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4. Gestalten.

Bei dem Prozeß von Auslese und Sammlung, in dem unser Leben verläuft, spielen die Gestalten eine nicht mindere Rolle als die Begegnungen mit Dingen. Die Gestalten sind es ja schließlich, die wir, an den Fäden unserer gestaltenden Erinnerung geführt, als Marionetten auf jene Bühne bringen, auf der wir Verfasser, Regisseur und Darsteller, und zumeist auch unser eigenes Publikum sind. Allerdings gehört dazu eine gewisse Lebenskunst. Es gibt Menschen, die ihr Dasein damit verbringen, Gestalten zu jagen, die sie auf der Landstraße des Geschehens einhergehen sehen. Sie werfen ihnen ein dünnes, literarisches Netz hinterrücks über den Kopf, nähern sich dem Objekt, das sie wehrlos glauben, mit dem Mikroskop ihres Intellektes, und reproduzieren das Ergebnis ihrer Schau in vielfacher Vergrößerung für eine Mitwelt, deren Glaube an Demokratie und an den Segen des Kollektivs das Empfinden für das Geniale und das Dämonische abgestumpft hat. Es gibt andere, die – ohne berufliche Nebenabsichten (oder sollte man sagen: Hauptabsichten?) – Gestalten sammeln, um im Verkehr mit dem Nebenmenschen bereicherter und bedeutender zu erscheinen. Das scheint mir eine durchaus legitime Art, einen Hohlraum auszufüllen. Seht ihr den Mann nicht ins Bedeutende aufschwellen, der über Toscanini erzählen kann: „Da habe ich ihm gesagt: höre mal, mein lieber Arturo ...“?

Ich habe Toscanini – den großen Adligen in der Kunst und in der Gesinnung – viele Male in der Scala zu Mailand dirigieren hören. Aber ich habe nie zu ihm „lieber Arturo“ gesagt. Als ich ihm durch Zufall im kleinen Theater San Materno in Ascona einmal vorgestellt wurde, habe ich nichts als „Buena Sera“ gesagt, und dann geschwiegen; man bezichtige mich nicht der Bescheidenheit oder der Schüchternheit. Es war lediglich Respekt. Aber der Wunsch, sogenannte „Berühmtheiten“ kennen zu lernen, besonders wenn man etwas von ihnen gehört oder gelesen oder gesehen hat, ist überhaupt eine problematische Sache. Das Bild, das man sich ungewollt aufgrund ihrer Werke von ihnen macht, stimmt meistens mit dem Bilde, das sie in ihrem Alltag darbieten, nicht überein. Ich meine damit nicht einmal so sehr ihre äußere Erscheinung. Da sind Enttäuschungen unvermeidlich. Wie so oft bin ich Menschen in der Welt begegnet, die es mir nie verziehen haben, daß ich keinen langen weißen Bart trage und nicht mindestens 100 kg wiege. Ich meine jene Diskrepanz, die so oft die Sphäre des Schaffens von der des Privaten trennt. Gewiß: es wäre der erstrebenswerte Idealfall, daß ein Mensch, der Großes oder Schönes schafft, auch in seinem privaten Dasein dem Bilde seines Werkes entspreche. Aber es scheint doch zumeist so zu sein, daß dem Schaffenden in der Stunde des Schaffens, der Produktivität, der Gestaltung Eigenschaften zur Verfügung stehen, die vom Akt des Schaffens selbst aufgerufen und aktiv gemacht werden. Ist die Spannung des Schöpferischen vorüber, so sinken diese Eigenschaften wieder in ihre Tiefen zurück und stehen dem Menschen in seinem privaten, in seinem banalen Alltag nicht immer zur Verfügung. Es ist dann nicht seine Schuld, daß er enttäuscht. Es ist die Schuld dessen, der sich nicht mit den Zeugen seines Könnens hat begnügen wollen und ihnen die persönliche Bekanntschaft glaubte hinzufügen zu müssen.

Wer sich vor persönlichen Enttäuschungen bewahren will, die umso unnötiger sind, je mehr das Werk des Künstlers einen anspricht, sollte diese Gefahr der Diskrepanz stets vor Augen haben. Ich bin es zufrieden, daß ich es stets getan habe, und daß mir eine sehr reale Erfahrung dabei geholfen hat. Sie bezieht sich auf einen Schriftsteller, der noch lebt, und dem man den inneren und den äußeren Frieden wünschen sollte, noch sehr viele Bücher zu schreiben. Zu Beginn des ersten Weltkrieges stieß ich auf ein Buch von ihm, das – wie fast alle seine guten Bücher – eine auffallend geringe Publizität erlangt hatte. Ich versuchte spontan, mit ihm in brieflichen Kontakt zu kommen. Es gelang mir, trotz Kriegszeiten und Feldpost. Ich las von da an willig und begeistert alles, was er schrieb. Aber zur persönlichen Bekanntschaft kam es nicht. Ich dachte, das Ende des Krieges würde die Möglichkeit bringen. Aber dann war ich schon zögernd geworden. Ich hatte des Öfteren über ihn mit Menschen gesprochen, die ihn aus seinem Alltag kannten. Milde Urteile lauteten: „Ein Kauz.“ Andere sagten: „Unzugänglich, aggressiv, maßlos.“ So hatte jeder gegen den Privatmann seine Vorbehalte und seine Beschwerden. So hielt ich mich zurück.

Aber als ich eines Tages nach Deutschland fuhr und in die Stadt, in der er lebte, bestand die Möglichkeit, ihn kennen zu lernen. In einem gastfreien Hause fand eine Art Symposion statt, bei dem die Möglichkeiten einer Renaissance der hebräischen Kultur, besonders des Theaters, in größerem Kreise von Schriftstellern, Gelehrten, Redakteuren und Regisseuren zur Debatte standen. Unter den Geladenen war auch der von mir – bis heute – bewunderte Dichter. Wir saßen in zwei ganz verschiedenen Winkeln der großen Halle. Mein Nachbar, der Herausgeber einer der besten Zeitschriften, die damals in Deutschland erschienen (es war 1929), wollte mich spontan mit jenem bekannt machen. Ich sagte ihm: „Noch nicht; ich möchte ihn erst ein wenig beobachten.“ Die Beobachtung trug Früchte, als er aufstand, um zum Thema zu sprechen. Es war deprimierend, in Inhalt, Form und persönlichem Verhalten gleich bedauerlich. Ich sagte zu meinem Nachbarn: „Einer, der es bereits zu etwas gebracht hat, sollte es doch nicht mehr nötig haben, persönlich unausstehlich zu sein.“ Und ich verließ den Abend, ohne seine persönliche Bekanntschaft gemacht zu haben. Ich bedauere es nicht. Ich bin durch keine persönliche Enttäuschung daran gehindert, in ihm weiterhin einen sehr großen Schriftsteller zu sehen. Später, als er als Flüchtling in Paris saß, schrieb er mir nach Palästina ausführlich, fast in der Form einer Lebensbeichte, über seine Stellung zum Judentum.

Ich kann mich ansonsten nicht rühmen, die Bekanntschaft vieler „großer Männer“ gemacht zu haben. Ich kenne einige Männer die, wenn sie einmal gestorben sein werden, mit einiger Wahrscheinlichkeit den Titel „großer Mann“ verliehen bekommen werden, nachdem man sie zu ihren Lebzeiten sehr erfolgreich vernachlässigt hat. Aber da sie noch leben und der Ausgang also ungewiß ist, – das heißt, sie könnten unter Umständen noch zu Lebzeiten anerkannt werden – will ich ihre Namen nicht nennen. Soweit diese potentiellen großen Männer in Palästina leben, sind ihre post-mortem Aussichten allerdings recht günstig, fast noch günstiger als im literarischen Paris der Vorkriegszeit. Hier genügt es, mit einiger Regelmäßigkeit in den Landeszeitungen Artikel veröffentlicht oder ein zu nichts verpflichtendes Amt in einer der zahlreichen Parteien ausgeübt zu haben, um unmittelbar nach der Beerdigung – die hier immer in unziemlicher Eile erfolgt – in das Pantheon der Volksgroßen eingeordnet zu werden. Das ist übrigens einer der wenigen Punkte, in dem wir von vorbildlicher Bescheidenheit sind. Aber als Sammler nationaler Berühmtheiten sind wir noch jung, und müssen, wie alle Anfänger, mit dem vorlieb nehmen, was sich gerade bietet.

Von den noch lebenden großen Männern darf ich Einstein deswegen erwähnen, weil er solche Erwähnungen sicher derartig gewöhnt ist, daß er sie nicht mehr zur Kenntnis zu nehmen braucht, weder als Störung noch als Erhebung. Er wird es ja auch gewohnt sein, wenn man ihm nachdrücklich versichert, daß man von seiner Relativitäts-Theorie auch nicht das mindeste versteht. Und er möge noch einmal nachträglich versichert sein, daß ich ihm nicht deswegen ein Buch gewidmet habe. Aber diese Widmung führte automatisch dazu, daß ich ihn – auf einer späteren Reise nach Deutschland – persönlich kennen lernte. Der Anfang der Bekanntschaft stand unter dem Zeichen von zwei Mißverständnissen, an denen ich gewiß nur passiv schuld bin. Wir hatten uns nach einer seiner Vorlesungen vor dem Physikalischen Institut in Berlin verabredet. Als ich zur Stelle kam, stand er bereits vor der Türe und sah mit vollkommen verlorenen Blicken nach irgendwo hin in die Weite. Ich nehme an, daß er sehr intensiv gedacht hat, und zwar an alles andere als den Autor, den er hier erwartete. Ich trat an ihn heran, zog den Hut (wozu eine gewisse Überwindung gehört, wenn man außerhalb der großen Städte immer eine Baskenmütze trägt, die alle meine Freunde scheußlich finden) und murmelte meinen Namen. Er sah mich nicht an. Sein Denkprozeß war offenbar noch nicht zuende. Aber in seinem Unterbewußtsein muß etwas entscheidendes vorgegangen sein, denn er öffnete seinen Mantel, holte aus der hinteren Hosentasche sein Portemonnaie und zog eine Münze heraus. Ich sah, daß es zehn Pfennig waren. Ich fand, daß das ein unangemessener Abfindungsbetrag sei, und sagte ihm das auch. Daraufhin nahm er mich zur Kenntnis, und dabei kam sogleich das zweite Mißverständnis zum Vorschein. In beinahe vorwurfsvollem Ton erklärte er mir, daß er von mir die Vorstellung eines älteren beleibten Herrn gehabt hätte. Nun, das war (und ist es noch heute) ein großer physikalischer Irrtum, den man einem Laien verzeihen kann, aber kaum einem berühmten Physiker. Aber wir sind dann doch zu einer leidlichen Verständigung über nicht-physikalische Fragen gelangt.

Im Übrigen bleibe ich dabei, daß es doch das Schönste ist, wenn man große Menschen in ihren Werken entdeckt und kennen lernt, und vielleicht das Allerschönste, wenn man sie entdeckt, nachdem man sie einmal aus der Unreife oder Ungeduld der Jugend anzuerkennen sich geweigert hat, so etwa wie es mir mit Brahms erging. Der Begriff „großer Mann“ hängt im übrigen von vielen subjektiven Voraussetzungen ab, und oft auch nur vom lokalen Kolorit, und viele Menschen werden um keines besonderen Verdienstes willen erinnert. Hat Amerigo Vespucci es wirklich verdient, daß nach ihm ein ganzer Kontinent Amerika genannt wurde? Und ist es wirklich der Mühe wert, ganze Generationen den Namen des Mannes lernen zu lassen, der aus falsch verstandenem Ehrgeiz, um sozusagen in die Geschichte einzugehen, den höchst wahrscheinlich ebenso belanglosen Tempel zu Ephesus verbrannt hat? Solche geschichtlichen Unangemessenheiten nehmen nur überflüssigerweise denen den Platz fort, die – mit der obenerwähnten subjektiven Einschränkung – wirklich zu den „großen Männern“ gehören. Und als solchen beschwöre ich jetzt die Gestalt von Claus Lindemann herauf.

Ich habe seiner schon zu Anfang gedacht, aber zu kurz. Claus war gedrungen, dick, kugelrund, feuerrot und angemessen gekrönt mit einem roten Haarschopf. Seine Karriere als Matrose auf einem Segelschiff hatte er beenden müssen, als er einmal vom Mast gefallen war. Wie das geschehen konnte, habe ich nie verstanden, da seine O-Beine mir für das Umklammern von selbst sehr starken Masten sehr geeignet schienen. Aber seiner stets guten Laune hat das keinen Abbruch getan, und für Jahre hinaus hat er meine Sprachbegriffe dadurch verwirrt, daß er mir mit ernstem Gesicht erzählte, er sei so beleibt, weil er damals die „Mast-Kur“ gemacht habe. Claus konnte schlechthin alles. Er striegelte Pferde, er baute Mauern und Zäune, er legte im Hause die Röhren, als der Gebrauch von Gas aufkam (ich meine Leuchtgas, denn Gas nannten die Ostfriesischen Bauern das Petroleum), er tischlerte und schlosserte und setzte Fensterscheiben ein. Daß er kleine Schiffe und große Schiffsmodelle machen konnte, war selbstverständlich. Er war auch – die Wahrheit muß an den Tag, trotz Professor Fleming – schon zu Anfang dieses Jahrhunderts der Mann, der das Penicillin anwandte. Wenn wir irgendwelche Wunden hatten – und wann hätten wir sie nicht gehabt – nahm er von einem Stück Weißbrot oder Weißkäse (in der entarteten Sprache der Österreicher Topfen genannt), die er immer auf einem Fenster im Pferdestall liegen hatte, den Schimmel herunter und breitete ihn über die Wunde aus. Um ihn dort festzuhalten, klebte er die Haut von der Innenseite einer Eischale darüber. Sie zog sich alsbald fest zusammen und der Verband wirkte Wunder. In besonders schwierigen Fällen suchte er im Gebälk des Packhauses nach einem heftig verstaubten Spinngewebe, das er dann applizierte. Für die Beseitigung von Warzen auf den Händen – der Himmel mag wissen, woher wir Jungen uns immer die Warzen geholt haben! – verfügte er über ein Mittel, das man als heroisch bezeichnen muß. Er nahm ein Stück Zündschwamm, legte es über die Warze, brannte es mit einem Streichholz an und ließ uns dann auf einen Tisch oder auf die hohe Futterkiste steigen. Als er es mir das erste Mal befahl, fragte ich nach dem Grunde. Er sagte bedeutsam: „Wenn es erst richtig brennt, tut es so weh, daß Du springen mußt. Und so kannst Du gleich runterspringen.“ Natürlich hatte er recht und selbstverständlich verschwanden die Warzen.

Aber er war nicht nur ein großer Arzt für den Körper, sondern auch für die Seele. Er gab mir in mehrfacher Richtung die Sicherheit, die mir fehlte. Da war zunächst eines: ich habe schon als Kind eine unwiderstehliche Abscheu gegen die Berührung mit einer Masse von Menschen gehabt. Geriet ich einmal irgendwo in ein Gedränge, hätte ich vor Ekel und Widerstand am liebsten weinen mögen. Aber die etwas rauhe Umgebung in der Schulzeit machte solche Berührungen zuweilen unvermeidlich. Simpel ausgedrückt: sobald die Jungen der Umgebung diese Neigung zum körperlichen Abstandnehmen herausgefunden hatten, deuteten sie das als ein Zeichen von Feigheit und erkoren sich den Feigling als bequemes Opfer von konzentrierten Massen-Angriffen. Claus sah sich einmal eine solche Prügelei (sie war etwas einseitig, da ich das Opfer überlegener Kräfte war) aus gelassener Entfernung an. Es war sein Prinzip, nie persönlich zu intervenieren. Als ich dann später ziemlich verbeult und farbig bei ihm im Stall saß, sprach er die weisen Worte: „Wenn man das nicht will, dann muß man sich eben Luft machen!“ Ich fragte ihn: „Wie macht man Luft?“ Aus diesem Gespräch entstand der „Luftmacher“. Er bestand aus einem mit Schrotkörnern gefüllten Gummischlauch, den man, mit einer Lederschlaufe um das Handgelenk befestigt, im Ärmel trug. Ließ man ihn zur rechten Zeit „erscheinen“, so hatte man sehr schnell „Luft“, ohne jemanden mit der Hand betasten zu müssen. Es war eine große Erleichterung für mich, zumal der Luftmacher mir den Respekt der ganzen Umgebung einbrachte.

Auch auf einem anderen Gebiet war Claus ein großer Psychologe. Die eigentümliche Meeresnähe und die Nähe weiter Moor-Strecken und dunkler, geheimnisvoller Seen in dichten Eichenwäldern belebte alles mit zahllosen Geistern und Dämonen und unheimlichen Erscheinungen. Und alle waren Wirklichkeit, an die wir fest glaubten. Die Existenz des Klabautermanns, der unten im Schiff rumort, war eine oft verbürgte Tatsache. Sie stand in vielen Büchern geschrieben, genauso wie das Elms-Feuer, das an der Spitze des Mastes aufflackert und Böses verkündet. Ihm gleich stand das Irrlicht, eine wandernde Seele, die dich tief und tiefer in das Moor hineinlockt. Und unten im Waldsee hockt der Nöck, der sich eine große Kirchenglocke aus einer versunkenen Stadt gestohlen hat und den Fischern läutet, die zu ihm kommen werden, ob sie wollen oder nicht. Und wehe dem Schiff, das dem Fliegenden Holländer begegnet, dem unheimlichen Segler ohne Mannschaft! Auch die alten Tabakspeicher und die hohen gewölbten Keller haben natürlich ihre lokalen Geister.

Es waren besonders die letzteren, mit denen wir persönlich befaßt waren, denn sie waren unserem Alltag sehr verdächtig nahe. Es gab darunter harmlose, etwas schreckhafte Geister. Sie wichen schon nervös zurück, wenn man laut pfeifend durch das Dunkel ging. Wir taten es, und es hat immer geholfen. Aber es gab andere Geister, weniger schreckhafte, recht rüpelhafte und hinterlistige. Sie machen plötzlich in der großen Stille ein knackendes Geräusch, daß du zusammenfährst und mit dem Kopf gegen den Treppenpfosten stößt oder mit dem Knie gegen die große Tonne. Und das ist es, was sie wollen. Und wenn man nicht gleich Reißaus nimmt: wer weiß, was sie sonst noch anstellen!

Claus glaubte natürlich auch an solche Unholde. Aber sozusagen mit einer skeptischen Einschränkung. Das kam an meinem zwölften Geburtstag deutlich zum Ausdruck. Er schenkte mir ein schönes Taschenmesser mit Perlmutter-Einlage, dessen große Klinge, einmal geöffnet, nur durch den Druck auf eine Feder wieder zu schließen war. Seine Ansprache bei Überreichung des Messers ist mir ewig unvergeßlich. Er sagte: „Wenn Du jetzt durch den Keller gehst oder über den Hof, und da kommt Dir ein Geist entgegen, dann nimmst Du das Messer und stichst ihn. Wenn er dann „Au“ sagt, dann ist das gar kein Geist. Aber wenn er nicht „Au“ sagt ...“ und er zuckte die Achseln mit tiefer und resignierter Weisheit, „wenn er nicht „Au“ sagt, dann kannst Du eben nichts machen.“

Dieses Nebeneinander von Gewißheit und Unabwendbarkeit gab mir für später viel Sicherheit, obgleich ich nie in die Situation kam, von meinem Taschenmesser gegen Geister Gebrauch zu machen. Ich hätte es wahrscheinlich auch garnicht können, denn schon der Begriff „Stechen“ war mir furchtbar und widerwärtig. Und er war es nicht erst von der Zeit an, da ich betrunkene Matrosen vor den Hafenkneipen im Kampf sah. Das Entsetzen vor der Grausamkeit wurde schon sehr früh in mir geweckt, und zwar aus einer Richtung her, die an sich unverfänglich erscheint: vom deutschen Volksmärchen her. Ich habe in späteren Jahren, als ich mich dem Studium der Kulturgeschichte zuwandte, viele Märchen der Völker gelesen, der primitiven Völker. Das enthält keine Abgrenzung, denn sofern es sich nicht um Kunst-Märchen wie die von Andersen handelt, sind alle Märchen das Produkt früher, primitiver Stadien eines Volkes und seiner primitiven seelischen und geistigen Verfassung. Es geht dort zuweilen sehr rauh und rüpelhaft und auch blutig zu. Aber ich glaube, was Grausamkeit anbetrifft, können die deutschen Volksmärchen ihren Platz sehr gut behaupten; es wimmelt da von abgeschnittenen Köpfen, Nasen, Ohren, von Torturen und Quälereien jeder Art, von vergifteten Äpfeln und glühenden Pantoffeln. Sie sind eine Orgie von hassenswerten und unmenschlichen Dingen. Es ist nicht zu verstehen, warum Mütter und Erzieher ihren Kindern solche Greuel erzählen. Ob das Grausame dem Kinder-Stadium so nahe liegt? Oder ob die seelische Undifferenziertheit des Kindes (bei Individuen wie bei Völkern) für den Begriff der Grausamkeit eigentlich garkeinen Raum läßt? Und wird vielleicht der Begriff der Grausamkeit erst aktuell, wenn schon eine gewisse Verweichlichung, eine Art Degeneration der Seele eingetreten ist? Zeiten und Völker, die sich als „stark“ ausgeben, die von Erneuerung und Revolution reden, die das Morsche und Dekadente aus ihrer Mitte auszumerzen versprechen, weisen jedenfalls einen so spontanen und kompletten Rückfall in eine längst überwunden geglaubte Grausamkeit auf, daß diese Frage berechtigt erscheint. Als historische Belege dafür dienen die französische Revolution, die russische Revolution, der Nazismus Deutschlands und der Shintoismus des modernen Japan.

Damals ging ich mit meinen Sorgen und meinem Entsetzen zu Claus Lindemann. Ich hatte den berühmten „Struwelpeter“ geschenkt bekommen, dieses grauenhafte, pädagogisch gemeinte Elaborat, wo einem Kinde die Daumen abgeschnitten werden, wo ein anderes lebendigen Leibes verbrennt, wo ein anderes in behaglicher Darstellung als langsam und trotzig verhungernd gezeigt wird, und so fort. Es verursachte mir Albdrücken. Ich mußte das Buch auf jeden Fall wieder loswerden, und ich hatte niemanden, mit dem ich über meine Angst vor dem Buch sprechen konnte, als eben mit Claus. Er nahm das Buch in seine breiten roten Hände und sagte: „Gib mich das Buch mal mit nachhause. Ich will mich das am Sonntag mal durchlesen.“

Ich bin mir erst später darüber klar geworden, daß Claus ein großer Pädagoge war. Ich wußte, daß er niemals ein Buch las. Also wird er auch den „Struwelpeter“ nie gelesen haben. Er löste das Problem stillschweigend. Er gab mir das Buch nie zurück und hat auch nie mit mir darüber gesprochen. Und da er es mir aus den Augen brachte, brachte er es mir auch aus dem Sinn. Fürwahr, ein großer Mann. Schade, daß ich ihm kein dauerndes Denkmal setzen kann, sondern nur dieses hier. Aber es würde auch an gewissen, nicht vorhandenen ästhetischen Voraussetzungen scheitern. Er selbst pflegte mit edler Resignation zu sagen: „Ich kann keine Kaninchen fangen. Sie laufen mir zwischen den Beinen durch.“

Am meisten hat Claus zu unserer Befreiung von der Geisterfurcht wohl dadurch beigetragen, daß er uns aus der Tiefe seines gesunden Skeptizismus beibrachte, wie man solche Geisterfurcht bei Anderen willkürlich und künstlich, ja ich möchte beinahe sagen: künstlerisch, erzeugt. Darin lag eine unendliche Weisheit, denn wer den Zauber weiß, ist nicht mehr sein Opfer, so wie der, der den Namen des Geistes kennt, ihn sich dienstbar machen kann. Wobei der Bescheidenheit wegen angemerkt sei, daß wir es in der Praxis meist mit der Beschwörung fiktiver Geister zu tun hatten. Zum Nutzen und Frommen kommender Geschlechter mag ein realistisches Rezept – Copyright Claus – übermittelt werden. Man nehme eine Rolle Nähgarn. An das eine Ende des Fadens befestige man eine Stecknadel und im Abstand von 5 bis 6 cm davon einen dunkelfarbigen Knopf. Wenn es Abend geworden ist, suche man das Haus dessen auf, dem man die Sensation einer Geister-Erscheinung zugedacht hat. Man befestige die Stecknadel im Mittelteil des Fensterrahmens, was voraussetzt, daß die Wohnung ebenerdig direkt an der Straße liegt (was in unserem Stadtviertel die Regel war). Dann begebe man sich zwei oder drei Häuser weiter, stelle sich dort in den Schatten des Hauseingangs, indem man immer sorgfältig die Rolle Nähgarn sich abspulen läßt, und beginne, den Faden in drillende Bewegung zu setzen. Schon nach ganz kurzer Zeit hat der Drill den ganzen Faden ergriffen, sogar die Stelle, an der der Knopf befestigt ist. Er gerät in Drehung und Schwingung und rasselt gegen die Fensterscheibe. Der Betroffene fährt auf, vermutet einen Bubenstreich und öffnet stürmisch das Fenster. Das Geräusch hört auf und draußen ist kein Bube zu sehen. Das Fenster wird unwillig staunend geschlossen. Aber nach zwei Minuten klopft der Geist wieder sein finsteres Memento – bis es den Geister-Erzeugern zu dumm wird und sie den Standort und das Thema wechseln.

Es ist mir später mehr als einmal zweifelhaft geworden, ob solche realistische Erziehung, wenn sie auch Geister bannen kann, damit zugleich auch das Empfängnis-Vermögen für das Unheimliche beseitigen und beschwichtigen kann. Es gibt Dinge, die unheimlich sind, weil sie so ganz und gar unentrinnbar sind und so gewaltig und unstörbar in ihrem Andringen. Dahin gehört ein Erdbeben. Man wacht plötzlich im Morgengrauen auf, weil eine merkwürdige Erschütterung den ganzen Körper bewegt. Irgendeine Gigantenfaust schüttelt das Haus. Vom Nebenzimmer her hört man die alten Gläser in der Vitrine zart gegeneinander klingen. Und jetzt beginnt das Bett, auf seinen dünnen eisernen Stelzen sich langsam von der Wand fortzubewegen in das Zimmer hinein. Man zittert nicht, sondern es zittert dich von den Stößen des Giganten unter der Erde. Vielleicht dauert das Ganze nur drei oder vier Sekunden, aber sie sind doch jene Ewigkeit, in der man hilflos und ausgeliefert daliegt, klein und winzig, und ein gebrechliches Nichts in noch nicht zupackendem Griff der großen Gewalten. Es ist unheimlich. Es ist viel unheimlicher als der Augenblick, da man zum ersten Male am Kraterrande des Vesuv steht. Da war ich eigentlich nur von einer Sehenswürdigkeit beeindruckt. Das Spontane war zu sehr abgeschwächt von der bequemen Auffahrt, der wachsamen seismographischen Station und den konzessionierten Führern und Aufsehern, die imgrunde genommen nichts tun als ein etwas unbändiges und noch nicht ganz unter Kontrolle gebrachtes Museum dem zahlenden Beschauer fachmännisch vorzuführen.

Sie tun es natürlich in Pompeji, wo jeder Steinbrocken gebändigt, kontrolliert und sogar protokolliert ist, erst recht. Das Grauen von damals heraufzubeschwören will ihnen allerdings nicht recht gelingen. Sie versuchen, das dadurch auszugleichen, daß sie „nur für Herren“ mit bedeutsam sprechenden Gebärden die Räume des Lupanar vorführen, eine milde Spekulation auf Lüsternheit und Trinkgeld. Aber trotzdem war ich in Pompeji dem Unheimlichen näher als auf dem Vesuv. Ich tat, was ich auch in Baalbek und an den Pyramiden von Gizeh tat und was ich sogar den unglücklichen Opfern von Thomas Cook empfehlen würde, wenn ich nicht wüßte, daß sie gegen jede selbständige geistige Regung immun sind: ich habe das Trinkgeld vorher gegeben! Ich habe mir damit das Recht erkauft, allein zu sein und nicht im Gedränge und im Geschwätz mir selber und den Dingen verloren zu gehen. Wenn man sich dann in das Atrium eines Hauses setzt, gelassen und aufmerksam, geschieht es einem doch, daß das Haus wieder lebendig wird, daß die Schönheit der Dinge und Formen, wenn sie auch von anderen ausgeborgt sind, wieder ihre Leuchtkraft bekommt, daß die Räume wieder der Ausschnitt einer Stadt werden, in der Menschen hausen, die vom materiellen Leben das Maximum verlangen, weil sie dem inneren Leben nur ein Minimum geben können; expansive Geschöpfe, von einer Macht-gläubigen Nachwelt um ihr Imperium beneidet; behaglich zu Füßen des Berges wohnend, der eine so adäquate Götterwohnung darstellt, bis dann alles das in Stunden zugedeckt und eingesargt ist, von einer Gebärde der Natur beiseite gewischt, ohne Wille und Absicht, und gerade darum so unheimlich.

Es scheint eine Art kultureller Anstandsregel zu geben, die dazu verpflichtet, andächtig oder vom Unheimlichen angeweht zu erschauern, wenn man zum ersten Mal vor der Sphinx steht. Ich habe mein Bestes getan, zu erschauern. Es ist mir nicht gelungen. Ich glaubte zuerst, es läge an der Anwesenheit einer englischen Reisegesellschaft, Menschen jenes Stammes, die aus Angst, etwa vorhandene Gefühle zum Ausdruck kommen zu lassen, sorgfältig den Wortschatz normiert haben, den man bei solchen Anlässen gebrauchen darf, ohne sich als excentrisch zu gebärden. Hier lautete das Standardwort: Wonderful! Ich wartete, bis sie gegangen waren. Aber sofort erschien eine Gruppe von Deutschen, und sie waren viel wortreicher. Ich setzte mich inzwischen in den Sand und vervollständigte meinen Reisekalender, d. h. ich schnitzte in meinen soliden Wanderstock zu den übrigen Namen noch das Wort „Gizeh“ hinzu. Als ich damit fertig war, stand ich der Sphinx alleine, sozusagen Auge in Auge gegenüber. Das heißt: sie sah mich nicht. Aber ich sah sie sehr aufmerksam an. Ich war damals noch ein junger Student, und ich werde damals gewiß nicht so formuliert haben, wie ich es heute tue, mehr aus der Rückschau und nachdem ich mehr von den Kolossal-Bauten, von diesen ins Frevelhafte getriebenen Angstgebärden eines Volkes gesehen habe, das über das Leben und den Wunsch nach ewiger Dauer des Lebens nicht hinausdenken kann und das, von nichts als vom Leben getrieben, dem Tode ein Schnippchen schlagen will, indem es seine Realität ignoriert. Sie erfinden sich das Ka, ihre Doppelseele, in der sie weiterleben, indem sie ihr eine Hülle, eine Gestalt geben; eine dauerhafte Gestalt aus Stein, aus Granit, aere perennium. Und schon sind sie ewig und gottgleich geworden, nein: Götter selbst, große Götter, die nach Ewigkeits-Wohnungen verlangen, gebaut aus den hinsterbenden Kräften ruchlos vertaner Hunderttausende – eine ungeheure Demonstration des Größenwahns, die die panische Furcht vor dem Nichts, vor dem Nicht-mehr-da-sein, zum Schweigen bringen soll. Mehr sah ich auch nicht in der Sphinx: das Schweigen eines Wahns, der die Gebärde des Mystischen und Geheimnisvollen wie einen Mantel vor die Todesangst hält.

Wenige Wochen später, als ich über der Fülle neuer Eindrücke die Sphinx längst in die Reserve-Kammer des später zu Erinnernden gelegt hatte, unterlag ich aber doch spontan dem Eindruck des Unheimlichen, aufgebaut aus einer Fülle verzerrter Gestalten. Ich war zum ersten Mal in meinem Leben zur Klagemauer gegangen. Es war der erste Weg, den ich machte, als ich gegen den späten Nachmittag in Jerusalem ankam. Obgleich die Begriffswelt der Orthodoxie, die das Elternhaus mir in einem gewissen Umfang vermittelt hatte, in den Jahren des Studierens von mir abgefallen war wie ein Gewand, in dem man sich unbehaglich fühlt, blieb doch eine Unsumme von fixierten Vorstellungen in voller Kraft bestehen. Dazu gehörte auch die Klagemauer, diese historische Reliquie, dieses seltsame Stück Mauerwerk, vor dem ein Volk außerhalb seines Tempelplatzes von einst, gewissermaßen für alle Zeit ausgesperrt und jenseits der Mauer stehend, um einen Einlaß bettelt, den es nie bekommen wird. Es liegt eine tiefe Treue in dieser Vergeblichkeit und eine große Kraft der Schwäche, und beides gehört vielleicht zu den tiefsten Wurzeln, die eine Religion in das Erdreich des Erlebens aussenden kann.

Der Alltag eines solchen Reliquien-Dienstes ist allerdings weniger erhebend. Aber diskutieren läßt er sich nicht. Wer eine gültige und legitime Praxis darin sieht, Zettel mit Gebeten und persönlichen Wünschen in die Fugen der großen Quadern zu legen, kann nicht mit dem streiten, der darin nicht Religion, sondern tiefen Aberglauben sieht. Und wer die Organisation von berufsmäßigen Bettlern vor der Mauer und in den Gassen, die dorthin führen, als störend und zuweilen mehr als unwürdig empfindet, kann nicht mit dem rechten, der da sagt, daß diese Bettler ein gottgefälliges Amt ausüben, da sie dem Menschen die Möglichkeit geben, Gutes zu tun. Über diese Diktatur des jüdischen Bettlers ist schon viel geschrieben und gesagt worden. Hier im Lande funktioniert sie reibungslos. Am Donnerstag, so frühzeitig, daß man vor dem Shabbat-Abend noch über den Betrag disponieren und rechtzeitig einkaufen kann – begibt jeder, der ein solches gottgefälliges Amt ausübt, sich auf seine Runde und besucht seine Läden und Wohnungen. Er sagt nichts dabei. Und der Besuchte sagt auch nichts dabei. Die Schale mit den Kupfermünzen (im Werte der allgemeinen Kriegsteuerung angepaßt) steht schon da, und während der Ladenbesitzer eifrig auf einen Kunden einredet, greift er nebenbei in die Schale und gibt dem Gottgefälligen. Es ist der einzige Beruf in diesem Lande, der sich schweigend abwickelt.

Das gilt allerdings nur für die Bettler mit einem bestimmten Wirkungskreis, mit einem Bezirk, der ihnen nicht streitig gemacht werden kann und über den sie zuweilen durch Verkauf, als Erbschaft oder als Mitgift, für die Tochter verfügen. Diejenigen hingegen, die die Anstrengung nicht scheuen, und jeder Möglichkeit nachgehen, sind umso wortreicher und verfügen über eine hemmungslose Kraft der Gebärden und des Ausdrucks. Ich bekenne beschämt, daß es für mich langer Jahre der angestrengten Übung bedurft hat, um nicht auf jede Gebärde des Verlangens mit einem unbehaglichen Gefühl und einer viel zu großen Geldmünze zu reagieren. Aber wenn das Gesicht des Gottgefälligen sich bei deinem Herannahen spontan zu der weinenden Maske eines grenzenlosen, noch nie erhörten Unglücks verzieht, wenn der Schrei nach „Erbarmen“ sich offenbar zum allerersten Male von den aufgesperrten Lippen losreißt – dann kann nur ein Hartgesottener nicht in die Tasche greifen und sich loskaufen.

Ich hatte bei jenem ersten Besuch noch keinerlei Praxis im Gesotten-Sein. Aber ich fühlte mich auch nicht als Opfer der Gottgefälligen. Da alles so neu und erstmalig war, erkannte ich ihren Anspruch auf Tribut durchaus an. Ich war noch ein Fremder, der dafür zu zahlen hatte, daß er hier im Halbdämmer des späten Nachmittags stehen durfte, ganz bereit, dem Eindruck des Ortes zu unterliegen, ganz bereit, die hohe Mauer mit ihren alten Steinen als großes historisches Zeugnis auf sich wirken zu lassen und ohne Widerstand das Opfer unklarer Unterströme von Romantik, Mystik und Sentiment. Ich ging beinahe auf Zehenspitzen, äußerlich und innerlich. Und ich muß bekennen, daß die Gottgefälligen ihren Dienst an mir auf höchst taktvolle Weise verrichteten. Sie schienen ebenfalls auf Zehenspitzen zu gehen. Sie schwebten förmlich an mich heran. Sie murmelten leise, mit Stimmen, die dem Halbdämmer des späten Nachmittags feinfühlend angepaßt waren; und ich gab und gab, und die Fülle der Segnungen müßte mich, wenn es in der Welt mit rechten Dingen zuginge, eigentlich bis heute begleiten. Aber in den unruhigen Zeiten, in denen wir leben, nützen sie sich scheinbar zu schnell ab. –

Wie gesagt: ich gab, und natürlich gab ich über die ortsübliche Norm hinaus. Mein Vorrat an kleinen Münzen war bald erschöpft. Ich wandte mich zum Gehen. Da, an der Ecke einer Gasse, aus einem Torbogen heraus, der in eine unsichtbare, dunkle Höhle zu führen schien, streckten sich mir zwei gekrümmte Hände entgegen und rauhe Kehllaute rasselten Unverständliches, das eindeutig war. Ich suchte in meiner Tasche. Das Kupfer war fort, das Nickel auch. Eine Silbermünze war noch da, wenn auch nicht übermäßig im Wert, so doch jenseits von allem, was hier für solche Gelegenheit gegeben wird. Ich zögerte. Schließlich ist die Reisekasse eines Studenten nicht unerschöpflich. Aber die gekrümmten Hände wurden dringlicher. Sie rückten vor, und mit ihnen rückte aus dem Dunkel des Torbogens ein Kopf, ein Frauenkopf, von einem bunten Kopftuch überhüllt. Wie im Rembrandt’schen Halbschatten zeichnete sich ein Gesicht ab, alt, verfallen, grauenhaft triefäugig und zahnlos. Es war die Hexe aus einem mittelalterlichen Teufelstanz. Sie witterte eine große Beute. Sie raspelte einen rauhen Segen ab, der wie ein dunkler Fluch wirkte. Ich zuckte unwillkürlich zusammen und warf ihr die Silbermünze in die Hand. Sie glänzte seltsam hell in diesem Halbdunkel. Die Hexe vergaß, die Knochenfinger über dieser seltsamen Beute zu schließen. Sie stieß einen Ruf aus, halb Ruf der Überraschung, halb Lockruf von magischer Eindringlichkeit –. Auf diesen Ruf hin tauchte aus dem Dunkel, aus der Höhle hinter dem Torbogen, aus der Unterwelt, die dahinter liegen mußte, ein ganzer Schwarm von alten Frauen auf, huschend, gebückt, verhutzelt, unheimlich schweigend und bewegt – eine ganze Heerschar, wenn es auch nur wenige gewesen sein mögen – eine bunte, Breughel’sche Höllen-Vision, mit Farben grüner und blauer Eindringlichkeit von Tod und Verwesung. Wer kann es mir verargen, daß ich geflohen bin? (Ich habe übrigens später diesen Torbogen nie wieder finden können).

Noch zweier Gestalten aus meiner Kindheit will ich gedenken, eben weil sie nicht unheimlich waren, obgleich die Menschen jener Umgebung so überaus bereit waren, das Unheimliche gerade in jene Vernachlässigten der körperlichen Gestalt zu verlegen, in die Verwachsenen. Man hatte vieles versucht, mich zum Glauben an ihre Gefährlichkeit zu überreden. Es gelang nicht, weil die beiden Verwachsenen, die ich kannte, das Urbild von Offenheit und Güte und Lebensfröhlichkeit waren.

Da ist zunächst Charlotte Bolte, von Alter unbestimmt, von Statur winzig, von Stimme hell und melodisch, von Beruf Retoucheuse, und vom Wesen ein amüsanter Philosoph. Sie wohnte oben im Erker und saß zumeist vor einem großen Guck-Kasten, in dem eine photographische Platte stak. Mit einem feinen Pinsel malte sie mit kaum sichtbarer Farbe kaum sichtbare Linien auf die Gesichter. So aufmerksam ich auch zuschaute, ich bemerkte keine Veränderung. Also schien mir die Arbeit zwecklos. „Aber es geschieht doch da garnichts“ sagte ich ihr. Und daraus entstand ein frühes, philosophisches Gespräch, das unvergessen geblieben ist. „Es geschieht doch etwas“ antwortete sie. „Die Menschen sehen dann auf dem Bilde schöner aus und das freut sie.“ – „Aber wenn es doch garnicht wahr ist!“ – „Dann ist die Freude doppelt groß“ sagte sie, und es hat mir tiefen Eindruck gemacht.

Sie sang bei ihrer Arbeit unaufhörlich, und ich habe viele Lieder von ihr gelernt. Ich fragte einmal: „Warum singst Du immer?“ – „Weil ich so vergnügt bin.“ – „Und warum bist Du so vergnügt?“ – „Weil ich immer singe.“ Ach, Charlotte Bolte! Es ist schade, daß Du gestorben bist, ohne das Rezept deines vergnügten Lebens für eine innerlich verwachsene Nachwelt aufzuschreiben.

Der zweite dieser Vernachlässigten, die so reich bedacht waren, war der Kantor der Gemeinde. Er hatte eine sehr schöne Tenor-Stimme, und von ihm weiß ich die vielen synagogalen Melodien, die mich noch heute begleiten. Er war auch einer der wenigen guten Pädagogen, die es auf dem sonst beklagenswert schlecht ausgestatteten Gebiet des jüdischen Religions-Unterrichts gab. Und nicht nur das: er hatte das, was wir ein lockeres Handgelenk nannten, und wir fügten uns ihm. Viel später habe ich eingesehen, daß er bei mir etwas zuwege gebracht hat, was ich für ein wichtiges Problem im Leben eines Kindes halte. Der Widerstand, den Kinder so oft den Dingen und Menschen und Befehlen entgegensetzen, ist eine natürliche Ich-Entfaltung, aber doch eine, die geleitet werden muß, weil sie in sich selbst keine Möglichkeit der Regulierung und Kontrolle hat. Und es gibt viele Fälle, in denen das Kind sich bei seinem Widerstand nicht einmal wohlfühlt. Insgeheim wartet es darauf, daß dieser Widerstand gebrochen werde. Nun, das hat er ein einziges Mal bei mir besorgt, durch eine einzige, sehr zielbewußte Ohrfeige. Ich habe es ihm nie nachgetragen; wir waren von da an bis weit in die Zeit hinein, da ich ihm entwachsen war, gute Freunde.


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