Josef Kastein
Melchior
Josef Kastein

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3. Kapitel.

Eberhardt Melchior hatte eine lange Besprechung mit Dr. Hoffman. Der alte Hausarzt war sehr ungnädig. »Gegen die Arterienverkalkung kann ich etwas tun. Gegen den allgemeinen Kräfteverbrauch ebenfalls. Alles übrige habe ich nicht in der Hand. Sie wissen schon, was ich da meine.«

»Was soll ich tun?« fragte Eberhardt beklommen.

»Weiß ich nicht. Ist Ihre Sache. Ich bin nicht der Sohn vom alten Melchior. Ich bin auch kein Pastor, sondern Arzt.«

Eberhardt nahm diese Grobheiten hin. Sie kamen aus gutem Willen. »Darüber hinaus eine Frage: was halten Sie von Meran?«

»Sehr viel. Besonders, wenn der alte Herr sich dort in aller Ruhe erholen kann. In aller Ruhe, habe ich gesagt. Damit meine ich keinen Autolärm. Verstanden? Wenn er das nicht kann, dann . . . dann schicken Sie ihn besser gar nicht erst fort.«

Eberhardt ging heim. Als er seinen Vater sah, halb aufgestützt in den Kissen, ein wenig bleich, mit unheimlich vergrämten und vertieften Zügen, zitterte noch einmal die Unruhe in ihm auf, die er nach der erregten Aussprache mit ihm empfunden hatte. Die ganze Kette der Gedanken von Tod und Sterben stand wieder vor ihm. Es raunte 296 ihm mit unheimlicher Deutlichkeit ins Ohr: den da hast du auf dem Gewissen.

Er setzte sich an das Bett und sprach dieses und jenes. Dazwischen war unermüdlich die ferne Stimme: den da hast du auf dem Gewissen. Er bemühte sich, mehr und eindringlicher zu sprechen, und sah nicht, daß er den Kranken damit ermüdete. Aber er konnte nicht anders. Die Stimme war da, dieses verfluchte Raunen . . . Er verneinte diesen Vorwurf hundertmal und kämpfte so sehr um seine Rechtfertigung, daß es selbst Hermann Melchior in all seiner Müdigkeit bewußt wurde. »Du bist so aufgeregt heute. Fehlt dir etwas? Entschuldige, daß ich frage.«

Eberhardt horchte auf. Er sah mit einem Male in diesen nebensächlichen Worten eine Brücke, die er betreten konnte, um in die menschlichen Bezirke zu gelangen. »Wenn du nicht zu müde bist, möchte ich dich etwas fragen.«

»Ja, bitte.«

»Es handelt sich um eine geschäftliche Angelegenheit, in der ich deinen Rat haben möchte.«

Der Kranke lächelte bitter, fast hämisch. Es ging ihm durch den Sinn: Jetzt, wo ich von der Bildfläche verschwinde, holt er sich Rat bei mir. Ich bin ungefährlich geworden. Aber er wiederholte nur: »Ja, bitte.«

Eberhardt las ihm diese Gedanken vom Gesicht ab, aber er beherrschte sich. Er grübelte einen Augenblick, um irgendeinen Tatbestand zu konstruieren. Dann trug er ihn vor.

Hermann Melchior dachte nach, stellte einige Fragen und gab dann seinen Entscheid. Er fügte hinzu: »Das ist 297 meine persönliche Auffassung, wie gesagt. Eine Auffassung der alten Schule. Nichts für moderne Leute.«

Eberhardt nickte: »Das ist schon recht, Vater. Ich werde trotzdem tun, was du sagst, einfach aus der Erwägung, daß man Erfahrungen auch nicht durch eine neue Schule ersetzen kann. Im übrigen schönen Dank. Kann ich sonst etwas für dich besorgen?«

»Du könntest Bertram bitten, heute abend herein zu kommen.«

»Das habe ich ihm heute mittag schon auf die Seele gebunden«, sagte Eberhardt leichthin.

»Wie kommst du dazu?« fragte Hermann mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Ach Gott, schließlich ist Bertram wohl ein tüchtiger Kerl, aber doch kein selbständiger Kopf. Du weißt, mir liegen Schmeicheleien gar nicht. Ich bin nur der Meinung, daß er nach wie vor deine Anweisungen braucht.«

»Schon recht, schon recht«, sagte Hermann. »Aber im übrigen, mein Junge, verstehen wir uns. Vielen Dank für deinen guten Willen. Er kommt etwas spät.«

Eberhardt ließ sich nicht abschrecken. In den folgenden Tagen wiederholte er seine Versuche, den Kranken zu trösten, indem er in ihm das Bewußtsein seines Wertes und seiner Unentbehrlichkeit steigerte. Er stellte Fragen, erbat Ratschläge, ließ sich in vorsichtige Diskussionen ein, berichtete über Kurse und Konjunkturen, und verlor sich, ehe er selbst es wußte, in dieser Gewohnheit so vollkommen, daß er sie nicht mehr entbehren konnte; nicht mehr entbehren konnte für sich selbst. Jeder Gedanke an Trost und Beruhigung für den Kranken erlosch allmählich. Jedes dieser Gespräche wurde ein Ventil für ihn und für 298 die überhitzte Spannung, mit der die Maschine seiner Tätigkeit arbeitete. Die ewige Verbissenheit brauchte endlich Worte, in denen man sich lockern konnte . . .

Der Einfluß auf Hermann Melchior blieb nicht aus. Er dachte immer weniger an seine Niederlage. Es verebbte ein wenig das bittere Gefühl, auf dem Aussterbeetat zu stehen. Er konnte wieder regelmäßig mit Bertram Konferenzen abhalten und das Notwendigste an geschäftlichen Dingen mit ihm besprechen. Darüber hinaus aber lief sein Gehirn ohne Aufhören und ungewohnt erregt die Kurven und Spuren, die sein Sohn ihm in den Gesprächen gab. Er hatte jetzt vollen Einblick in seine Geschäfte. Nichts mehr wurde ihm verheimlicht, und er trug das Vertrauen, das ihm da gegeben wurde, mit der gesteigerten Verantwortung, mit der er alle Dinge im Leben getragen hatte. Es war eine fremde Welt, die sich da vor ihm erschloß. Aber daß sie fremd war, vergaß er über dem erregenden Gefühl, daß sie neu sei, daß sie die Welt seines Sohnes sei und daß er daran teil haben durfte; nicht nur als einer, dem man ein Almosen der Beruhigung hinwirft, sondern als einer, dessen Geist in Erwägung und Ratschlag daran mitwirken durfte.

Doktor Hoffman beobachtete diese Veränderung sorgfältig. Endlich sagte er: »Sie müssen jetzt unbedingt aufstehen und verreisen.«

»Aufstehen? Ja«, lächelte Hermann. »Ich habe es satt, so herum zu liegen. Aber wegfahren? Unmöglich.«

»Warum ist das unmöglich? Ihr Geschäft geht dabei nicht in die Brüche.«

Hermann mochte die Antwort nicht aussprechen, die ihm auf der Zunge lag: Mein Geschäft läuft ordentlich. Aber 299 ich kann doch den Jungen jetzt nicht alleine lassen. Er hat den Kopf so voll Sorgen und Gedanken, daß man es nicht verantworten kann wegzugehen.

Aber Hoffman drängte: »Sie müssen weg, und zwar sofort. Sie sind jetzt reisefähig. Und Sie bekommen auch Gesellschaft. Ich habe mit Herrn Philipp Melchior gesprochen. Dem kann es auch nicht schaden, wenn er ausspannt. Frau Justin geht ebenfalls mit. Dann haben Sie einen ganzen Familienklax zusammen.«

»Lieber wäre mir«, sagte Hermann zögernd, »wenn mein Sohn mit ginge. Aber er kann nicht aus dem Geschäft fort. Er ist noch zu sehr in den Anfängen. Alles will er alleine tragen. Er ist wie einer, der los gelassen ist und nun nicht mehr zurück kann.«

Hoffman dachte nach: »Kann ihm auch nicht schaden, wenn er eine Woche ausspannt. Es ist eine Schande, sage ich Ihnen, wie der Bengel aussieht. Ich sag Bengel. Entschuldigen Sie. Für mich ist er noch das Wesen, dem ich den ersten Klaps gegeben habe, damit es zu schreien anfing. Aber im Ernst. Er würgt und würgt, als ob er die ganze Welt an einem Tage umkrempeln wollte.«

»Nicht wahr?« sagte Hermann lebhaft. »Er sieht recht angestrengt aus. Reden Sie doch mal mit ihm.«

Als Eberhardt am Abend zu der üblichen Besprechung kam, fragte Hermann vorsichtig: »Hast du Hoffman in diesen Tagen mal gesehen?«

»Nein«, sagte Eberhardt. »Ich habe nichts von ihm gesehen.« Als er das enttäuschte Gesicht seines Vaters sah, fügte er hinzu: »Ich halte nichts von diesen Salbenschmierern. Wenn der Mensch krank ist, soll er verreisen, 300 damit er auf andere Gedanken kommt. Der Körper baut sich vom Geist her auf.«

Hermann schwieg, und seine Enttäuschung war grenzenlos. Er wußte selbst nicht, warum. Er fühlte wie ein Kind, dem eine Hoffnung zerschlagen wird. Da sagte Eberhardt, während in ihm die Schelmerei früherer Jahre aufleuchtete: »Die Reise nach Meran ist das beste Rezept, das Hoffman in Jahren verschrieben hat.«

»Also hast du ihn doch gesehen?« fragte Hermann voll Erwartung.

»Nein. Nur am Telephon gesprochen«, lachte Eberhardt und legte vier Fahrscheinhefte auf die Bettdecke.

Der Vater richtete sich auf: »Das vierte ist für dich, ja?« Und als Eberhardt nickte, streichelte er ihm die Hand: »Nett von dir. Nett, mein Junge.«

Sie fuhren am nächsten Morgen nach Meran, alle in aufgeräumter Stimmung. »Onkel Philipp«, sagte Eberhardt, »dein Lachen füllt eigentlich das ganze Abteil schon alleine aus. Warum sitzen wir übrigen drei hier eigentlich?«

»Damit ich ein paar Mauern für das Echo habe«, sagte Philipp grabernst. »Wenn ich alleine bin, kann ich nicht lachen. Du konntest es früher auch besser. Bleib' man ein paar Wochen mit uns zusammen, damit du es wieder lernst.«

»Geht nicht. Ich bleib' nur so lange, bis ich festgestellt habe, ob ihr die passende Gesellschaft für Vater seid und ihn anständig behandelt.«

»Du hättest ja Gesche Büsing mitnehmen können«, brummte Philipp.

Eberhardt wollte nur zwei oder drei Tage in Meran 301 bleiben. Er sah keinen Grund zu einem längeren Aufenthalt. Aber unvermutet überfiel ihn diese sanfte Luft, dieser blaue Himmel, diese schwingende Wärme, diese hohe Zackung der Berge wie mit einem Schleier von sanfter, behaglicher Müdigkeit. Es war nicht die heimische Niederung und nicht der Urwald von Guayana. Es war eine milde, freundliche, unbelastete Mitte; eine Stufe zwischen dem Gewohnten und dem Gefürchteten.

Er verweilte auf dieser Stufe. Er hatte eines Morgens, als er auf den Balkon seines Zimmers hinaus trat, den lächelnden Gedanken: hier hätte man Dichter werden können. Aber dieses Lächeln dauerte nicht an. Es war nur der Auftakt zu einer sonderbaren Bedrücktheit. An das Wort hängten sich die Schatten von ehemals. Es war immer das gleiche: Anfänge und kein Ende. Nur, wie Geschenk, das Gnade und kaum verdient ist, Pause des Verweilens, der Ruhe; Atemholen auf einer Strecke: Lisbeth, der Ring, Otto Krämer, Grit Kuvell, Meran . . .

Aber Grit Kuvell war fern. Meere lagen zwischen ihm und ihr. Warum an Grit Kuvell denken? Weil nicht zu vergessen war, daß sie einmal seinen Kopf auf die Schulter genommen und ihm eine Sekunde des Ausruhens geschenkt hatte. Die kostbarste Sekunde, denn sie stand vor den Toren zu einer neuen Welt des Erlebens.

Zweifel beschlichen ihn. Neue Welt des Erlebens. Wie das klingt! Was wird denn erlebt? Kaffee, Kakao, Reis, Chinarinde, Sojabohnen, Nahrungsmittel . . . Handel und Produktion in einer Hand . . . Geld, Geld . . . ein elektrischer Kran, ein neuer Silo, ein kleiner Dampfer, den man auf dem »Columbus« vom Lloyd als Rettungsbarkasse hätte aufhängen können . . . Nicht zu vergessen 302 die Reisstärkefabrik und die Plantage von de Graff . . . Auch eine neue Schreibmaschine ist angeschafft worden; sehr wichtig, sehr wichtig . . . Was gab es noch? Man müßte Hamerling einmal fragen. Der weiß alles. Der weiß auch, daß die Firma einen guten Ruf hat. Abteilung R: Reputation. Aber nein. Abteilung R ist schon besetzt. Das ist Reis, oder Reisstärke, wie man will. Vielleicht Abteilung I? Illusion? Auch schon besetzt. Abteilung I ist die allgemeine Importabteilung. Wo bringt man nur diese Dinge unter, die zwischen Produktion und Handel stehen? Vielleicht unter V. Das deckt so vieles: verlieren, verachten, vergessen, versäumen, verzichten . . . Die kleine Vorsilbe »ver«, das Anzeichen für die Dinge, die einem abhanden kommen, um die man ärmer wird . . . und leerer . . .

Er trat in sein Zimmer zurück und ging geraden Wegs zu dem Spiegel. Aber noch ehe er hinein gesehen hatte, drehte er sich um. So nicht. Nicht der Larve nachgehen. Sie verrät nichts als seinen Alltag, den er kennt. Das andere Gesicht sieht man nur, wenn man die Augen schließt . . .

Er saß an seinem Schreibtisch. Hinter den Augenlidern flimmerte das Wort: Exzelsior. Immer wieder Exzelsior. Woher kam dieses sinnlose Wort? Eine Mappe mit goldener Aufschrift lag vor ihm. Er öffnete sie. Briefbogen lagen darin. Und auf jedem stand Exzelsior. Er nahm einen heraus, ganz triebmäßig und ohne eigenen Willen, und begann zu schreiben; ohne Anrede und ohne Überschrift. Wozu brauchte es das? Seine Gläubigkeit und sein Vertrauen konnten nur eine Richtung haben . . . er schrieb und schrieb . . . 303

Als er den Brief beendet hatte, zerriß er ihn nicht wieder. Er adressierte ihn an Grit Kuvell, mit großen, sicheren Schriftzügen. Er war jetzt ganz ruhig und voller Hoffnung. Er hatte sich in das Gesicht gesehen und wußte jetzt, wer allein ihm Spiegelbild sein könnte.

Auf der Terrasse, unter dem gestreiften Sonnendach, saß Hermann Melchior. »Ihr steht alle so spät auf«, beklagte er sich. »Man kommt gar nicht zum Frühstücken.«

»Ich habe noch erst einen Brief schreiben müssen«, sagte Eberhardt still. »Hier, heb' ihn mal auf. Glaubst du, daß er doppeltes Porto kostet?«

Hermann wog den Brief in der Hand. Er hatte die Rückseite des Briefes taktvoll nach oben gelegt. Aber Eberhardt drehte den Umschlag herum: »So mußt du ihn halten.«

Hermann Melchior las die Aufschrift. Seine Hand zitterte leicht, als er den Brief zurückgab: »Doppelt. Natürlich. Und für alle Fälle . . .«

»Was denn: für alle Fälle?«

»Einschreiben gegen Rückschein«, lächelte Hermann. »Gegen Rückschein, mein Junge.« Und plötzlich packte er seinen Arm und sagte mit brüchiger Stimme: »Und alles Gute, du . . . alles Gute . . .«

Als Philipp erschien, sah er von einen zum anderen, vorsichtig und mißtrauisch: »Ihr seht ja so begossen aus. Krach?«

»Krach«, sagte Hermann trocken. »Bombenkrach. Er meint, ich wäre so klapperig, daß ich nicht einmal mehr einen Brief zur Post besorgen könnte.«

Eberhardt gab ihm den Brief herüber: »Na, Alter. 304 Dann besorg' ihn. Ich kann ja wohl beruhigt abreisen, was?«

»Ja, mein Junge. Aber das sag ich dir: lange bleibe ich nicht.«

»Frühestens drei Tage vor deinem sechzigsten Geburtstage darfst du zurückkommen. Verstanden?«

Philipp stemmte die Arme auf: »Sagt mal, seid ihr blödsinnig geworden?«

»Ja«, lachten Vater und Sohn wie aus einem Munde.

Philipp lachte mit: »Na, dann bin ich beruhigt.«

Eberhardt fuhr nach Bremen zurück. Auf dem Bahnsteig erwartete ihn Hamerling: »Na, gut bekommen?«

»Danke. Ausgezeichnet. Ist im Geschäft alles in Ordnung?«

»Ja. Ich hab' inzwischen die Abteilung F aufgemacht. Vorläufig mit zwei Mann.«

»Bedeutet?«

»Natürlich Früchte. Ich hab' Bananen, Tomaten und Zitronen gekauft.«

Eberhard zuckte unwillig mit den Schultern: »Liegt mir eigentlich nicht. Wir haben doch schon hier am Platze die große . . .«

»Dürfte mir nicht unbekannt sein«, unterbrach ihn Hamerling. »Aber das Inland ist groß. Natürlich müssen wir uns mit der Zeit Spezialwagen bauen lassen. Dann habe ich Erdnüsse, Palmkerne und Kopra eingekauft.«

»Nächstens kaufen Sie noch eine Ölfabrik dazu«, meinte Eberhardt trocken.

»Warum nicht? Es ist alles eine Frage des Geldes, der Organisation und . . . der Courage.« 305

»Leicht gesagt. Ist sonst wichtiges an Korrespondenz da?«

»Außer einem Brief von de Graff, der sehr günstig lautet, nur noch ein Brief.«

»Von wem und was?«

»Kündigung von Hamerling. Sechs Wochen per Schluß des Quartals.«

»Ich werde ihn mir morgen ansehen. Ich denke, es eilt nicht auf einen Tag. Übrigens können Sie nicht zum Schluß dieses Quartals gehen.«

»Ich möchte sehen, wer mich daran hindern will.«

»Ich, mein lieber Hamerling. Wir haben heute den fünfzehnten des Monats. Es ist nach der Geschäftszeit. Ich habe keine Möglichkeit mehr, von dem Briefe Kenntnis zu nehmen. Branche es zu dieser Stunde auch nicht mehr. Sie selbst sind nur Prokurist. Sie haben nicht die Befugnis, mit sich selber zu kontrahieren. Morgen früh werde ich den Brief lesen, und dann ist es zu spät für das laufende Quartal. Ich halte mich streng an unseren Vertrag. Außerdem vermute ich, daß der Brief nicht eingeschrieben geschickt worden ist. Auch das steht im Vertrag. Also.«

Hamerling verzog keine Miene: »Alles richtig. Wenn ich Chef von Eberhardt Melchior wäre, würde ich keine Stunde länger als unbedingt vertraglich notwendig mit einem Manne zusammenarbeiten, der gekündigt hat.«

»Möglich. Wenn ich Hamerling wäre, würde ich zum Chef gehen und ihm sagen: dies und jenes paßt mir nicht. Wollen Sie es ändern oder nicht? Wenn er es abschlägt, würde ich sagen: Leben Sie wohl.« 306

»Aber wenn er nun einmal weg will?« rief Hamerling gereizt.

Eberhardt blieb unerschüttert: »Er will ja gar nicht. Er ist nur vergrimmt, daß er nicht mehr das alte Tempo vom Anfang her halten kann. Er meint, es müßte immer so weiter gehen. Es dürfte nie die Zeit kommen, wo man das Erworbene festigen muß, es verankern nach allen Seiten; und wo es gefährlich ist, sich immer aufs neue auszudehnen.«

»Gerne möglich . . . Ist sogar richtig. Ich hab' das Gefühl, wir sitzen fest. Wir drehen uns im Kreise und fangen an, Fett anzusetzen. Was sind wir? Ein vergrößerter Krämerladen. Außer Wein und Tabak kann man alle Eßwaren bei uns kaufen, die überhaupt eingeführt werden. Davon produzieren wir nur einen geringen Teil. Ich hab' mir früher gedacht: da ist mal einer, der die Kraft hat, zusammenzufassen, was es an Gütererzeugung und Güterumschlag gibt. Von der Kaffeeplantage bis zur Kaffeestube in Kottbus; vom Kakaobaum bis zum Konfitürenladen an der Ecke in Neubabelsberg. Und das alles auf eigenen Schiffen transportiert, die auf einer eigenen Werft gebaut sind . . . und weiß der Teufel: die Werft müßte noch die Eisenbarrel verarbeiten, die auf der eigenen Hütte gegossen sind!«

»Vielleicht ein kleines Erzbergwerk daneben? Ein paar Steinkohlengruben nebenher«, spöttelte Eberhardt. »Überschrift: der Herr der Welt. Sie sind doch ein entsetzlicher Phantast. Ich will gar nicht vom Gelde sprechen. Das läßt sich anhäufen. Bremen ist auf gutem Wege. Vor dem Kriege hatten wir vielleicht einhundert und fünfzig Millionäre hier. Die Gesellschaften mitgerechnet. Heute 307 sind es vielleicht die Hälfte. Immerhin ganz anständig für eine so kleine Stadt. Aber dabei . . .«

»Verschonen Sie mich mit Statistiken. Kommen Sie zur Sache. Oder verschieben wir es auf morgen.«

Sie wußten, daß das unmöglich sei. Sie gingen zur Contrescarpe und setzten dort die Debatte fort. Es wurde Mitternacht. Die beiden wurden nicht müde. Sie kämpften erbittert, beide um das gleiche Ziel, aber auf anderen Wegen und mit anderen Möglichkeiten. Es schlug zwei von der Uhr unter dem Glassturz. Sie saßen vor großen Bogen mit Zahlen. Immer wieder brach Hamerling mit seiner Phantasie in diese Kolonnen ein und zerschlug sie. Seine Pläne und Kombinationen hatten Ausmaße, die über das Gewohnte hinausgingen. Eberhardt schrak davor zurück. Es war ihm unheimlich. Er sah Gebiete, deren Grenzen er nicht abstecken konnte . . . und die ihn doch verlockten. Darum wurde er erregt. »Sie sind ein Abenteurer!« schrie er. »Ein Hochstapler!« Hamerling schlug auf den Tisch: »Sie sind ein Krämer! Ein Spartopf! Ein Feigling!«

»Ja, ein Spartopf. Aber meine Groschen liegen darin! Nicht Ihre. Sie haben nichts zu verlieren . . .«

Hamerling sprang auf: »Wie viele von diesen Groschen habe ich erschuftet? Wo ist meine Kraft geblieben, meine Nerven, meine Zeit? Sehen Sie sich diese Haare an! Grau; grau . . . Ich will nicht mehr. Ich mach' Schluß!«

»Sollen Sie auch! Sie sind ein wildgewordenes Pferd. Sie müssen einen Karren zu schleppen haben, der Ihnen das Galoppieren verleidet.«

»Lassen Sie das meine Sorge sein, Herr Melchior.« 308

»Das ist meine Sorge, Herr Hamerling! Glauben Sie denn, ich ließe Sie jetzt weglaufen?«

Sie fluchten, wetterten, wurden wieder ruhig und überlegten. Das Papier raschelte. Noch einmal standen sie sich gegenüber wie Menschen, die sich leidenschaftlich hassen und doch nicht voneinander können. Die Uhr schlug sechs. »Kaffee! Kaffee! stöhnte Eberhardt.

Sie weckten Beta. Als sie nach einer halben Stunde mit der großen Silberkanne in den Teesaal kam, fand sie Eberhardt und Hamerling schlafend, beide in einen Sessel gedrückt, die Köpfe auf den schwarzroten Seidenkissen. Sie schob den Teetisch vor den Kamin, schenkte ein und rüttelte Eberhardt. Er schreckte auf: »Was sagst du?«

»Entweder oder«, sagte Beta.

»Hamerling!« rief Eberhardt. Auch der schreckte auf: »Was ist?«

»Entweder oder, hat Beta gesagt.« Sie lächelten sich aus aller Müdigkeit an, schlürften den heißen Kaffee, fühlten die Gedanken wieder wach und lebendig werden und fingen an, das Ergebnis dieser Nacht niederzuschreiben.

»Also: Name der Gesellschaft lautet »Norddeutsche Kolonialgesellschaft A.G.«, Sitz Bremen. Zweck des Unternehmens: Handel mit allen Kolonialprodukten und sonstigen Waren des Imports. Export kommt später. Wir behalten uns Erweiterung in einer Klausel vor. An Kapital brauchen wir nur das gesetzliche von fünfzigtausend Mark. Ich habe siebzig Prozent Aktien. Sie dreißig. Die Zahlung dafür leiste ich und belaste Sie auf Gehaltskonto. Dafür schreibe ich Ihnen denselben Betrag auf Provisionskonto gut. Vertrag nach innen: Alles, was 309 ich selber herstelle, müssen Sie zu Marktpreisen übernehmen, gleich, ob es von der Plantage oder von Holtenkamp oder der Vera-Schokoladenfabrik kommt. Soweit vorhanden, werden meine Transportmittel benutzt und meine Anlagen. Alles andere bleibt in der Firma. Sie scheiden mit Gründung der Gesellschaft aus der Firma aus.«

»Was ich an Betrieben erwerbe . . .«

»Gehört zu mir. Ohne weiteres. Und ohne einen Pfennig Zwischenverdienst. Ich tue es nicht anders. An Gehalt bekommen Sie . . .«

»Stop. Ich will kein Gehalt. Ich leiste meine Arbeit unentgeltlich. Nicht aus Anständigkeit, sondern damit kein Dienstvertrag vorliegt und ich jederzeit ausspringen kann. Dann verlange ich noch zeitlich unbeschränkte Kaufofferte für Ihre Anteile. Ich will nicht mit anderen zusammen arbeiten.«

»Ist gut«, lachte Eberhardt, »denn Ihre grauen Haare stecken drin. Wir gehen um zwölf Uhr zum Notar.«

»Wer gründet mit?«

»Der Rotweinfritze, Bernd und Bertram. Der aber nur in Vollmacht für meinen Vater. Jeder eine Aktie.«

Die Gründung wurde ohne große Formalitäten vollzogen. Mähren schlug vor, zur Feier des Tages in den Ratskeller zu gehen. Aber weder Eberhardt noch Hamerling waren in Stimmung dafür. Sie waren allzu begierig, die technische Arbeit zu erledigen, die mit der Trennung der beiden Betriebe verbunden war. Vor allem mußte Raum geschaffen werden, um das Personal unterzubringen. »Ich ziehe nicht aus«, sagte Eberhardt. »Ich bin abergläubisch.« 310

»Mir ist das gleich«, meinte Hamerling. »Ich gehe zum Hauswirt und miete den Lehmann unten aus.«

»Das geht doch nicht. Es ist ein Geschäftsfreund.«

»Von Ihrer Firma. Nicht von meiner. Wir müssen in einem Hause zusammen bleiben, und es ist sonst nirgends Platz. Das geht auf meine Kappe.«

Eberhardt ließ ihn gewähren. Er war auch nicht in der Laune, sich mit solch kleinen Dingen zu befassen. Mit einer Ungeduld, die an seinen Nerven zehrte, wartete er auf eine Antwort aus Surinam. Er wußte, wie sie ausfallen würde. Grit Kuvell hatte in aller Zurückhaltung sich klar und ehrlich zu ihm bekannt. Jetzt hatte er ihr sein Bekenntnis in die Hand gegeben. Es war eben so klar und ehrlich.

Eben so klar und ehrlich? Die einsamen Abende, die ihm zwischen seiner Frage und ihrer Antwort blieben, waren schmerzlich überzogen mit einer Ungewißheit und Unsicherheit. Aber es fehlte ihm der Nachweis eines Grundes für diese Zweifel. Wie nahe schien doch die Zeit zu liegen, in der ihm immer das Wort, das klärende, aufhellende Wort zur Seite stand, um sich und sein Gefühl selbst da zu benennen, wo es verschwommen und dem Zugriff der ordnenden Gedanken ferne war. Jetzt versagte sich das Wort. Es deckte nichts mehr auf. Nicht einmal eine Ahnung rührte sich. Mein Gott, stöhnte er in sich hinein, frißt denn ein Beruf so restlos alles Gefühl, daß selbst der Instinkt dabei zugrunde geht?

Er stand in einer Landschaft voller Nebel. Wohin er sich wandte, enthüllte sein scharfes Auge Dinge an den Horizonten; klar umrissene Dinge aus dem sachlichen Bezirk. Dazwischen war ein Mädchengesicht, zerfließend 311 in der Form, wie mit Schleiern überzogen. Es konnte Grit Kuvell sein. Es konnte aber auch Lisbeth Krämer sein. Sie überschnitten sich; gingen ineinander über. Ein Spiel, das er nicht zu deuten wußte. Dann war dort ein flacher Uferstreifen, mit Weiden bestanden. Sie wucherten auf, sonnenbeschwert, und waren ein Urwald. Da war ein kleines Zimmer mit Kerzenlicht. Es dehnte seine Wände und wurde das Kasino in Paramaribo. Ewige Überschneidung . . . ewige Beziehung zu einem Anfang. Er erinnerte plötzlich, als Kind einen kleinen blauen Ball gehabt zu haben, den er sehr liebte und der eines Tages verschwunden war. Er bekam späterhin viele andere Bälle. Aber keiner war ihm so ans Herz gewachsen wie der kleine blaue . . .

Kinderei, sagte Eberhardt. Man könnte sich einreden, man hätte mit der ersten Liebe sein Gefühl erschöpft und . . .

Endlich lag, als er zum Mittagessen heimkam, ein Brief auf seinem Platz. Er wurde blaß. Es war nicht Grits Handschrift. »Jan Kuvell« stand breit und schwer auf der Rückseite. Das war die Ablehnung. Sollte Kolpe, der Trinker . . .?

Er öffnete den Brief und las:

»Lieber Freund Melchior, wir können beide schlecht schreiben, Grit und ich. Aber es muß doch sein. Darum habe ich es übernommen. Es ist nicht schön, daß Sie mir meine Tochter wegnehmen. Ich bin sehr traurig darüber. Lieber hätte ich gesehen, Sie wären hierher gekommen. Jetzt sitze ich alleine. Aber so leicht sollt Ihr es doch nicht haben, meine schöne Wildnis zu vergessen. Ich habe Grit die Hälfte meiner Plantagen übertragen. Als Hochzeitsgut. Vielleicht zieht das Euch her. Natürlich gehört das 312 unbebaute Land dazu. Fangt an, etwas daraus zu machen. Ich will wohl dabei helfen.

Jan Kuvell.

Postskriptum: Grit ist gleich am selben Tage weggefahren. Sie kauft erst ihre Aussteuer in London. Sie wird wohl von dort aus kabeln.«

 

Eberhardt legte langsam und bedächtig den Brief auf den Tisch zurück. Er war ganz still und ohne Erregung. Er sah über Land und Meer hinweg: London, Grit . . . weiter über den Ozean: der neue Grund von Cnoppomombo, ihm halb zu eigen, Jan Kuvell . . . Das war alles, was er empfand. Er stand auf, ohne gegessen zu haben, und ging zum Osterdeich. Vor der Türe fiel ihm ein, daß Onkel Philipp in Meran sei. Wie er das nur vergessen konnte! Er nahm einen Wagen und fuhr nach Lankenau. Dort arbeiteten die Krane über den Leichtern. Er fragte den Küpermeister: »Ist Herr Hamerling hier?« Aber er wartete die Antwort nicht ab, denn er überlegte, daß Hamerling im Kontor sein würde. Er stieg wieder ein. »Wohin?« fragte der Chauffeur. Er antwortete ohne Besinnen: »Bremerhaven«.

»Zurück über die Brücke oder unten mit der Fähre?«

»Unten mit der Fähre.«

Er hatte späterhin wenig Vorstellung von dieser Fahrt; liebte es auch, sie seinem Gedächtnis fernzuhalten, weil ihn diese Kopflosigkeit zu sehr beschämte und beschwerte. Grit erfuhr nie davon. Um diese Fahrt wußten nur Emmo und Gesche Büsing. Er stieg bei ihnen ab, ohne einen Grund für sein Kommen anzugeben. Er sagte nur: »Guten Tag« und setzte sich in die Stube. Emmo kam herein gehumpelt. Die Gicht quälte ihn.

»Wollen mal Kaffee trinken«, sagte er. »Schnaps dazu? 313 Ja? Also. Hab' ich immer zu Gesche gesagt: er wird noch mal vernünftig.«

Gesche brachte das große, bunte Geschirr. Dann tranken sie Kaffee. Als sie fertig waren, fragte Eberhardt: »Was macht euer Junge jetzt?«

»Ist Dritter bei der Argo.«

»Dann sagt ihm, er soll abmustern. Ich hab' da in Frankreich einen kleinen Dampfer gekauft . . . rund 3000 Tonnen. Ist 1918 in Cleveland gebaut. Macht neun Knoten. Den lass' ich jetzt nach Norwegen und Finnland laufen. Da kann er Kapitän werden.«

»Schön«, sagte Emmo. »Ganz schön für den Anfang. Aber wenn du mal einen größeren hast . . .«

»Ist in Ordnung.«

Er fuhr nach Bremen zurück. Es war spät, als er die Stadt erreichte. Er war so müde, daß er nichts essen mochte. Er ging auf sein Zimmer und schlief und schlief . . .

Man war nicht gewohnt, ihn zu wecken. Als er um zehn Uhr noch nicht erschienen war, ging Beta nach oben und klopfte an: »Ist was los oder nicht?« Er fuhr auf, sah sich im Zimmer um, hatte das Gefühl von Morgen und Sonne und Freude und dehnte sich zufrieden: »Nichts ist los, Beta. Ich stehe schon auf.« Beta knurrte das Leitmotiv ihres Lebens: »Entweder oder« und es verdroß sie sehr, daß hinter der Türe ein schallendes Gelächter zu vernehmen war.

Im Kontor meldete Eberhardt ein Gespräch mit seinem Vater an. Er hörte, wenn auch gedämpft, deutlich die Erregung der Stimme drüben.

»Du mußt zurückkommen, Vater . . . Ja . . . Weil es gegen den Anstand verstößt, daß kein Hausherr da ist, 314 wenn eine Dame ihre Antrittsvisite macht . . . Die genaue Zeit weiß ich nicht . . . Ja. Auf Wiedersehen.«

Hermann Melchior ging langsam auf die Terrasse. Philipp und Becka Justin saßen beim Tee. »War was besonderes?« fragte Philipp.

Hermann bemühte sich, ruhig zu erscheinen. »Ich muß nach Hause.«

»Geschäftlich?«

»Nein. Ich muß die Honneurs machen. Becka muß auch mitkommen. Als Anstandsmoppel.« Und dann brach es doch in ihm auf: »Seine Braut kommt. Er weiß nicht genau, wann. Aber ich muß doch da sein, wenn sie kommt. Er war so aufgeregt am Telephon. Becka, du mußt so lange bei uns wohnen. Es muß doch eine Frau im Hause sein. Philipp, das wirst du wohl einsehen?«

»Natürlich. Ich fahre aber mit. Mein Gott, der Junge heiratet auch schon. Hermann, merkst du nun, daß wir alt werden? Aber laß man. Wir wollen darüber nicht weinen. Als ich meinem Vater mitteilte, daß ich eine Braut hätte, sagte er nur: Rotzjunge. Da hab' ich ihm gesagt: das kommt bloß, weil du mir kein ordentliches Taschentuch geben willst. Da hat er gelacht und hat mir das Haus am Osterdeich gekauft.«

Während die beiden Alten in Erinnerungen kramten, machte sich Becka Justin daran, die Koffer zu packen. Sie hatte schon mit dem Hotel abgerechnet, Fahrkarten besorgt und Plätze im Schlafwagen belegt, als sie zum Abendessen gingen. »Jetzt kommt unsereins doch auch wieder zur Geltung«, sagte sie mit stiller Freude.

Dann fuhren sie heimwärts. Hermann lag in dieser Nacht schlaflos. Ihm war zumute wie einem Heimkehrer. 315 Es war nicht nur die Heimkehr in die Vaterstadt, es war – Wortspiel, das ihn lächeln machte – Heimkehr des Vaters in die Stadt. Sonst kam der Kaufmann Hermann Melchior zurück. Jetzt hatte er die Grenze der Spannung und Ausdehnung überschritten. Es wuchs nichts mehr. Ernte lag in den Scheuern. Abendstimmung klomm herauf. Getanes Werk lag da, das einer erhält, aber nicht mehr erweitert. Der Ring war geschlossen. Mühseliges und strebsames Dasein rundete sich. Und verlief doch nicht ins Leere und Grenzenlose. Der Sohn war da; einer aus seinem Geschlecht und aus seiner Kraft. Er führte das Werk weiter. Ja, er führte es weiter, wenn auch der Name, der es deckte, ein anderer war. Melchior blieb Melchior. Während der Junge glaubte, es sei ein neuer Beginn, wußte der Alte, es sei nur eine Fortsetzung. Das Schwanken und Zittern, das den Kreis ihres Lebens berührt hatte, bedeutete nur, daß dieser Kreis sich weiter fortbewegte, um eine Ebene erhöht, um eine Spannung vermehrt. Nicht mehr der Kreis, der geruhig und mit dem Keim des Todes in sich zurückläuft, sondern der sich ausweitet zur Spirale: ein Gebilde, das die Form der ewigen Rundung nicht verläßt und doch hundertfachen Widerstand zu tragen vermag.

Mit diesem Gedanken schlief er ein. In München mußte Philipp ihn wach rütteln. »Komm, wir wollen uns die Stadt ansehen.«

Hermann widerstrebte: »Ich hab' keine Ruhe. Laß uns weiterfahren.«

»Ausgeschlossen. Hat Dr. Hoffman verboten. Wir nehmen den Nachtzug.«

Sie gingen durch München. Hermann war, wie immer, 316 ein aufmerksamer Beobachter. »Ich kenne die Stadt aus der Zeit vor dem Kriege«, sagte er. »Sie sah damals anders aus; besser als heute. Ich kann nicht sagen, woran es liegt.«

Philipp schnupperte: »Früher war hier ein Aroma. Heute riecht es nach . . . Staub. Sieh mal, da ist der Stachus. Schrecklich! Wollen wir in die Pinakotheken oder in ein Bräuhaus?«

»Nehmen wir den Mittelweg«, lächelte Hermann. »Wir wollen nach Nymphenburg fahren.« So geschah es. Als sie auf der Rückfahrt zum Bahnhof waren, sagte Philipp: »Es war ja sehr schön, und es gibt gewiß viele schöne Städte in Deutschland, aber ich kann nicht von dem Eindruck los: Bremen ist . . . na, ist Bremen. So ein Stück eigenen Lebens. Es ist nicht nur, weil einer da geboren ist. Man gehört hinein. Kitt ist da . . . der bindet.«

Sie sprachen immer weiter von ihrer Vaterstadt. Aus der Entfernung entdeckten sie immer neue Vorzüge und Schönheiten. Und als der Zug schon rollte und sie vor sich hin dämmerten, glitten sie beide mit einem sachten Heimweh in den Schlaf hinein und hatten die heimatliche Stadt mit ihrer turmbewehrten Silhouette vor den Augen.

Eberhardt stand auf dem Bahnsteig, als sie einfuhren. Es war erstaunlich, wie er jetzt seinem Vater glich. Nur die Augen waren um ein weniges schmäler geschlitzt und die Augenbrauen standen in sanfterer Linie darüber; Erbteil des englischen Blutes seiner Mutter. Aber sonst war die Ähnlichkeit vollkommen. Sie ging jetzt bis in kleine Wesenszüge. Vater und Sohn begrüßten sich freundlich, aber mit einer gewissen Zurückhaltung. Beide schämten 317 sich ihrer Gefühle, der jetzigen und deren, die sie vor Wochen einander gezeigt hatten.

»Hast du schon genauere Nachricht?«

»Ja. Fräulein Kuvell kommt morgen Nachmittag von Plymouth aus mit der »Dresden« in Bremerhaven an.«

»Dann müssen wir sie dort wohl in Empfang nehmen. Was meinst du?«

»Es wäre sehr nett von dir, wenn du mit herunterfahren würdest.«

Zu Hause war die ganze Familie versammelt. »Bist du schon wieder da?« fragte Jungfer Metta. Sie wußte nicht, wann Hermann abgereist war. Sie saß da und verfolgte mit aufmerksamen Augen die Bewegungen der anderen, die lebhafte Beratung abhielten. »Ich halte es für zweckmäßig und angebracht«, entschied Hermann endlich, »daß Becka, der Junge und ich nach Bremerhaven fahren und Fräulein Kuvell abholen. Ihr anderen seid dann hier im Hause, wenn wir ankommen; nicht auf dem Bahnhof. Das macht so viel Unruhe. Wir essen dann hier zu Abend. Fräulein Kuvell wird bei Toni und Bernd wohnen, wenn sie es nicht vorzieht, nach Hillmann zu gehen. Das müssen wir ihr überlassen.«

Es verstand sich, daß diese Lösung angenommen wurde. Toni zog Eberhardt beiseite und sagte leise: »Ich muß dich einmal zwei Minuten ungestört sprechen. Wo ist das möglich?« – »Auf meinem Zimmer?« – »Gut. Komm.«

Sie stiegen die Treppe hinauf. »Nun?« fragte Eberhardt etwas beklommen, »was gibt es für ein Geheimnis?«

Toni reichte ihm ein verschnürtes Paket: »Ich habe es alle die Jahre hindurch aufbewahrt, lieber Eberhardt. Du weißt schon: es sind die Pumps von damals. Sie haben 318 dir einmal als Zeichen gedient, den Weg zwischen uns aufzuheben. Heute muß ich sie dir zurückgeben. Der Weg ist nicht mehr aufgehoben.«

Eberhardt war sehr blaß und so aufgewühlt, daß er nicht sprechen konnte. Er hielt das Paket in der Hand.

»Du mußt es nicht falsch verstehen«, sagte Toni. »Ich triumphiere nicht und rede nicht vom heimkehrenden Sohn. Aber ich sehe doch, daß du die Dinge, die im Herkommen liegen, anerkennst. Und du tust es nicht nur der Form nach, sondern du bist mit dem Herzen daran beteiligt. Du hast dich mit den Dingen ausgesöhnt.«

»Alle diese Dinge sind notwendig«, antwortete Eberhardt langsam. »Sie bewahren den Menschen davor, in das Uferlose auszubrechen. Es braucht alles seinen Zaun und seine Grenze . . . innen und außen. Es ist noch kein Mensch über seine eigenen Schatten gesprungen.«

»Du nimmst es also so, wie ich es gebe?« fragte Toni glücklich.

»Ich werde die Pumps morgen beim Abendessen anziehen. Hoffentlich . . . hoffentlich drücken sie nicht.«

Sie gingen wieder nach unten. »Wo ist Vater?« »Wir haben ihn in sein Kabinett geschickt«, sagte Mähren. »Wir beraten, was wir zu Vaters sechzigstem Geburtstag veranstalten wollen. Dich können wir im Augenblick auch nicht gebrauchen.«

Eberhardt ging folgsam hinaus. Er klopfte leise an die Türe zum Kabinett.

»Störe ich, Vater?«

»Nein. Komm nur.« Er saß da an seinem Schreibtisch wie vor vielen Jahren schon: aufrecht, in hochgeschlossenem Anzug, den Blick in das Grün der 319 Baumkronen gerichtet, die Hand auf dem kleinen Stab aus Beni-Bronze.

»Ich habe dir von der Aktiengesellschaft geschrieben, die ich gegründet habe.«

»Ja«, sagte Hermann. »Ich wäre gerne mit unter den Gründern gewesen; wenn auch nur mit einer Aktie. Du verstehst . . .«

»Daran habe ich wohl gedacht. Bertram hat in Generalvollmacht für dich mitgegründet. Ich wollte dir nur eben die Aktie geben. Sie sind gestern aus dem Druck gekommen.«

»Das freut mich. Das freut mich wirklich. Was kostet das Ding?«

»Nun, wir haben natürlich zu pari ausgegeben. Aber dir kann ich sie nur mit einem Aufschlag von 20 Prozent überlassen.«

»Du bist ja ein schöner Geschäftsmann«, lachte Hermann. »Warum fängst du gerade bei mir an, den Kurs zu machen?«

»Weil ich«, sagte Eberhardt stockend, »weil ich . . . mit diesem Papier . . . ein anderes Papier auslösen möchte . . . über zwölfhundert Mark . . . das du noch von mir hast . . .«

Hermann stützte den Kopf in die Hände. Sein Atem ging sehr schnell. Seine Stimme war fast tonlos: »Ehe deine gute Mutter starb . . . hat sie das Papier von mir verlangt . . . und hat es in den Kamin geworfen.«

Eberhardt preßte den Mund zusammen und legte die Aktie auf den Schreibtisch: »Dann sind wir wohl quitt, Vater.«

»Ja, mein Junge. Wir sind quitt.« Er hörte, daß die Türe leise geschlossen wurde. Er senkte den Kopf tiefer. 320 Als er die Augen nach einer langen Weile öffnete, sah er auf dem blauroten Druck des Papiers einen großen, hellen Tropfen liegen. Er nahm seinen Tintenlöscher und trocknete ihn sorgfältig auf. – – –

Die Tage verliefen wie ein Wirbel von Licht und Unruhe. Grit Kuvell kam, ernst und reif, von innerer Heiterkeit strahlend. Ihre Stimme war noch tiefer, dunkler, klingender geworden. Alle Herzen waren ihr geöffnet. Man überschüttete sie mit Freundlichkeiten und Zärtlichkeiten. Nur Jungfer Metta machte große Augen, als Hermann die neue Tochter vorstellte: »Will denn der Junge schon heiraten?« fragte sie mit ihrer scharfen Stimme.

Hermann lächelte entschuldigend: »Sie hat kein Gefühl mehr für die Zeit.«

»Ich sehe es«, sagte Grit ruhig. Sie nahm Jungfer Mettas Hand und küßte sie. Da regte sich noch einmal etwas in dem alten Menschen. Sie streichelte über das dichte, braune Haar: »Dann sei nur gut zu ihm.«

Es war beschlossen worden, Hermanns sechzigsten Geburtstag und Eberhardts Verlobung am gleichen Tage zu feiern. Das bedingte eine größere Anzahl von Gästen, weil neben den auswärtigen Verwandten die alten Geschäftsfreunde des Jubilars nicht umgangen werden konnten. Der Speisesaal reichte nicht aus für die Tafel. Sie mußte weit bis in den Teesaal hinein gezogen werden. Das Kopfende war durch eine quergestellte Tafel verbreitert. Dort saßen: in der Mitte Grit Kuvell, bleich, mit dunkelflimmernden Augen; zu ihrer Rechten Hermann Melchior, still und ein wenig gebückt, und zu ihrer Linken Eberhardt, gestrafft und ernst. Über ihnen, von der Decke her, hing ein riesenhafter Kranz aus gelben Rosen, Mutter 321 Ethels Lieblingsblumen. Es flirrte das Licht aus den Prismen des Kronleuchters. Wie immer seit undenklichen Jahren wies Haberkost die Plätze an. Aber servieren konnte er nicht mehr. Er war zu alt.

Als alle Gäste ihren Platz gefunden hatten, richtete Hermann Melchior sich auf, sah über das Licht und die Blumen und die Menschen, über alle diese Zeugen seiner Freude und seines gesegneten Lebens, legte die Hände ineinander und sagte mit zitternder Stimme: »Wir wollen das Tischgebet sprechen.« Da wurde es so still wie in einer Kirche.

Bernd hatte es übernommen, die eingegangenen Glückwünsche zu verlesen. Er tat es unzeitgemäß früh, aber er wußte sonst keinen Rat, um das feierliche Schweigen zu brechen. Namen schwirrten auf, von Einzelpersonen und Vereinen und Korporationen. Menschen, die man verschollen geglaubt hatte, brachten sich heute in Erinnerung. Einmal fiel das Wort »Kolpe«. Grit und Eberhardt schreckten zusammen. Als sie sich ansahen, war es wie ein stilles Gelöbnis.

Endlich begann Onkel Philipp zu lachen. Es war die Auflockerung und das Signal für die Freude. Eine Unzahl von Reden füllte die Pausen zwischen den einzelnen Gängen. Jeder hatte etwas zu sagen, aber am schwersten wog die Rede von Steding. Sie galt Vater und Sohn. Er schilderte die Entwicklung des Vaters. Dann die des Sohnes. »Man kann heute schon darüber sprechen«, sagte er, »denn auch diese Firma hat einen Aufschwung genommen, der sich dem Blick der Öffentlichkeit nicht länger entziehen kann. Was dort geschieht, steht schon im hellen Licht des Tages und der allgemeinen Beurteilung. Es 322 hat seinen Wert und seine Bedeutung über den Kreis der Familie hinaus für unsere gesamte Vaterstadt. Wir werden einmal aufhorchen müssen. Da steht ein Wille, von dem wir noch viel zu erhoffen haben. Ich erinnere noch die Anfänge dieses Willens. Ich bin stolz, sagen zu können, daß er in meiner Firma sich zuerst betätigt hat. Vielleicht gebe ich später einmal eine Anekdote zum besten, wie schon in jungen Jahren sich dieser Wille in jugendlich harmloser, aber zielbewußter Form durchgesetzt hat . . .«

Vater und Sohn sahen sich an. Grit aber nahm die Hand ihres Verlobten und drückte sie.

Das Fest verrauschte in endlosen Klängen und Geräuschen und Farben . . . 323

 


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