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Er aber sprach:
Ich lasse dich nicht los, du habest mich denn gesegnet.
‚Im Anfang‘ 32, 28.
In diese Welt der erzwungenen Sicherungen wird Gabriel da Costa hineingeboren. Wie immer man sie beurteilen mag: sie war sehr stark. Sie hielt ihre Menschen. Hin und wieder mußte sie Menschen freigeben; aber keinen hat sie entlassen, den sie nicht noch in die Freiheit hinein für Lebenszeit gezeichnet hat. Wenn wir der Darstellung dieser Welt so breiten Raum gegeben haben, geschah es, um begreiflich zu machen, daß sie auch Da Costa, konnte sie ihn gleich nicht prägen und zu endgültiger Form zwingen, so doch bis an das Ende seines Lebens mit einem Mal versehen hat.
Der junge Da Costa steht sehr tief in dieser Welt. Er nimmt sie auf wie jeder seiner Art und seines Standes: als eine Tatsache, vor der man sich zwar fürchten, aber die man nicht bezweifeln kann. Zwar weiß er, aus welchen Vergangenheiten seine Familie erwachsen ist; aber das ist nichts, was ihn zu mehr als einer sachlichen, fast kühlen Feststellung veranlassen kann. »Meine Eltern«, sagt er im Beginn seines Lebensberichtes, »leiteten ihren Ursprung von den Juden her, die man einst in jenem Lande gewaltsam zur christlichen Religion gezwungen hatte.«
Seine Eltern; nicht er selbst. Er bezieht sich nicht mehr ein. Er ist schon Portugiese und Katholik, so wie er von seinem Vater hervorhebt, daß er ein strenggläubiger Christ gewesen sei. Seine Herkunft ist also in ihm schon ausgelöscht. Dem Bewußtsein nach ist er von dieser Welt des Herkommens durch alles geschieden, was zwei Welten nur voneinander scheiden kann: durch die Außenwelt des Alltags und durch die Innenwelt des Glaubens. Aber auch das, was jeden Menschen, wenngleich im Bewußtsein 78 vielfach abgestuft, trägt und formt und bestimmt: die Gebundenheit in der rückwärtigen Kette, das Ahnengefühl, der Instinkt für die schöpferische Verankerung im Einst – alles das ist seinem Bewußtsein nicht mehr zugänglich. Wäre auch nur die Spur solchen Bewußtseins in ihm gewesen, so hätte es ihm schon von seinen Kindertagen her und schon durch den nackten Augenschein einen ungeheuren Eindruck und überstarke Zweifel vermitteln müssen. Denn nirgends stärker als in seinem Lande und in seiner Umgebung wand sich die Welt, der er entstammte, noch in Wehen und Zuckungen, diese Welt des Nichts, die das Marranenschicksal bedeutet.
Die historischen Ereignisse, in denen dieses Schicksal sich widerspiegelt, sind zwar in Portugal nicht grundsätzlich anders als in dem benachbarten Spanien, doch sind sie in den Akzenten stärker, und für einen Menschen, der in der Nähe ihrer Manifestationen lebt, unmöglich zu übersehen. Gerade Porto, Da Costas Geburtsort, war mit Geschichte und Schicksal von Juden seit Jahrhunderten geradezu angefüllt. Hier bestanden alte Siedlungen, und hierher konnten Juden noch vor dem ständig wachsenden Druck spanischer Unduldsamkeit sich flüchten. Die Camera der Stadt Porto wies ihnen 1386 die Victoria- und die S. Miguel-Straße ausdrücklich als Juderia, als Judenquartier an, und ein Jahrhundert später bekommen gerade hier die ersten Flüchtlinge der großen spanischen Austreibung ihr Asylrecht. Daß die katholische Geistlichkeit auch hier in Portugal schon von den Anfängen her im Juden den religiösen Gegner sieht, versteht sich aus ihrer Tradition von selbst. Aber mit der erstaunlichen Fähigkeit des Juden, äußere Bedrückung zu ignorieren oder durch Geld zu 79 erleichtern, und mit seiner geheimnisvollen Liebe zu einem Stück Boden, das man bearbeiten kann, schlug er doch ganz tiefe Wurzeln in diesem Lande, lieferte er sich ihm mit einer intensiven Tätigkeit in Weinbau und Ackerbau, in der Ausübung verschiedenster Handwerke, in der Annahme von Sitten und Gewohnheiten und sogar im Auflockern der religiösen Strenge weitgehend aus. Solche Verankerungen gaben dem Marranenproblem, als es auch hier entstand, eine doppelte Schwere; nicht nur, weil diese Liebe der Eingesessenheit doppelt unter der Vergewaltigung litt, sondern auch, weil sie die einzige Rettung vor der Gewalt, die Flucht aus dem Lande, mit doppeltem Schmerz behängte.
Es kommt hinzu, daß hier das Marranenproblem in seiner Entstehung sehr viel abrupter und gewaltsamer war als in Spanien. Dort war es ein über lange Zeiträume ausgedehnter Kampf mit einem – man ist versucht zu sagen – gleichmäßig ausgebreiteten Terror. Hier in Portugal drängte es sich, was seine Entstehung angeht, auf wenige Jahre zusammen, und seine Form war schlichter und nackter Menschenraub. Er wurde begangen an den unglücklichen Opfern der spanischen Ausweisung vom Jahre 1492. Mehr als 100 000 Juden begaben sich damals nach Portugal, wenn nicht, um dort zu bleiben, so doch, um gegen Erlegung einer ausreichenden Steuer für jeden Kopf vor der endgültigen Flucht in das Ungewisse sich eine Atempause zu verschaffen. Es war eine sehr kurze Weile des Aufatmens, denn die Bedingungen, die König João II. gewährt hatte und für die er sich bezahlen ließ: Asylrecht und Stellung von Schiffen zu angemessenen Preisen zur Weiterbeförderung wurden nicht korrekt gehalten. Die Schiffe, die er stellte, 80 waren zum größten Teil nichts als Menschenfallen, in denen die Flüchtlinge bestohlen, erpreßt, ausgehungert, verschleppt, an unwirtlichen Küsten ausgesetzt, geschändet und erschlagen wurden. Die Juden, die sich solchem Schicksal nicht aussetzen wollten und daher die gewährte Frist versäumten, wurden von João zu seinen Sklaven erklärt, die er seinen Anhängern und Freunden schenkte. Aber alle Kinder von drei bis zehn Jahren ließ er den Eltern rauben und nach der jüngst entdeckten Verbrecherinsel San Thomas verschleppen. Die meisten kamen schon während des Transportes um.
Manuel, der Nachfolger Joãos, stellte zwar die Freiheit der versklavten Juden wieder her, aber nur, um sie noch tiefer ihrem Schicksal auszuliefern. Seine Vermählung mit der spanischen Infantin Isabella II. kam unter der Bedingung zustande, daß er zuvor sein Land von den »fluchbeladenen Juden« säubere. Er tat es. Im Dezember 1496 erließ er ein Gesetz, wonach alle Juden (und Mauren) sich der Taufe zu unterziehen oder das Land zu verlassen hätten. Er sah, wie sie sich, wenn auch ohne Hast, anschickten, das Land zu verlassen. Vielleicht reute ihn der Verlust so vieler kapitalkräftiger und arbeitsamer Menschen. Vielleicht verdroß ihn die enttäuschte Hoffnung, einen massenweisen Übertritt zum Christentum zu erleben. Er wollte wenigstens die jüdischen Kinder retten und damit die Eltern binden. Zum Passah 1497 ließ er nach geheimem Befehl den Juden im ganzen Lande die Kinder bis zum vierzehnten Lebensjahre mit Gewalt rauben, sie zur Taufe in die Kirche schleppen und zwecks christlicher Erziehung über das Land verteilen.
Diesem Massenraub der Kinder folgte ein 81 Fallenstellen für die Erwachsenen. Von den drei Ausreisehäfen nahm Manuel zwei aus und ließ nur Lissabon offen. Er verzögerte die Gestellung von Schiffen, bis der dekretierte Termin zur Ausreise verstrichen war. Dann erklärte er sie zu seinen Sklaven, ließ sie kasernieren und forderte sie auf, Christen zu werden. Da Verlockungen und die Entziehung von Nahrung nichts fruchteten, begann wieder der Zwang zu walten. An Stricken, an den Haaren, mit Fußtritten und unter dem Sausen von Peitschenhieben wurden sie in die Kirche geschleift und getauft. Sie waren jetzt Christen.
Das war der zweite verschärfte Akzent im portugiesischen Marranenproblem: die Heftigkeit des Choks, die sich tief in die Seelen einbrannte; die nicht mehr zu vergessende Erinnerung an Szenen, daß Mütter ihre Kinder erdrosselten, um sie vor der Taufe zu retten, und Menschen sich selber töteten, um nicht eine lebenslange Lüge auf sich nehmen zu müssen. Und wenn auch die Erschütterung selbst durch die Generationen hin dem Vergessen anheim gefallen sein sollte, so war doch von hier aus das Marranenproblem begründet. Und wer auch das noch vergaß, konnte doch nicht die Augen davor schließen, daß das Problem bis in Da Costas Gegenwart und weit darüber hinaus seine Aktualität behielt, und daß Gesetze und Exzesse, diplomatische Verhandlungen und brennende Scheiterhaufen sein Übersehen unmöglich machten. Zwischen Rom und Portugal wird Jahre hindurch ein erbitterter Kampf geführt um den Anspruch dieses Landes, gleich Spanien eine eigene nationale Inquisition zu haben und nach freiem Ermessen gegen die Marranen verfahren zu dürfen. Aber auch ohne besondere Genehmigung von Rom 82 arbeiten die bischöflichen Gerichte nach dem Muster der spanischen Tribunale. Als die Genehmigung endlich eintraf, war das Wüten, wenn möglich, noch unmenschlicher als in Spanien. Zudem versperrte das Verbot der Auswanderung den letzten Weg zu Flucht und Rettung. Zeitweilig wurde die Inquisition wieder eingestellt (1532) und von Rom eine allgemeine Begnadigung der »Judaisierenden« angeordnet. Aber wenige Jahre darauf war die Bewilligung endgültig. Diese Streitigkeiten, dieses Hin und Her von unterirdischen Verhandlungen und Bestechungen, dieser Wechsel von Hoffnungen und Ängsten um das Schicksal von morgen hatte eine überstarke seelische Zermürbung der Marranen zur Folge, auch derer, in denen der Wille zum geheimen Judentum noch nicht unter dem Übermaß von Volksexzessen und Bluturteilen resigniert hatte. Es ist eine ungewöhnliche seelische Haltung, wenn die geheimen Juden dem Papst Paul III. in ihrem Protest erklären: »Wenn Ew. Heiligkeit die Bitten und Tränen der jüdischen Nation zurückweisen sollte . . . so erklären wir öffentlich und feierlich vor der ganzen Welt: da kein Ort sich fand, wo man uns unter die Gemeinschaft der Christen aufnehmen wollte, da man uns, unsere Ehre, unsere Kinder, unser Fleisch und Blut verfolgte, und da wir trotz allem immer noch versuchten, dem Judentume fern zu bleiben – so werden wir nunmehr, da die Tyrannei nicht aufhört, das tun, was keiner sonst gedacht hätte: wir kehren zum Judentum zurück und verachten das Christentum, in dessen Namen dieser Rücktritt erzwungen wird, erzwungen durch die Gewalt, die die Lehrer des Evangeliums ausüben . . .«
Und bald darauf treibt die Verzweiflung einen, der 83 auch den Namen Da Costa trägt, zu einem anonymen Protest, der ihm den Tod auf dem Scheiterhaufen mit abgehackten Händen eintrug. In einer Nacht im Februar 1539 heftet Manuel da Costa, ›il quale haveva un' offitio che accomodava tutti quelli che cercavano padroni‹, also wohl ein Stellenvermittler, eine Schrift an die Türe des Domes von Lissabon, in der er erklärte, daß der Messias noch nicht erschienen und Christus nicht der wahre Erlöser sei.
Er war nicht der einzige, der solchen Zweifel hegte. Unter den dichten Umhüllungen eines Lebens in katholischen Riten glomm immer noch der Funke eigener messianischer Hoffnung, bereit, sich von jedem anfachen zu lassen, sei er ein Berufener oder ein gläubiger Narr oder ein phantastischer Betrüger. Eben in diesem bewegten Jahrzehnt und ein knappes Menschenalter vor Da Costas Geburt kann ein Mann von zweifelhafter und geheimnisvoller Herkunft, David Rëubeni, mit seiner Behauptung Glauben finden, er komme aus dem Lande Chaibar, wo mehrere hunderttausend Juden, Abkömmlinge des verschollenen Stammes Rëuben, ein starkes Kriegsheer bildeten, das bereit sei, die Mohammedaner aus dem heiligen Lande zu verjagen. Sie erleben, daß er mit Papst Clemens VII. und König João III. von Portugal eingehend über ein gemeinsames Vorgehen und über die Lieferung von Schiffen und Feuerwaffen berät. Eine fieberhafte Unruhe und Erwartung ergreift die Marranen. Seelische Überbelastung explodiert in messianischen Manifestationen. Sogar zu einem bewaffneten Angriff auf die Kerker der Inquisition finden Marranen den verzweifelten Mut. Doch enden, wie es nicht anders zu erwarten ist, solche Hoffnungen letztlich auf dem Scheiterhaufen der Inquisition. Aber 84 gerade weil es sich um Hoffnungen handelt, die nicht an der Zeit ermüdet und gestorben, sondern mit der Gewalt zugedeckt worden sind, müssen sie Blutserbe werden und weniger als anderes dem Vergessen ausgeliefert sein.
Was nun weiß Gabriel da Costa von alle dem? Nichts. In der Stadt, in der er geboren wird und seine Kindheit verbringt, brennen die Holzstöße gegen Marranen und Ketzer. Coimbra, wo er seine Ausbildung erfuhr und seinen Studien oblag, ist Sitz eines Glaubenstribunals. Gerade diese beiden Städte, die seinen Lebensumkreis in den entscheidenden Jahren des Wachstums und der Entwicklung bestimmen, sind auch der Schauplatz besonderer Unmenschlichkeiten und Schlächtereien, Zentren eines religiösen Fanatismus, in denen Autodafés die Stelle von Volksbelustigungen einnehmen. Die ganze geistige und politische Atmosphäre steht unter dem Druck des Geistes, der mit Philipp II. von Spanien, dem Halbdeutschen, der ein vollendeter spanischer Katholik geworden war, auch nach Portugal vorrückte. Und Da Costas Beziehung zu alledem? Sie ist in seinem Bewußtsein nicht vorhanden. Diese Welt des Grauens geht ihn persönlich nichts an. Er gehört zu einer anderen Welt. Zu der ruhigen Feststellung über das Herkommen seiner Eltern tritt der ruhige Bericht über das, was den Umkreis seiner Jugend bestimmt: »Nach dem Herkommen jenes Landes wurde ich in der römisch-katholischen Religion unterwiesen.«
In nichts erkennt er sein Sonderschicksal, nicht einmal im eigenen Urteil über sein Wesen. Was er davon überhaupt berichtet, mag an sich nicht sonderlich erscheinen: »Was Charakter und natürliche Neigungen angeht, war ich dem Wesen nach sehr fromm und so 85 zu Mitleid geneigt, daß ich mich der Tränen nicht erwehren konnte, wenn ich von fremdem Unglück berichten hörte. Das Ehrgefühl war mir so eingeboren, daß ich nichts mehr fürchtete als eine Beleidigung. Meine Sinnesart war nicht unedel, aber auch nicht frei von Zorn, wenn gerechte Ursache ihn herausforderte. Darum war ich den Hochmütigen und Unverschämten, die anderen mit Verachtung und Gewalt Unrecht zu tun pflegen, innerlich feind und zog es vor, die Partei der Schwachen zu ergreifen und wollte lieber sie mir zu Genossen wählen.«
Die Aussage Da Costas von seinem Ehrbegriff mag in dem Milieu, das ihn umfängt, nicht viel besagen; und doch scheint sie etwas Negatives zu besagen. Denn wenn einem dieser Ehrbegriff der Kaste zur Natur geworden ist, spricht er nicht darüber. Er hingegen spricht ständig davon. Er betont ihn bei sich und bei seinem Vater. Er ist ein Zentralbegriff für ihn. Bis an sein Lebensende wird er nicht frei davon. Er spielt bei der späteren Auseinandersetzung mit der Umwelt eine überragende Rolle. Aber gerade diese stete Überbetonung weist auf einen gefährdeten Punkt in seinem seelischen Aufbau hin und macht es wahrscheinlich, daß ein solcher Ehrbegriff nicht gelassener Besitz eines portugiesischen Edelmannes ist, sondern der unsichere, das heißt, der gefährdete, weil zu oft angegriffene Besitz. Vielleicht hat ihn selbst nie jemand angegriffen; aber die dauernde Bereitschaft, sich gegen solchen Angriff zu wehren, enthüllt das untergründige Bewußtsein, daß solcher Angriff jederzeit möglich ist. Hierin unterscheidet er sich in nichts von dem Marranen, dessen Dasein in jeder Sekunde unter dem Druck eines möglichen Angriffes steht; um den Volkshaß und Glaubenshaß, Straßenexzesse und 86 Inquisition einen undurchdringlichen Wall von akuten Drohungen und latenten Angriffen aufrichten. Der Angriff muß nicht Mord, Plünderung und Scheiterhaufen sein; es genügt schon die Furcht vor dem verächtlichen Wort »Marrane«, das ihm noch nach einem Jahrhundert williger oder widerstrebender Angleichung an Umgebung und Christentum als das immer noch unvergessene Wissen um die Herkunft des »neuen Christen« vom »Altchristen« entgegengerufen wird. Als der Jude noch Jude war, konnte er die Beschimpfung seiner Art als Ehrentitel tragen. Als er Christ geworden war, konnte der geringste Schimpf eine Vernichtung seiner seelischen und materiellen Existenz bedeuten. Das eben ist die Furcht vor der Ehrverletzung, die Gabriel da Costa geerbt hat und in der er mit Bewußtsein nichts weiter erkennt als eine besonders ausgeprägte Eigenart seines Standes.
Das Mitleid, von dem Da Costa weiter spricht, muß einem Edelmanne, besonders in der primitiven Überzüchtung seiner Zeit und Umgebung, nicht notwendig fremd sein. Dennoch bestand im allgemeinen bei der scharfen Aufteilung der Gesellschaft in Stände verschiedener und widersprechender Interessen und bei der weitgehenden Auflösung wahrhafter Religiosität in mechanische Religion nicht übermäßig Anlaß und Gelegenheit, ein soziales, mitmenschliches Gefühl zu entwickeln, das vor dem Unglück anderer die Fassung verliert und schon bei der Erzählung in Tränen ausbricht. Wo aber wäre solchem Gefühl, selbst in seiner Abart als Ressentiment, besser der Boden bereitet als in Menschen, die vom eigenen Unglück so übergenug erfahren haben, daß ihnen der Sinn aufgehen kann auch für das Unglück anderer 87 Menschen? Da Costas Gefühl ist ein Erbteil, auch wenn er nicht darum weiß. Und ganz tiefes Erbe ist erst seine Verachtung der Gewalttätigen und seine Parteinahme für die Schwachen. Sein Volk – sein wirkliches Volk – führte seit anderthalb Jahrtausenden dieses Dasein der Gewaltlosigkeit; ja es war in seiner ganzen Existenz das Paradigma für die Gesinnung der Gewaltlosigkeit gegen das Interesse der Gewalt; und was in ihm an Ideen der Gerechtigkeit lebte, war zwar nicht dem Mitleid für den Schwachen entsprungen, aber es mußte notwendig immer seine Partei ergreifen. Nichts anderes sagt Gabriel da Costa von sich selber aus.
Dennoch können solche Eigenschaften, wie tief sie auch Erbe sein mögen, nur etwas aussagen über die Möglichkeiten eines Menschen; nicht über sein Wirken, nicht über sein Verhalten; nur über das, was zum Bewußten unbewußt mitwirkt. Aber die ganze bewußte Hinwendung in Da Costa gehört nicht dem Judentum und nicht einer Idee aus ihm, sondern dem Katholizismus. Und es ist eine Hinwendung aus dem stärksten Triebelement des christlichen Glaubens; dem Bangen um das Seelenheil. Wieder zeugt Da Costa für sich selbst, wenn er berichtet, daß er bis in seine Jünglingsjahre hinein große Angst vor der ewigen Verdammnis gehabt habe. So muß also schon seine ganze Kindheit, von der ersten bewußten Begegnung mit der Religion her, unter diesem Alpdruck gestanden haben. Noch liegen zwischen der gewaltsamen Bekehrung seiner Ahnen und seinem eigenen religiösen Erleben kaum drei Generationen, und schon nistet in ihm dieses Furchtgesetz so, als wäre es ihm von lange her vererbt worden. Nicht ein einziges Mal keimt in ihm freudig oder befreiend die Idee auf, es werde von 88 der Gnade, die die christliche Religion zu vergeben hat, auch ihm zuteil und er dürfe vertrauend darin beharren. Sein Weg verhaftet sich schon bei dem, was notwendige Voraussetzung der Gnade ist: der Sünde. Es existiert keine Gnade anders als zur Auflösung der Sünde, der urewigen Verdammnis und Verworfenheit des Menschen von Adam her. Das glaubt Da Costa; das muß er seiner Erziehung nach glauben; das wird das erste und entscheidende Erlebnis in seiner Kindheit, und es beschattet seinen Weg bis zu dem Augenblicke der tragischen Entscheidung und bis in die Katastrophe hinein.
In jeder Religion ist das Bemühen um die Vollkommenheit ihr eigentlicher Sinn. Hier erwächst er der Bedrängnis durch Sündhaftigkeit und der Furcht vor den Folgen. Hier ist alles Bemühen darauf gerichtet, den Anweisungen der Religion zu folgen, um mit ihrer Hilfe aus der Furcht erlöst und vor der Verdammnis gerettet zu werden. Dieser Folgsamkeit gibt sich auch Gabriel da Costa hin. Er ist nicht, wie einer aus der schlichten Masse, nur darauf verwiesen, zu glauben, was ihm zu glauben auferlegt wird, und dann alle Verfehlungen vor dem Priester zu beichten. Er wird, da er ein Zögling der Jesuiten ist, weit tiefer in den Bezirk hinein geführt, in dem das Bewußtsein von Sünde und das Wissen um die Gnade sich enthüllen. Zwar wird auch von einem solchen Zögling verlangt, daß er glaube, schlechthin und ohne jeden widerstrebenden Willen alles glaube, was an Dogmen und Institutionen, an Legenden und Apologien, an Mysterien und Lehrsätzen existiert. Aber da er zur Elite gehört, zu der Jugend, von der aus eine Welt strengster katholischer Observanz neu aufgerichtet werden soll, ist ihm eine einzigartige Möglichkeit 89 gegeben, den Kreislauf des religiösen Schicksals zwischen Sünde und Begnadigung zu erleben. Diese Möglichkeit liegt in der Vornahme besonderer Übungen, der »Exerzitien«.
Die exercitia spiritualis, die in den entscheidenden Grundzügen von Ignaz von Loyola geformt sind, stellen an sich weder etwas grundsätzlich Neues noch auch etwas nur für den Verfasser Privates dar. Sie nehmen ihren Ursprung von den drei Wegen, die schon die früheren christlichen Mystiker kannten, der via purgativa, der via illuminativa und der via unitiva. Aber während bisher das mystische Vermögen, dieser geheime und geheimnisvolle Untergrund des Religiösen, nur Fähigkeit von einzelnen Menschen besonderer Begabung und Begnadung schien, wird solche Auserwähltheit in der Anschauung Loyolas und seiner Nachfolger nicht anerkannt. Er geht von dem richtigen und positiven Gedanken aus, daß zu solchem Bemühen und solchem Erkennen jeder Mensch befugt und berufen sei. Er spricht eine unendliche Wahrheit aus, wenn er sagt: »Die Sehnsucht der Seele wird nicht durch eine Menge von Kenntnissen, sondern nur durch die eigene innere Anschauung erfüllt.« Was er »Sehnsucht der Seele« nennt, beherrschte aber in den Formen religiöser Unruhe und Ratlosigkeit gerade die religiösen Menschen seiner Zeit besonders stark. Ihnen einen Weg zu zeigen, setzt er sich zur Aufgabe. Es versteht sich, daß es ein Weg wird, der auch sonst seinen militanten Ideen entspricht; ein Weg vor allem, der auch in seinen Mitteln die Unbedingtheit soldatischer Unterordnung, den Gehorsam, die Disziplin und die Erziehung zur Uniformität kennt. Die Frage, ob es überhaupt lehrbare und lernbare Mittel gebe, Menschen 90 in den Zustand vertieften religiösen Schauens und Erlebens zu versetzen, wird von ihm so unbedingt bejaht, wie es abseitige Sekten und jenseitige mystische Vereinigungen seit je bejaht haben. Jede gruppiert sich um einen Kern des Geheimnisses und weiß, daß sie allein das wahre Mittel zur Entrückung und zur Vereinigung mit Gott besitzt. Was in der jesuitischen Fassung neu und erstaunlich erscheint, ist die Hereinnahme des Willens und der intellektuellen Kalkulation in den religiösen Bezirk. So wie der Soldat durch Übung zu einem Kundigen in der Handhabung der Waffe wird, ist es nach seiner Idee auch möglich, den menschlichen Willen so zu üben, bis er imstande ist, den »göttlichen Willen« zu erleben. Einüben läßt sich das eine wie das andere, und darum ist es folgerichtig, daß seine Anweisungen den Namen Exerzitien tragen.
Der materielle Ausgangspunkt der Exerzitien ist das Bewußtsein des Menschen von seiner Sündhaftigkeit. Der Weg der Exerzitien ist die Befreiung von den sündhaften Leidenschaften durch den Willen zur Nachahmung Christi. Das Ziel ist die Vereinigung mit Gott. Die letzte Krönung ist das Gelübde, »Freiheit, Gedächtnis, Verstand und Willen der Kirche zu übergeben«. Die Vornahme der Übungen ist aber nicht jedem ohne weiteres freigestellt, sondern darf nur erfolgen unter der Leitung eines Exerzitienmeisters, dem der Übende sich, stärker noch als dem Beichtvater, im Guten und im Bösen, in jedem Gedanken und in jeder Regung seiner Seele zu offenbaren hat. Er ist es, der für jeden Tag und für jede Stunde angibt, was zu denken und was zu empfinden sei, wie Versenkung und Entspannung einander abzulösen, welche Mittel dem Schmerz und welche der 91 Erhebung nachzuhelfen haben, bis in die Einzelheit hinein, wann der Raum zu verdunkeln oder zu erhellen und wann eine Blume oder ein Totenschädel zu betrachten sei. Soweit die Übungen nicht bestimmten sozialen Schichten oder besonderen Einzelfällen angepaßt sind und zuweilen in wenigen Stunden erledigt werden können, umfassen sie einen Zeitraum von vier Wochen. Für diese Zeit muß der Exerzitant sich von jedem Verkehr mit der Welt fernhalten. Sammlung und Einsamkeit sind nötig, denn die Anspannung, in die hinein er sich begibt, verlangt den ganzen Menschen ohne jede Ablenkung.
Die erste Woche der Übungen gilt der Betrachtung der Sünden. Es ist zunächst eine allgemeine Betrachtung und Selbstprüfung. Sie geht aus vom ersten Sündenfall und von der Erwägung, daß um einer einzelnen Sünde willen Engel in die Hölle gestürzt werden. Was gebührt nun dem Menschen, der immer sündig ist und viel größere Sünden auf sich lädt? Es stände böse mit ihm, wenn nicht die Heiligen für ihn vorgebetet hätten, wenn nicht der Gnadenschatz bereit läge, von dem ihm gespendet werden kann. Es genügt aber nicht, das nur zu wissen, zu denken und sich daraus Trost zu holen. Es muß mit allen Mitteln der Meditation und der Phantasie, mit aller Übersetzung abstrakter Ideen in konkrete Vorgänge oder in bildhafte Vorstellungen anschaulich gemacht werden. Der Exerzitant muß sich selber sehen, wie er, mit Sünden beladen, unter stumpfsinnigen Tieren durch das Jammertal des Daseins wandert, zur Verwerfung und Verdammnis bestimmt. Das muß so plastisch und dringlich gestaltet werden, bis die Furcht vor solcher Verdammnis ganz wirklich, ganz gegenwärtige Tatsache geworden ist; und dieser Zustand 92 muß als so unabwendbar empfunden werden, daß daraus mit Notwendigkeit die erste, vorbereitende Ekstase entspringt: die der Anrufung Christi um Rettung. Mit ihm hat ein Gespräch zu beginnen, wie mit einem Menschen vertrauten Umgangs, dem man seine Verfehlungen bekennt.
Der Spannung solchen ekstatischen Aufschwungs folgt die Entspannung in ruhiger, wenn auch vorwurfsvoller Aufzählung und Betrachtung der eigenen Sünden. Auf sie wird in jedem Stadium der Übungen die Aufmerksamkeit immer wieder gelenkt. Dreimal am Tage, gleich morgens nach dem Erwachen, am Nachmittag und abends vor dem Schlafengehen sind alle Sünden, deren man sich nur bewußt werden kann, darauf zu prüfen, wie weit die Befreiung von ihnen gelungen ist, ob sie noch so stark sind, daß sie eine Anfechtung ausüben können und ob noch Versuchung in ihnen liegt. Um hier nichts Läßliches eintreten zu lassen, geschieht die Fixierung schriftlich. Alle Sünden und Fehler werden in ein Schema eingetragen. Tagtäglich wird in jeder Rubrik der Erfolg oder der Mißerfolg vermerkt. So wird vom ersten bis zum letzten Augenblick der Übungen das Seelenleben des Menschen mit der Präzision einer kaufmännischen Buchführung notiert, aufgedeckt und unter Kontrolle genommen.
In diesem ersten Stadium der Furcht, Prüfung und Selbstanklage darf der Exerzitant sich der Reue ausliefern, aber er darf noch keine Entschlüsse fassen. Die Selbstdemütigung, die in jeder Reue liegt, wird vertieft durch den Vergleich mit dem Größeren. Er muß sich vorstellen, was er, als armseliger Einzelner, gegenüber der ganzen Menschheit bedeute; und was diese Menschheit bedeute im Vergleich mit den 93 Seligen und den Chören der Engel; und was diese wiederum und die ganze Schöpfung selbst bedeuten im Vergleich mit Gott. Indem er so den hohen Gewalten im demütigen Vergleich gegenübertritt, steht er doch immerhin ihnen gegenüber, und das Gesetz der psychologischen Kontrastwirkung verlangt, daß von neuem ein Absturz erfolge und die Seele aufwühle. So geht die Anschauung also wieder hinunter zur eigenen Kläglichkeit, und kein Wort, keine plastische Vorstellung kann stark genug sein, das eigene Ich, die Kreatur Mensch, Gottes Ebenbild mit Geringschätzung, Verachtung und Ekel zu betrachten, »als ein Geschwür am Körper der Menschheit, eine Pestbeule, aus der der Eiter der Sünde, der Ansteckungsstoff der Laster fließt«.
Von dieser Auslöschung und Entwürdigung des Ich schnellen alle Vorstellungen erneut in die höchsten Regionen, um sich an der Erkenntnis von Gottes Macht, Weisheit und Gerechtigkeit zu entzünden. In diesem Stadium, nachdem der Mensch so immer wieder zwischen Erde und Himmel hin und her geschleudert worden ist, darf er endlich den Raum der nur erregenden Betrachtungen verlassen und in die erste wirkliche Ekstase ausbrechen. Er darf und er muß und – was nicht zweifelhaft ist – er wird es können. Seine Ekstase wird, wie Ignaz voraussieht, »losbrechen aus der gewaltigen Erschütterung der Leidenschaft im Aufschrei, wie alle diese Geschöpfe (das ist bis ins einzelne auszudenken) mich so lange ertragen und am Leben erhalten haben; wie die Engel, die das Schwert der göttlichen Gerechtigkeit führen, mich mit Gleichmut geduldet, beschützt, mit ihrem Rate unterstützt haben; wie die Heiligen für mich eingetreten sind; wie der Himmel, die Sonne, der Mond, 94 die Gestirne, alle Elemente und Geschlechter der Lebewesen, statt die verdiente Strafe an mir zu vollziehen, mir gedient haben; wie sich die Erde nicht aufgerissen und mich verschlungen, die Hölle mich nicht zur ewigen Qual aufgenommen hat . . .«
Ein Dankgebet zu Gott beschließt diese Übung und der Entschluß, den Sünden zu entsagen. Es darf auch jetzt noch nicht der endgültige, sondern nur der einfache, vorbereitende Entschluß sein. Es ist nicht gestattet, ein Ergebnis vorweg zu nehmen, das erst am Schlusse der Übungen einzutreten hat; wie es überhaupt nicht gestattet ist, anderes zu empfinden als das, was im jeweiligen Stadium der Übung als notwendig und zulässig angegeben ist. Das würde die Technik stören, die hier zur Erzeugung von Religiosität angewendet wird.
Nach einer Pause, die den Ausgleich zu den Erschütterungen der Ekstase herstellen soll, beginnen die Übungen von neuem, aber jetzt im wesentlichen als Repetition. Die Fürbitte Marias wird neu in den Kreis einbezogen und damit dem von den Jesuiten so sehr geförderten Marienkult der Weg geebnet. Aber noch fehlt diesem Kreis der Übungen der notwendige Abschluß. Der Exerzitant hat bisher immer nur den jähen Weg von sich zu Gott, von der Erde zum Himmel zurückgelegt. Die tiefste Verknüpfung, der abgründigste Weg, das letzte Untertauchen ist ihm noch schonend vorenthalten geblieben: der Weg in die Hölle. Dieser Weg ist notwendig, denn in dieser Welt des Religiösen haben Sünde und Hölle ihren unlösbaren Zusammenhang und ihren streng fixierten Platz. Das Grauen ist ein Bestandteil der religiösen Bereitschaft. Der Exerzitant muß jetzt, gleich Dante, die Wanderung durch die Hölle antreten, 95 aber nicht an der Hand eines Dichters, sondern unter der Direktive einer wenn auch genialen, so doch eiskalten Vernunft.
Alle Sinne sind an dieser Wanderung beteiligt. Sie werden ganz weit aufgerissen für die äußerste Empfänglichkeit. Die Phantasie muß übermäßig bereit sein, das Grauenhafte zu dichten. Das Gesicht, das Ohr, der Geruch, der Geschmack, das Gefühl werden zu schauerlicher Bereitwilligkeit gesteigert. Der Exerzitant soll den großen Höllenbrand leibhaftig vor sich sehen und die Glut verspüren, in die die verworfenen Seelen eingeschlossen sind. Er muß das Heulen und Jammern der Verdammten hören, ihr Aufschreien und ihre Lästerungen Christi. Er riecht den Qualm und den Schwefelgestank, die widerwärtigen Ausdünstungen von Kot und Unrat und Fäulnis. Auf der Zunge schmeckt er alle Bitternisse der Tränen, das Ranzige, Anekelnde. Er erduldet die Hölle als eine über ihn verhängte Wirklichkeit. Daß er sie aber zu Zwecken der Läuterungen erduldet, soll ihm durch ständige begleitende Gespräche mit Jesu bewußt werden.
Mit Generalbeichte und Kommunion schließt diese erste Woche religiösen Exerzierens ab.
Die zweite Woche ist der Nutzanwendung der gewonnenen Erfahrungen auf der Ebene des Diesseits gewidmet. Die Erkenntnis muß in Tat umgesetzt werden, um dem Zweck der Erziehung näher zu kommen. Der Soldat tritt wieder in den Vordergrund. Er stellt sich den Sinn seines Tuns vor: einem höchsten Vorgesetzten unbedingte Gefolgschaft zu leisten. Wenn schon ein irdischer Kaiser Gehorsam bis ins letzte verlangen kann, um wieviel mehr kann es der himmlische Herrscher, und mit wieviel mehr Recht! 96 Das wird nicht abstrakt erwogen, sondern es geschieht in aller Wirklichkeit im Feldlager vor Jerusalem, wo alle Guten sich unter das »Fähnlein Christi« geschart haben, daß ihr himmlischer Heerführer vor sie hintritt und sie anredet; daß er ihnen seinen Willen erklärt, sich die Welt und alle Völker zu unterwerfen; daß er sie aufruft, ihm zu folgen, daß er ihnen an der Ehre, die er in den Kämpfen gewinnen wird, ihren angemessenen Anteil verspricht, daß er sie erregt, entflammt, begeistert, ihm und seiner Mutter den Eid bedingungsloser Treue zu leisten. Sie wenden sich, sehen bei Babylon das Heerlager der Bösen unter der Führung Satans versammelt und brennen darauf, in seiner Bekämpfung ihrem Herrn Gefolgschaft zu leisten.
Aber sie wollten ihm nicht nur folgen, sondern auch nachfolgen, sich ihm angleichen, das Gleiche tun, was er in seinem irdischen Leben getan hat, ihm nachahmen: imitatio Christi. Es ist die alte Idee, die in der Geburtsstunde des Christentums selbst zu leben begann, der Wunsch der ersten Anhänger, in den Spuren ihres Messias zu wandeln. Die Idee wächst und umfaßt bald den Willen, nicht nur das Leben, sondern auch die Leiden Christi nachahmend zu erkennen. Aus der demütigen Anbetung eines Lebens und Schicksals wird die mystische Versenkung darin, aber immer noch mit der Distanz des Ehrfürchtigen. Zum ersten Male wird sie aufgehoben in der starken Persönlichkeit des Franz von Assisi, der die Nachahmung Christi so weit intensivierte, daß sogar seine Wundmale sich an ihm zeigten. Diese völlige, bis ins Detail gehende imitatio wird das erstrebenswerte Ziel aller Ekstatiker. Aber sowohl die letzte demütige Distanz wie auch das Bewußtsein besonderer 97 Auserwähltheit, das zu solch vollkommener Nachahmung befugt, werden in den Exerzitien aufgehoben. Loyola materialisiert die imitatio nicht nur, er unterwirft sie auch dem Diktat des Willens. Damit deckt er ihre geheimste Wurzel auf, und durch die stählerne Technik seiner Methode macht er sie wieder fruchtbar.
Aber auch der Sinn der imitatio wird hier sichtbar. Sie ist nicht Selbstzweck. Das christliche Mittelalter konnte die Ethik nicht unmittelbar, nicht aus sich selbst begreifen. Es verstand nicht, daß es auch für das Verhalten im kleinsten Rahmen des Alltags Postulate gibt. Es bedurfte noch des Beispieles, um irdischem Tun göttliche Beziehung zu geben. Darum ist die imitatio Christi der Zeugungspunkt ihrer Ethik. Darum ist sie auch der Kernpunkt der Exerzitien.
Frei und gebunden zugleich ist hier der Exerzitant. Die vielen Begebenheiten des Lebens Jesu, die ihm aus Evangelien und Legenden übermittelt sind, werden seiner Phantasie als Material ausgeliefert. Eine volle Woche darf er auf das Durchwandern dieser Lebensgeschichte verwenden. Jeder Ort, jedes Haus, jedes Gewand, Landschaften, Dinge und Gebärden, jede Wanderung, jede Predigt, jedes Wunder – alles wird gesehen, gehört, gefühlt, ertastet, erlebt; alles wird einbezogen, wird eigenes Erlebnis, wird gesteigerter Eifer der Nachahmung, wird Gefühl der Beglückung, in der Nachahmung der gleichen Tugenden und der gleichen Sündenlosigkeit teilhaftig zu werden wie das Vorbild.
Von hier aus geschieht die erneute Hinwendung zu den eigenen Sünden, ihre Kontrolle mit Hilfe der seelischen Buchführung; Wechsel zwischen Halluzination und rationeller Kontrolle; Religiosität als Dressurakt des Willens. 98
Die volle dritte Woche gehört ausschließlich dem Erlebnis der Leidensgeschichte Christi. Eine volle Woche – wenn auch nur zu den täglich vorgeschriebenen und zugelassenen Stunden – erlebt der Mensch die Sorgen und Ängste, die Verfolgungen und Befürchtungen, die Anklagen und inneren Kämpfe, die Verhöhnungen und Marterungen Christi, jeden Schritt des Passionsweges, jedes Stadium der Hinrichtung, jedes Resignieren, jedes Stadium der Agonie; macht Vorgänge eines fernen Jahrhunderts gegenwärtig, zerrt die grauenhafte Technik römischer Urteilsvollstreckung in das Zentrum religiöser Vorstellungen, verbindet sich einem Schicksal zu eigener Unterwerfung und steigt tief in den mystischen Bezirk hinein, um ihm mit einem neuen Willen zur imitatio wieder zu entsteigen.
In der letzten Woche der Übungen ist dem Exerzitanten das Erlebnis der Auferstehung Christi als Pensum gegeben. Auch hier wechseln Ekstasen mit Selbstkontrollen, auch hier werden Affekte aufgepeitscht, um in der nächsten Sekunde wieder unter die Gewalt des Willens zu geraten. Hier arbeitet eine ingeniöse Maschine mit einem unfehlbar wirkenden Sicherheitsventil. Hier ist dem Menschen eine einmalige Möglichkeit geboten, zu einer Selbstentäußerung vorzudringen, zu einer Hingabe des Ich, nach der doch allen Menschen insgeheim der Wille steht, zu einer Vernichtung des Individuums, die das spurlose Aufgehen in ein größeres Gesamt zu einem religiösen Erlebnis macht. Von daher ist die große Werbekraft zu verstehen, die die Exerzitien ausübten. Und das wieder kann nur begriffen werden aus einer Zeit und einem Glaubensumkreis, in denen die Selbstvergewaltigung der Seele ein zulässiges, ja 99 erstrebenswertes Mittel zur Erzeugung von Religiosität erschien. Und warum sollte auch nicht, was die Furcht in jeder Sekunde zu lähmen drohte, durch die Spannung des Willens wieder beweglich gemacht werden? Die Furcht vor der ewigen Verdammnis verlangte nach der ständig bereiten Möglichkeit, sie in gezügelten Ekstasen zu überwinden.
So also ist eine Welt aufgerissen zwischen Verdammnis und Erlösung. Es ist eine geborstene Welt, in der nur die Ekstase die Einheit herstellen kann, und brennend, wie alle anderen aus seinem Umkreis, bemüht sich auch Gabriel da Costa darum. Aber ihm gelingt es nicht. Die Exerzitien können an ihm nicht ihren Dienst tun. Vielleicht führen sie ihn jedesmal, wenn er sie vornimmt, wieder zu dem abschließenden Willensakt der beruhigten Hingabe. Aber gerade diese Jedesmaligkeit widerstreitet der Endgültigkeit. Das Verursachende bleibt bestehen: die Furcht vor der ewigen Verdammnis. Es muß also wohl einen Zustand religiösen Empfindens geben, in dem selbst die seelische Grammatik der Exerzitien nicht zu dem erlösenden Wort verhilft.
So ist Da Costa also auf einen anderen Bezirk verwiesen, auf den der freien Forschung. Er liest in den Evangelien. Aber sie können ihm auch keinen Ausgleich vermitteln, denn schon in der entscheidenden Herausprägung des christlichen Gedankens in den Lehren des Paulus ist die Erbsünde tief verankert. »Sie sind allzumal Sünder und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, so durch Jesum Christum geschehen ist«. Und weiter: »Wie nun durch Eines Sünde die Verdammnis über alle Menschen gekommen ist, also ist auch durch Eines Gerechtigkeit die Rechtfertigung des Lebens über alle 100 Menschen gekommen«. Also wieder der geschlossene Kreis von Sündigkeit und Erlösung. Man mag ihn abtasten und alle Regeln und Riten religiösen Verhaltens peinlich genau erfüllen: es bleibt der Kreislauf.
Das erkannt zu haben, ist in Da Costas seelischem Bezirk schon der Anfang des Bemühens. Er läßt es nicht genug sein mit der Lektüre der Evangelien. Er sucht nach anderen Möglichkeiten der Orientierung und findet sie in den Summen der Glaubensverteidiger. Aber er findet auch, je mehr er darüber brütet, nur um so größere Schwierigkeiten. In diesem Lehrgebäude herrscht nicht einmal Einigkeit darüber, welchen Sinn und welchen Ursprung die Befreiung und Begnadigung des Menschen habe. Zwar gibt es da die eine große Linie, die von Augustinus zu Thomas von Aquin führt und die noch im jenseitigen Bezirk, in Luther und Calvin, immer strenger und schneidender wird: die Idee, daß es keinerlei menschliche Freiheit gebe, die bei der sittlichen Erneuerung des Menschen mitwirken könne; daß der Mensch ausgeliefert sei; daß eben schon mit der Sünde Adams das ganze Menschengeschlecht der Verdammnis anheim gefallen sei, und daß nur Gott aus seinem Attribut der Barmherzigkeit und nach seinem freien, nicht erforschbaren Entschluß diesen und jenen aus der verworrenen Menge sich auswähle und ihn begnade, den Rest aber – auch nach unerforschlichem Entschluß – dem Verderben ausliefere. In solchem Bezirk wird Ethik ein Zufall oder eine Wanderung ins Ungewisse. Beides aber ist zugleich Wurzel und Frucht der Furcht. Von neuem steht Da Costa im Kreis ohne Ausweg.
Doch scheint es, als ob gerade in dem religiösen Umkreis, dem er zur Erziehung überlassen ist und dem 101 er auch nach Beendigung seiner Erziehung verbunden bleibt, die Auflösung sich zeige. Mit sehr feinem Spürsinn für die Bedürfnisse der geängstigten Menschenseele – und teils wohl auch in Opposition zum Protestantismus – ist gerade von Seiten der Jesuiten der Versuch gemacht worden, die Tradition der thomistischen Lehre zu durchbrechen und gegenüber dem Determinismus, der den Menschen der Hoffnungslosigkeit der Gnade ausliefert, wieder dem menschlichen Willen, seiner Entscheidungsqualität, dem Sinnvollen seines Ringens um eine sittliche Haltung Raum zu verschaffen. Es werden Theorien darüber aufgestellt, sehr diffizile und theologisch verschnörkelte. Sie haben alle den guten Kern, daß sie den Sinn menschlichen Bemühens nicht verneinen wollen. Aber sie sind im Grunde alle rationalistische Zweckregeln und nicht die gewachsenen Früchte religiöser Notwendigkeit. Sie münden alle aus in eine Praxis, die doch in nichts vom Gedanken der Erbsünde selbst und von der Drohung ewiger Verdammnis freimacht. Sie gewähren Hoffnung; aber nicht Freispruch. Sie lassen den Beichtstuhl so unberührt wie die Hölle. Sie geben den Menschen nicht frei. Die Erkenntnis, daß das Tun entsündigen kann, mündet nicht in der sinnvollen Erlösung durch Einsatz der Persönlichkeit, sondern im Loskauf durch Befolgung von Regeln.
Im Bezirk solcher Erwägungen, die für Da Costa wirkliches und ganz alltäglich-gegenwärtiges Erlebnis sind, bereitet sich sein Schicksal vor. Alles Äußere des Daseins gelingt ihm, aber die Seele kommt nicht zur Ruhe. Während er an der jesuitischen Universität zu Coimbra kanonisches Recht studiert (1604 bis 1608), steht er unter Druck und Schatten seelischer 102 Zweifel. Der religiöse Lebensraum, der ihm zugewiesen ist, ist ihm zu eng. Er fühlt noch nicht, daß es nicht sein Raum ist. Er verspürt nur, daß zu der geborstenen Welt um ihn her sich die geborstene Welt in seinem Inneren gesellt.
Ein Mensch wird vom Bewußtsein seines religiösen Schicksals angerufen. Er beginnt aufzuhorchen. In ihm beginnt Schicksalhaftes zu reden. –