Klassen des Gymnasiums eine kleine aber geistig sehr regsame Gruppe von jungen Menschen, die gut zusammenhielten und zusammen paßten. Wir arbeiteten weit mehr als der sehr ausgedehnte Schulplan von uns verlangte. Dafür leisteten wir uns den Luxus, gegen alle in ständiger Opposition zu stehen und mit Ideen und Gefühlen wie Jongleure im Zirkus zu spielen. Unsere Lehrer aus der Fassung zu bringen, war ein beliebter Sport. Es gelang uns bei allen, nur bei einem nicht, einem ungemein begabten jungen Lehrer, der uns in Physik unterrichtete. An seiner formidablen Sachlichkeit prallten alle Störungsversuche ab. Zudem drohte er uns dadurch zu entschlüpfen, daß er – eben seiner Begabtheit wegen – für das Ende des Semesters an eine andere Schule verpflichtet war. Also war es hohe Zeit, daß wir ihn wenigstens einmal aus der Fassung brachten. Wir berieten und kamen zu dem Entschluß, daß wir ihn in corpore am letzten Schultag in seinem Zimmer aufsuchten und so lange auf ihn einreden wollten, bis er aus der Fassung kam. Mir fiel die Rolle des Hauptredners zu. Ich habe sie mit allem Ehrgeiz und aller Skrupellosigkeit erfüllt, und habe so lange Abschied-nehmend und hochtrabend auf den sachlichen, unstörbaren Wissenschaftler eingeredet, bis ihm die Tränen in den Augen standen. Unsere Befriedigung war grenzenlos, und draußen auf dem Korridor schüttelten wir uns strahlend und überwältigt die Hände.
Meine Rolle als Hauptredner bei diesem erhebenden Vorgang erwuchs aus einer Tatsache, die meinen nichtjüdischen Mitschülern bekannt war und die sie ganz sachlich respektierten. Eine so kleine Gemeinde, wie meine Geburtsstadt sie aufwies, kultiviert natürlich ihre „begabten“ Kinder ganz besonders, und nachdem es mir einmal gelungen war, bei einer Schulfeier zum besten Schüler der Anstalt erklärt zu werden, hatte ich gewonnenes Spiel. Bald darauf wurde ich aufgefordert, im Verein der zionistischen Jugend einen Vortrag zu halten. Vom Zionismus wußte ich noch wenig, dagegen hatte ich gerade Heinrich Heine entdeckt, und ich bestand darauf, dem Publikum von dieser Entdeckung zu berichten. Es war ein sehr gutwilliges und sehr dankbares Publikum, und mir selbst machte die Sache auch großes Vergnügen. Aber noch ehe der Abend zuende war, verlor ich den Geschmack an der Sache. Ein Mitglied der Gemeinde kam auf eine wahnwitzige Idee: Er bat das Publikum, sich zu Ehren meiner Eltern, die natürlich unter den Zuhörern waren, von den Plätzen zu erheben. Tableau – Aufstand – große Rührung. Ich hatte einen leicht ranzigen Geschmack im Munde und beschloß sofort, derartige Vorträge nicht wieder zu halten.
Aber es scheint doch, als hätte ich Blut geleckt und Gefallen an der Handhabung des Wortes gefunden, zumal sich mir jetzt ein Material darbot, das mich spontan mit Beschlag belegte: die Problematik des Judentums. Ich glaube nicht, daß ich da irgendeine Entwicklung durchgemacht habe. Eine Wahl zwischen einer Orthodoxie, die national leidenschaftlich assimiliert war, und einem jüdischen Liberalismus, dessen Wesen darin bestand, nichts ganz und alles halb zu sein, kam für mich irgendwie garnicht in Betracht. Die Zionistische Idee war für mich ebenso einfach wie überzeugend. Daß sie sich in einem Milieu der Assimilation nur durch Aggressivität und Unerschrockenheit durchsetzen ließ, machte sie nur noch anziehender. Und so zog ich denn, wenn ich am Ende der Woche meine Schularbeiten erledigt hatte, mit einem feierlichen Gehrock bekleidet, in die weitere Umgebung, um dort in den Städten und Städtchen die Botschaft des Zionismus zu verkünden. Die Vorträge waren inhaltlich wahrscheinlich unerhört simpel. Ich vermute, daß ich zumeist nur den Inhalt der neuesten Kampfbroschüren vorgetragen habe, leicht abgewandelt und gespickt mit dem, was ich mir gegen die demütige Assimilation von der Seele zu reden hatte. Es ist nur zweifelhaft, ob ich damals viele Menschen bekehrt habe. Ganz gewiß ist aber, daß ich viele zur Weißglut der Opposition getrieben habe. Aber schon das betrachtete man damals in zionistischen Kreisen als einen Erfolg, und wenn ich am Montag früh direkt von der Bahn und noch mit dem feierlichen Gehrock bekleidet, in der Schule auftauchte, kam ich mir jedesmal als ein großer, wenn auch etwas müder Sieger vor.
Diesen leichten Triumphen wurde eines Tages ein plötzliches Ende gesetzt. Es geschah dadurch, daß ich an einem Zionisten-Kongreß teilnahm und dort Max Nordau sprechen hörte. Seine äußere Erscheinung war nicht imposant, aber sie war in ihrer Korrektheit und Soigniertheit und der reservierten Abgemessenheit der Gebärden höchst eindrucksvoll. In seinem Vortrag war kein Wort dem Zufall oder der Eingebung des Augenblicks überlassen. Er gehörte nicht zu jenen kleinen Demagogen des Vortragspultes, die auf den Augenblick warten, in dem ein Wort von ihnen bei den Hörern zündet, und die dann mit der Bedenkenlosigkeit von Marktschreiern auf diesem Worte herumreiten, bis die Beifallslosigkeit der Hörer sie veranlaßt, nach einem weiteren zündenden Worte zu suchen. Er gehörte auch nicht zu jenen undisziplinierten Rednern, die jeder Assoziation nachlaufen, die ihnen gerade durch den Kopf geht, für die es keine Redezeit gibt und die am Ende des Vortrags über die Einleitung zum Thema noch nicht hinausgekommen sind. Der Vortrag von Max Nordau war ein vollendetes Essay, gefeilt und bearbeitet und abgewogen, in jeder Phrase bedacht und gewollt. Es kam hinzu, daß diese Phrasen von äußerster Präzision waren und die jeweilige innere und äußere Situation des Volkes mit einem Schlagwort umrissen, das unmittelbar einleuchtete. Es verschlägt nichts, daß diese gleichen Vorträge, wenn ich sie heute wieder lese, viel von ihrer ursprünglichen Frische und Überzeugungskraft eingebüßt haben. Sie bleiben, was sie damals waren: von äußerster Verantwortung gegenüber dem Worte und gegenüber dem Hörer inspirierte Äußerungen. Und es war gerade diese Erkenntnis von der Verantwortung, die mich so bedrückte, daß ich von der Zeit an keinen Vortrag, auf den es irgendwie ankam, mehr gehalten habe, ohne ihn vorher bis auf das letzte Wort ausgearbeitet zu haben. Das ist mir so zur zweiten Natur geworden, daß mich eines Tages nach einem Vortrag im Rheinland ein alter, weiser Jude mit der Frage überfallen konnte: „Reden Sie, wie Sie schreiben, oder schreiben Sie, wie Sie reden?“ und ich mußte ihm die Antwort schuldig bleiben.
Die tiefe Befriedigung, die ein geformter und gefügter Vortrag auslöst, habe ich in meinen Studienjahren eigentlich nur einmal erfahren, und zwar in den Vorlesungen des Nationalökonomen Brentano in München. Er war sehr klein von Wuchs, mit einem Kopf, der durch einen ungebändigten Haarschopf sehr groß wirkte. Seine Stimme war hoch und eindringlich, zuweilen schrill. Während der Vorlesung spazierte er auf dem langen Podium des Auditoriums Maximum hin und her und warf seine Weisheit sozusagen von der Seite her in die Hörer hinein. Ich hatte durch die Einsicht in Kolleghefte älterer Semester festgestellt, daß er jahraus-jahrein die gleichen Dinge mit genau den gleichen Worten vortrug, und ohne von Notizen Gebrauch zu machen. Er selbst machte daraus garkein Geheimnis. Es schien im Gegenteil von ihm darauf abgelegt, seinen Hörern diesen Tatbestand unter die Nase zu reiben. Bei besonders dramatischen Gelegenheiten pflegte er zu sagen: „An dieser Stelle erzähle ich seit zwanzig Jahren die folgende Anekdote.“ Zum großen Teil waren sie bekannt, aber es beeinträchtigte ihre Wirkung keineswegs. Die Diktion, das Temperament des Vortrags, die Lebendigkeit und Eindringlichkeit der Sprache blieben das Entscheidende, und zwischen ihm und seinen Hörern war immer ein lebendiger und anregender Kontakt.
Auch andere Professoren trugen natürlich Jahr für Jahr den gleichen Stoff mit den gleichen Worten vor; aber zumeist roch der Vortrag nach abgestandenem Manuskript und schläfriger und einschläfernder Routine. Es blieb nur der Stoff, das Material ihres Vortrags übrig; aber das Lebendige und Belehrende in der Übermittlung des Stoffes, die suggestive Kraft des Sagens und Ansprechens war verloren gegangen. Sie hatten vor sich selbst die Entschuldigung, daß die vielfache Wiederholung des gleichen Stoffes mit den gleichen Worten lähmend und abstumpfend wirkte. Aber das ist für jemanden, der die Gewalt des Wortes einmal erkannt hat, ein völlig untaugliches Argument. Ich habe auf meinen vielen Vortragsreisen zuweilen zwanzigmal hintereinander denselben Stoff in der gleichen Form und in der gleichen Wortfassung vorgetragen, aber es war doch jedesmal ein anderer Vortrag. Es war ein anderer Saal, eine andere äußere und innere Atmosphäre, eine andere Reaktion der Hörer, ein anderes Fluidum, das zwischen Sprecher und Hörer hin und her schwingt.
Josef Kastein schrieb diesen Text 1945 in Palästina. Diese Transkription folgt dem Typoskript im Archiv des Leo Baeck Institute, New York. Eine bis auf wenige abweichende Passagen identische Buchpublikation findet sich in: Josef Kastein, Was es heißt, Jude zu sein. Edition Tremmen, Bremen, 2004, S. 32-65.
Die Schreibweise des Originals wurde unverändert übernommen. Lediglich offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert.