Josef Kastein
Melchior
Josef Kastein

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4. Kapitel.

Pultdeckel klapperten, Schlüsselbunde klirrten, das Krachen von Rollverschlüssen lärmte häßlich. Für die Dauer einer Minute überschlugen sich alle tagsüber gedämpften Geräusche in die Behendigkeit des Geschäftsschlusses. Eberhardt kannte diese Geräusche seit Jahren, aber sie zerrten heute zum ersten Male an seinen Nerven. Bis die letzten Nachzügler Pult und Schreibtisch geschlossen, verlief ihm eine Ewigkeit.

Dann saß er alleine und wartete, und in dem Maße, wie er dieses Alleinsein erkannte und jedes fremde, forschende, beobachtende Auge von sich fern wußte, entblätterten sich die vielen Hüllen aus Vorsicht und Erziehung und geheimer Furcht und aus Vorbehalt, milderten straffe, gespannte Züge, deckten eine weiche, etwas traurige Müdigkeit auf und ließen das Gesicht eines Kindes sehen, das sich ein wenig bangt und ein wenig traurig ist, daß es in dieser Stunde allein gelassen wird. Wenn jetzt einer da wäre, der einem die Last der Entschließung von den Schultern nähme! Keiner sieht ja, was hier gekämpft wird. Hier wird ein Stück Leben eingesetzt. Man weiß noch nicht, ob es verdorrt oder aufblüht zu unerhörter Fruchtbarkeit. Wenn, wenn es wachsen würde . . . dann müßte es ein Wachstum sondergleichen sein, ein Emporschnellen, ein Wuchern . . . wie die Lianen im 324 brasilianischen Urwald. Aber nicht so ohne Zucht und Ordnung. Und nicht so ohne Frucht und Nutzen . . .

Ganz weit wurden seine Augen mit einem Male. Sie durchstießen die engen Wände seines Zimmers, sie jagten die Straßen hinunter, bis sie am Wasser standen, am ewigen Weg, an der unendlichen Straße, seiner, seiner Straße. Er spreizte die Finger, bis sie wie die Hände eines Gichtkranken standen, und raffte an sich, was an schwimmenden Gehäusen dort auf jener Straße zu sehen war, umfaßte es mit Armen, die sich wie Polypenfänge dehnten, legte sich darüber, schwer, massig, klammernd, zerfressen von brennender Gier, überflammt von nagendem Feuer, daß aus dem Kindergesicht sich böse, wollende, habgierige Gelüste mit neuer Maske befreiten. Seine Nägel knirschten auf der Tischplatte, er ächzte mit einem kleinen, scharfen Laut auf . . . und erwachte von diesem Stöhnen seines Dämons. Er sah sich befremdet um. Schatten um Schatten überhuschten das Gesicht wie der schnelle Wechsel von Kulissen, bis das gewohnte, erworbene und erkämpfte Gesicht wieder die Züge deckte. Da saß wieder Eberhardt Melchior. Er wußte nicht, was soeben in ihm vorgegangen war. Sekunde des Abirrens. Sie war vorbei. Vielleicht würde es jetzt klopfen. Für die Menschen da draußen hatte er nur ein Gesicht zu zeigen: sein eigenes.

Hamerling kam langsam, mit schlürfenden Schritten herein. »Bin ich hier heute abend nötig?«

»Es wäre mir sehr recht, wenn Sie hierbleiben wollten.«

Hamerling war verdrossen. »Wozu? Es geht ja doch alles automatisch seinen Gang. Meine Rolle braucht heute nicht gespielt zu werden.« 325

»Was reden Sie da für Dummheiten?« fragte Eberhardt freundlich.

»Keine Dummheiten. Ich bin doch sonst ein Teil des Programms. Wenn die Situation brenzlich wird oder die anderen hartnäckig bleiben, dann muß ich aus der Reserve kommen und brüllen und mit finsteren Dingen drohen und den wilden Mann spielen. Das ist das Stichwort für Sie, höflich zu werden, einzulenken, abzuschwächen; und doch so viel übrig zu lassen, daß hinter den Worten des wilden Mannes genug an Tatsachen und Drohungen bleibt. Ich mag heute nicht.«

»Sie haben eine sehr nüchterne Art für die Beschreibung kaufmännischer Verhandlungen. Aber haben Sie nicht selbst immer wieder den Erfolg einsehen müssen? Und heute geht es doch wieder um einen großen Erfolg.«

»Ach was, es geht um ein Diktat. Weiter nichts. Dabei bin ich nicht zu gebrauchen. Das reizt nicht. Das lockt mich nicht.«

»Bleiben Sie hier«, bat Melchior. »Ich will Ihnen offen gestehen: ich habe ein ruhigeres Gefühl, wenn Sie da sind. Wenn ich mir zuweilen das Tempo überlege, in dem unsere Dinge und Unternehmungen wachsen, dann glaube ich . . . ich sei nicht mehr schwindelfrei. Wir stehen sehr hoch oben . . .«

»Wie Todesahnung . . .«, summte Hamerling.

»Dämmerung deckt die Lande«, ergänzte Melchior. »Ich möchte mitunter einen Ring ins Meer werfen wie der selige Polykrates.«

»Die Götter versöhnen?« lachte Hamerling. »Nun bleibe ich hier. Ist ganz schön, wenn man die Stücke aus 326 dem Lesebuch noch kann, aber eine solide Assekuranzversicherung ist mir lieber als eine klassische Ballade.«

»Na, dann wollen wir es riskieren. Hier, sehen Sie sich mal die Tagesordnung an.«

Hamerling las: »Einladung zur Sitzung des Aufsichtsrates der Frisia-Dampfschiffahrts-Aktiengesellschaft in Bremen. – Viel zu lang, der Titel. Muß eines Tages geändert werden.«

»Wie denn?«

»Reederei Melchior A.G. Genügt vollkommen.«

Eberhardt lachte. »Lesen Sie erst mal weiter.«

»Punkt eins: Beschlußfassung über die Verträge der Vorstandsmitglieder. Aha, vorsichtig ausgedrückt. Punkt zwei: Beratung von Anträgen zur Generalversammlung. Na ja, dann wird der alte Trottel von Bertram wohl in den Vorstand kommen? Ein getreuer Diener seines Herrn.«

Eberhardt wollte fragen: Sie etwa nicht? Aber es klopfte. Beide reckten sich auf und waren gerüstet.

Wienhusen erschien. »Bin ich der erste? Frischmann muß gleich kommen. Werden wir schnell fertig sein?«

»Ich hoffe«, sagte Melchior. »Die Tagesordnung ist klein. Zigarre?«

»Danke.«

Dann kamen Klein, Blendinger, Frischmann und Eversen.

»Wir sind vollzählig«, stellte Eberhardt fest. »Haben die Herren etwas dagegen, daß Herr Direktor Hamerling im Zimmer bleibt? Sie wissen, er ist meine rechte Hand.«

Es erhob sich kein Widerspruch. Frischmann eröffnete die Sitzung: »Herr Wienhusen ist wohl so freundlich, das 327 Protokoll zu führen. Die Formalitäten sind Ihnen ja bekannt. Ich stelle fest, daß die Aufsichtsratssitzung form- und fristgerecht einberufen worden ist. Wir können sofort in die Tagesordnung eintreten. Punkt eins. Die Vorstandsverträge. Ich nehme an, daß Herr Melchior mit diesem Punkt bezweckte, die Gehälter der Vorstandsmitglieder dem verbesserten Gang der Gesellschaft anzupassen. Dagegen ist meines Erachtens nichts einzuwenden. Wenn ich vorsichtig kalkuliere, glaube ich, meinen Herren eine Erhöhung des Gehalts beider Vorstände um je fünfundzwanzig Prozent vorschlagen zu können. Haben Sie sich darüber bestimmte Vorstellungen gemacht, Herr Melchior?«

»Nein. Ich bin mit einer solchen Erhöhung durchaus einverstanden.«

»Dann können wir also zu Punkt eins beschließen . . .«

»Verzeihung, Herr Frischmann, daß ich Sie unterbreche. Ich sehe die Notwendigkeit einer Gehaltserhöhung durchaus ein. Ich freue mich aufrichtig, daß Sie diese Frage bei dem Punkt eins der Tagesordnung mit zur Sprache gebracht haben. Meine Gedanken bei diesem Punkte betrafen aber noch etwas anderes.«

Man wurde aufmerksam. Frischmann sagte verbindlich: »Dann bitte ich um Ihre Ausführungen.«

»So weit ich in die Verträge Einsicht habe, laufen sie für beide Vorstandsmitglieder am 1. Juni ab, wenn sie nicht drei Monate vorher gekündigt werden. Ich meine nun folgendes: die vermehrte Beschäftigung der Gesellschaft wird sehr bald dahin führen, daß der Ausbau des Unternehmens planmäßig betrieben werden muß. Sie werden zugeben, daß der bisherige Aufschwung im 328 wesentlichen meinen Frachtaufträgen zu verdanken ist. Wenn diese Frachtaufträge einmal aufhören, dann ist der alte Zustand wieder hergestellt, ohne daß die geringste Vorsorge für eine Verbreiterung der Tätigkeit getroffen worden ist.«

»Sie selbst waren es, der das verhindert hat«, rief Frischmann erregt. »Ich bin immer dafür gewesen. Aber Sie haben gebremst!«

Eberhardt tat diesen Einwand mit einer flüchtigen Handbewegung ab: »Dazu gehört Geld, und das ist nicht vorhanden. Um darauf zurückzukommen: Der Ausbau der Linien erfordert nach meiner Überzeugung eine völlige Neuorientierung und neue Besetzung des Vorstandes. Die jetzigen Kräfte mögen fleißige und ordentliche Leute sein; aber ich bezweifle, daß sie die Qualitäten haben, etwas aus dem Unternehmen zu machen. Ich beantrage daher Kündigung beider Verträge zum 1. Juni.«

Wienhusen lächelte: »Sagen Sie, Melchior, wollen Sie es wirklich auf eine Abstimmung über diesen Antrag ankommen lassen? Ich will der Meinung der übrigen Herren nicht vorgreifen, aber ich habe die Vermutung, daß alle, aber auch alle gegen diesen Antrag stimmen werden.«

Er fand ringsum Bestätigung seiner Ansicht.

Frischmann stellte fest: »Für den Fall der Abstimmung würde also das Ergebnis fünf zu eins sein. Nicht wahr, meine Herren? Wollen Sie wirklich unter diesen Umständen Ihren Antrag aufrechterhalten? Es springt doch nichts dabei heraus. Wir sind doch alles Leute, die etwas von der Sache verstehen und wir können uns in Ruhe über einen Ausbau der Gesellschaft verständigen.« 329

Eberhardt blieb kühl. »Ich mache mir über das Schicksal meines Antrages keine Illusionen. Aber ich bin nicht gewohnt, Anträge zu stellen, um sie dann zurückzuziehen.« Er wandte sich plötzlich an Hamerling: »Oder wie raten Sie mir, Herr Hamerling?«

»Was gibt es da zu raten?« knurrte Hamerling. »Warten Sie doch in aller Ruhe die nächste Generalversammlung ab. Dann setzen Sie sich einfach einen Aufsichtsrat zusammen, der für Ihre Absichten Verständnis hat. Mit Ihrem Aktienpaket können Sie sich das ja leisten. Ist ja lächerlich.«

Wienhusen pfiff leise vor sich hin. Frischmann sah sich mit weit aufgerissenen Augen um. Aber Eberhardt lächelte verbindlich: »Nehmen Sie bitte diesen Temperamentsausbruch meines Freundes Hamerling nicht als meinen eigenen. Gewiß habe ich in der Zwischenzeit einige Aktien erworben, aber ich würde eine eventuelle Majorität nie zu Dingen mißbrauchen, die nicht im Interesse der Gesellschaft lägen. Dafür kennen Sie mich hoffentlich alle gut genug. Ich will Ihnen auch den Beweis dafür liefern. Herr Willehad ist ein alter Mann, dem es schwer fallen dürfte, anderweitig unterzukommen. Darum mag er meinetwegen im Amte bleiben. Aber Herr Kruse ist jung und hat noch andere Möglichkeiten. Ich würde unter Umständen sogar bereit sein – wenn ihm daran liegt – ihn in einen meiner Betriebe zu übernehmen. Ich schlage vor, seinen Vertrag zu kündigen und an seine Stelle Herrn Bertram zu wählen, den Sie ja alle als früheren Prokuristen meines Vaters kennen. Ich schlage Herrn Bertram deshalb vor, weil er ein alter, erfahrener Mann ist. Er kennt meine Pläne so weit, daß er fähig 330 ist, an dem weiteren Aufbau unserer Gesellschaft erfolgreich mitzuarbeiten. Es wird unser aller Vorteil sein, meine Herren. Unser aller Vorteil.«

»Ich stelle den Antrag zur Abstimmung«, sagte Frischmann beklommen.

Eversen erhob sich: »Ich beantrage Abstimmung durch Abgabe von Stimmzetteln.«

Das wurde genehmigt. Als Frischmann die zusammengefalteten Blättchen öffnete, verkündigte er: »Vier zu zwei. Also ist die Zweidrittelmajorität vorhanden. Herr Wienhusen, Sie protokollieren das wohl, nicht wahr? Wir kommen jetzt zu Punkt zwei der Tagesordnung: Beratung von Anträgen zur Generalversammlung. Nach den Statuten müssen solche Anträge schriftlich vorliegen. Ich nehme an, daß Herr Melchior Anträge vorbereitet hat.«

»Gewiß. Meine Anträge gehen dahin: Bau von drei Frachtdampfern zu je 3500 Tons und etwa 1800 PS., Erhöhung des Aktienkapitals um vier Millionen Mark. Bezugsrecht der alten Aktionäre. Auf eine alte Aktie drei junge. Was nicht untergebracht wird, geht an ein Konsortium, das mit dem Absatz der neuen Stücke beauftragt wird. Meine schriftliche Formulierung ist hier. Bitte.«

»Es ist unsere Pflicht«, sagte Frischmann, »diese Anträge der Generalversammlung vorzulegen. Über das Ergebnis wird ja nach den vorherigen Andeutungen des Herrn Direktor Hamerling kein Zweifel bestehen. Ich will aber die Herren über meine Stellungnahme nicht im Zweifel lassen. Ich bin gegen diese Anträge, weil mir die Aufbringung des Kapitals unmöglich erscheint. Man ist nicht auf uns angewiesen, und der Bremer Handel hat 331 nicht solche Fortschritte gemacht, daß er im Handumdrehen so viel Frachtraum verschlingen könnte.«

Hamerling dachte vor sich hin: Siehst du Dummkopf denn nicht, daß er seine eigene Reederei haben will. Da ist deine Meinung höchst gleichgültig. Er wird den Frachtraum fressen, und damit holla.

»Ich hoffe«, sagte Melchior, »daß die Anträge genehmigt werden und daß wir alle, meine Herren, davon Nutzen haben. Es hat in unserer Vaterstadt noch jeder Wagemut seine Belohnung gefunden.«

Hamerling feixte in sich hinein: Das ist der Kammerton. Auf den huppen sie wie die Fliegen auf den Leim.

Die Sitzung wurde geschlossen. Die Herren entfernten sich. Mit ihnen ging das Gerücht, daß die Frisia in aller Kürze eine bedeutende Kapitalserhöhung vornehmen würde.

Melchior und Hamerling blieben zurück. Sie sahen sich an und lächelten wie die Auguren. »Weiß der arme Bertram eigentlich schon von seinem neuen Posten?«

»Ich hab' es ihm mal angedeutet. Er hat natürlich geschimpft wie ein Rohrspatz. Aber er ist zuverlässig. Er läßt mich nicht aufsitzen.«

»Wenn Sie nur nicht aufsitzen«, brummte Hamerling. »Sagen Sie mal, kann man bei Ihnen noch einige Frisia-Aktien los werden? Ich möchte nämlich sehr gerne aus dem Markt gehen. Ich traue der Sache nicht.«

»Aber bester Hamerling! Sie wollen schwach machen?«

Hamerling beugte sich über den Tisch: »Was haben Sie denn von der Geschichte? Sie helfen anderen Leuten, Geld zu verdienen. Die Herren ziehen jetzt schon im Ratskeller herum und posaunen aus: da gibt es junge Aktien. 332 Die Sache wird was. Und dann kauft Kreti und Pleti. Und wer hat, hält fest. Und Sie haben immer noch keine Majorität. Und Sie kriegen sie auch nicht mehr. In der Stille hätte man noch aufkaufen können. Jetzt nicht mehr.«

Eberhardt lachte: »Ich sage Ihnen, Hamerling, wir kriegen die Majorität.«

»Wenn Sie den Ehrgeiz haben, in Gottes Namen. Aber es wird eine Stange Geld kosten.«

»Es wird sehr billig sein. Warten Sie die nächsten vier Wochen und die Generalversammlung ab.«

Es schien, als ob alle Befürchtungen Hamerlings eintreffen wollten. In der Abendausgabe des nächsten Tages stand im Handelsteil zu lesen, daß die Frisia ihrer nächsten Generalversammlung eine wesentliche Erhöhung des Kapitals vorschlagen würde. Als Grund wurde ein beträchtlicher Ausbau des Unternehmens angegeben. Daran schlossen sich einige sachkundige Ausführungen über den Grad der augenblicklichen Beschäftigung.

Die Folgen blieben nicht aus. Schon seit einiger Zeit hatten Leute mit offenen Augen versucht, an die Frisia-Aktien heranzukommen. Das Papier war billig. Es stand zehn Punkte unter pari. Aber jetzt begann es zu laufen. Die Börse hatte ein ganz anderes Gesicht als früher. Das kleine Kapital spekulierte. Es war verarmt und suchte nach einem Ausgleich. Gegenüber der Machtbildung der großen Kapitalien, gegenüber der monopolartigen Anhäufung suchte es nach den Brocken, die von diesem großen Tische abfallen könnten. Und jedes Winkes gewärtig, lenkte es seine Aufmerksamkeit auf dieses billige Papier, dem man Chancen zusagte.

Der Kurs stieg. Hamerling tobte. Eberhardt blieb 333 gleichmütig. »Es macht nichts. Die kleinen Leute sind auf dem Markte. Ich sage Ihnen, sie gehen wieder heraus. Warten Sie ab.«

Der Kurs stieg weiter in dem Maße, als die Generalversammlung herannahte. Drei Tage vorher notierte der Kurszettel nur noch Anfragen, aber keine Abgaben. Alles ging seinen geregelten Lauf.

Der entscheidende Tag kam heran. Frischmann erstattete den Bericht über das verflossene Geschäftsjahr. Er betonte, wie es sich aus der vorgelegten Bilanz von selber ergab, die ausreichende Beschäftigung und den angemessenen Verdienst. Zugleich aber wies er darauf hin, daß die Gesellschaft genötigt sei, vor allem angemessene Reserven zu schaffen, um für die Zukunft gesichert zu sein. Man könne nicht übersehen, wie sich das Frachtgeschäft weiter entwickeln würde. Die Konkurrenz sei groß. Der Schiffspark benötige dringend einer gründlichen Auffrischung. Es sei Sache der späteren Verhandlungen, ob man sich auf die Schaffung von Reserven beschränken oder neues Kapital aufnehmen wolle.

Der Geschäftsbericht wurde genehmigt. Die Regularien nahmen überhaupt wenig Interesse in Anspruch. Alles wartete auf die Aussprache, die über die Kapitalserhöhung beschließen sollte.

Frischmann nahm als erster dazu das Wort. Sein Votum fiel gegen die Erhöhung aus. »Wir wollen nicht mehr aus uns machen, als wir sind. Wir haben die Möglichkeit, in stetigem, ruhigem Ausbau etwas zu werden. Wenn heute unsere Aktien hoch stehen, so ist das eine Folge der ungesunden Spekulation der Leute und Kreise, die die Finger von solchen Dingen lassen sollten. Ein 334 erhöhtes Kapital legt uns erhöhte Verpflichtungen auf. Ich halte es mit dem bewährten Grundsatz: Bremen, was bedächtig. Lat nich mehr in, as du bist mächtig . . .«

Das Für und Wider wurde leidenschaftlich debattiert. Jeder wartete, daß Eberhardt Melchior, der Initiator dieses Antrages, zu der Frage Stellung nehmen würde. Aber er schwieg. Er saß nachdenklich da . . . und schwieg

Du Fuchs, dachte Frischmann. Ich werde dich schon aus deinem Bau herausholen. Er stand auf und sagte: »Herr Eberhardt Melchior hat diesen Antrag eingebracht. Ich nehme an, daß er zur Sache uns wesentliches mitzuteilen hat. Oder irre ich mich?«

Eberhardt erhob sich gelassen und geschmeidig zugleich. »Meine sehr geehrten Herren, ich habe mir das Für und Wider aufmerksam angehört. Ich habe mir auch den Geschäftsbericht aufmerksam angesehen, und vor allem habe ich die Ausführungen unseres verehrten Herrn Aufsichtsratsvorsitzenden sehr sorgfältig erwogen. Ich stehe nicht an, zu erklären, daß diese Worte eines im bremischen Handel erfahrenen Kaufmannes größte Beachtung verdienen, und daß man ihnen im Kern die Berechtigung nicht absprechen kann. Sie werden schon erfahren haben, meine Herren, daß wir durch die anderweitige Besetzung eines Postens im Vorstand dem Willen des Aufsichtsrates Ausdruck gegeben haben, alles zu tun, was in unseren Kräften steht, die Gesellschaft zu fördern und damit die Interessen der Aktionäre und des bremischen Handels wahrzunehmen. Es ist wahr, daß erhöhtes Kapital verpflichtet, und daß die Zukunft ungewiß ist. Aber wir haben das schöne heimische Wort: Buten und Binnen. Wagen und Winnen. Dieser Wagemut soll natürlich nie 335 in Spekulation ausschlagen. Das ist richtig. Aber man soll nicht ohne Not verzagen. Die Steigerungen des Kurses unserer Aktien haben es gezeigt, daß die Öffentlichkeit zu unserem Unternehmen Vertrauen hat. Dieses Vertrauen dürfen wir nicht enttäuschen. Darum stehe ich nicht an, nach reiflicher Erwägung aller Gründe und Gegengründe zu erklären, daß ich ebenfalls gegen den Antrag, gegen meinen eigenen Antrag auf Erhöhung des Kapitals stimmen werde.«

Es erhob sich ein ungeheurer Lärm. Der Notar sah verärgert über seine Brille hinweg. Er hatte das Protokoll so gut wie fertig. Er hatte im voraus schon die Annahme des Antrags ausgeschrieben und nur das Stimmenverhältnis offen gelassen. Man kennt doch schließlich seine Leute! Nun strich er mit breiter Feder alles wieder durch und wartete ab.

Frischmann schwang die Glocke, um Ruhe zu schaffen für die Abstimmung.

»Wünscht noch jemand zu dem Antrag das Wort?«

Es meldete sich ein älterer Herr, dessen Name im Gewühl der Stimmen verloren ging . . . »Ich habe nur eine Aktie, nur eine Stimme, aber diese Stimme sollen Sie hören. Ich sage es offen heraus: hier wird Schindluder . . .«

Frischmann schwang die Glocke: »Ich kann solche Äußerungen nicht zulassen. Bleiben Sie sachlich.«.

»Das Geld der kleinen Sparer dient hier einer skrupellosen Spekulation . . .«

Wieder die Glocke des Vorsitzenden: »Ich muß Sie nochmals ersuchen, sich sachlicher Ausdrücke zu bedienen. 336 Bringen Sie Argumente vor, aber keine Beleidigungen und Verdächtigungen.«

Eberhardt erhob sich mit verbindlicher Geste: »Würde mir der Herr Vorredner eine Zwischenbemerkung gestatten? Dann möchte ich sagen: wir wollen eben nicht spekulieren. Unsere Aktionäre sollen vielmehr das Gefühl haben, daß hier sorgsam und sparsam gearbeitet wird.«

Der Mann schüttelte den Kopf: »Man kommt nicht dagegen auf.«

Es wurde abgestimmt. Mit den Stimmen von Melchior, Hamerling, Frischmann und einigen anderen verfiel der Antrag mit voller Majorität der Ablehnung.

Dann wurde die Sitzung geschlossen.

Die Rückwirkung auf der Börse blieb nicht aus. In der »Volkswarte« gab es einen gepfefferten Kommentar. Die anderen Zeitungen berichteten nur den nackten Tatbestand. Aber das genügte, um die enttäuschten Besitzer der Frisia-Aktien abzukühlen. Der Kurs stockte und sank dann um einige Punkte zurück. Man nahm noch die Dividende mit, dann war das Interesse erlahmt. Man suchte vorsichtig abzustoßen. Die Kauflust war gering. Der Kurs wich weiter zurück. Eine Privatbank nahm einen kleinen Posten auf. Der Kurs hielt sich einige Tage. Dann, als die Nachfrage wieder verschwand, sank er unaufhaltsam.

»Wie lange soll die Schaukelei noch gehen?« erkundigte sich Hamerling.

»Sie haben immer so grobe Worte für einfache wirtschaftliche Tatbestände«, sagte Melchior. »Ich will die kleinen Spekulanten aus dem Markt haben, das ist alles, sie haben da nichts zu suchen. Von morgen ab bekommt 337 die Frisia keinen Frachtauftrag mehr von mir. Soll sie einige Schiffe auflegen. Meinetwegen ins Dock schicken. Dann sollen Sie einen Kurs erleben . . . –

»Zu dem man kaufen und sich eine wilde Majorität verschaffen kann«, ergänzte Hamerling. »Ist es nicht so?«

»Selbstverständlich«, sagte Melchior. »Das ist doch keine tragische Angelegenheit.«

Es vergingen noch einige Wochen. Eberhardt führte seinen Plan durch. Zwei Schiffe legten auf. Alles wurde aufmerksam. Vermutungen tauchten auf, darunter solche, die das Richtige trafen. Von neuem stürzte sich alles auf Frisia-Aktien. Aber es war zu spät. Das Feld war abgegrast. Aus vielen kleinen Kanälen hatte Eberhardt Melchior zu sehr niedrigen Kursen aufgenommen. Als die Aktion vorüber war, besaß er reichlich neunzig Prozent der Aktien. Praktisch war die Gesellschaft sein Eigentum.

Als Eberhardt um dieses Ergebnis wußte, sprach er zum ersten Male mit Grit über die Angelegenheit. Sie saß in dem gleichen Sessel, in welchem früher einmal Mutter Ethel gesessen hatte. Man konnte, wenn sie in ihrem Seidenschal sich zum Kamin hinbückte, der Täuschung unterliegen, die Lücke der Zeit sei ausgelöscht und jeder Mensch wieder an seinen früheren Ort gegangen.

»Das ist ein sehr netter Anfang«, sagte sie bedächtig, »und ich habe mir aus den Zeitungsberichten schon ein Bild von der Sache machen können. Aber was willst du jetzt beginnen? So weit ich von der Sache etwas verstehe, müßtest du wohl größere Schiffe haben, damit du die Fahrten bis zu deinen eigenen Plantagen ausdehnen kannst.«

»Grit«, lachte er. »Wir sind doch noch jung. Wir 338 können noch vieles schaffen. Wir wollen jetzt einmal eine Atempause einlegen.«

»Ach«, sagte sie. »Meine Atempause ist schon lang genug. So weit ich denken kann, bin ich in Tätigkeit gewesen. Schon mit zwölf Jahren habe ich auf einem Maulesel gesessen und habe die Arbeiter kontrolliert. Jetzt hocke ich hier in diesem schönen Zimmer, bin Eberhardt Melchiors Frau, schmücke mich, damit er Freude an mir hat, mache ihm ein behagliches Haus . . . und weiß nicht, was ich mit mir anfangen soll.«

Er beugte sich freundlich zu ihr: »Bist unzufrieden, Grit? Sieh mal, du kannst doch so viele Dinge treiben: lesen, musizieren, reiten; wenn du willst, kannst du Autofahren lernen. Du kannst dir nette Menschen ins Haus holen . . .«

»Mein Lieber, ich brauche keine Beschäftigung. Ich brauche eine Tätigkeit.«

»Aber das geht doch nicht!« rief er in komischer Verzweiflung. »Willst du vielleicht eine Konkurrenzfirma aufmachen? Oder bei mir als Buchhalterin tätig werden? Kind, du bist Frau Grit Melchior. Da gibt es keine Tätigkeit. Da gibt es nur eine . . . Existenz.«

»Ich würde ja mit dieser Existenz zufrieden sein, wenn . . . wenn du etwas daran teilnehmen würdest. Was soll ich mit Büchern, die du nicht kennst und über die ich nicht mit dir sprechen kann? Du liest zuweilen politische Memoiren. Ich möchte mit dir Meier-Graese oder Döblin lesen. Du gehst zur Vortragsgesellschaft. Ich möchte mit dir ins Theater gehen. Wir treffen uns nicht genug.«

Er ging im Zimmer auf und ab. »Du hast recht, Grit. Und es ist schon gut, daß du mich erinnerst. Man 339 verlernt es hier oben, sorglos zu sein und andere Dinge zu lieben als das Geschäft. Du mußt mich von Zeit zu Zeit darauf aufmerksam machen. Hörst du? Dann wird es schon gehen.« Er nahm ihre Hand: »Du weißt, Grit, daß ich nichts vergessen habe. Verstehst du mich?«

»Das soll ein Wort sein«, freute sie sich. »Wollen wir also das heiße Eisen gleich schmieden. Heute abend gehen wir ins Theater, und zwar mit einer Nuance: Keiner sieht auf den Theaterzettel oder auf das Programm. Ich nicht, weil ich mich überraschen lassen will wie ein kleines Mädchen. Und du nicht, weil du mir sonst noch zu denken anfängst.«

Er war es zufrieden. Sie gingen in das Stadttheater. Als das letzte Glockenzeichen durch das Foyer schrillte, nahmen sie ihre Plätze ein. Eberhardt stöhnte: »Wenn es nur kein Trauerspiel wird!«

Grit sah sich um: »Das Publikum sieht nicht so aus. Es sieht mehr nach Lustspiel aus.«

»Darauf kannst du dich in Bremen nicht verlassen. Hier wird abonniert, und man nimmt, was man kriegt. Je nach der Jahreszeit. Tante Emma hat ihren Mittwoch und Pauline jeden zweiten Donnerstag. Ein sehr dankbares Publikum.«

Der Vorhang ging auf. Nach wenigen Sätzen schon stieß Grit ihn sachte mit der Hand an. »Hedda Gabler«, flüsterte sie. Eberhardt konnte nur nicken. Er krampfte im Dunkeln die Finger zusammen. Er kannte das Spiel, wenn er es auch nie auf der Bühne gesehen hatte. Wohl aber hatte er eines Nachts, als der junge Wille noch stürmte, ein Mädchen aufgeweckt, das ihm zur Seite lag, und ihr zugeraunt . . . und hatte in der Formung seines 340 Instinkts vorweggenommen, was sich da unten zwischen den Wänden einer Gelehrtenstube zu entwickeln begann. Ein leises Zittern überfiel ihn. Er gab sich unendliche Mühe, sich zu beherrschen. Aber eine quälende Ahnung sagte ihm: gleich kommt sie. Er wollte sich glauben machen, es könnte nicht sein, denn er hatte nie ihren Namen auf dem Theaterzettel gelesen. Und doch wußte er: sie muß kommen. So sinnlos und ungeklärt ist kein Zufall. An diesem Abend muß Lisbeth Krämer wie aus der ewigen Versenkung auftauchen. Sonst säße er nicht hier.

Und sie kam. Langsam in der Bewegung; und doch in jedem Schritt beschleunigt. Zerfahren in jeder Geste; und doch übersättigt von triebhafter Sicherheit. Kühl und gelangweilt; aber flimmernd von dem nicht erstickten Brand in ihr. Ihre Stimme ein Instrument, das sie vollendet beherrschte. Mütterliche Klänge; gereizte Schreie; gedehnte Worte voll Unmut; Gleichgültigkeiten, die mit tausend Hinterhalten beschwert waren. – »Denk mal, Hedda!« »Ja, ja. Ich denke ja schon.« Dabei spielten die Hände wie die Pranken eines Raubtieres. Eberhardt fröstelte bis in das letzte Innere.

Er fürchtete sich vor der ersten Pause; fürchtete das Licht, das sein Zittern und seine Blässe verraten würde. Er schloß die Augen, um nichts zu sehen. Aber die Stimme, die allein er jetzt vernahm, riß viel tiefere, dunklere Abgründe in ihm auf. Das erste Dasein in Liebe und Bekenntnis . . . Er sah wieder die Nebellandschaft, und aus den verschleierten Horizonten her wuchs dieses junge Gesicht mit unheimlicher Eindringlichkeit auf. Der Mund mit diesen schmal gewölbten Lippen lag über seinem Ohr; das braune Haar über seiner Schläfe. Ein Raunen: 341 »Man kommt nicht von der ersten Liebe frei.« – »Man kommt frei«, wehrte er sich. – »Dann ist sie tot, und man kann nicht mehr lieben; nie mehr lieben.« –

Er riß die Augen auf, um sich gegen diesen Spuk zu wehren. Es ist ja alles nur Spiel, sagte er sich. Neben ihm saß Grit Kuvell, lebendig, reich an Gefühl, mit klarem Sinn für das Dasein. Er tastete nach ihrer Hand. Er mußte wissen, ob sie da sei und ob er sich an ihr halten könne. Er fühlte ein Streicheln, mütterlich, milde; wie ehemals. Das Zittern verlief sich. Er atmete tief. Dieses hier war Wirklichkeit. Dort unten war Spiel . . . Spiel . . . Schattenspiel.

Der Vorhang fiel. Licht brannte auf. Da saßen viele fremde Menschen . . . und er war Eberhardt Melchior.

Sie gingen Arm in Arm durch das Foyer, beide ernst und schweigsam. »Das ist eine große Künstlerin«, sagte Grit. »Ist sie ständig hier?«

»Ich weiß nicht. Wir können uns jetzt vielleicht den Theaterzettel ansehen.« Sie lasen: »Hedda Gabler . . . Lisbeth Krämer als Gast.«

Eberhardt fühlte eine Erleichterung. Sie war nicht hier. Er wußte selber nicht, warum es ihn erleichterte. Er hatte doch dieses Erlebnis abgeschlossen. Es war endgültig von den Schleiern der Zeit zugedeckt. Vielleicht aber war es besser, man deckte es auf, hielt es gegen das nackte Licht der Tatsachen, ordnete es in den Bezirk der gewesenen Dinge ein . . . und machte es dadurch völlig unschädlich.

Zwar galt es erst noch, das Spiel zu Ende zu sehen . . . oder zu Ende zu erleben. Denn es war Erlebnis. Wie sie da im Sessel hockt und die Finger über die Lehnen wandern läßt; wie sie da vor dem Kamin kauert und mit 342 hoher Stimme Worte singt, während sie das Manuskript verbrennt; wie sie ihre brennende Unruhe gegen die Welt der Ordnung hält, an der sich nichts entzündet, an der alle Flamme erstickt: das war das Erlebnis . . . seiner selbst. Aber diese Unruhe, diese Rebellion erträgt man nicht auf die Dauer. Wo bleibt der allmächtige Ablauf der Zeit, die ewige Zweckmäßigkeit des Geschehens, wenn so ungestüm und ungeklärt gegen die Pforten gepocht wird? Das sind Dinge, die nicht sein müssen; die nicht sein dürfen. Man muß sie beseitigen. Sie müssen sich selbst beseitigen, weil sie einen Todeskeim in sich tragen: das Gift der Unordnung. Es muß zum Selbstmord treiben. Es muß!

Als der Schuß krachte, als der Ausruf jammerte: »Aber so etwas tut man doch nicht!«, da bejahte Eberhardt glühend und fast haßvoll den Sinn und Gegensinn dieser Worte. Man tut das nicht: Unordnung in das Dasein bringen. Man tut das nicht: mit diesem Lärm des Selbstmordes aus dem Wege gehen.

Er bezwang das Stöhnen, das Ächzen der Befreiung, das aus ihm heraus wollte. Er hatte eiserne Züge, als sie wieder im Licht standen. Er ging langsam mit Grit über das Bischofstor nach Hause. Sie wanderte im Zimmer auf und ab und suchte ihre Nerven zu beruhigen, indem sie eine Zigarette nach der anderen anzündete. Da hörte sie Eberhardts Stimme, ruhig wie immer, fast auffallend klar und kühl: »Ich habe dir einmal von einem jungen Mädchen erzählt, das meine Verse gesprochen hat.«

»Ich weiß«, sagte sie. »Dieses Mädchen war Lisbeth Krämer. Möchtest du sie wiedersehen?«

»Ich habe nicht das Verlangen. Ich wollte nur 343 berichten. Ich sehe, daß sie das geworden ist, was sie werden wollte. Man kann Respekt vor ihr haben. Sie ist in der Tat eine Künstlerin.«

»Du sprichst so kühl darüber, als wäre sie dir nichts gewesen und hätte dir nichts gegeben. Ist das Undankbarkeit oder Vergeßlichkeit?«

»Beides nicht«, sagte er langsam. »Man geht an solchen Menschen nicht vorüber, ohne etwas mitzunehmen. Sie ist mir einmal Beispiel für einen Willen und für eine Unbedingtheit gewesen. Das ist mir geblieben. Aber ich habe für sie getan . . . was man als Mensch, als junger Mensch tun kann. Wir schulden uns nichts mehr. Wir sind quitt miteinander.«

Grit kam von dem Erlebnis dieses Abends nicht frei. Nicht das Stück bewegte sie. Sie fand es sinnlos und veraltet. Es erregte sie die Gestaltungskraft dieser Frau. Das war Gestaltung. Sie aber saß da und war Grit Melchior. Es wuchs nichts mehr unter ihren Händen und fügte sich. Aus einem bewegten Dasein heraus hatte man sie in die kalte Pracht eines toten Hauses gesetzt. Sie hatte Sehnsucht nach der Begegnung mit Dingen, die sich bewegten und die lebten.

Nach Tagen las sie in der Zeitung, daß Lisbeth Krämer am Stadttheater engagiert sei. Sie sagte zu Eberhardt: »Hast du etwas dagegen, wenn ich Fräulein Krämer gelegentlich einlade? Ich interessiere mich für sie.«

»Ich bin vollkommen einverstanden«, sagte er. »Ich sagte dir ja: hole dir Menschen ins Haus, die dir Anregung geben können. Sie wird dir sicher Anregung geben. 344 In gewisser Weise sind eure Charaktere ähnlich. Ihr seid beide Willensmenschen.«

Als er draußen war, lächelte sie. Willensmenschen! Was hat die Zielstrebigkeit eines Gefühls, was hat der Durst nach dem Leben mit dem Willen zu tun? Nein, mein Junge, dachte sie; es ist die andere Seite. Die ganz andere Seite: der Trieb.

Sie überlegte, ob sie einen Brief schreiben sollte. Es schien ihr zu schwer, alles darin zu erklären. Sie ging vormittags, während der Proben, zum Theater und wartete auf Lisbeth. Sie kam, ruhig, sicher und bescheiden. »Sie sind die Frau von Eberhardt Melchior?« – »Ja.« – Dann standen sie in befangenem Schweigen einander gegenüber. Aber sie verstanden sich auch in diesem Schweigen mit der Feinhörigkeit jener Frauen, die reich genug sind, mehr als sich selber mit ihrem Gefühl zu begreifen.

»Wollen Sie mich einmal besuchen?« fragte Grit. »Ich weiß von Ihnen und habe Sie kürzlich in Ihrer Gastrolle gesehen. Sie sind mir also nicht fremd.«

Lisbeth sagte zu. Sie verplauderten einen Nachmittag miteinander, freundlich in der Form, vorsichtig nacheinander tastend, und wußten beim Abschied, daß sie sich noch etwas zu sagen und zu geben hatten, was in der ersten Befangenheit verschwiegen blieb. So verabredeten sie einen anderen Tag. Als sie dann zusammen saßen und schon freier miteinander sprechen konnten, erschien Eberhardt.

»Ich habe mich etwas früher frei gemacht, um Sie zu begrüßen«, sagte er herzlich. »Ich bin Ihnen dankbar, daß 345 Sie meiner Frau Gesellschaft leisten. Was haben Sie in den Zwischenjahren getrieben?«

Sie war völlig unbefangen. »Ich bin den kleinen Passionsweg gegangen, der allen zukommt, die etwas werden wollen. Ich war an kleinen Bühnen, in denen ich Dienstmädchen spielte. Aber Sie wissen ja: ich habe auch solche Rollen ernst genommen. Dann habe ich kleine Rollen mit schlechten Kritiken gehabt. Da wußte ich, daß ich etwas konnte. Endlich hat mir geholfen, was den meisten in Deutschland hilft, die etwas geworden sind: der Zufall. Die berühmte kranke Kollegin, deren Rolle ich übernehmen muß. Und dann ging es aufwärts. Bremen ist für mich Durchgangsstation.«

»Und was macht Schröder, der Dichter mit den Wickelgamaschen?«

Sie lächelte: »Er trägt sie nicht mehr. Er lebt in Berlin und schreibt unter dem Namen Holger. Er hat ein Monokel und ein Auto und eine gute Kritik. Mehr kann er nicht verlangen.«

»Er war einmal anders«, sagte Eberhardt nachdenklich. »Ich kann ihn mir so nicht vorstellen.«

»Damals war er noch nicht berühmt. Damals wollte er noch die Welt auf den Kopf stellen. Heute macht die Welt eine respektvolle Verbeugung, wo er auftaucht. Der Erfolg hat ihn getötet. Zu diesem Erfolg habe ich ihm verholfen, wie er mir zu meiner weiteren Ausbildung geholfen hat. Wir sind uns also nichts schuldig geblieben. Ich sage das ganz ohne Bitterkeit.«

Grit spürte: das geht auch ihn an. Sie sagte: »Wenn er unter dem Namen Holger schreibt, dann wird er doch nächstens hier aufgeführt. Ist das richtig?« 346

»Ja. Er kommt sogar selbst nach hier. Ich soll die Titelrolle spielen. Aber ich will nicht . . . oder ich mag nicht. Das Stück ist gut. Aber ich will mich nicht wieder vor seinen Wagen spannen. Es bringt mich nicht weiter.«

»Ich möchte ihn einmal sehen, diesen Erfolgsmenschen«, sagte Eberhardt mit halbem Lächeln. »Es muß doch damals etwas Positives in dem Ring gelegen haben. Alle haben ihren Erfolg gehabt. Die Wege sind andere . . . die Ebenen sind andere. Aber es ist keiner auf der Strecke geblieben . . .«

»Nur«, unterbrach ihn Lisbeth mit einer Stimme, die Aufmerksamkeit verlangte, »nur, daß keiner den anderen mehr kennt. Der Beruf genügt, sie zu trennen . . . weil für jeden der Beruf die Welt ist.«

Von diesem Worte konnte Eberhardt sich lange nicht befreien. Es ging ihm wie ein dunkler Schatten nach. »Glaubst du«, fragte er eines Tages Grit, »daß sie recht hat?«

Grit sah weit vor sich hin: »Du fühlst es selbst. Sonst würdest du nicht fragen. Übrigens wirst du Gelegenheit haben, die Probe auf das Exempel zu machen. Ich habe Fräulein Krämer gebeten, Schröder bei uns einzuführen. Es ist dir recht?«

»Natürlich. Ich bin sehr neugierig auf ihn. Jetzt müßte noch Kolloge auftauchen. Dann hätten wir ein Kleeblatt.«

»Dem kann geholfen werden«, lachte sie. »Man hat mir erzählt, daß er als Berichterstatter für eine Berliner Zeitung zur Uraufführung kommt. Du könntest ihn einladen.«

So geschah es, daß der Teesaal einige Tage später einen kleinen Kreis von Menschen sah, wie sie sich bisher 347 nie darin bewegt hatten. Lisbeth Krämer, die Schauspielerin; Schröder, der Dramatiker; er hatte um die Erlaubnis gebeten, einen jungen Maler einführen zu dürfen, der etwas verängstigt daher saß; dann Kolloge, der seine Frau mitgebracht hatte, eine kleine, dunkle Russin, die in Berlin Volkswirtschaft studierte. Alle waren sehr lebhaft. Sie hatten den schnellen Kontakt gefunden, der Menschen aus geistigen Bezirken verbinden kann. Als Eberhardt kam, lauschte er einen Augenblick an der Türe. Dann öffnete er vorsichtig einen Spalt. Er wollte sich diesen Blick aus der Ferne nicht entgehen lassen.

Menagerie, dachte er. Buntes Volk; sehr nett zum Anschauen, aber . . . nicht wichtig. Geb' Gott, daß Grit bald den Geschmack daran verliert.

Er trat ein. Schröder begrüßte ihn erfreut, Kolloge ein wenig lächelnd und abwägend. »Sie werden mir nächstens mal zu einem Interview sitzen«, sagte er. »Wir machen uns in Berlin immer etwas summarische Vorstellungen über die Bremer Handelsherren. Da möchte ich aufklärend wirken.«

»Tun Sie es nicht«, lachte Eberhardt, »und lassen Sie der Welt die gute oder falsche Meinung über uns.«

»Schade«, sagte Schröder und zwinkerte durch sein Einglas, »daß man euch nicht auf die Bühne bringen kann. Ihr seid kein dramatischer Vorwurf. Aber das kann ein Vorteil sein. Und Gesellschaftsdramen sind nicht mehr beliebt . . . wenn es keine französischen sind.«

»Was schreiben Sie denn jetzt, Herr Schröder?« lenkte Eberhardt ab.

»Was ich schreibe?« sagte er mit verkniffenen Lippen. 348 »Nichts. Ich bin fertig. Sehen Sie mich nicht so erstaunt an. Ich sage die Wahrheit.«

Grit erregte sich: »Aber eine schöpferische Energie kann doch nicht sterben . . . wenn nicht der Mensch selbst stirbt.«

Er senkte die Stirne: »Sie vergessen meine Herkunft, gnädige Frau. Ich meine jetzt nicht die soziale Herkunft. Ich vergesse auch mit Einglas und Auto nicht, daß ich einmal ein kleiner Volksschullehrer war. Ich meine die Herkunft aus Land, Landschaft und Umgebung; Sie können es Milieu nennen. Wie lange sind Sie hier? Drei Jahre? Dann werden Sie eine Ahnung davon bekommen haben, was diese Dinge bedeuten. Sie sind ein Stachel, der zum Widerstand aufreizt. Ich habe nicht früh genug übersehen, daß mein Schaffen nur aus dem Widerstand kam. Jetzt ist der Widerstand beseitigt. Ich kenne anderes Land, andere Landschaft, anderes Milieu. Es hat sich mir gefügt und ist mir freundlich geworden. Es ist keine Mauer mehr da, die ich bekämpfen kann. Darum werde ich lahm. Und darum bin ich nach hier gekommen. Nicht nur für einige Tage. Ich will hier wieder hausen. Ich will erneut Widerstand und Unlust und Zorn sammeln; an Landschaft und Wetter und der Betriebsamkeit von energischen, ordentlichen, gesetzten Menschen. Wer sich hier nicht früh genug freimacht, der unterliegt der Bestimmung: matt zu werden, wenn er nicht mehr auf Granit beißen kann.«

Kolloge lachte verhalten: »Haben Sie jemals gedacht, es gäbe hier die heitere, natürliche Schöpferfreude? Lassen Sie Ihre Herzenslyra schweigen. Sperren Sie die Augen auf. Ich bekomme im Durchschnitt eine Mark für die 349 Zeile. Meine Sachen ziehen. Ich bin mit meinem Los sehr zufrieden.«

»Er übertreibt etwas«, sagte die Russin. »Im Grunde ist er Niedersachse geblieben. Aber man sieht nicht, wenn . . . wenn er weint.«

Eberhardt unterlag dem Zwang der Vorstellung, das alles sei schon einmal gewesen. Dieses war wieder der Ring. Aber er war nicht mehr einbezogen. Seine Entfernung war zu groß geworden. Er legte Wert darauf, daß sie groß blieb. Er steigerte bewußt seine Abneigung, um eine leise Eifersucht zu übertönen. Menagerie, dachte er noch einmal. Und da über dem weiteren Gespräch alle, selbst Grit, ihn vergaßen, konnte er sich entfernen, ohne daß sein Fehlen bemerkt wurde.

In der Folge kam dieser Kreis von Menschen öfter in das Haus an der Contrescarpe. Zwar Kolloge fehlte, aber dafür tauchten andere Menschen auf, die alle in dieser oder jener Form sich um Dinge des Geistes oder der Gestaltung mühten: Schauspieler, Maler, Kunstgewerbler, Schriftsteller. Der Mittwochabend war ihnen vorbehalten. Aber der Hausherr nahm nicht daran teil. Ihm genügte es, Grit beschäftigt zu wissen. Er hatte auch keine Bedenken, denn er kannte den Ablauf dieser Dinge: man läuft eine Strecke Wegs voll Begeisterung und ehrlichem Willen zusammen; aber nach einer Weile sind sie über das flache Land verstreut. Kein Gipfel und kein Tal fängt sie ein. Sie verlieren sich in der Ebene . . .

Nur übersah er dabei, daß außerhalb des Kreises und des bestimmten Tages Schröder häufiger mit Grit zusammen war. Er kam, weil er hier einen Menschen witterte, der sehr stark gefügt war; der nicht an einem 350 Streifen Land hing, sondern, wie er ihr einmal sagte, selber eine Landschaft in sich trug, die man durchwandern und erleben und gestalten konnte. Grit nahm ihn ohne tieferes Gefühl auf. Wäre er ihr daheim begegnet, wo sie selber Tag für Tag werkte und schaffte, sie hätte ihn als Schwächling empfunden und achtlos beiseite geschoben. Aber hier saß sie mit gebundenen Händen. Der Kreis von Menschen, den sie um sich versammelte, sättigte nicht. Wenn einer so weit gediehen war, daß er sich zurechtfinden konnte, dann verließ er die Stadt oder zog sich mit seiner Tätigkeit zurück. Sie gab nur immer Anregungen und Gedanken und neuen Mut. Sie scherzte zuweilen: Ich bin eine Kindergärtnerin. Aber Schröder blieb der, als den sie ihn zuerst gesehen hatte: ein Mann des Erfolges, der nichts mehr zu geben hatte, und sich darunter krümmte, leer zu sein.

Ihre mütterlichen Instinkte wachten auf. Sie nahmen den Umweg über das Bedauern und eine verhaltene Unlust; stiegen dann in die gefährliche Schlucht des Mitleids hinab und verirrten sich dort.

Bei alledem war er dennoch der gebende Teil. Er hatte sich so tief in seine Verzweiflung hineingelebt, daß unversehens seine Kraft aus eben diesem Gefühl neue Nahrung sog und ihn wieder an die Oberfläche drängte. Aber er wußte nicht, wie diese Kraft in Gestaltung umzusetzen sei. Auf diesem ungewissen Wege begegnete er Grit mit ihrer Mütterlichkeit und ihrem Mitleid. Er horchte eine Weile darauf, dann zog er sich zurück. Da sie ihn nicht mehr entbehren konnte, schrieb sie ihm, er möge kommen. Er kam, finster, karg an Worten, fast feindselig. 351

»Was soll das?« fragte sie. »Warum laufen Sie davon?«

»Weil ich einen Anfang sehe, aber kein Ende. Ich bin ein Vagabund. Sie sind Frau Grit Melchior. Dichter sind undankbar. Sie nehmen und gehen mit dem Raub auf und davon. Sie sind ein Mensch, der festhält, was er einmal gepackt hat. Wo ist das Ende? Noch können wir beide zurück.«

Sie sah unbeweglich vor sich hin: »Wie man über solche Dinge so kalt sprechen kann . . . wieviel man zerschlägt, wenn man so . . . laut wird . . .«

»Sie haben mich gefragt. Ich habe geantwortet. Je lauter man solches Gefühl anruft, desto eher stirbt es.«

»Es ist nicht Ihr Ernst«, sagte sie mit verlorenem Lächeln. »Man kann einen Gedanken töten, indem man ihn umdenkt. Aber das . . . andere, das ist unsterblich.«

Er starrte vor sich hin. »Alles, was Sie da sagen, ist richtig. Und alles was wir heute sprechen . . . ist vergeblich. Wir ändern nichts . . . Lassen Sie mich gehen, Grit.«

Sie sah ihn mit weiten Augen an: »Kann man das?«

Er deckte beide Hände über sein Gesicht. »Man kann nicht, Grit. Man kann nicht!«

Als er schon fort war, saß sie noch in dem Lehnstuhl, in dem Ethel Melchior gesessen hatte, und baute an ihrer Kraft, sich zu entscheiden. Sie erwog nicht, was sie aufgeben würde und was sie dagegen eintauschen könnte. Hier war kein Handel zu schließen. Es galt nur zu warten, bis sie stark genug für den Weg war.

Und so ließ sie einen anderen Feind herein, der nicht minder gefährlich war: die Zeit. Sie konnte jetzt dasitzen 352 und die Untätigkeit als wunderbare Labung empfinden. Was sie tat, verging ihr unter den Händen als wesenlos; was sie dachte, gedieh zu keiner klaren Form. Über allem stand das Warten, auf ihn, auf sein Werk, auf die Zeit. Es war ein Keim in ihr. Sie bückte sich darüber. So warten Mütter auf die letzten Tage . . .

Sie wurde mit jedem Tage schöner. Eberhardt erinnerte nicht, daß er sie einmal nicht schön gefunden habe. Darum sah er dieses Aufblühen nicht. Aber Schröder sah es von mal zu mal, und seine Erschütterung wuchs in das Unermeßliche. Mich liebt niemand, dachte er. Auch Grit nicht. Sie lieben alle das Werk in mir, oder das Werk aus mir. Und das ist gerecht, denn der Mensch ist nichts und das Werk ist alles. Aber daß dieses Werk noch die Kraft hat, einen Menschen anzupacken und alle Schönheit aus ihm zum Blühen zu bringen! Das war es, was ihn erschütterte.

Die Quelle, die sein Unmut verschüttet hatte, brach unter dem Ansturm ihrer Schönheit auf. Über Nacht jagte es ihn aus unruhigem Schlaf her an den Schreibtisch. Da saß er, Beute eines Anrufs der Liebe; ein Gefäß, das haltlos überströmte. Wenn er mit Grit zusammen war, gab er vor, nichts zu arbeiten. Er müsse Stoffe sichten, sich vorbereiten, Verhandlungen mit Verlegern führen. Aber sie wußte: er sagt die Unwahrheit, weil er sich schämt und weil er fürchtet, sie werde nach dem Unvollendeten fragen. Das Warten bekam ein doppeltes Gewicht.

Sie sorgte dafür, daß der Kreis an den Mittwoch-Abenden immer kleiner wurde. Endlich schützte sie Krankheit vor, ließ einige Zeit vergehen und nahm die Zusammenkünfte dann nicht wieder auf. 353

»Du tust es mir zuliebe«, sagte Schröder. »Wenn ich nicht mehr da bin, wirst du diese Abende entbehren. Dann trage ich eine Schuld mehr . . .«

»Wenn du nicht mehr da bist?« verwunderte sie sich. »Du wirst da sein. Immer. Ich werde dich nicht fortlassen.«

»Ich werde sehr bald gehen«, sagte er bestimmt. »Ich gehe auch alleine. Ehe es zu spät ist.«

Sie hatte ein wunderbares Lächeln: »Es ist schon zu spät. Für uns beide. Du hast gerufen und ich bin gekommen. Zeig mir, was du geschrieben hast.«

Er kam mit einem Manuskript und wog es in der Hand: »Das hier ist Blut . . . aus dir und aus mir . . . Keine Bühne wird es aufführen. Kein Verleger wird es drucken. Alle werden schreien: Wo bleibt die Sensation? Wo bleibt die Beziehung zur Gegenwart? Herr Holger, Sie werden alt. Und sie werden recht haben. Es ist keine Gegenwart darin. Das hier ist zeitlos. Es ist keine Sensation darin. Denn es ist Bekenntnis. Darum muß das Stück dahin, woher es gekommen ist: zu dir. Ich bin nur die Feder gewesen, die es niedergeschrieben hat. Der Geist und . . . aller Wert . . . sind von dir.«

Sie nahm es ihm aus den Händen und deckte ihren Schal darüber, als wolle sie es vor jedem Zugriff schützen. »Jetzt halte ich dich«, sagte sie ernst.

Aber sie hielt ihn nicht. Am Tage darauf bekam sie seinen Abschiedsbrief.

»Ich bin fortgegangen, weil die Unrast nicht die Beharrung töten soll. Du hast ein Heim, einen Kreis, eine Pflicht. Ich habe die Entfernung, die Ebene, die Verantwortung. Dein Kreis ist stärker als Du. Auch Dein 354 Wille wird ihn nicht sprengen. Es gibt nur die Flucht. Aber Du hast keinen Weg mehr, wenn Du nicht den Menschen neben Dir zerschmettern willst. Er stirbt, wenn Du gehst. Wir, er und ich, haben einmal Stunden zusammen verlebt, in denen wir beide brannten. Ich würde den Rest von Güte in mir verraten, wenn ich das je vergessen würde. Du bleibst mir, weil es schöpferischen Menschen nicht gegeben ist, etwas zu verlieren. Geb' Gott, daß ich Dir bald verloren gehe . . .«

Sie schlich tagelang wie ein kranker Mensch durch das Haus. Keiner sah es. Was überhaupt sahen sie? Nicht einmal stöhnen durfte man. Unter dem Druck des Schweigens preßte sich das Ungesagte in ihr zu einem Stein zusammen. Darum schien sie ganz ruhig, als sie Eberhardt eines Abends fragte: »Weißt du, wohin Schröder gefahren ist?«

»Er ist fort?« staunte Eberhardt. »Dann hätte er sich eigentlich von mir verabschieden dürfen, weil er doch Gastfreundschaft in meinem Hause genossen hat.«

Sie lächelte: »Sehr viel hat er hier genossen. Hast du ihn mehr als einmal gesehen? Sonst hätte er dir zurückgeben können, was er hier empfangen hat.«

»Ich glaube wohl, daß du eine gute Meinung von ihm hast. Auch ich respektiere seine Kunst durchaus . . .«

»Wie schön man so etwas sagen kann, wenn man . . . wenn man keine Erlebnisbeziehungen zur Kunst hat. Was könnt ihr mit einem solchen Menschen anfangen? Ihn respektieren. Aber ihn lieben?«

Damit war alles gesagt. Darum schwiegen sie. Eberhardt war sehr blaß. Jetzt geschah ihm, was er einmal den anderen zugefügt hatte: man warf ihm die Fackel der 355 Auflehnung vor die Füße. Ewige Umkehr und ewige Gerechtigkeit. Lag nicht in jedem lebendigen Menschen das Recht zur Rebellion?

Er senkte den Kopf. Wie war es doch damals gewesen, als er höhnisch lächelnd seine Freiheit verlangte? Man hatte sie ihm gegeben; aber es war eine Freiheit im Grenzenlosen gewesen; eine Freiheit, die mehr fesselt als eine enge Zelle mit Gitterstäben und eisernen Riegeln. Er war heimgekehrt und hatte die Begrenzung auf sich genommen, um von da aus in das Unbegrenzte vorzustoßen. Nur die Enge läßt sich weit machen. Da muß sich einer entscheiden, ob er sie tragen kann oder nicht . . .

Er saß noch da, als Grit längst fortgegangen war, und dachte nach. Nicht darüber, wer auf dem rechten Wege sei. Sein Weg war fraglos. Aber darüber, ob er sie zwingen und vor die Entscheidung stellen dürfe: seinen Weg zu gehen oder sich von ihm zu trennen. Trennung war unvorstellbar. Sie gehörte ihm. Also blieb der Zwang? Grit zwingen? Neben ihr hausen mit dem unvollkommenen Gefühl? Wie Resignation die Antwort: unvollkommen, aber eingefügt . . .

Er kam nicht damit zu Ende. Er schleppte es wochenlang mit sich herum. Tagsüber war das Geschäft da. Es wuchs und brauchte jede Faser der Kraft. Dafür waren die Abende um so schwerer behangen, wenn sie einander gegenübersaßen, jeder gewärtig, der andere würde das entscheidende Wort sprechen. Denn auch in Grit war noch keine Entscheidung reif. Sie wartete auf ein Ereignis . . .

Eberhardt wurde sich seiner Hilflosigkeit bewußt. Er tastete nach einem Halt, einem Trost, einem Rat. Er konnte nicht der einzige Mensch sein, den solches Schicksal 356 traf. Er sah in diesen Tagen, wie immer die starren Augen der Jungfer Metta ihn verfolgten, wie dieser Geist, von allem Verstehen und aller Zeit abgeschnitten, unheimliche Bedeutsamkeit in ihren Blicken trug. Sybille, dachte er. Aber man kann sie nicht betrügen. Einmal fand er den Mut, diesen Blick zu erwidern. Da sagte sie: »Mußt mal zu deinem Vater gehen.«

Er hatte es oft erwogen; aber die Scham wehrte es ihm. Jetzt ging er zu ihm; sprach Weniges, Andeutendes, Beziehungsvolles. Aber den Umkreis der Tatsachen verriet er mit keinem Wort.

Hermann Melchior nickte. »Alle sind einmal jung. Wollen die Welt aus den Fugen brechen. Glauben, sie müßten sterben, wenn nicht immer Aufruhr wäre. Wer erlebt es nicht? Als deine Mutter so jung war wie Grit . . . als sie dich unter dem Herzen trug, da . . . da hatte sie ein Erlebnis. Und meinte, sie müsse es halten. Müsse von mir gehen. Hinwerfen, was sie auf sich genommen hatte . . . die Treue brechen. Wir haben darum gekämpft. Und sie hat sich gefügt.«

»Fügen«, sagte Eberhardt. »Was ist damit geschehen? Es ist das Blut, Vater. Das fremde Blut.«

Hermann legte schwer die Hand auf den Tisch: »Das fremde Blut? Ja. Aber wir sind die Stärkeren. Wir zwingen es. Wir nehmen es auf. Wir saugen es auf. Uns kann man nicht vermischen. Wir sind die Stärkeren!«

»Aber es bleibt ein Rest von Bitterkeit, wenn man einen Menschen zwingt.«

»Man zwingt nicht«, sagte Hermann bedeutungsvoll. »Man zeigt den Weg. Man führt hin . . . zu den Pflichten.« 357

Eberhardt biß die Zähne zusammen. Da schloß sich wieder ein Kreis. Er mußte das seine tun, damit er sich rundete.

Am Abend – sie saßen vor dem Kamin – legte er das Buch beiseite und sagte unvermittelt: »Grit, es ist nicht gut, daß Dinge zu lange ungesagt und ungeklärt bleiben. Wir werden schließlich alle einmal vor unsere Entscheidungen gestellt. Wir haben uns schon einmal entschieden . . . damals, als ich dich fragte . . . und als du kamst. Es war eine Antwort und ein Versprechen. Du hast es nicht eingelöst.«

»Auch du nicht«, sagte sie ruhig.

»Du kanntest mich, Grit, als du ja sagtest. Du kanntest mich besser als ich mich selber. Du kanntest meine Welt, meine Möglichkeiten, meine Grenzen. Ich habe nichts verheimlicht.«

»Doch, Eberhardt. Deinen Weg.«

»Er ist heute so klar und offen wie damals. Ich bin ihm nichts schuldig geblieben.«

»Das ist eure Losung«, sagte sie betont. »Die letzte Zufriedenheit ist: quitt sein; dem anderen nichts mehr schulden; die Rechnung ohne Rest aufgehen lassen. Aber beim Menschlichen, Eberhardt, ist immer ein Rest. Und in diesem Rest allein liegt alles, was Sinn hat.«

»Was bin ich dir schuldig geblieben?« fragte er.

»Den Sinn, den du deinem Weg gegeben hast. Was bist du? Ein reicher Kaufmann. Was wirst du werden? Ein reicherer Kaufmann. Was wirst du aus mir machen? Die Frau eines reichen Kaufmanns. Was werden einmal deine Kinder sein? Söhne und Töchter einer reichen Kaufmannsfamilie. Wo sind deine Möglichkeiten geblieben? 358 In deiner Kaufmannschaft. Was wird dein Reichtum sein? Sammeln, aber nie verschwenden. Und alles, was du schaffen kannst, ist das, was auch jeder andere schaffen kann. Sie haben es vor dir getan. Sie werden es nach dir tun . . .«

Ihre Stimme erstickte. Sie wollte noch etwas sagen, aber sie konnte es nicht mehr. Sie saß da mit geschlossenen Augen und hatte den Mund halb, wie von ungelöstem Schrei geöffnet.

Er hatte die Hände so fest zusammengedrückt, daß die Knöchel weiß schimmerten. Seine Stimme klang alt und rauh, als er endlich sprechen konnte: »Wenn ich dich nicht liebte, Grit . . . dann würde ich diese Feindschaft nie verwinden . . . Keinem schulde ich Rechenschaft über meinen Weg . . . Er ist gut und nützlich und notwendig . . . für mich, für dich, für unsere Stadt, für den Handel, für die Menschen . . . Mag sein, daß einer dabei innerlich ärmer wird. Wessen Schuld? Zuweilen friert man. Es müßte ein Mensch kommen, der einem die Hände wärmt . . . Man verirrt sich zuweilen. Und wartet, daß man angerufen wird. Aber man muß es tragen, wenn einem die Gefolgschaft gekündigt wird.«

»Soll ich dir in deinen Geschäften folgen?« fragte sie hart. »Oder in deiner Hilflosigkeit . . . dem Leben gegenüber? Könntest du nicht einmal etwas anderem dienen als deinem Beruf?«

Er horchte auf. Er ahnte einen Ausweg, eine Rettung: »Wenn keiner ist, der es einem sagt . . . Wenn ich nur wissen soll, daß du gehst . . . warum sich dann mühen?«

Jetzt wußte sie: er verkümmert, wenn ich gehe. Schon wächst eine harte Kruste um den Kern, den guten, 359 fruchtbaren. Sie sah, daß er Sehnsucht hatte wie jeder Mensch, und daß diese Sehnsucht ohne Möglichkeiten war. Sie sah ihn deutlich: hockend an der Grenze zwischen kleiner Vaterstadt und unendlichem Weltmeer; zwischen die Weite und die Enge gestellt; eingeklammert zwischen Stadtstolz und Welthandel, zwischen Dienen und Herrschen; die abgerundete Unvollkommenheit.

Und sie beugte sich in Mitleid. »Sich mühen«, sagte sie mit schwerem Atem, »um etwas Bleibendes zu schaffen. Etwas, das Gestalt hat und sich nicht nur in Zahlen ausdrücken läßt. Irgendein Signal geben, damit man weiß: Du hast gelebt. Ein Sinnbild geben . . . damit dein Kind nicht dieselbe Erbschaft antritt wie sein Vater . . .«

Er sprang auf, zitternd, stammelnd vor Furcht und Freude: »Grit, ist das nur ein Wort, oder . . .«

Sie ließ den Kopf mit der schweren Haarkrone sinken, lächelte in sich hinein, mütterlich über den Keim gebückt, und sagte schlicht: »Ein Kind.«

Es schleuderte ihn aus seiner Bahn des Gleichmaßes. Er hockte zu ihren Füßen nieder und stützte den Kopf gegen ihre Knie. »Ich will alles tun, was du mir sagst. Aber eine Entscheidung, Grit, hast du nicht mehr. Wir haben jetzt beide unsere Pflicht und Verantwortung. Du magst noch bitter sein und schlecht von uns denken. Aber eines können wir: treu sein. Man muß nur Vertrauen haben.«

Er sprach lange, lange zu ihr. Es war Stolz darin und Resignation und Mahnung zu Pflicht und Treue. Sie hörte nur einen Klang, aber keine Worte. Sie wußte doch, daß die Entscheidung nicht aus ihm kam, aus seinem Fordern und seinem Verlangen. Die Entscheidung kam aus ihr, weil sie ein Kind trug. Sie schloß einen Weg ab, 360 um einen anderen für das Kind vorzubereiten. Sie nahm Abschied von der schönen, großen, brennenden Bewegtheit ihres Daseins. Sie wurde Gefäß, auf daß die Kette des Lebens nicht unterbrochen werde. Am tiefsten verstand sie in diesem Augenblick den Sinn aller Schöpfung: dem Leben tributpflichtig sein . . .

»Über den Plan«, sagte sie leise, »wollen wir bald sprechen, Eberhardt.«

»Ja. Wann du willst. Und so bald du dich frisch genug fühlst.«

Er sah, daß sie allein sein wollte, und ging behutsam aus dem Zimmer, als wäre ein Kranker darin. Sein Herz schlug wieder ruhig und gleichmäßig. So kam alles zu seinem Anfang zurück. So stand er da, wo Generationen vor ihm gestanden hatten. Jeder wurde einmal gebändigt im Leben. Es gibt nur eine Freiheit in der Ordnung . . .

Während er schon schlief und die leichten Träume ihm Fetzen aus den Dingen seines täglichen Tuns und Wandels zuwarfen, hockte Grit Melchior, eine andere Hedda Gabler, vor dem Kamin und hielt ein Manuskript in den Händen. Sie sang mit hoher, kinderhafter Stimme Worte. Ihre Gebärden waren wie die der Lisbeth Krämer. Blatt für Blatt legte sie auf die glühenden Scheite. »Mein Kind ist stärker«, summte sie. »Es wird alles in sich haben, was du hier geschrieben hast. Sag nicht, ich wäre untreu. Ich habe alles aufgenommen und aufbewahrt . . . und werde es weiter geben. Nichts stirbt . . . nichts . . .«

Als das letzte Blatt verkohlt war, stand sie auf, legte die Hände schützend über den Leib und ging zur Ruhe. 361

 


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