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Thomas Zweifler

Unbeschadet seines ominösen Vor- und Zunamens war er gleichwohl der Sohn eines streng orthodoxen Missionars. Seine Wiege, wenn man eine Bastmatte so nennen will, stand in den sumpfigen Lagunen, die sich längs der afrikanischen Gold- und Elfenbeinküste in erschreckender Langeweile hinziehen. Die weise Frau, die unserm Thomas das Herauskriechen aus dem Dunkeln in die Helle der Tropensonne erleichterte, stand im Geruche großer Heiligkeit, verbunden mit dem Ruf, daß ihrem Geiste die fernste Ferne in Ort und Zeit erreichbar sei. Sie hatte ein Bauchgrimmen im Innern der Mutter Erde vorausgesagt, und richtig, zehn Jahre später erlebte die Menschheit das Erdbeben von St. Franzisko. Sie hatte von dem Absturz eines Drachen aus dem blauen Äther geträumt, und gleich am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts krachte der älteste Fürstenthron der Welt zusammen und der bezopfte Chinesenkaiser aus dem erlauchten Hause der Mandschu lag entthront am Boden.

Wer wird sich wundern wollen, daß man einer solchen Sibylle glaubte, als sie dem eingeborenen Missionarssohn das Horoskop stellte und weissagte, er werde zwischen den Zähnen eines Krokodils enden, zumal diese Art von Bestattung in der dortigen Gegend keine Seltenheit ist. Ins Röhricht und Schilf der Sümpfe hinein pflegen die Saurier ihre Nester zu bauen, und Thomas wäre nicht der erste Knabe gewesen, der beim Geschäft des Eiersuchens von solch einem Ungetüm überrascht und mit Haut und Haaren aufgefressen worden wäre.

Bevor es übrigens noch ganz so weit kam, traten andere Lebewesen auf, die den Thomas Zweifler für sich beanspruchten und damit die Weissagung der erleuchteten Hebamme zuschanden machen konnten. Diese Neidhammel waren kleine, fast nur aus Rüsseln bestehende Geschöpfe, singende Unholde, die dem Erwachsenen den Schlaf hinmorden und dem Kinde das Blut aus den Adern saugen. Moskitos heißt man sie und tut ihnen damit noch eine Gefälligkeit. Man sollte sie Herodiaten nennen, denn sie haben mehr Kinderleben auf dem Gewissen als weiland der Beherrscher von Samaria und Idumäa. Um es kurz zu machen, die Mordgesellen waren über die weiße Haut des kleinen Zweifler hergefallen und hatten ihre verteufelten Impflanzetten in das zarte Gewebe des kindlichen Kaukasierfelles hineingetrieben. An tausend Stellen der Haut entstanden rote Tüpfel, so daß Thomas aussah wie eine Schwarzwaldforelle. Da seine Glieder immer schlaffer und runzeliger wurden, fing es der Hebamme an, für den Wert ihrer Weissagung bange zu werden. Ein vorzeitiger Tod des Kindes mußte sie diskreditieren. Zeit zu gewinnen suchen, das war's, was Schlauheit und eigener Vorteil ihr anrieten. Ihre unmaßgebliche Ansicht den verehrlichen Eltern gegenüber war es denn, daß man das Kind nach Europa bringen müsse, wenn man es für seine endgültige Bestimmung konservieren wolle. Da kein Kinderarzt aufzutreiben war, der aus Geschäftsneid das Gegenteil behauptete, so behielt die Hellseherin recht, und die verehrlichen Schöpfer des Thomas Zweifler entschlossen sich zu einer vorübergehend gedachten Trennung von ihrem Werk.

Der Vater Zweifler, um die Wirklichkeit seiner Reise schon durch eine Gewandung zu betonen, setzte einen steifen Rundkopffilzhut auf, zog einen schwarzen Überzieher an und legte sich längelangs zwischen schwarze Ruderer in ein Kanu hinein. Die seetüchtigen Kruneger stachen nach dem Takte eines monotonen Singsangs ins Wasser der Sümpfe hinein, und fort ging es im Grabgeruch der Lagunenluft ans Gestade von Kotonu hinüber. Wie hergezaubert wiegte sich in vollem Schmuck aller seiner geblähten Segel ein Dreimaster vor dem kilometerlangen Eisensteg der flachen Küste. Vater Zweifler unterhandelte in plattdeutschem Idiom mit dem stoppelbärtigen Kapitän, der eine kleine Tonpfeife in seinem Räubergesicht stecken hatte, und erfuhr: »Datt det Schepp in vier Tagen mit der Bestimmung Kuxhaven in See stechen werde.«

Ehe diese Zeit noch ganz verstrichen war, sah man den Vater Zweifler mit einem Kind auf dem Arm und einer Ziege am Strick über den Landungssteg schreiten. Daß man für den geißbeinigen Passagier die Überfahrtsgebühr nicht scheute, geschah auf Anraten der Hebamme hin, die natürlich alles Interesse daran hatte, anderer Leute Geld zu verschwenden, um den Glorienschein des Prophetentums jetzt und in Zukunft über sich leuchten zu lassen.

Der Hund, der zu jedem Segelschiff gehört wie der Henkel an die Tasse, protestierte eine kleine Weile gegen die befremdliche Anwesenheit des Missionars, suchte sich aber, als dieser von Bord gegangen war, sehr rasch mit der Ziege und dem Kind auf einen vertraulichen Fuß zu stellen. Während er die ungewohnten Mitreisenden noch von allen Seiten benasenscheinigte, wurde er durch ein unbändiges Lachen, das rauh und mißtönig die Luft durchsägte, in seinem Forschereifer unterbrochen.

Was war geschehen? Was war geschehen? Nun etwas, was – von einem Missionar abgesehen – ein jeder andere Sterbliche voraussehen konnte. Ein scharfer Windstoß, der über die unendliche Fläche des tropenwarmen Ozeans nach den kühleren Bergen hinstrich, war dem Gottesmanne unter die Hutkrempe gefahren und wälzte nun die feierliche Kopfbedeckung vor dem Kulturträger her über den Laufsteg hin dem Lande zu. Ob der Hutlose sich selber mit Gottes Hilfe sein Eigentum wieder einholen konnte, durfte nicht abgewartet werden. Das Schiff mußte offene See erreicht haben, ehe am Steuerbord das Land verschwand und vor der Backbordseite die Sonne hinter der Kimme ins Meer ging. Während nun ein buhlender Monsun die Segel schwängerte und das Schiff auf die hohe See hinaustrieb, machten die Matrosen unter sich aus, wer in den folgenden Wochen die Geiß zu melken, und wer das Kind zu füttern habe.

Der Mond kam und versilberte mit weißem Glast das Takel- und Segelwerk. Wie die Taube vor dem Habicht, flog das Schiff in den folgenden Stunden vor dem Winde her. Die Bemannung hatte nichts zu tun. Das Sägen und Hämmern, das sich hören ließ, hatte mit der Nautik nichts zu schaffen, eher mit dem Zimmermannsgewerbe. Und in der Tat, ehe noch der zweite Matrose die erste Wache am Ausguck ablöste, stand neben der Hundshütte ein Ziegenstall, in dem die Nährmutter vom jungen Zweifler die milde Nacht ihrer sommerhellen Seereise verträumte, während ihr schlummerndes Ziehkind in einer Hängematte von der Decke des Obermatrosen niederpendelte.

Am nächsten Morgen, als vom afrikanischen Festlande schon nicht mehr die Spur zu sehen war, wurde Nereus der Schiffshund durch ein ungewohntes Rauschen aus dem Schlafe geweckt. Er schlug die Augen auf und gewahrte, wie der Segelflicker neben der Ziege saß und aus deren Euter eine weiße Flüssigkeit in einen Eimer preßte.

»Sollte das Milch sein?« dachte er bei sich, »ei, dann hätten ja die Menschen sich zum Transport dieser leckeren Flüssigkeit ein bequemes Gefäß auf vier magere Beine gestellt. Wenn das Ding keine Hörner hätte, wäre es gewiß nicht unrentabel, wenn man sich mit ihm auf einen vertraulichen Fuß stellte.«

So dachte er und blinzelte schlaftrunken, zuweilen wie ein richtiger Spion, zwischen den zitternden Augenlidern hindurch und gewahrte, wie der kleine Thomas Zweifler aus der Kombüse gekrochen kam und einen Holznapf ausleckte, den der Segelflicker offenbar für den Knaben zurechtgestellt hatte. Durch diese schlichte Beobachtung hatte das Patenkind des Meergottes mehr gelernt als mancher, der zu Pobelsdorf drei Semester lang vor dem Katheder eines Landwirtschaftslehrers gesessen hat. Für den Hundediplomaten kam's nun vor allem noch darauf an, daß er mit dem wandernden Milchreservoir in handelspolitischen Kontakt kam.

Als der Segelflicker den Ziegenstall gereinigt und das Deck verlassen hatte, kroch Nereus aus seiner Hütte hervor, leckte dem Knaben die weißen Überreste seines Frühstücks von den Backen herunter und näherte sich mit einem tiefen Bückling, wohlverstanden nachdem seine Zunge ihn belehrt hatte, daß die Augen ihm kein Trugbild vormachten, der Milchfabrik. Die Ziege ihrerseits nahm das hündische Kompliment mit einer großartigen Erhebung auf die Hinterbeine entgegen, neigte den Kopf nach unten und tat so, als ob sie nicht übel Lust hätte, den Bettelbuben auf die Hörner zu nehmen und seinem Namensvetter entgegenzuwerfen, der das Schiff mit lebendem und totem Inventar auf seinem Rücken trug.

Da sich die Hochwohlgehörnte aber vornehm hütete, den Vertreter einer anderen vierfüßigen Großmacht auch nur im geringsten zu brüskieren, so stellte sich zur Freude des einzigen Zuschauers zwischen Hund und Ziege ein vertrauliches Verhältnis her, das dem einen Teil erlaubte, ein Geißenohr abzuschlecken, während es dem andern gestattete, das Hundebiest mit der harten Stirne wider eine Schiffswand zu drücken, so nachhaltig, daß man die Rippen krachen hörte. Da die beiden Vierbeiner den Himmel und andere Vorgesetzte für ihre Leibesnahrung sorgen ließen, so hatten sie Zeit, ihre Vorstellungen beliebig oft zu wiederholen. Ohne gerade an eine bestimmte Stunde den Anfang des Schauspiels zu binden, taten sie es an stillen Abenden, wenn die Mannschaft rauchend an Deck saß und der Wind mit sanftem Druck das gediegene Schiff wie über eine geölte Glasplatte schob. Viel sprang für die beiden Schauspieler freilich nicht heraus. Eine Gelberübe aus der Küche oder ein Wurstzipfel aus der Rauchkammer war das magere Honorar, mit dem die Künstler sich begnügen mußten, wenn sie nicht das Gelächter und den lauten Beifall diskontieren wollten, der sich erhob, wenn der Hund im Eifer seiner Verfolgung die Ziege am Schwanz gepackt hatte und diese aus dem namenlosen Verdauungsschlauch einige Pillen verlor.

Bei ruhiger See und vortrefflichem Gesundheitszustande an Bord näherte sich das Schiff bereits den Kapverdischen Inseln. Da kam der Harmadan aus der Sahara herausgefegt und legte sich dem Schiff mit rohem Druck auf die Steuerbordseite. Alle Linien wurden aus ihrer Richtung gedrängt. Was lotrecht war, wurde schräg, und das Horizontale vertikal. Tagelang hing die Reeling auf der Backbordseite nach linkshin über, und ihre Bekrönung, statt ein bequemer Pfad zu sein, wurde eine Kante, kaum breiter als ein Messerrücken.

Mit diesem Umschwung der Verhältnisse hatte der verwegene Leichtsinn der Ziege nicht gerechnet, und als sie wieder einmal von Nereus verfolgt sich aufs Geländer rettete, glitt sie aus und fiel ins Meer hinunter. Was half's, daß der Hund laut aufheulte und seiner Gespielin nachsah ins gurgelnde Kielwasser? Sein tränendes Auge konnte nur konstatieren, daß die vielbewunderte Artistin zwischen den glatten Leibern ölglänzender Haifische verschwunden war.

Allgemeine Trauer herrschte auf dem Segler, und es fehlte nicht viel, und man hätte am Fockmast die Flagge und die Toppe gezogen. Jedem der einsamen Menschen war mit dem Verlust des munteren Tieres etwas abhanden gekommen, am meisten dem kleinen Thomas. Als ihm die Milch fehlte, schrumpfte er wie eine überreife Gurke in der sandigheißen Harmadanatmosphäre zusammen. Es half nichts, daß die Matrosen aus Wasser und altersgrauem Schiffszwieback einen Brei zusammenrührten und damit seinen Magen stopften. Er wurde dünner und dünner und erst recht dünn, als man ihn mit dem stärkenden Kindermehl fütterte. In den Wochen, die man zwischen dem Kap Spartel und de la Roca schaukelte, schien er dem Tode geweiht und die Weissagung der geburtshelfenden Sibylle war zur krassesten Unwahrscheinlichkeit geworden.

Indes, noch war's nicht aller Tage Abend. Das Kap St. Vincent kam in Sicht, und das Gelb des Tajowassers befleckte das edle Meergrün des atlantischen Ozeans. Das Schiff nahm östlichen Kurs, hatte bald von rechts und links Land an seiner Seite und machte fest an den Kaimauern von Lissabon. Hier hatte man Kaufmannsgüter auszuladen, und mit diesen beförderte man auch den kleinen Rekruten ans Land und in eine fromme Heilsarmee hinein, die ihn zunächst einmal herausfütterte. Als er so weit war, daß er ohne Gefahr für die Polstersitze eines Eisenbahnwagens weiterbefördert werden konnte, machte er die Landreise durch die Pyrenäen, durch Frankreich und einen Teil von Deutschland nach einer Missionarbildungsanstalt in der Schweiz. Im genannten Institut legte er den üblichen Weg vom Kindchesbrei durch die Lebertranstube bis zum Sauerkrautsaale und dem Kommißbrotzimmer zurück. Nebenher erfuhr er, in wieviel Tagen Gott die Welt erschaffen habe, wie die Menschen sich selber um den Besitz des Paradieses brachten und mit welchem Instrumente Kain seinen Bruder Abel erschlagen habe. Ob die Erzväter Noah und Abraham nach des Zöglings Geschmack waren oder nicht, darnach wurde nicht gefragt; sie mußten geschluckt und verdaut werden, wie seinerzeit der Lebertran. Und warum auch hätte man ihn mit einer Extrawurst traktieren sollen? Er war als der Sohn eines armen Missionars aufgenommen worden und genoß in der Annahme, daß er dereinst in den Dienst der Heidenbekehrung treten werde, freie Station und die zweckdienliche Erziehung. Da er neben der Gottesgelehrtheit her, um den Lebenswandel der Menschen verbessern zu können, das Schuhmacherhandwerk erlernen mußte, so war er allgemach an die fünfundzwanzig Jahre alt geworden, als er mit einer Bibel im Koffer, einer Schusterahle in der Tasche und einem Regenschirm unterm Arm zu Hamburg über den Rödingsmarkt ging, um sich nach der Goldküste einzuschiffen. Er traf an Bord des netten Woermanndampfers eine Anzahl gleichgesinnter Heidenbekehrer, die für die Firma Luther aus Wittenberg reisten und die ihn mit ernstem Nachdruck vor den Stiefbrüdern warnten, die in langen Soutanen im Salon auf- und abliefen und ihr Tagespensum Brevier mit bebenden Lippen herunterbeteten. Unnötig, daß seine protestantischen Amtsbrüder den Thomas vor den katholischen behüten wollten. Diese selber trennten sich mit vorsichtiger Zurückhaltung von jenen, indem sie sich ihre keineswegs frugalen Mahlzeiten an einem separaten Tische servieren ließen. Als nun gar in Southampton noch die Abgesandten der anglikanischen Kirche hinzukamen, waren drei einander vermeidende Gruppen da, die ihr dreifach anders gefärbtes Christentum dem verblendeten Heidentum zu gefälliger Auswahl anboten.

Unser Freund hätte nicht Zweifler heißen und nebenbei das sein müssen, was sein Name sagte, wenn dieses Potpourri von Religionen ihm melodisch in die Ohren hätte klingen sollen. Aber ein Zurück gab es nun nicht mehr, denn schon schwamm der Dampfer vor den steilen Klippen der Needles her. Dann aber wollte der junge Glaubensbote sich nicht in den Geruch der Feigheit bringen lassen, schon deshalb eben nicht, weil es der Missionsanstalt bekannt geworden war, welch ein übles Ende dem Springinsfeld bei seinem Eintritt ins Leben vorausgesagt worden war. Nein, jenes Sterben zwischen den Krokodilkiefern hatte für den Glaubenseiferer eher etwas Anziehendes, statt Abstoßendes, vermag doch die Märtyrerkrone nicht weniger ihre Helden zu erschaffen als etwa die Tapferkeitsmedaille oder der persische Kamelorden.

Das erste, was dem Zugereisten an der Elfenbeinküste entgegengebracht wurde, war der Lagunengeruch, ein Mixtum compositum aus fauligen Fischen und verwesendem Seegras. Was sich in dieser Atmosphäre fliegend und summend herumtrieb, waren immer noch die Nachkommen jener Moskitos, die vor einem Vierteljahrhundert ungefähr den Thomas Zweifler aus dem Lande getrieben hatten. Auch die langen Alligatorenköpfe mit den rollenden Stielaugen sah man noch wie verwesendes Holz auf dem trüben Wasser schwimmen. Aber Kultur und Christentum hatten offenbar in fünfundzwanzig Jahren einige Fortschritte gemacht. Man begriff von seiten der Eingeborenen, daß es unziemlich wäre, ganz so wie der Urvater Adam herumzulaufen. Etwas wie die Anfänge von Schamgefühl machte sich bemerkbar, und deshalb hatte der oder jener eine von einem Europäer weggeworfene Krawatte sich feinfühlig um den Hals oder sonstwohin gebunden. Auch englische Worte hatte man sich angeeignet, so viele zum mindesten, als man brauchte, um den Europäer beim Verkauf von Landeserzeugnissen zu beschummeln. Mit einem klaren Blick für menschliche Schwachheiten ausgestattet, erkannte Thomas alsbald, daß Christentum, Islam oder auch Buddhismus hier nur die Blendscheibe sein konnte, durch die das menschliche Allzumenschliche jederzeit hindurchschimmern würde.

Seine Eltern erkannte der Frühgeschiedene nur am Namen und die alte Sibylle daran wieder, daß sie noch immer mit Wahrsagen beschäftigt war. Was einst der greise Simon im Tempel zu Jerusalem zum Heiland gesagt hatte, nämlich, daß er nun gerne sterben wolle, das sagte sie auch mit dem frommen Nebengedanken, wenn sie erst erlebt, das ihr Orakel sich erfüllt und Thomas zwischen den Alligatorzähnen geendet habe. Natürlich war es, daß der alte Missionar und seine Gattin sich nach dem Schicksal der Ziege erkundigten, die seinerzeit zur Ernährung des Säuglings mit auf die Reise gegeben worden war. Der Sohn berichtete getreulich die Geschichte ihres tragischen Endes, so wie sie von Lissabon aus nach der Krischona berichtet worden war, und vergaß auch nicht zu bemerken, daß Nereus bei einer Schlittenreise nach Grönland von den Eisbären gefressen worden sei.

»Ach ja,« unterbrach an dieser Stelle der Erzählung die Wahrsagerin, »nicht jeder darf für sich eine Stelle auf dem Friedhof beanspruchen wollen. Einige von Gottes Ebenbildern müssen in einen Tiermagen verstaut die Reise nach dem Himmelreich machen.«

Als man sich gegenseitig über das Zurückliegende genügend ausgesprochen, und Zweifler senior erfahren hatte, wer jetzt die Krischona dirigiere, und was in Basel der Zentner Kohlen koste, kam man darauf zu sprechen, wo Thomas mit seinem Bekehrungswerk beginnen solle. Der Vater empfahl dem Sohne die Batangaküste als geeignetes Wirkungsfeld, weil man da unten erstens schon in Sandalen gehe zum Vorteil seiner Schusterkenntnisse und zweitens, weil er da einen Quackwuahäuptling kenne, der bereits auf einer hohen Stufe geistiger Entwicklung angekommen sei. Wer sich das Steinklopfen zum Lebensberuf erwählt habe, müsse nicht beim Granit anfangen. Zu leicht ermüde das schwache Fleisch bei allzuschwerer Arbeit und mangelndem Erfolg. Leichter als aus Marmor sei aus einem Bimssteinblock ein Bild herauszufeilen, und ein Schabeisen wiege kaum den zehnten Teil von einem Hammer. Sein Freund da unten heiße Marumpa Dell, könne lesen und wenn's sein müsse, sogar seinen Namen schreiben. Die flache Küste sei fruchtbar, der Boden ergiebig und die Menschenfresserei im Abnehmen. Unter dem Einfluß des Evangeliums habe sich der Geschmack der Bevölkerung geändert und mehr und mehr, als Zwischennahrung von Mensch und Rind, dem Affenfleisch zugewendet. Die bescheidene Anfrage, ob es da unten am Sanaga und Mungo Krokodile gäbe, konnte zur Befriedigung der Hebamme, die in erster Linie immer an ihr Orakel dachte, mit Ja beantwortet werden, und so war denn eigentlich schon niemand mehr da, der an der Batangaküste als Operationsfeld für den angehenden Missionar etwas auszusetzen hatte.

Als man sich über das Ziel im klaren war, war der Weg zu ihm hin bald gefunden. Thomas Zweifler überquerte die breite Deltamündung des Nigerstromes, schiffte zwischen Fernando Po und dem dicht bewaldeten Fuß des Kamerunberges hindurch und landete an der Batangaküste, wo er eine Niederlassungsstation der Missionsgesellschaft bereits vorfand. Die Brüder nahmen den Neuarbeiter im Weinberg des Herrn freundlich auf, bewirteten ihn gut und gaben ihm allerlei nützliche Anweisungen, wie er sich dem schlauen Marumpa Dell gegenüber bei einer demnächstigen Konfrontation zu benehmen habe.

Mit guten Lehren und Verhaltungsmaßregeln förmlich auswattiert, machte sich Thomas eines Tages auf den Weg ins Innere zu seiner unheimlichen Majestät, dem Menschenfresser. Er traf den dickbäuchigen Herrn mit königlicher Grandezza vor seiner Hütte sitzend, wie er eben seine Morgenpfeife rauchte. Sein Gesicht war unegal, um dem Menschenkenner anzudeuten, daß Seine Hoheit außer dem Rauchen auch noch dem Kauen zugetan sei. Marumpa Dell sah sich den Fremdling aus rotgebändelten Augen forschend an, schickte eine unbequeme Schildwache mit einem Speer an langer Bohnenstange hinweg und begann das Palaver mit folgender Anrede:

»Woher kommst du, Affengesicht, und wer hat dich geschickt, daß du vor mir Grimassen reißen sollst?«

In aller Demut, die man den Großen der Welt zu zeigen pflegt, wenn man etwas von ihnen erreichen will, antwortete Thomas:

»Ich komme vom alten Zweifler, der deine mächtige Freundschaft schätzt und mich deiner Gnade empfiehlt.«

»Was du nicht sagst, vom alten Zweifler? Bei meinem Bauch, ich kenne ihn wohl. Wo nistet sie jetzt, die Löffelgans mit dem Hängebeutel unterm Schnabel?«

»An der Elfenbeinküste bei den Krunegern, größter und tapferster aller Krieger.«

»Am Elfenbeingestade? Richtig, da gehört er hin, damit er den weißen Männern sagen kann, sie sollten keine schwarzen mehr fangen, um sie als Arbeitstiere auf den amerikanischen Märkten zu verkaufen.«

»Die das tun, sind nicht von meinem Volk. Portugiesen und Spanier nennt man sie, und sie haben mit uns nichts weiteres gemein, als nur die weiße Haut.«

»Und den lieben Herrgott,« bemerkte boshaft Marumpa Dell.

»Der sie für ihre Frevel strafen wird!«

»Hat er es dir versprochen? Woher nimmst du die Kunde? Bist du sein Abgesandter?«

»Als Priester allerdings bin ich der Vermittler zwischen dem großen Geiste und den Menschen.«

»Ihr wißt euch selber als seine Stellvertreter reichlich hoch zu schätzen. Nur gebt mir acht, daß nicht der Zwischenhandel den Geschäftsgewinn verschlingt. Im übrigen, was tust du hier? Willst du holen oder bringen?«

»Holen nichts, aber bringen, und zwar – schätze dich glücklich, großer Häuptling – die Kultur.«

»Kannst du sie aus der Rocktasche holen und mir vorzeigen, daß ich mir von Kultur ein Bild machen kann, wie von einer Nähmaschine?«

»Die kennst du also schon. Aber sie ist nur ein winziger Teil dessen, was man Kultur nennt, nicht das Ganze.«

»Ich verstehe wohl, nur der Haken an der Angelschnur. Auch ein Stecken gehört noch dazu, wenn man den Karpfen der schwarzen Rasse fangen will und ihre Arbeitskraft, ihre Herden und ihre Felder. Eure Brüder aus Amerika sind schlaue Leute. Wenn ihre Maschinen im Augenblick wie Geschenke erscheinen, so sind sie doch nur wie ein Seil, das man dem Elefanten um den Körper schlingt, um ihn in den Stall zu ziehen.«

»Du mußt doch zugeben, daß ein solches nähendes Ding aus Holz und Eisen eine nützliche Einrichtung ist.«

»Schon gut, aber was soll sie uns, die wir weder Rock noch Hosen tragen? Bringt sie denen, die der Herrgott so verunstaltet hat, daß sie ihre Körper gar nicht sehen lassen können! Im übrigen finde ich es begreiflich, wenn sich einer für ein Messer oder eine Speerspitze taufen läßt; aber für eine Uhr, sag, was soll unsereinem ein solches Ding? Kann ich sie im Maule mit herumtragen? Ja, wenn man noch ein Beuteltier wäre!«

»Wie Ihr doch kurzsichtig seid, Marumpa, dieses kleine, runde Ding zu verkennen. Es ist uns Kulturmenschen unentbehrlich geworden, als Regulator von all unserm Tun und Lassen.«

»Es soll bestehen. Ich laß es gelten. Wenn es nicht aufgezogen ist und still am Halse oder Knöchel einer Frau hängt, mag es ein harmloses Spielzeug sein. Sobald es aber tickt und auf dem Zifferblatt der Zeiger von einer Zahl zur andern springt, ist dies das grausamste Instrument, mit dem jemals die geplagte Menschheit gepeinigt wurde. Du lachst, du schüttelst den Kopf, du glaubst mir nicht? Geduld, ich werde meine Rede beweisen!«

Er spuckte einen Strahl blauer Tabaksbrühe genau ausgerechnet am rechten Ohr des Missionars vorbei und fuhr dann fort:

»Was nimmt sich dieses Ding aus Stahl und einem bißchen Silber heraus? Nichts ist so rechthaberisch, als wie seine Unscheinbarkeit. Auf seinen Befehl soll ich meinen Schlaf unterbrechen, wann er am holdesten meine Müdigkeit erquickt, meine Pfeife ausgehen lassen, wenn sie mir am besten schmeckt. Ja, verlangt die Unverschämte nicht, daß Mond und Sonne nach ihrem Gebot am Himmel erscheinen? Und wen zieht sie als Gerichtsvollzieher hinter sich her? Ein blutloses Gebilde, aus Holz und Lumpen hergestellt, den Kalender. Und dieser Tropf übernimmt die von der Uhr zum Tage aufgereihten Stunden und macht Wochen daraus, Monate und schließlich Jahre. Und von diesen Jahren nimmt ein buckliger Richter eine Anzahl in sein schmutziges Maul, nennt es Gerichtsbeschluß und schmiedet den Angeklagten ein halbes Leben lang an die Galeerenkette, verdammt ihn in die Nacht der Bergwerke hinein. Erschreckt nicht! Ein wenig haben wir auch den weißen Komödianten hinter die Kulisien geguckt! Ich war als Knabe mit dem Haussavolke von Karthago bis zum Kap der guten Hoffnung gezogen. Glaubt mir, die Uhr und der Kalender waren es, die den Menschen aus dem Paradies verbannten und nicht der liebe Gott. Doch seht, da kehren meine Weiber aus dem Maisfeld heim. Sie werden Hunger mitbringen und ein Mahl bereiten, bei dem ich nicht fehlen darf, wenn ich satt werden will. Ist es übrigens wahr, du Sohn meines weißen Freundes, daß der Europäer im Gesellschaftshause ißt und trinkt und nicht im Kreise seiner Frauen?«

»Gewiß, es kommt schon vor, daß der und jener sich der Häuslichkeit entzieht. Im übrigen hat man keine Frauen bei uns. Man begnügt sich mit dem Besitz von einer einzigen.«

»Und darauf tut Ihr Euch was zu gut als auf eine Kulturtat, und Ihr möchtet bei uns einbürgern, was bei Euch auch Sitte geworden ist? Aber bedenkt Ihr auch, daß wir der Fliegen wegen kein Rindvieh halten können? Wer soll das Feld bestellen, wenn wir uns keine Weiber hielten? Wer den Säuglingen die Milch liefern?«

»Wie schade,« bemerkte Thomas, »ich war gekommen, um von Gott mit Ihnen zu reden, die Zeit ist verstrichen, und wir sind aufs Rindvieh und die Weiber gekommen.«

»Ihr sollt mir Euern Herrgott ein andermal vorstellen, aber laßt ihn einen reichen Herrgott sein, einen solchen, der was zum Austeilen hat wenn er in Geberlaune ist, keinen armen. Kommt also einmal wieder, wenn's Euch paßt, und Euer Reden soll die Haare vor meiner Ohrmuschel kitzeln.«

Unter diesen Worten hatte der Batangafürst am Zeltpfosten seine Pfeife ausgeklopft und war im Dunkel der Bambushütte verschwunden. Thomas Zweifler war entlassen.

Während seines Ganges nach der Meeresküste zurück war eine seltsame Unruhe über den jungen Glaubenssendboten gekommen. Der Erfolg seiner ersten Proselytenreise erschien ihm kein bedeutender. Von einer Bekehrung konnte kaum halb die Rede sein, und die war am verkehrten Objekt geschehen. Der Heide hatte das Denken des Christen umgestimmt, statt umgekehrt. Doch Thomas tröstete sich damit, daß das Hauptthema kaum berührt, viel weniger noch gründlich behandelt oder gar erschöpft worden sei. Das erste Buch Mosis vor allem mit der Weltenschöpfung und dem Sündenfall, das war es, womit er dem ungeübten Denkvermögen des Wilden in die Parade fahren wollte.

Wie er so sinnend vor sich hinschritt, kreuzte eine Kette von Trägern, immer einer genau hinterm andern, des Grüblers Weg. Jede der Ebenholzgestalten hatte ein mannigfaltig geformtes Bündel auf dem Kopf und einen Blättervorhang um die Lenden. Hie und da hatte einer einen leibhaftigen Rosenkranz um den Knöchel oder auch um den Hals geschlungen. Thomas erkannte in dieser sinnlosen Verwendung der Gebetschnur nicht ohne eine geheime Schadenfreude die fruchtlose Bekehrungsarbeit seiner verehrten Stiefkollegen und sagte zu sich als einem klügeren Menschen: Nein, mit der Symbolik ist hier bei diesen Naturvölkern nichts zu beginnen. Wie die Kinder werden sie alles, was ihnen neu ist, zuerst nach dem Munde führen, um zu sehen, ob es genießbar ist oder nicht. Das Bekehrungswerk will anders angefaßt sein.

Der Geist ist es, der geweckt sein will, und das kritische Denken. Die letzten zwei Worte vor allem waren es, in die der Apostelfürst sich förmlich verliebt hatte. Er stolperte über eine Baumwurzel und verlor seinen Hut, aber »das kritische Denken« nicht. Er schlief auf der dünnen Phrase ein und kaute sie beim Frühstück des nächsten Tages seinen Amtsbrüdern vor. Einer von diesen, dem die Luft der Tübinger Philosophie vordem einmal um die Nase gepfiffen hatte, warnte den Neuling vor einer allzugroßen Zuversicht in seiner Überredungsgabe: »Dies Urvieh von einem Batangahäuptling«, behauptete er, »hat einen Bruder, der in Deutschland den Doktor juris gemacht hat und heute in Lagos einen Prozeß gewinnt gegen des Teufels Großmutter selbst, wenn ihr Satansenkel ihre Verteidigung führt.« Doch es half alles nichts. Thomas Zweifler studierte die Ansichten der Konzilien und der Kirchenväter über den Anfang der Menschheitsgeschichte, über das erste Paar und deren Sündenfall, um in aller Gründlichkeit aus diesen Vergangenheiten die unbedingte Notwendigkeit der Menschwerdung Gottes, seines Kreuzestodes und der Unentbehrlichkeit des Christentums zu erweisen.

Es kommt nicht darauf an, genau zu wissen, wieviel Monate Thomas brauchte, um für Hieb und Stich in dem zu erwartenden Glaubensturnier gewappnet und gepanzert zu sein. Genug, er selber glaubte an die Überlegenheit seiner Geisteswaffen und die Schlagkraft seines Europäertums, als er eines Tages durch den dunklen Urwaldschatten auf Marumpas verräucherten Königspalast zuschritt. Die Majestät saß hinter seiner nackten Schildwache auf einer Käsekiste und rauchte wie immer aus einer langen Tonpfeife.

»Ihr seht gut aus, großer Häuptling,« bemerkte Thomas, um überhaupt etwas zu sagen.

»Ich kann nicht klagen, mein Bauch hat zugenommen. Ihr könntet aus meiner Bauchbinde einen Sattelgurt für einen Elefanten machen. Menschenfleisch, ja Menschenfleisch, das füttert gut.«

»Ein Schrecken erfaßt mich. Ihr scherzt wohl nur, Marumpa?«

»Durchaus nicht. Wir verdanken euerm Eindringen diese schöne Errungenschaft. Seit hundert Jahren schon hatte die Menschenfresserei im Stamme aufgehört. Dann seid ihr gekommen, habt uns vom ergiebigen Boden in dürre, unfruchtbare Heide gedrängt, wo kein Schlachtvieh fortkommt, und die Menschenfresserei hat neu begonnen. Warum denkst du übrigens, daß ich den toten Feind den Würmern soll liegen lassen, wenn er mir eine gute Mahlzeit in den Kochtopf liefert?«

»Warum ich dies denke,« fuhr der entsetzte Missionar heraus, »weil so eine Tat dem Gefühl widerstreitet und dann zweitens dem Gebot des großen Geistes.«

»Wo hast du diese Weisheit her? Doch sicher nicht von dem Teil deiner Brüder, der mit Rosenkränzen unter uns sein Geschäft macht. Was wollen sie uns vortäuschen, was wir gegessen und getrunken hätten, wenn wir zum Abendmahl bei ihnen eingeladen waren?«

Thomas erschrak bis ins Mark seiner Knochen hinein, als er diese Bemerkung vernommen hatte, er fühlte, daß er unter allen Umständen das Weiterspinnen dieses Fadens vermeiden müsse, wenn er verhüten wollte, daß der Wilde daraus nicht einen Gedankenstrick drehte, an dem man das ganze Christentum in den Rauchfang hängen konnte. Er versuchte es, in das folgerichtige Denken des Naturkindes auf einem Seitenwege einen Tunnel zu graben, und begann so langsam auseinanderzusetzen, wie gut es der Schöpfer mit den Menschen gemeint habe, als er sie nach seinem Ebenbilde gemacht und ins Paradies versetzt habe.

»Nach seinem Ebenbilde? Nicht alle,« sagte Marumpa. »Ich habe sein Bild auf Papier gesehen. Er war weißhäutig. Warum sind wir ihm schwarz geraten?«

»Vielleicht weiß das niemand so genau,« versuchte Thomas auszuweichen. »Eines ist gewiß: Er war seinen Kindern gut und suchte sie glücklich zu machen und setzte sie in einen schönen Garten.«

»Und setzte sie in einen schönen Garten, um sie später hinauswerfen zu können. Warum tat er das?«

»Weil die Erschaffenen böse waren und des Schöpfers Gebot nicht beachteten, das da lautete: »Von allen Bäumen innerhalb des Zaunes dürft ihr die Früchte von den Zweigen essen, nur von dem einen nicht.« War er nicht berechtigt, soviel Folgsamkeit von seinen Geschöpfen zu fordern?«

»Das schon, aber es war nicht klug von ihm, diese Forderung aufzustellen, wo ihm doch als Allwissender bekannt sein mußte, daß sie nicht erfüllt werde.«

»Solch' ein Filou,« mußte Thomas denken; »wenn ich mit ihm bis zum Berge Sinai hindurch katechistert habe, wird er mir die Frage vorlegen: »Warum hat der Herrgott gar zehn Gebote gegeben, wo sich doch herausgestellt hat, daß die Menschen nicht einmal eines beachten?«

Er fühlte, daß er von dem Wilden in die Defensive gedrängt war und bemerkte aus Verlegenheit: »Daß der Erschaffene kein Recht habe, den Schöpfer nach den Gründen seines Handelns zu fragen.«

Auf diesen Einwand schien der schwarze Philosoph nur gewartet zu haben, denn er fuhr fort: »Was sagen, du Bibelgelehrter, euere Richter dazu, wenn ich meine Dunggrube offen stehen lasse und eines von meinen Kindern oder zwei fallen hinein und ersaufen. Kann ich mich darauf berufen, daß ich ihnen verboten hatte, sich dem Loche zu nähern? Wird nicht Mufti und Kadi in deiner Heimat sagen: »Du hast deinen Kindern die Gefahr aus dem Wege zu räumen, indem du die Grube mit dem Deckel schließest. Du bist strafbar und wirst eingesperrt.« Und nun überlege doch nur, daß ich im voraus gar nicht wissen konnte, wie die Geschichte endet. Hätte man mich nicht im Hanf eines Strickes ersticken lassen, wenn ich zugegeben hätte, den Unfall vorausgesehen zu haben, wie der Herrgott selber.«

Es ist immer heiß da drunten, zwei Breitegrade über dem Äquator, aber der junge Glaubensbote hat noch nie im Leben so geschwitzt wie dazumal. Er wünschte den Marumpa Dell zu seinem Bruder nach Lagos oder auch ans Reichsgericht nach Leipzig. Wie war er doch diesem geriebenen Waldteufel da gegenüber ins Hintertreffen geraten. Welche Gründe hatte er vorzubringen, wenn er den Weltenschöpfer reinwaschen oder nur auf Strafmilderung für ihn plädieren wollte? Er schürfte sich hinter den Ohren und förderte nichts Gescheites ans Tageslicht. Er rieb sich die Stirn und erdrückte nicht den Käfer zwischen den Gehirnwindungen.

Da fiel ihm ein, daß man keine Gründe braucht, wenn man den Knüppel zur Macht in seiner Faust schwingt, und er sagte zu seinem Gegenpart: »Ihr wollt den Allgewaltigen messen, wie der Schlächter die Wurst nach der Länge eines Daumens. Bedenkt, daß er doch die Gerechtigkeit selber ist.«

»Aber auch die unendliche Güte – wenn ich den Kapuziner-Graurock recht verstehe –, und doch hat er wegen der Kleinigkeit der Apfelnascherei die Weißhäutigen zur Hölle verdammt.«

»Euch Schwarze mit, denn alle Menschen haben zu leiden unter dem Fluch der Erbsünde, zum mindesten solange, bis sie sich durch die Taufe davon befreit haben.«

»Und dies Taufen und Befreien, ihr Missionare, ist euer Geschäft, und es ernährt euch besser, wie mich der Hirsebau. Aber was verschwendet ihr an uns Schwarze euer Wasser? Weiß bringt ihr uns im Leben nicht, und die Erbsünde sitzt nicht in unserer fetten Haut wie's Tätowierte. Was haben wir Wollhaarigen mit dem Sündenfall zu tun? Keiner von unserer Farbe hat im Garten Eden gewohnt. Und überhaupt, was ist denn durch dieses Apfelstehlen groß anders geworden?«

»Daß du nichts begreifen willst. Gott hat uns das Paradies genommen und uns den Tod gegeben.«

»Du reitest schneller als die Giraffe springt. Der Sensenmann kam doch erst, als Abel ging.«

»Und Kain, von der Erbsünde vergiftet, an ihm zum Brudermörder wurde.«

»Schon wieder bist du überm Ziel und nennst einen Menschen einen Mörder, der nichts getan hat, als einem andern einen Gegenstand auf den Kopf zu schlagen, ohne zu ahnen, was er anrichtet.«

»Daß mir ein Rechtsverdreher aus der Klemme helfe! Nun wird er nach dem Dolus fragen,« murmelte Thomas vor sich hin.

Marumpa hatte nicht auf sein Gegenüber geachtet und fuhr gelassen fort: »Wenn es vor dem toten Abel schon einmal einen Verstorbenen gegeben hätte, so wäre Abel um den Ruhm gekommen, der erste Ermordete zu sein, und Kain wäre wahrscheinlich kein Mörder geworden, denn er hätte die Folgen seines Schlages vorher berechnen können, so wie ich, wenn ich einer meiner Pfandweiber ein Bügeleisen auf den Kopf schlage. Vielleicht war dem Abel auch noch zu helfen, wenn ein Medizinmann da war, der sagen konnte, was sein Kaltsein und Stilleliegen zu bedeuten hatte. Soviel mir der Missionar erzählte, wußte selbst seine Mutter Eva übers Totsein keinen Bescheid.«

»Er wird immer tiefgründiger,« dachte Thomas. Nun fehlt nur noch, daß er die Eva schreien läßt:

»Zu Hilfe liebe Nachbarsleut!
Was ist denn unserm Abel heut?«

Aber er hatte in seinem Innern die Überzeugung, daß kein Anwalt den Kain geschickter verteidigen könne, als der Wilde, der ihm gegenübersaß. Aus Furcht davor, daß er noch selber ganz aus dem Polstersessel seiner seitherigen Weltanschauung herausgehoben werden könne, besann er sich auf einen Vorwand, wie er mit Schicklichkeit für heute das Palaver beenden könne, schwefelte einen Hottentottenüberfall an der Küste zusammen und verließ den allzuschlauen Marumpa Dell.

Derweilen Thomas nach der Küste ging, mußte er einen Bach mit einer halbfertigen Holzbrücke überschreiten. Einer der Männer, die da arbeiteten, erkannte aus des Wanderers Bratenrock heraus den Missionar und redete ihn solcherart an:

»Ihr wart ausgezogen, den Marumpa für das Christentum einzufangen. Wie weit hat er sich von Euch das Alte Testament entgegentragen lassen?«

»Nicht einmal ganz bis zum Noah hin. Ich glaube, ins Neue Testament ziehen diesen Ungläubigen alle Kirchenväter zusammen nicht,« entgegnete Thomas.

Einer der Brückenarbeiter fuhr lachend fort:

»Bringt ihn nach Rom und er bekehrt den Papst zum Heidentum und hängt die ganze weiße Menschheit an den Galgen, weil er nicht mit Unrecht sagen kann, daß sie es war, die den Heiland gekreuzigt hat.«

Ein anderer rief dazwischen: »Steckt das Bekehren auf und treibt ein ander Handwerk, wenn Ihr noch ein solches gelernt habt.«

Zwei Holzarbeiter, die einen Balken nach der Brücke trugen, machten spöttische Bemerkungen. Trotzdem beneidete sie Thomas darum, daß sie voraussichtlich nach wenig Tagen schon den Erfolg ihrer Arbeit erleben durften, während er in den Wind säte und keine Ernte keimte.

Er ging verdrießlich seine Straße. Ein fingerlanger schwarzer Wurm kroch mit seinen tausend Füßen eilig über den Pfad, offenbar weil er den harten Sohlen des unbekannten Wanderers nicht traute. Thomas versuchte es, sich ein Bild davon zu machen, was wohl geschehen wäre, wenn er mit nackten Füßen auf den hartschaligen Schleicher getreten wäre und kam zu der Überzeugung, daß das prosaische Geschäft des Schuhmachers unter Umständen für den Menschen eine gottesdienstliche Handlung bedeuten könne.

In der Station bei seinen Konfratres angekommen, suchte er nun Kneipe, Hammer und Kneifzange aus seinem Koffer hervor und hämmerte mit Inbrunst auf die Leisten nieder. Wenn die älteren Missionare im Feld oder wohl einmal auf einer Bekehrungsreise waren, erhob er sich nur selten stoßweise aus der hölzernen Schüssel seines Schusterstuhles, um durchs Fenster hinaus in den Palmenwipfeln dem Arbeiten der Webervögel zuzusehen oder dem flüchtigen Vorüberhuschen eines Kanus, das von nackten Eingeborenen gesteuert über die kämmenden Wogen der nahen Meeresbrandung huschte. Halbjährlich einmal kam wohl auch einer der Landeseingesessenen, der nach dem Sakrament der Taufe wie nach einer Rolle Kautabak verlangte. Aber es war zehn gegen eins zu wetten, daß er nach der heiligen Handlung einen Kaninchenbock gegen eine milchende Ziege oder eine Papageientaube gegen einen Emailtopf oder gar ein Grammophon einhandeln wollte. Thomas wurde mehr und mehr das, was sein Familiennamen besagte; und daß es auf Erden einmal einen Hirten, eine Herde und einen Schafstall geben könne, daran vermochte er schon lange nicht mehr zu glauben.

Nach und nach fühlte er sich auch von dem rein Mechanischen seiner Schuhmacherei abgestoßen. Sein Geist verlangte nach der Berührung mit andern Geistern, und dieses Sehnen artete in eine Art von Heimweh aus, das alle Gipfel seiner Juraberge vergoldete und alle Schwarzwaldtäler mit einem himmelblauen Veilchenduft erfüllte. Wenn er trotzdem noch Jahr und Tag in Afrika blieb, so glaubte er dies Opfer seinem Mannesstolz bringen zu müssen, damit man nicht hinter ihm hersagen könne, er sei den Gefahren dieses fernen Landes ausgewichen und sei geflohen vor der Möglichkeit, dort sterben zu müssen, wo ihn der Seherblick seiner prophetischen Amme weitschauend enden ließ.

Aber schließlich hatte doch die Scheidestunde geschlagen. Thomas hatte noch einen Abschiedsbesuch beim Grabe seiner Eltern in Dahome gemacht, seine Amme mit dem Versprechen getröstet, tun zu wollen, was er könne, um sie nicht in ihrem Prophetenrenommee zu schädigen, und war dann in einem ausgehöhlten Baumstamm an einen Wörmanndampfer herangeschaukelt.

Im Gegensatz zu seiner ersten Meeresreise fehlte es dem Thomas Zweifler diesmal an gar nichts. Kondensierte Milch war soviel vorhanden, daß man eine ganze Kinderschule damit hätte übersommern können, und die Fahrt ging diesmal auch überraschend schnell. Ehe noch die vier Wochenblätter aus dem Abreißkalender verschwunden waren, hörte der Heimgekehrte bei Tübingen den Neckar in seinen steinigen Ufern rauschen. Bebrillte Glattgesichter steckten die Nasen in des Heimgekehrten Papiere, fanden nichts Tadelnswertes darin verewigt und ließen wie die Torschreiber den Handwerksgenossen eintreten in die Glaubensburg der königlich württembergischen Zionswächter. Ins Triviale übersetzt: Thomas saß als Pastor in einem Dorfe der Rauhen Alb, konnte im Weinberg des Herrn seine Arbeit beginnen und heiraten, vorausgesetzt, daß sich eine fand, die den stark angejahrten Menschen mochte.

Da Thomas zum erstenmal predigte, war die weißgetünchte Dorfkirche zum bersten voll. Die fromme Gemeinde war gekommen, nicht um Gottes Wort zu hören, sondern um den Afrikaner zu sehen, den man sich mit etwas Menschenfleisch zwischen den Zähnen und kraushaarig, wie den hintersten von den heiligen drei Königen vorstellte. Als man daher an dem Gestell unterm Kanzeldeckel nichts Schwarzes sah als den Talar, war man enttäuscht, um so mehr, als man auch nichts anderes hörte, als die frohe Botschaft von dem abzutötenden Fleisch und einem Himmelreich, das den Armen ein Unterschlupf werden sollte, weil die Reichen von vornherein darauf verzichtet hatten. Und jeden Sonntag, mit dem das Kirchenjahr tiefer in die Zeit hineintrat, wurden die Stühle leerer. Wären die Schulkinder nicht gewesen und ab und zu um den Taufstein herum eine Menschengruppe, die in einem Kopfkissen steckend einen Neugeborenen brachten, Thomas hätte seine Kirche schließen und den Schlüssel verlieren können, ohne daß es einem Christen oder Heidenmenschen eingefallen wäre, ihn für den Verlust verantwortlich zu machen.

Daß zuweilen nach der Beerdigung eines Hieber ein Gruber oder Huber kam und sich die Adresse auf einen Soldatenbrief schreiben ließ, konnte schlechterdings als eine seelsorgerliche Tätigkeit nicht angesprochen werden. Hätte Thomas das benachbarte Dekanat und seine Ansichten über standesgemäße Beschäftigung nicht befürchten müssen, gerne wäre er wieder, aus langer Weile schon, zur Schusterahle zurückgekehrt und hätte den Leuten die Stiefel geflickt.

In jener Zeit unausstehlicher Faulenzerei und drohender Versimpelung kam Thomas Zweifler auf den Gedanken, zur Feder zu greifen, um einem größeren Publikum einen Teil seiner Erlebnisse auf dem Gebiete der Heidenbekehrung zum besten zu geben. Einen halben Hektoliter Rüböl hatte der Pastor verbrannt und fünf Krug Tinte verschmiert, als das Manuskript so weit gebracht war, daß es in einem Wäschekorb aus Weidengeflecht nach Ulm zu einem Verleger gebracht werden konnte.

Der Bücherschwabe, der ein knitzer Kerl und über vierzig Jahr alt war, riet von einer Veröffentlichung des Werkes ab. Alldieweil aber Thomas durchblicken ließ, daß er Geld habe und das Risiko tragen könne, begann er mit Fanatismus und gegossenen Typen zu drucken. Gegen den zweiten Adventssonntag erschien in den Schaufenstern das Buch, das manchem eine Christbaumüberraschung werden sollte, die größte aber seinem Verfasser selbst. Ihn erreichte nämlich am Bescherungsabend vom Kirchenregiment ein Brief, der in gebefroher Laune dem Dorfpastor mitteilte, daß er wegen Versuchs der Abgötterei abgesetzt, seiner bürgerlichen Existenzmittel verlustig und er damit zum Hungertod bei lebenslänglicher Schriftstellerei verurteilt sei.

Damit des Lesers Mitleidstränen keine Überschwemmung anrichten, sei noch erwähnt, daß die harte Strafe nicht ganz vollstreckbar gemacht werden konnte. Damit auch der Sibylle Weissagung sich erfüllte, war nämlich Thomas Zweifler bei der Lichtstadt Stutengarten von einem Neckarsulmer Krokodil, das statt der Krallen am Bauche Räder führte, verautomobilisiert worden.

 

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