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Und ich will dir des Himmelreiches Schlüssel geben: alles, was du auf Erden binden wirst, soll auch im Himmel gebunden sein, und alles, was du auf Erden lösen wirst, soll auch im Himmel los sein.
Matthäus 16, 19.
Gabriel da Costa wird um das Jahr 1585 in Porto geboren. Seine Kindheit bis in das Jünglingsalter hinein ist ohne sonderliche Ereignisse oder Beschwerungen. Er lernt viele der Annehmlichkeiten kennen, die eine adlige Erziehung in jener Zeit gewährt: die Übungen einer verspäteten Ritterlichkeit, die Formen einer zu nichts verpflichtenden Geselligkeit, das Verspielte und das Ernsthafte einer vorsichtig begrenzten weltlichen Bildung. Was ihm nicht das Haus mit dem Zuschnitt einer portugiesischen Adelsfamilie vermittelt, gibt ihm die Schule, das jesuitische Kolleg, sowohl im Weltlichen wie im Geistlichen.
Solche Schulen sind, obgleich der Name andere Vorstellungen erwecken mag, alles andere als Institute klösterlicher Strenge. Sie haben einen durchaus weltlichen Einschlag und sind stets bereit, gewordenen und gewachsenen Lebensbeziehungen bis an den Rand des Möglichen Raum zu gewähren. So wird für die jungen Adligen, die ihrer Erziehung anvertraut sind, das gewohnte Milieu ihres Hauses und die gesellschaftliche Form, in die sie zwangsläufig hineinwachsen, fortgeführt. Sie erhalten Unterricht im Stoßfechten und Reiten, im Schwimmen und Eislaufen. Ganz unasketisch wird darauf Wert gelegt, daß die Zöglinge baden, wandern, laufen und daß sie durch Hygiene und alle Art körperlicher Übung sich kräftigen und gesund erhalten. Das reizvolle Mittelding zwischen Sport und Zerstreuung, das Billardspiel, traditionell übernommen als das Lieblingsspiel des Ordensgründers Ignaz von Loyola, wird sehr gepflegt.
Auch das, was solcher Jugend und solchen Zöglingen 54 an Bildung vermittelt wird, trägt auf den ersten Blick völlig weltlichen Charakter und scheint sich sogar in den Bahnen humanistischer Freiheit zu bewegen. Nach dem Lehrplan kann man glauben, es werde hier dem jungen Menschen eine freie Welt des Forschens und Denkens aufgetan. In drei Lehrgängen wird er von der Klasse der Grammatik zu der der Humanität und Rhetorik und von dort aus zu der der Dialektik geführt. Diesen drei Stoffgebieten entspricht ein Ausbau der geistigen Fähigkeiten in dreifacher Aufstufung. Zunächst wird das Gedächtnis geschult. Dann erhält die Fähigkeit, zu denken und das Gedachte zu formulieren, ihre Ausbildung, und beides zusammen soll dazu dienen, das Gespräch, den Disput, die Kontroverse zu beherrschen, im Wortstreit Sieger zu bleiben, unschädlicher und ehrenvoller Sieger wie sonst in den Turnieren.
Aber eben dieses letzte Ziel, die Erziehung zu dialektischer Fertigkeit, läßt schon darauf schließen, daß nicht so sehr der kritische Verstand kultiviert werden soll als vielmehr der rezeptive. Der Kern des Humanismus: seine Revolte gegen intellektuelle wie geistliche Autorität, bleibt vorsichtig unangetastet. Denn nicht um Erkenntnisse geht es hier, sondern um Stoffbeherrschung, um Ansammlung von Wissen; und aus diesem Wissen wird sorgsam alles ausgeschaltet, was seiner Art nach den Drang zu Erkenntnissen unausweichlich macht. Weder Naturwissenschaft noch Geschichtswissenschaft werden gelehrt. Alle Realien, alle empirischen Wissenschaften, alles, woran ein junger Mensch sich in eine gestaltende Zukunft hinein orientieren könnte, ist mit weisem Vorbedacht eliminiert. Es geht hier nicht um das Befreiende, Revolutionäre, das im Grundzuge humanistischer Bildung 55 liegt, sondern nur um eine andere Form der Einordnung, um eine neue Methode des Dienstes an der Autorität.
Die Welt, in der es sich nach dem Sinn dieser Erziehung zu orientieren gilt, bestimmt sich eben keineswegs nach den Wirklichkeiten, die in ihr vorhanden sind, nach den Erkenntnissen, die man aus ihr gewinnen kann, nach dem Sinn, den die gewordenen oder die werdenden Lebensbeziehungen tragen. Sie bleibt selbst unberührt davon, daß sie durch erregende und phantastische Entdeckungen täglich an Raum gewinnt, daß ein unendliches Blickfeld erwächst mit Möglichkeiten ohne Zahl. Sie kann die neuen Gebiete nur ausbeuten, ihre Bevölkerung dezimieren und Missionare ausschicken. Diese Welt hat überhaupt mit Wirklichkeit und Gegenwart nicht mehr zu tun, als eine bedachtsame Pädagogik es gestatten will, um gerade noch den Schein der Freiheit zu wahren.
In Wirklichkeit hat sie überall Mauern aufgerichtet, und wenn es einem der jungen Menschen gelingt, aus aufbrechendem Erkenntnisdrang diese Mauern abzutasten, dann muß ihm verständlich werden, daß er in einem Gefängnis haust mit kunstvoll verkleideten Wänden und künstlich, wie auf einer Bühne angelegten Perspektiven, die dem auf seinen Platz verwiesenen Beschauer die Illusion wirklicher Ferne und wirklicher Freiheit des Menschen in ihr vorzaubern. Es sind nicht Zufall und nicht Unfähigkeit, die mit solcher engen Begrenzung und mit solcher Entfernung vom wirklichen Leben aus Menschen mit blutvollen Möglichkeiten Schablonen pressen. Es ist auch kein böser und verhärteter Wille, der hier alles Persönliche uniform und zu einem Wesen der Masse macht; sondern es ist Dienst an einer Welt, wie die 56 Lehrenden und Erziehenden sie begreifen und folglich wollen müssen. Es ist nicht mehr die mittelalterliche Welt der Sicherheiten, sondern eine Welt der Sicherungen, die sich zwischen das gestorbene Mittelalter und die noch ungeborene Neuzeit drängt, und die als verhängnisvolle Zwischenform, als ein Phänomen des Willens und als ein Phänomen religiöser Agonie für eine geraume Zeit eine tote in eine ungeborene Epoche hinüberrettet.
Was diese beiden Welten von einander unterscheidet, ist nichts anderes als das Bewußtsein des Menschen von diesen Welten. Dieses Bewußtsein hat durch die Jahrhunderte hin geschwankt, aber nie in Varianten, sondern stets in Extremen. Für die Urwelt der Heiden ist die Welt eine Tatsache der Unsicherheiten und der panischen Unterordnung. Sie erdulden ihre Welt: die Welt als Furcht. Für den jüdischen Monotheismus ist die Welt ein Ort, den Gott ihnen zu freier Gestaltung überwiesen hat: die Welt als Aufgabe. Für die christliche Menschheit des Mittelalters ist sie ein von Gott verliehenes Faktum mit Inhalten, denen man sich zu fügen hat: die Welt als Gegebenheit. Nachdem diese Menschheit ein Jahrtausend an religiöser Erfahrung gesammelt hat, nähert sie sich wieder der Idee, die Welt nicht mehr als eine Gegebenheit, sondern als eine Aufgabe zu betrachten. Sie erwacht zu dem Versuch, ihren Lebensraum wirklich zu machen, ihn zu erkennen.
Solche Änderungen des Bewußtseins sind nicht Sache des Gehirns, des Intellekts; sie sind Sache des religiösen Gefühls. In der Dämmerstunde der »Neuzeit« begreift der Mensch, daß es nunmehr darauf ankomme, die Welt zu einer Wirklichkeit zu machen; denn erst in einem als wirklich empfundenen Lebensraum 57 ist die Bewährung einer Religion möglich. Doch auf dem Wege zu der neuen Wirklichkeit begegnet er der alten Wirklichkeit, und sie ist nicht bereit, irgend ein Gesetz der Evolution anzuerkennen, das ihr ein Zurückweichen vor der neuen Form des Bewußtseins zur Pflicht gemacht hätte. Von neuem setzt ein Kampf zwischen Gesinnung und Interesse ein, und wieder ereignet sich einer der historischen Fälle, in denen das Interesse in seiner Sonderart schon wieder Gesinnung geworden und die Kampfhaltung in ihren Grundzügen folglich Notwehr ist.
Im Zentrum der mittelalterlichen Welt, dieser Welt der göttlichen Gegebenheiten, hatte sich die Kirche als Ausdruck des theokratischen Regimes eingerichtet. Es war, dem Begriffe nach, die alte jüdische Theokratie, aber sie konnte es natürlich nicht dem Wesen und der Idee nach sein, weil das Wachstum der beiden Religionsformen so durchaus verschieden war. Die jüdische Theokratie ging vom Grunde aus, vom Volke; die christliche von der Spitze, von einem organisierten Priestertum; jene hatte im Prinzip und in ihren entscheidenden Ursprüngen überhaupt keine weltliche Repräsentanz, es sei denn, daß der Herrscher, Gott, für jeden Einzelfall Vollstrecker seines Willens in den Richtern aufrief; diese hingegen beruht überhaupt erst auf der ständigen und sichtbaren Vertretung, dem Papsttum; jene hatte auch unter den ständigen Repräsentanten, den Königen, das Volk als wollende und sehr oft revoltierende Masse der Träger; diese war in ihrer Herrschaft über eine unbedingt gläubige Masse absolut. Schritt für Schritt baut sich diese christliche Theokratie zu immer größerer Macht auf, gestützt auf die geistige Begründung der Kirchenväter, gefördert schon von den großen 58 Theologen aus der Zeit vor Thomas von Aquin, und steigend und unbeugsam (mit allen Mitteln, selbst dem der Urkundenfälschung) verwirklicht von den Päpsten selbst, vor allem Gregor VIII., Innocenz III. und IV. und Bonifaz VIII. Alle Lebensbeziehungen, ob sie ihren Ursprung im Glauben oder im Weltlichen hatten, wurden in diese Theokratie einbezogen. Der Mönch und der König unterstanden in gleicher Weise der lösenden und bindenden Gewalt dieser Herrschaft. Der Gegensatz zwischen dem Weltlichen und dem Geistlichen – ein Gegensatz, den es in einer wahrhaften Theokratie nicht geben kann, ohne ihren Sinn zu verfälschen – war zwar nicht aufgehoben; aber er war dadurch überbrückt, daß das Papsttum sich die Suprematie, die direkte Herrschaft auch über das Weltliche zuerkannte. Das Ziel dieser ständigen Herrschaftsbemühung, die Errichtung einer katholischen Weltmonarchie, konnte beinahe als erreicht gelten. So real war diese Herrschaft, daß noch nach der Entdeckung Amerikas Papst Alexander VI. seinen apostolischen Anspruch auf das Weltall dadurch ausüben konnte, daß er zwischen den großen Kolonialmächten der Zeit, Spanien und Portugal, die Abgrenzung der neu entdeckten Länder und Inseln vornahm. Läßt man nicht außer acht, daß diese Theokratie sich immer als die Stellvertretung Christi auf Erden betrachtete, so kann es nicht Wunder nehmen, daß der Regent dieses theokratischen Reiches an Macht und Heiligkeit wie ein Halbgott empfunden wurde.
Und doch waren immer schon – bald untergründig und unbewußt, bald als unsicheres Tasten, bald bewußt in Trotz und Auflehnung – Kräfte und Geister am Werke, die dieser Theokratie mit ihrem Anspruch 59 und ihren Dogmen die unbedingte Gefolgschaft versagten. Schon in den allerfrühesten Anfängen dieser Entwicklung taucht der Begriff Häretiker auf, um nie wieder zu verschwinden und um sehr oft den ganzen Handlungsinhalt der Kirche zu bestimmen. So unlösbar ist der Begriff Ketzer mit dem Begriff Kirche verbunden, daß etwas vorhanden sein muß, was den Ungläubigen, den Abtrünnigen, den Ketzer zwangsläufig erzeugt. Das ist in der Tat der Fall. Die Quelle liegt – von den Möglichkeiten religiöser Zweifel ganz abgesehen – im wesentlichen eben in dieser Theokratie selbst. Die wirkliche Theokratie ist, von ihrem Erzeuger her gesehen, von dem sich freiwillig unterordnenden Menschen her betrachtet, also dem wahren Ursprung nach, zugleich Demokratie und Anarchie; Demokratie im Sinne von religiöser Willensbildung aus dem Grunde der Gemeinschaft, und Anarchie im Sinne von Abwesenheit jeder Gewalt und der Unterordnung in Freiwilligkeit. Die vom Papsttum verwirklichte Theokratie, da sie von einer Person, einer Gipfelgestalt, von Jesus ausging, mußte das Problem notwendig umgekehrt begreifen und angreifen: nicht von einem religiösen Bemühen her, sondern von einem religiösen Ergebnis, nicht von der Entstehung, sondern vom Entstandenen. So wird, was einstens Demokratie war, jetzt Monarchie, und was einst Anarchie war, jetzt Diktatur. Eine solche starre Form des Regiments kann sich weder dem religiösen Leben in allen seinen wechselnden Ausprägungen anpassen, noch darf sie die geringste Spur von Abweichung und Ungehorsam dulden. Folgerichtig wird – schon mit dem Konzil von Nicäa – selbst der theologische Irrtum zum Majestätsverbrechen, und von daher ist zu begreifen, wie die unreligiöseste aller 60 Vorstellungen, die vom »heilbringenden Zwang«, entstehen und zu einer furchtbaren Wirklichkeit werden konnte.
Ein so aufgefaßtes theokratisches Regiment, das keine Wahl und keine Freiheit mehr gewähren kann, muß daher nicht nur den Ketzer erzeugen, sondern auch sein Gegenteil: den religiös Indifferenten, den religiös nicht mehr bewegten Menschen, der es mit der geruhsamen Einfügung genug sein läßt, der ohne eigenes Bemühen dem Regime überläßt, was es beansprucht: die Sorge um das Heil seiner Seele. Am beruhigten Untertanen und am Nichts-als-Gehorsamen erstickt jede Idee.
So erhebt sich im Krisenpunkt der kirchlich-mittelalterlichen Welt eine doppelte Gefahr: die des Ketzers und die des Gleichgültigen, der zerstörende Zweifel des einen und die zerstörende Indifferenz des anderen. An vielen Stellen zugleich – und schon vor dem Auftreten Luthers – werden Unruhe und Gleichgültigkeit sichtbar. Wie auf der einen Seite, in der Hierarchie selbst, Streitigkeiten über die Sakramente entstehen und Zweifel am Fegefeuer und an der Verbindlichkeit vieler katholischen Riten erhoben werden, stellt andererseits die Ausbreitung humanistischer Bildung und Halbbildung eine bedenkliche Vertraulichkeit zwischen antiken Göttern und christlichen Heiligen her. Im Orden der Franziskaner muß eine ganze Reihe abweichender Lehrmeinungen bekämpft werden, während zugleich in der Laienwelt die religiöse Teilnahme nur noch vegetiert, und vielfach – wie etwa in Süditalien – ein offener Rückfall in nacktes Heidentum festzustellen ist. Während auf der einen Seite die christliche Propaganda in den Ländern der »Ungläubigen« keine Fortschritte mehr macht, 61 entzieht sich die europäische Gesellschaft in steigendem Maße dem Autoritätsverlangen des Papsttums. Im Klerus selbst, der zur Realisierung des theokratischen Willens über die ganze Erde zerstreut ist, haben Bildung und Sitte einen sehr tiefen Stand erreicht. Zu diesen Gefahren von innen tritt die Gefahr von außen, wie der Protestantismus der päpstlichen Kirche die Gefolgschaft versagt und ihr den Anspruch auf Bindung und Lösung und auf göttliche Stellvertretung bestreitet.
Diese Unruhe und dieser Protest sind – in ihrem Kern jedenfalls – ein religiöses Bemühen, das erste produktive seit Jahrhunderten. Hier reicht der Begriff Ketzerei nicht mehr aus. Hier offenbart sich, daß die gegebene Welt des Mittelalters nicht mehr unbezweifelt ist. Die Vertretung der alten Welt, die Kirche, empfindet sehr richtig solchen Zweifel als einen tödlichen Schlag. Sie setzt sich zur Wehr. Zwar kann sie gegenüber dem veränderten Bewußtsein der neuen Zeit die sichere Welt des Mittelalters nicht wieder herstellen, aber sie kann sie noch einmal anpacken und mit Sicherungen versehen. Da die Herrschaft, so wie sie sie begreift, sie zum Zwang berechtigt, bedient sie sich auch jetzt seiner in dreifacher Schichtung: des physischen Zwanges in der Inquisition, des geistigen Zwanges in den Beschlüssen des Tridentiner Konzils und des organisatorischen Zwanges im Jesuitentum. So wie zwei Jahrtausende zuvor das Judentum um seiner Realisierung im Leben willen einen Zaun um das Gesetz errichtete, baut jetzt die Kirche um ihrer Erhaltung willen einen Zaun um die Seelen. Jener Zaun diente der freiwilligen, dieser der erzwungenen Bindung; in jenen begab sich der Mensch mit der ganzen Last freier 62 Verantwortung, in diesem steht ihm als notwendiges Korrelat des Zwanges der Priester mit seiner bindenden und lösenden Gewalt gegenüber. Das Tridentiner Konzil, ursprünglich zur Reform bestimmt, wird das Parlament, in dem Debatte und Abstimmung unter letzter Entscheidung des Papstes einen Glaubensinhalt endgültig abgrenzen. Die Inquisition wird die Instanz, vor der lebendige Menschen wirkliche und erdichtete Unfolgsamkeiten gegen Lehrmeinungen und Dogmen mit dem Leben zu verantworten haben. Das Jesuitentum wird das Organ, das den Unterbau päpstlicher Theokratie neu zu fundamentieren hat. So wird eine schwankende Welt stabilisiert.
Die Impulse zu dieser Restauration gehen nicht von Rom und nicht vom Papsttum aus, sondern von Spanien, der stärksten katholischen Welt, wo eine dumpfe Hintergrundmasse aus der Züchtung von Jahrhunderten und aus tiefer seelischer Verwandtschaft mit dem Fanatismus des nahen Afrika immer noch das westgotische Ideal des religiösen Einheitsstaates begreifen kann, und wo das, was ihr an Bemühen und religiöser Initiative mangelt, durch die Exklusivität geistlich orientierter Kasten ersetzt wird. Im Lande selbst allerdings gibt es wenig zu ordnen. Das Verbrennen von Marranen und Mauren ist ein Faktum, aber kein eigentliches Problem mehr. Die Lehre Luthers ist nicht unbekannt. Mehrere Schriften aus dem protestantischen Umkreis und sogar das Kuriosum einer in das Spanische übersetzten Bibel sind über die Grenze gekommen. Aber Folgen entstehen daraus nicht. Nur ganz verhalten, aber ohne jede gewollte Tendenz gegen die Kirche, regen sich mystische Strömungen von einer gewissen Selbständigkeit. Da sind die Begharden in Katalonien und Valencia; 63 dann eine Abart von ihnen, die Häretiker von Durango, und als breitere Bewegung die Gemeinschaft der Alombrados, der »Erleuchteten«, die behaupten, von Gott selbst ihre Lehre empfangen zu haben und die folglich alles Vermittelnde: die heilige Schrift, Messe, Predigt, Gebet, Heiligenverehrung und Heiligung durch Werke ablehnen zugunsten quietistischer Betrachtung und Beschaulichkeit. Aber die spanische Inquisition erkennt eher und schärfer als Rom die Gefahren des Mystizismus und rottet die Bewegungen rücksichtslos aus.
Aber trotz dieser geringen Aktualität im Lande selbst ruft die Tatsache, daß ein neues Bewußtsein die Herrschaft antreten will, Menschen auf den Plan, die sich die Erhaltung und Stärkung der Welt von gestern zur Lebensaufgabe machen. Sie finden ihre organisatorische Zusammenfassung in der Societas Jesu, der Gründung des Ignaz von Loyola. Es geht hierbei um weit mehr als nur die Entstehung eines Ordens, nämlich um das Sichtbarwerden desjenigen Phänomens, aus dem allein Menschen mit weitgreifender Wirkung entstehen können: die völlige Übereinstimmung eines Menschen mit den Grundgedanken seiner Zeit und seiner Welt, der völlige Verzicht auf Originalität, dagegen die absolute Besessenheit, das Besessenwerden von den Kräften und Inhalten der Zeit und die durch keinen Intellekt abgebogene Folgerichtigkeit, diese Kräfte in Handlungen umzusetzen. Damit sind Ignaz und die Societas Jesu, der Mann und sein Werk umrissen. In der Tat ist in dieser jesuitischen Welt nichts grundsätzlich Neues, sondern nur logisch zu Ende Gedachtes, soweit nicht die Opposition gegen die protestantische Welt diese und jene Einstellung erst bestimmte. Die geistige 64 Fassung des Katholizismus im Umkreise der »Gegenreformation« und die geistige Fassung des Jesuitentums sind identisch.
Alles, was nunmehr in dieser Welt geschieht, leitet sich ab aus dem Faktum Theokratie und aus dem Willen, sie zu sichern; und da es sich um eine Zwangslage handelt, werden die Idee und die Mittel in gleicher Weise übersteigert. Die Haltung der Notwehr erweitert sich zum Notwehrexzeß. Gegenüber den Zweifeln an der Wichtigkeit, der Machtfülle und der Unfehlbarkeit des Papsttums wirkt von nun an das Jesuitentum für die unbedingte Suprematie des Papstes, in kirchlichen wie in weltlichen Dingen, ohne letztes Ziel und ohne feste Abgrenzung, für seinen unbedingten Anspruch auf Errichtung einer katholischen Universalmonarchie, für seine unbedingte Unfehlbarkeit, die so weit gehen soll, daß der Papst seiner Natur nach nicht nur unfähig sein soll, eine Ketzerei zu begehen, sondern daß selbst jede Sünde, von ihm geboten, dadurch aufhört, Sünde zu sein und sich in Pflicht des Gläubigen verwandelt. Zwar die Lehre von der »direkten«, unmittelbaren Herrschaft des Papstes über Welt und Weltlichkeit war gegenüber den wachsenden staatlichen Ideen nicht mehr zu halten; aber dafür trat die Lehre von der »indirekten« Gewalt mit nicht geringerer Bedeutsamkeit auf.
So wie der Mensch, der diesen Orden gründete, es nur vermochte aus der unmäßigen Übereinstimmung mit der Welt, die ihn umfaßte, so konnte der Orden das Papsttum beherrschen nur aus dem unmäßigen Willen, ihm zu dienen. In der Erkenntnis von der überragenden Bedeutung der Compagnie Jesu stattet das Papsttum sie, um sie als Waffe tauglich zu machen, 65 mit so vielen Rechten und Privilegien aus, daß der Orden schon bald nach seiner Gründung dem Papsttum als viel stärkere Macht gegenübersteht, und daß der General Aquaviva es wagen kann, dem Papst Paul V. zu drohen. Das war nicht Insubordination, sondern Ausfluß der Erkenntnis, daß das Papsttum dem Orden de facto die Repräsentanz der kirchlichen Gewalt eingeräumt habe und er befugt sei, davon Gebrauch zu machen. Eben darum war die gegenseitige Verknüpfung fast unlösbar, sowohl im Organisatorischen wie im Geistigen. Die Übereinstimmung wurde um so größer, je weiter sich die Wirksamkeit des Ordens entfaltete. Er war berufen, eine theokratische Form zu schützen, die nur neben die wirklich empfundene, religiöse Idee der Theokratie als Organisationsform getreten war, eine Theokratie der Spitze, die schon längst als Selbstzweck existierte. Da ihr als solche keinerlei Ewigkeitswert zukam, mußte sie eines Tages um ihre Existenz kämpfen. Das gab einer im Ursprung als göttlicher Institution gedachten Einrichtung eine unklare Verknüpfung und Verkoppelung mit den weltlichen Dingen, eine Mischung von Gottliebe und weltlicher Geschäftigkeit. Das mußte sich bei der großen Identität von Papsttum und Orden auch im Orden wiederholen. Es ist in der Tat alles darin enthalten, was diese Doppelschichtigkeit ausmacht: von der bis in den Kern des mystischen Wesens empfundenen Nähe zu Gott bis zum nüchtern auskalkulierten Wuchergeschäft. Daß die Satzung dem Orden die Beschäftigung mit Politik untersagte, war Ausfluß einer Idee. Daß nie ein Orden sich tiefer in Politik verstrickte, war unabweisbare Folge dessen, wie er die Idee verwirklichte. Was sich im frühesten Beginn 66 verhängnisvoll vollzogen hatte: das Aufgefangenwerden eines Glaubens durch eine Kirche, wiederholt sich jetzt zwangsläufig. Eine Sekunde, nachdem Ignaz von Loyola sein Gottesstreitertum erlebte, war es in der Konzeption eines militanten Ordens wieder untergegangen. Von neuem verfängt sich der Glaube an der Form, deren er nicht glaubt entraten zu können. Auf dem Wege, eine Welt zu gestalten, entsteht die Idee ihrer Unterwerfung und Überzwingung. Aber aus einer unterworfenen Welt droht immer wieder die Gefahr des Aufruhrs. –
Der Wille zur Sicherung dieser bedrohten Welt tritt mit einer zugleich grandiosen und fanatischen Unbedingtheit auf. »Solange uns ein Hauch des Lebens bleibt, werden wir gegen die Wölfe für die Verteidigung der katholischen Herden bellen.« Verteidigung gegen eine Gefahr wird zum grundlegenden Begriff nicht nur der Aktionen, sondern auch der geistigen Vorstellungen. Um der Gefahr begegnen zu können, muß man sich in den Dienst der gefährdeten Sache stellen. Die präziseste, unbedingteste und durch keinen Einzelwillen beengte Art des Dienstes ist die des Soldaten. Folgerichtig nennt Ignaz von Loyola die Schar, die er um sich sammelt, die Compagnie Jesu. Schon hier im Anfang steht der militante Wille. Zwar geht im letzten Ende der Kampf um die Gloria Dei, um die Ausbreitung der Gottesherrschaft über die Welt; aber so wie Paulus die Heiden zu Jesus brachte, ehe er ihnen Gott vermittelte, wird für Ignaz nicht Gott, sondern Jesus oberster Kriegsherr.
In Wesen und Zweckbestimmung des Soldaten liegt es, daß er sich einer Disziplin unterordnet, und ihr schärfster Ausdruck ist der Gehorsam. Immer sonst ist dem Begriff Gehorsam ein tragischer Unterton 67 eingeboren, denn zwischen Befehl und Ausführung kann immer die hemmende, zweifelnde, lähmende Erkenntnis dessen treten, dem das Gehorchen zugemutet wird. Solche Tragik kann hier nicht entstehen. Der Gehorsam ist in das Absolute gesteigert. Er gilt der Kirche und allen ihren Institutionen ohne jeden Unterschied. Er gilt jedem Vorgesetzten im Orden und gilt dem General, dem propositus generalis so, als sei er selbst der »allgegenwärtige Gott«. Kein Wille gilt gegenüber dem Befehl, keine Einsicht und kein eigenes Urteil. Der Soldat muß gehorchen »wie ein Leichnam«, wie ein Stock in der Hand dessen, der damit schlägt.
Für den Gehorchenden selbst mag es ein Trost gewesen sein, daß eine tiefere Idee als nur die des Soldatentums ihm solchen übersteigerten Gehorsam begründen und verständlich machen konnte. In der hierarchischen Ordnung der Welt, wie sie der mittelalterliche Christ verstand, lag sicher die Idee einer kosmischen Ordnung eingeschlossen, und wenn in solcher kosmischen Ordnung sich jeder an den Platz fügte, der ihm zukam, konnte die Unterordnung sogar als Freiheit erscheinen. Aber es war nur das Wort Freiheit ohne seinen Inhalt. Es war weder der Luthersche Begriff »von der Freiheit des Christenmenschen« noch der jüdische Begriff der Freiheit: die Unterordnung aus verpflichtender Unabhängigkeit. Es konnte schon die »natürliche« Einordnung in ein kosmisches Gefüge um deswillen nicht sein, weil hier ein Zweck obwaltete, eine Haltung des Dienstes, der Glaube an eine Parole; ein Entschluß und Willensakt, kein Überzwungensein aus tiefem kosmischen Verstehen. Und es konnte schon um deswillen nicht wirkliche Freiheit sein, weil diese Menschen, als einzelne oder 68 als Glieder einer Compagnie, unlösbar einem Weltbild verbunden waren, in dem der große Gegensatz von Himmel und Erde, von Christus und Satan, von Erbsünde und Gnade, von Leib und Geist, der Dualismus überhaupt ihnen die Wahl, den Raum von Freiheit und Entscheidung von vornherein übermäßig verengte.
An diesem Punkte zeigt sich, wie nahe der christliche Begriff des Dualismus und der des Militanten einander sind. Diese ganze Welt – und Loyola mit ihr – begriff Freude und Leid, Glück und Unglück, Erhebung und Zerknirschung, Gottnähe und Gottverworfenheit nur aus den Anfechtungen des Satans oder aus dem siegreichen Widerstand dagegen. Mit Gott sich versöhnen hieß: die bösen Anfechtungen, Satan bekämpfen. Das ist auch Loyolas Idee. Es gibt zwei Heerlager auf der Welt; das eine bei Babylon, das andere bei Jerusalem; dort das Heer des Satans, hier das Heer Christi; auf jener Seite alle Bösen, auf dieser alle Guten. Was demnach zu geschehen hat, ist nicht das Gestalten, sondern das Kämpfen. Nur aus dieser Idee kann diese Welt sich noch am Leben erhalten. Eine Armee kennt notwendig einen Feind. Ohne einen Feind wird sie sinn- und zwecklos. Nicht um etwas kämpfen, sondern etwas bekämpfen ist das leitende Motiv.
Wie zu diesem Zwecke die auserlesenen Soldaten, die Mitglieder der Compagnie, diszipliniert und zu einer Einheit von grandioser Uniformität gezwungen werden, so wird die Einheitlichkeit im Gehorsam gegen die Kirche auch für die ganze Welt erstrebt, nicht nur für die katholische, denn die Bekehrung von Ketzern und Heiden ist eine der wesentlichsten Aufgaben des Ordens. Soweit aber die katholische Welt angepackt wird, geschieht es mit einem Generalangriff 69 auf die Instinkte der Massen und auf die von den Zeiten des Heidentums her noch unaufgelöste Furchtwelt. Schon von dem Begriff Erbsünde her ist die Furcht unlösbar in die christliche Welt eingetan. Von Anselm von Canterbury über Bonaventura bis zu Thomas a Kempis wird zwar in immer neuer Form versucht, aus der »Furcht Gottes« läuternde Kraft für die Seelen zu gewinnen; aber was diese Welt an Furcht bewegte, war viel tiefer darin als in dem Entsetzen vor Tod und Hölle und Fegefeuer verankert. Die Hölle ist immer gegenwärtig; sie droht mit einer grauenhaften Last, und dieses Grauen ist für die breite Masse der stärkste Teil ihrer religiösen Bereitschaft. Ein unversöhnlicher Gott der Rache droht ihnen ewig die Verwerfung und die Verdammnis an. Darum kreist die Phantasie eifriger als um die Ausgestaltung des Himmels um die Ausmalung der Hölle mit ihren Schrecknissen; und die Wahl, die dem Menschen aus seiner Natur her zwischen dem Guten und dem Bösen gelassen ist, bekommt aus solcher Überbelastung mit sinnlich greifbaren Schrecknissen ihren geminderten Wert und ihre gesteigerte Qual. Der ganze Alltag ist durchwebt mit den Reflexen dieser Qual: dem Aberglauben, dem Hexenwahn, der schwarzen Magie, den Teufelsbeschwörungen, und tief durchsetzt mit dem Tasten nach Hilfe und Heilmitteln: Bilderdienst, Reliquienverehrung, Heiligenkult, Wallfahrten, Prozessionen. Wer auf dieser Saite des menschlichen Wesens zu spielen verstand, hielt den ganzen Menschen in seiner Hand; und das war nötig, weil diese Menschen mit dieser besonderen seelischen Haltung den Grund bildeten, auf dem die Herrschaft der Kirche beruhte, die Verwirklichung der Theokratie. 70
Wenn jetzt das Jesuitentum an diesem Punkte einsetzt: die Angst steigert, den Aberglauben unterstützt, die religiöse Erregung je und je mit allen denkbaren Methoden aufjagt, dem Scheiterhaufen Menschen zutreibt, dem Marienkult mit allen Mitteln ohne Wahl Eingang in die Herzen verschafft, das ganze Alltagsleben durchwirkt mit der Erfindung immer neuer Devotionen – so kann es keine Rücksicht darauf nehmen, daß damit die freie religiöse Beweglichkeit der Menschen vermindert und einer – oft ganz grobsinnlichen – Materialisierung der Weg gebahnt wird. Wo die Einheit einer Masse von Bekennern nicht aus der Entschließung des Einzelnen kommt, aus momentaner oder ererbter Entschließung, sondern wo sie ein Ergebnis der Zucht, des Gehorsams ist, kann sie nur uniform sein, kann sie sich nur an Riten und Vorschriften orientieren und kann sie sich nur sättigen im vielfach aufgeteilten Glauben an Vielfaches. Auch daß hier jede Spur individueller Freiheit unterdrückt wird, ist nicht Verschulden, sondern notwendige Technik, um die Disziplin in der Armee und ihre Schlagkraft zu erhalten. Darum muß auch die Haltung gegenüber jeder anderen seelischen oder geistigen Verfassung notwendig die der Respektlosigkeit sein.
Wie in jeder Disziplin eine federnde Kraft sein muß, damit die Starrheit nicht zum Zerbrechen führe, und wie jeder Welt der Furcht eine Auflösung gegeben werden muß, damit die Angst nicht zu ohnmächtigem Schweigen erstarre, so war auch dieser Welt der Unentrinnbarkeiten ein Ventil gegeben, von dem aus Druck und Entspannung sich nach vorbedachtem Plan regulieren ließen. Es lag im Wesen dieser Theokratie beschlossen, daß sie den unmittelbaren Weg 71 vom Menschen zu Gott nicht kannte, wo es um Verfehlung und Befreiung ging. Wie diese Welt, die vom ersten Menschen her der Sünde verfallen war, eines anderen Menschen, Jesu, bedurfte, um von ihr erlöst zu werden, so bedurfte sie in jedem Augenblick ihres Ablaufs der dauernden Vermittlung des Priesters. Ihm war die Sünde zu bekennen, nicht Gott unmittelbar. Er sprach das Urteil und vermittelte die Verzeihung. Den Ausgleich für ein erregtes Gewissen schuf nicht das verpflichtende Bewußtsein, vor dem Angesichte der Allmacht zu stehen, sondern das in der Theokratie organisierte Priestertum; ein Mensch besonderer Weihen; dennoch ein Mensch. Sein Ja oder sein Nein konnte die Seele retten oder sie vernichten.
Es ist vielleicht eine der größten Taten des Protestantismus, daß er diese unproduktive Abhängigkeit beseitigt hat, wenngleich er ihr durch die Lehre von der Determination neuen Eingang verschafft hat. Der Katholizismus des 16. Jahrhunderts hingegen hat diese Bindung aus Opposition und aus Konsequenz noch verschärft. Aber er hat die ungeheure Macht über die Gewissen, die ihm damit zufiel, elastisch gehandhabt. Er hat den Zwang angenehm gemacht und die Furcht mit Hoffnungen und Möglichkeiten versehen. Er konnte es in der Theorie und in der Praxis. Aus der Philosophie her, die er immer noch als die Dienstmagd der Theologie ansah, lockerte er die Allmacht der Sünde gewaltig auf. Sünde ist nur da gegeben, wird gelehrt, wo einer die Gebote Gottes mit freiem Willen und mit freier Einsicht verletzen will. Die Tat an sich ist indifferent, wenn sie nur nicht als sündige Tat gewollt ist. In dieser Idee ist der Katholizismus und sein Repräsentant, der Jesuit, Nachfolger 72 und Nutznießer der Lehre des Aristoteles. Er war es, der gegenüber der Lehre des Plato den großen Fortschritt der Denksystematik und zugleich den Rückschritt der enthusiastischen Gläubigkeit vornahm. Platos Prinzip war ein metaphysisches Postulat, das des Aristoteles das gesicherte Resultat einer Wissenschaft. Im Gottesbegriff der katholischen Kirche hat es seine Realisierung gefunden. Aristoteles wollte nicht, wie Plato, begreifen, daß alles Ethos seinen Ursprung im Göttlichen habe und folglich auch sein Ziel, als ideale Forderung, im Transzendenten liege. In ihm feiert vielmehr der Glaube des Griechen an die Weltlichkeit, der Glaube an die Meßbarkeit und Wägbarkeit alles Tuns und der Glaube an die Zeit in ihrer zentralen Bedeutung als Gegenwart seinen Triumph. Darum muß bei ihm die Ethik in die Region des Intellekts und der klaren Willensentscheidung gerückt werden, und nur dorthin. Das Gewissen wird eine Angelegenheit des Gehirns.
Was aber ist willfähriger als der Intellekt, und wozu ließe er sich nicht mißbrauchen? Er dient vor allem dazu, dem drängenden Gefühl für die Unbegrenztheit sittlicher Verpflichtungen eine Grenze aus der Vernunft und der Zweckdienlichkeit zu setzen. Von solchen Spekulationen des Intellekts her wird jetzt das Tun, das gute und das böse, aus dem Zusammenhang mit dem lebendigen religiösen Gefühl gerissen und isoliert dargestellt, als Handlung gerade dieses Menschen, mit gerade diesen Belastungen aus seiner Natur und aus den Umständen, und sogar mit seinen bestimmten gesellschaftlichen Voraussetzungen; ein Verfahren, das der Rechtfertigung vor der Gesellschaft und dem Gesetz und dem Arzt dienen kann, aber nie der Rechtfertigung vor dem Gott im 73 Menschen. Zwar droht allen Sündern gleichermaßen die Verdammnis, die Hölle, das Fegefeuer, aber die gleiche Tat bekommt ungleiche Wertung. Man kann jetzt eine Tat wollen, ohne sie als böse Tat zu wollen. Man darf seinem Gegner den Tod wünschen; aber man darf es nicht aus Haß tun, sondern um sich vor Schaden zu bewahren. Man darf – zwar nicht als Bürger, aber als Edelmann – einen Menschen im Zweikampf töten, wenn man sich durch Ablehnung des Kampfes der Verachtung seiner Kaste aussetzen würde. Man sündigt nicht mehr, wenn böse Beispiele, eingewurzelte Gewohnheit und heftige Leidenschaft die Tat bestimmt haben. Der falsche Eid, der nur mit Worten gesprochen, aber innerlich nicht gewollt ist, stellt keine Sünde dar. Man darf, um sich vor Schaden zu bewahren, zweideutig reden. Man darf, je weniger man bei seiner Tat an Gott denkt, um so sicherer auf Verzeihung hoffen.
Diese Beispiele sind an sich nur Belege für die Lehren der Moralkasuistik, wie sie unter den Begriffen der Absichtslenkung, des geheimen Vorbehalts und der Amphibologie bekannt sind. Wesentlich und untereinander zusammenhängend werden sie erst durch die Erkenntnis, daß hier ganz offenbar eine strikte Norm sittlichen Handelns überhaupt nicht mehr besteht, daß ein sittliches Gefüge sich aufgelöst hat in »Gewissensfälle«, daß es kein irgendwo verankertes Postulat mehr gibt, sondern eine Opportunität von Fall zu Fall. Die Schwäche des Menschen ist nicht mehr ein steter Anlaß, die Überwindung der Schwäche zu erkämpfen, sondern gerade diese Schwäche wird der gegebene Maßstab der Wertung. An die Stelle des sittlichen Imperativs tritt die Dialektik. Religiöses Verhalten ist nicht mehr die auflockernde 74 Erschütterung, die zwischen Bemühen und Versagen liegt, sondern ein Hazardspiel, in dem der Gewinn durch eine kasuistische Regel erschlichen wird. Der Einsatz ist die Furcht, nicht mehr die Persönlichkeit.
Mit Recht durfte die jesuitische Welt sich rühmen, den Weg zum Heil erleichtert zu haben. Sie hatte es in der Hand, aus einer Totsünde eine läßliche Sünde zu machen. Sie zog die Menschen, so weit sie sie erreichen konnte, zwar mit aller Macht in den Beichtstuhl, aber sie ließ ihnen dabei das Bewußtsein der milden Behandlung. Jeder, wenn er nur kam und wenn er nur rückhaltlos bekannte, durfte der Absolvierung gewiß sein. Was sie an Gesinnung untergrub, gewann sie am Interesse des Menschen, vor der Verdammnis gerettet zu werden. Um was sie die Welt an Irrationalem ärmer machte, bereicherte sie das »Fähnlein Christi« an realer Macht. Vom tiefsten Grunde her ward so eine Welt verriegelt und gesichert.
Doch daß es eine Welt mit Riegeln und Sicherungen war, machte das Verharren in ihr für den von innen her bewegten Menschen gefährlich. Was hier an Ordnung und Regel, an Disziplinierung und Zielsetzung gegeben war, hatte unmittelbar nichts mehr mit Religion zu tun. Aber da es Religion zu sein vorgab, mußte der wahrhaft religiöse Mensch daran zerbrechen, wenn es ihm nicht gelang, diese Welt selbst zu zerbrechen. Es ist eine Frage des verweigerten oder des gewährten religiösen Schicksals.