Adam Karrillon
Im Lande unserer Urenkel
Adam Karrillon

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Viertes Kapitel

Vom Krabbenfluß bis Dahomé

Beim Erwachen des nächsten Morgens erkannte ich, daß die »Eleonore« im Fahren war. Das Stampfen der Kolben, das Knacken der Ankerkette machte sich bemerkbar, und ab und zu kamen auch die verwehten Töne eines Chorals bis in meine Gehörgänge. Ich war noch sehr müde und versuchte eben, noch einmal einzuschlafen, als sich die Vortüre meiner Doktorkabine teilte und meinen Famulus, den Schiffsbarbier Schneidig, einließ. Er setzte sich auf einen Klappstuhl vor mein Bett und machte ein Gesicht, als ob er schon seit Erschaffung der Welt der Generalpächter von allem Menschenjammer und Menschenelend wäre. Nach manchem stummen Seufzer öffneten sich endlich seine Lippen und ließen den folgenden Sermon hervor: »Schade, Doktor, daß Sie nicht da waren. Es hätte eine provokatorische Sekation gegeben über dem Kniegelenk, verstehn Sie mich, verstehn Sie mich wohl! Aber ohne Ihre gütige Abstinenz wollte ich doch nicht zur Amputation schreiten.«

»Was ist los, was ist vorgegangen und was schwätzen Sie da für einen Unsinn?« fuhr ich heraus.

»Unsinn,« gab er mit pikierter Betonung zurück, »geschwätzt wird keiner, aber vorgegangen ist er. Bei allen Erzengeln und Gipsengeln, man hätte ihn nicht 226 herüberschicken sollen nach Afrika, diesen Herrn, dem der Bauch wie ein Futtersack über die Schenkel hing. Sehen Sie, wie will ein Mann, dem die Beine bis zum Knie herunter zusammengewachsen sind, bei bewegter See aus einer Barkasse heraus an Land springen? Sie geben zu, das kann er nicht. Na also, er tut es doch, und die Folge davon ist eine eklatante Unvorsichtigkeit und davon die Konsequenz ein Beinbruch. Nun haben wir unter dem zu leiden, was in Berlin gefehlt worden ist. Man sollte uns keine dicken Männer herüberschicken. Oder kann ein solcher etwa in einem Kanu sitzen, oder über eine Kaktushecke springen? Das kann er nicht. Er kann sich nicht in die Verhältnisse schicken wie der Zwirn ins Nadelöhr. Wer in Europa einen Kakadu gefüttert hat, taugt noch lange nicht zum Afrikaner.«

»Aber,« fuhr ich zwischen das Gerede herein, »mein guter Herr Schneidig, nun sprechen Sie doch mal nicht immer in Rätseln. Ich bitte Sie, werden Sie doch einmal sachlich.«

»Ich sächlich werden? Werde mich hüten, Herr Doktor. Was könnten meine Hamburger Bräute mit mir anfangen, wenn ich sächlich wäre? So wenig, wie ich mit Herrn Bäumle aus Sachsen anzufangen wußte, der ein zu dickes Masculinum war. Ich habe sein corpus juris einfach nach Duala ins Spital bringen lassen und Ihren Kollegen dort gesagt, was Sie machen sollten.«

Jetzt nahm ich die Hand meines gelehrten Famulus, drückte sie mit kollegialer Innigkeit und sagte ungefähr 227 das Folgende: »Wenn ich Sie recht verstehe, so ist der dicke Herr, den wir mit von Hamburg da herübergenommen haben, damit er hier die Südbahn baue, beim Aussteigen aus der Barkasse zu kurz getreten, zurückgefallen und hat das Bein gebrochen?«

»Zweifellos, denn was sollte ein Mensch auch brechen, der aus nichts besteht als Fleisch und Bein. Fleisch ist zähe und bricht nicht. Bleibt also nur Bein.«

»Und man hat ihn ins Spital nach Duala gebracht?«

»Nicht man, sondern ich. Ich und nebenbei der Küchenchef. Doch sein Verdienst an der löblichen Tat ist nur gering. Wenn Sie seinen Kopf schon näher betrachtet haben, werden Sie zugeben, daß er keiner von den sieben Weltweisen ist. Er hat Kuttelfleck in der Hirnschale.«

»Ihr beide konntet aber doch den schweren Mann nicht tragen,« begann ich einzuwenden.

»Tragen, nein Tragen, das haben wir nicht gemacht. Hat ein Gentleman seine Schultern, um sie von einer Tragbahre wund drücken zu lassen? Wozu wäre denn das Schwarzwild da? Gott hat den Kerlen die Kraft des Lasttieres gegeben und uns die Peitsche, daß wir sie treiben. Unsere Schwarzen natürlich haben den Verunglückten getragen.«

»Und Ihr beide seit mitgewandert wie die Laus mit dem Handwerksburschen?«

»Nicht doch, Herr Doktor! Wie die Fahne vor dem Regiment, wie das Kreuz vor der Prozession. Wer den Eingeborenen zu imponieren versteht, nimmt ihnen 228 ohne Schwertstreich ihre Provinzen ab. Mutter Germania sollte das einsehen und ihre großen Männer respektieren.«

»Sie und den Garkoch?«

»Auch ihn, soweit man das Verdienst der Nullen ehrt, die hinter dem Einer stehen.«

»Nun gut,« sagte ich, »ich werde über Ihre Verdienste mit dem Kapitän reden. Im übrigen, verehrter Herr Schneidig, möchte ich noch ein wenig schlafen und möchte Sie deshalb gebeten haben, daß Sie sich zur Zeit der Sprechstunde der kranken Menschheit annehmen.«

Ich drehte mich in meinem Bette so, daß ich mit dem Gesichte nach der Wand sah, nahm den verunglückten Ingenieur noch in meine Träume mit hinüber und schlief bis gegen vier Uhr des Nachmittags. –

Als ich an Deck kam, schwamm die »Eleonore« inmitten eines goldenen Fluidums. Über uns, unter uns, rechts und links, vor und hinter uns war nichts als ein rotgelbes Flimmern, das die Abendsonne auf uns niederstreute, ohne daß sie selber sich auch nur blicken ließ. Vergebens strengte ich meine Augen an, um nach der weißen Dünung zu suchen, die uns nach meiner Schätzung ostwärts, entlang des Bimbiaflachlandes begleiten mußte. Alles war vergoldet. Nichts Weißes war zu sehen.

Während ich so dastand, war der Kapitän an mich herangetreten und klopfte mir auf die Schulter. »Merkwürdig,« sagte er, »wie doch die Engländer, sonst so nüchterne praktische Menschen, ihrer Sonntagsfeier zuliebe 229 die Menschheit aufhalten können. Wir könnten nämlich recht gut am Sonnabend schon vor der Barre von Lagos liegen, aber was nützt uns das? John Bull macht am Sabbat keinen Finger krumm. Die Magazine und Kontore sind geschlossen, wir können weder löschen noch laden. Sie werden bemerkt haben, wie unsere »Eleonore« bummelt. Wir machen keine zehn Knoten die Stunde, und sobald wir bei Kap Nachtigal ein wenig hinter den Wind kommen, werfen wir Anker. Wenn Sie an Land gehen wollen, gebe ich Ihnen einen Brief mit an einen Verwalter der Wörmannfaktorei, der da drüben in der Bucht wohnt, die man Kriegsschiffshafen genannt hat, weil einmal – nun weil einmal – zwei oder drei kleine Kreuzer gleichzeitig dort verankert lagen.«

»Sie kennen den Eifer meines Famulus, Herr Kapitän, und wissen, daß die Herde nicht verwaist ist, wenn ich auf einige Stunden abwesend bin. Ich gehe gern, da ich Ihnen außer dem Barbier auch noch Gottes Schutz und Segen zurück lassen kann«, sagte ich.

»Nehmen Sie beides mit. Sie können es selber brauchen,« entgegnete der Alte. »Vor der Bucht steht nämlich eine starke Brandung, deren Überwindung namentlich in der Abendbrise oft keine geringfügige Sache ist. Schätzen wir deshalb Ihr Leben so hoch wie möglich ein und fragen wir zuerst noch einmal bei dem Hetman der Kruneger an, wie der über die Brandung denkt.«

Der grauköpfige Zauberer ging gerade vorüber, und 230 der Kapitän legte ihm die Frage vor, ob es geraten sei, jetzt mit der Schute an Land zu gehen oder nicht.

»Massa, ich will den Fetisch fragen,« sagte der Hetman, und er ging und kam nach einiger Zeit mit einer alten Käsekiste wieder. Als ob sie das Venerabile selber wäre, stellte er sie ehrfurchtsvoll auf die hintere Luke, hob ihren Deckel auf und schaute einige Zeit in ihr mystisches Innere hinein. Zauberformeln und Gebete setzten seine gewaltige Unterlippe in lebhafte Tätigkeit, während die Furchen seiner Stirn sich beträchtlich vertieften.

»Massa,« verkündete er nach ernstem Nachdenken sein kurzes Gottesurteil: »Der Fetisch sagt nein.«

»Dein Fetisch ist ein Feigling,« entgegnete der Kapitän, »gib her, ich will es versuchen, ihm Kourage beizubringen,« und er ergriff den Kasten, zog ihn an sich 231 heran und ließ einen Taler hineinfallen. »So,« fuhr er fort, »nun frage nochmals dein Orakel!«

»Massa, der Fetisch sagt ja.«

»Sie sehen,« wandte sich der Kapitän an mich, »daß man wie einst in Delphi so auch heute noch die Stimme des Schicksals kaufen kann. Doch der Alte hat zuerst gewarnt, das gibt zu denken. Diese Halbaffen besitzen eine Art instinktives Vorempfinden für Wind und Wetterumschläge. Ich gebe Ihnen deshalb zehn Kruneger mit, die starke Arme haben und auf die Sie sich verlassen können. Ist die Sache damit abgemacht, und kann ich den Befehl geben, daß die Schute ausgeschwenkt wird?«

»Gewiß, Herr Kapitän.«

Damit trennten wir uns. Ich lief eilig nach meiner Kabine und stand nach einigen Griffen in meine Kommodeschublade reisefertig auf dem Achterdeck, wo die Schute an den Strängen der Davits langsam bis zur Reeling niederpendelte.

»Nur mal immer ran, festsitzen und sich bei Leibe nicht an der Steuerbordseite festhalten! Wenn ihr Schwerpunkt allzusehr überzuhängen anfängt, dann greifen Sie lieber nach der Bank, auf der Sie sitzen, unter keinen Umständen aber nach rechts herüber.« Das war der letzte Rat, den der zweite Offizier mir noch mitgab auf die Reise, bevor ich zu meinen zehn Schwarzen, die wie die Affen auf der Bordwand saßen, ins Boot stieg.

Die Seile streckten sich langsam von den 232 Flaschenzügen nieder nach der See. Die Schute schaukelte mit großem Radius hin und her. Schrumm, rammte sie wider den stählernen Bauch der »Eleonore«. Wehe den Fingern, die zwischen zwei so harte Gegenstände gekommen wären. Jetzt verstand ich erst die Warnung des zweiten Offiziers ganz und schrumpfte wie ein Häufchen Unglück mehr und mehr in mich zusammen. Je tiefer übrigens das Boot sank umso größer und allgewaltiger wurde der Rumpf der »Eleonore«. Wie ein Gebirge hing er schwarz und drohend über meinem Haupte. Seinen gigantischen Dimensionen gegenüber wurde unser Schifflein immer winziger, und als wir schließlich den Meeresspiegel erreicht hatten, wuselte es von den Wellen geschaukelt an der Eleonore herum wie die Kakerlake an einem Backofen.

Rasch hatten die Schwarzen die Schute von den Seilen der Davits losgebunden und stachen mit den Patteln in die See. Wir umfuhren in luftigem Wellentanze die Schiffsschraube. Einer feiernden Windmühle gleich ragten zwei ihrer Flügel aus dem Wasser hervor, starr und unbeweglich und gleichwohl nicht ohne Schauder anzusehen. Ein falsches Kommandowort von der Brücke nach dem Maschinenraum gegeben, würde genügen, und unser Fahrzeug, unsere Hoffnung, unser alles wäre zu einem Häuflein Zahnstocher zusammengeschlagen gewesen. Mir wurde es leichter ums Herz, als wir uns weiter und weiter von der unheimlichen Nähe der Schraube entfernten. Schon sind wir so weit abgerückt, daß wir den 233 Dampfer wieder in seiner Totalität überschauen können. Er verliert das Ungeheuerliche und wird wieder anziehend und schön. Tücher winken Abschiedsgrüße vom Verdeck herunter. Fernstecher verfolgen noch eine Zeit lang unseren Kampf mit den Wellen, dann hört jeder Kontakt des Kindes mit der Mutter auf.

Wir sehen die »Eleonore« nicht mehr und sie uns nicht; aber wir sehen ostwärts das schwarze Gebirge um das Kap Nachtigal herum und hören die donnernde Brandung, die vor Kriegsschiffshafen steht und auf uns lauert. Nicht lange mehr und in unser Gesichtsfeld rückt die weiße Spitzenkrause, die den Fuß des Gebirges umsäumt. Wiegender und wiegender wird unsere Fahrt auf und nieder zwischen Wellenberg und Wellental. Schärfer und gezackter werden die schäumenden Kämme. Schon laufen Spritzwogen über uns hinweg und schütten Salzfluten über uns aus. Klebriger und schmieriger wird alles, was um und an uns ist. Schärfer und härter wird die schwere Arbeit meiner nackten Bootsleute. Schweißtriefend stechen sie nach dem Takte einer monotonen Weise die Patteln in die See. Wir kommen dem Ufer nahe auf die Weite eines Flintenschusses. Umsonst war alle Arbeit. Vom Felsen abgeschlagen, kehrt die Woge zurück und nimmt uns auf ihrem Rücken wieder mit hinaus ins offene Meer. Schaumige Spritzer steigen hoch, holen über und stürzen sich klatschend in den Kahn. Schon bin ich ganz naß, und um meine Knöchel schwappt das Salzwasser. Da muß ich doch an den 234 Hetman der Kruneger denken und an seine prophetische Warnung. Daß doch auch unsereiner den Aberglauben nie ganz los wird!

So kämpfen wir nun schon seit einer, seit anderthalb Stunden und sind, in der Luftlinie gemessen, kaum mehr als fünf bis zehn Meter vorwärtsgekommen. Die Hoffnung sinkt. Schon ringe ich mit dem Gedanken, ob ich nicht den Schwarzen den Befehl geben sollte, zur »Eleonore« zurückzukehren, denn schon sinkt die Sonne und will uns im Dunkeln lassen. Da erheben die Wilden ein rauhes, ohrenzerreißendes Geschrei und umkrallen zitternd die Patteln. Hinter uns sehen sie von der Abendbrise getrieben eine breite, blaugrüne Woge heranrollen, mächtiger, rascher, ungestümer als all ihre Vorläuferinnen. Auf ihren Rücken hinauf zwingen stahlharte Arme unseren Kiel. In ihrem Sattel sitzend kann unsere Schute mit gewaltigem Schwunge über die Barre hinweg ins ruhige Wasser der Bucht hinübersetzen. Die Beine meiner Ruderknechte wurden zu Streben, die Rücken zu Pfosten, die Arme zu Riegeln, und wie sie so in langer Reihe hintereinander saßen in ihrer Ebenholzschwärze, glichen sie dem Fachwerk altfränkischer Bauernhäuser. Mit stählernen Muskeln zwingen sie die Ruder ins Wasser. Das Steuer zeigt den Weg. Es richtet der Kiel sich auf, als ob er in die Wolken hinein wolle. Ein Ruck noch, und wir sind über den toten Punkt hinüber. Das Bugspriet senkt sich. Wir schießen wie ein Torpedo in die glatte Fläche der Bucht hinein.

235 Nun klären sich die Gesichter meiner Schwarzen. Sie lachen, machen die Zeigefinger krumm, um die Pfriemchen aus den Backentaschen herauszuhäkeln und fangen an Schelmenlieder zu singen. Jetzt, nachdem alle Gefahr vorüber war, wurde es mir unter meinem Achilleusfell beträchtlich wohler, und ich fing an, die Bucht von Kriegsschiffshafen mit Behagen zu genießen. Von allen Seiten umrahmte der üppigste Pflanzenwuchs den ruhigen Wasserspiegel. Dichtes Buschwerk ließ die schweren Zweige überhängen und verkleidete die Grenze von Naß und Trocken. Palmen mit ungekämmtem Schopfe lehnten sich über das Unterholz hinüber, um sich an ihrem Spiegelbild zu erfreuen, das ihnen aus der klaren Flut entgegennickte. Hier und dort sah man einen blühenden Strauch von unbekannter Art wie einen brennenden Dornbusch durch die Waldesnacht herüberleuchten. Wohlgerüche waren durch die Luft hin verstreut, Auge und Nase durften sich freuen, während dem Ohre alles schlief. Kein Ton, kein Laut, nicht einmal die Welle wagte es zu murmeln, als wir in einen Miniaturhafen hineinfuhren und vor einer kräftigen Quadertreppe festmachten.

Ich trat ans Land und stieg die Stufen empor. Nicht lange, und ich stand auf einer Plattform, die sich über die felsige Steilküste hin ausbreitete. Wohlgepflegter Teppichrasen, blühende Rosenbosketts, Tamarindengebüsch und nickende Palmen, wohin das Auge sich auch wenden mochte, und dazwischen mit behäbiger Breite 236 ein Herrenhaus von feudalem Aussehen mit springenden Fontänen vor der Wasserfront.

Da ich auf der dem Meere zugekehrten Seite keinen Aufgang zur Veranda entdecken konnte, so bog ich um die Hausecke herum und kam in einen großen Hof, der von allerlei Getier belebt war, fast wie ein Viehmarkt. Auch eingeborene Dienerschaft, mit stupiden Gesichtern, lief da mit Schwein und Esel »umanand«. Da ich auf Fragen keine Antwort erwarten konnte, so vertraute ich mich einer breiten Granittreppe mit mächtigem Kettengeländer an, die nach der Veranda des Herrenhauses hinaufführte. Sie sollte mir den Weg zur Herrschaft zeigen. Da niemand da war, mich anzumelden, so drang ich kühn in das Innere des Hauses vor. Ich lief die Diele ab und stand vor der offenen Portiere eines Salons, der, wie es in den Tropen üblich ist, das Haus in seiner ganzen Breite durchschnitt. Da die korrespondierende Tür der Wasserfront offen stand, so bot sich mir ein überraschend schöner Ausblick über die waldumsäumte Bucht hinweg ins offene Meer hinaus, wo ganz, ganz hinten wie auf einem Gemälde von Achenbach mit kräuselndem Rauch über den Schornsteinen der »Eleonore« die Perspektive abschloß. Das Bild war derartig fesselnd, daß ich einen Herrn in leichtem Negligé, der arbeitend an einem Schreibtische im Gemache saß, gänzlich übersah und nur immer wieder mein staunendes Auge nach der entzückenden Ferne schweifen ließ. Meine Ekstase wurde schließlich durch einen Hund beendet, der 237 sich an mich heranschnupperte und mit indigniertem Knurren seinen Herrn auf mich aufmerksam machte.

Der Schreibende blickte sich um und fuhr in die Höhe. Dann legte er die Feder hinters Ohr und kam auf mich zu: »Ein Deutscher, nicht wahr?« redete er mich zuvorkommend an.

»Ja und einer, der einen Gruß und einen kleinen Auftrag vom Kapitän Triebe bringt,« war meine Gegenrede.

»Sie sind doch sicher ein Pfälzer,« bemerkte der Hausherr scharfsinnig, nachdem er die wenigen Worte aus meinem Munde vernommen hatte.

»Ich heiße Karrillon, um die Vorstellung perfekt zu machen, und bin aus Weinheim bei Heidelberg.«

»Wer dem Klang Ihres Namens traut, möchte wohl Ihre Heimat unter der Dachtraufe der Pyrenäen suchen. Aber sehen Sie, bei mir liegen die Dinge ähnlich. Ich heiße nämlich Refior und bin aus Nußloch, gerade so viele Kilometer südlich vom Neckarathen entfernt, wie Sie nordwärts wohnen,« bemerkte er belustigt.

»Also zwei Pfälzer Großmäuler. Wollen wir nicht Schmollis machen und einen Singverein gründen?« gab ich zurück.

»Beim großen Faß zu Heidelberg, das wollen wir, und gleich die Fahnenweihe halten.« Mit diesen Worten zog Herr Refior mich an der Hand hinter sich her in seinen Speisesaal hinein und drückte mich nieder in die schwellenden Polster einer Ottomane. Ein Diener kam 238 und pflanzte Rheinweinflaschen vor uns auf. Ha, wie er gut gekühlt durch die lechzende Kehle drang und die Pforten der Seele aufschloß! Tausend Dank sei dem Himmel dargebracht dafür, daß er uns den Wein gab, damit er die Menschenherzen einander näher bringe. Bald hatten wir beide in die Serie der Vertraulichkeiten uns so weit hineingeredet, daß ich mir erlauben durfte zu sagen: »Schade, Herr Refior, daß Sie so viel herrliche Bequemlichkeit, die Sie allerseits umgibt, allein genießen müssen, daß Sie dieselbe nicht mit einem Frauchen teilen können, etwa mit einem gesunden Weibe vom Stamme der Alemannen?«

Mein Wirt wurde nachdenklich und fragte dann mit einem Anflug von Verwegenheit: »Wüßten Sie mir eine, die es wagen würde, herüberzukommen?«

Der Wein hatte mein Gedächtnis wunderbar angeregt, so daß ich die heikle Frage nicht einmal mit meiner eigenen Weisheit zu beantworten brauchte, sondern mit pathetischen Gesten den Geist eines Dichters zu Hilfe rufen konnte:

»Willst du, so hol ich dir leicht von dem Kram
Frisch eine Ladung vom Norden herüber,
Rot wie die Rosen, wie Lämmer so zahm,
Mit Hüten vom größtem Kaliber.«

So schmetterte ich mit eindringlicher Betonung einen nach den Verhältnissen umgestalteten Teil der Frithjofssage hinaus in die weiche Abendluft und hoffte, daß 239 das Dichterwort nicht ohne Wirkung bleiben werde. Merkwürdigerweise blieb trotzdem Herr Refior kühl bis ans Herz hinan. Nicht nur hatte ich nicht vermocht, ihn für meinen Vorschlag zu begeistern, sondern er fing mit ruhiger Gelassenheit an, mich eines Besseren zu belehren, indem er die Unterhaltung derart fortsetzte: »Sehen Sie, verehrter Herr Landsmann, ich verkenne Ihre gute Absicht nicht, allein wenn das europäische Weib einen Mann zum Gatten nimmt, so braucht sie immerhin noch einige andere Männer um sich herum, um mit diesen ihren Gemahl bei aller Ehrbarkeit eifersüchtig machen zu können, und diese anderen fehlen hier. Denken Sie einmal darüber nach, ob ich nicht recht habe. Ob bei diesem Mangel eine Deutsche oder auch eine Französin hier glücklich sein könnte?«

Leider blieb mir keine Zeit, über das interessante Problem nachzudenken und eine Lösung des Knotens zu finden, denn es kam ein schwarzer Diener ins Zimmer, der die Lampe brachte und gleichzeitig die Nachricht, daß meine Kruneger mit der Schute zurückgekehrt seien. Zwei Stunden lang hatten die armen Schlucker draußen vor der Bucht gearbeitet, um über die Brandung hinüberzukommen zur »Eleonore«. Es war ihnen nicht gelungen. Ein starker Westwind war erwacht und trieb eine Sturzwelle nach der anderen aus dem Atlantik in die Bucht von Kriegsschiffshafen herein. Da hatten die wildverwegenen Männer ihr Vorhaben aufgegeben und waren zurückgekehrt mit der Bitte, daß ich nun über Nacht 240 für sie sorgen möchte. Das wäre für mich, der ich ja selber nichts hatte, wohin ich mein Haupt legen konnte, eine schwere Aufgabe geworden, wenn nicht Herr Refior für mich eingesprungen wäre. Er eilte zum Gong. Ein paar schwere Schläge auf dieses Instrument erschütterten die Luft und riefen den eingeborenen Küchenchef herbei.

»Wieviel Bootsleute haben Sie?« lautete eine kurze Frage an mich.

»Es sind deren zehn.«

»Zehn Pfund Reis und zehn Pfund getrocknete Fische geben Sie den Leuten,« befahl Herr Refior seinem Küchenmeister, und dieser verschwand.

»Zehn Pfund Reis und eben so viele Fische,« wiederholte ich den Auftrag, »was müssen doch die Kerle für Mägen haben.«

»Wie die Dudelsäcke,« bemerkte Herr Refior, »und dabei noch dehnbarer wie eine Ziehharmonika.«

»Ist übrigens die Tafel in Ordnung?« rief er einem herumstehenden Diener zu und erhob sich, um selbst nach dem Rechten zu sehen.

Eine halbe Stunde später saß ein kleiner Kreis von sieben bis acht Reichsdeutschen um den sauber gedeckten Tisch des Herrn Refior, und des Fragens war kein Ende. Ich hätte die Weisheit von einem Dutzend Ministerien und zwanzig Geheimkabinetten mit nach Kamerun bringen müssen, wenn ich die Neugier meiner Landsleute hätte befriedigen wollen. Bald hatte ich mich müde geredet. 241 Ich empfand es deshalb als eine wohltätige Ablenkung, als einer der Schwarzen im Saale erschien, um bei dem Hausherrn anzufragen, ob sie draußen im Hofe Jou, Jou machen dürften.

»Haben Sie einen solchen Höllenzauber schon einmal gesehen?« wandte sich Herr Refior an mich.

»Nein,« war meine Antwort, »aber wenn Sie in der Lage sind, mir irgend etwas Unbekanntes bieten zu können, so werden Sie an mir einen dankbaren Zuschauer finden.«

Kaum daß nun der Hausherr zu dem schwarzen Abgeordneten gesagt hatte: »Nun, denn mal los,« war dieser schon mit einem wilden Freudensprung über die Schwelle gestürmt und verschwunden. Nicht lange, und draußen im Hofe hob ein ohrenzerreißender Spektakel an. Trommeln wurden gerührt, Hörner geblasen, Blechdeckel widereinandergeschlagen, während ein roter Feuerschein sich durch den Spalt der Portiere herein ins Zimmer drängte und unruhig an den aufgehängten Waffen, Sägefischschwertern und anderen Absonderlichkeiten herumleckte. Roter und roter wurde die »wabernde Lohe«, wilder und unheimlicher der Lärm, den monströse Musikinstrumente und heisere Menschenstimmen zusammenbrauten.

»Beim Brand von Troja kann's nicht toller zugegangen sein,« wendete ich mich endlich an Herrn Refior.

»Noch ein wenig Geduld,« war die gemessene 242 Antwort. »Noch hat der Palmwein die Stimmung nicht ganz auf die Höhe der Ekstase gehoben. Doch wir können ja einstweilen auf die Veranda gehen und uns den Hexensabbat von oben ansehen.«

Als wir ins Freie hinaustraten, war der Himmel über uns ein azurblaues Gewölbe, durchfunkelt von den flackernden Lichtern der südlichen Sternenbilder. Wie ein goldener Kahn schwamm die halbe Mondscheibe ruhig durch die unendliche Bläue dahin, hoch über den bewegten Gipfeln träumender Palmen. Aus der Bucht des Meeres heraus wehte eine kräftige Brise, fegte über den Hof, trieb die Ziegen in die Ställe, wirbelte in den Magnolienzweigen empor und drehte die rote Glut eines offenen Reisigfeuers zu einer feurigen Windhose zusammen, die dampfend und funkensprühend zum Firmamente emporleckte. Ein weiter Lichtkreis umzirkelte bis zu den Gebäuden hin den Hof der Faktorei. Die Wände weißgetünchter Schuppen und Stallungen wurden von einem Rosaschimmer überkleidet und waren seltsam belebt von den Schattenbildern tanzender Faune und Satyrn. Nicht sofort nämlich erkannte das Auge die Laterna magica, von der die Schattenrisse ausgingen. Da der Holzstoß erst an seiner Spitze brannte, waren die wilden Menschen, die ihn umtanzten und schürten, für den Fernstehenden noch in Schatten gehüllt. Als aber der glühende Scheiterhaufen bald darauf in sich zusammenstürzte, wurde es auch am Boden hell, und man erkannte lange Reihen nackter Ebenholzgestalten, 243 die sich die Hände gereicht hatten und in stampfendem Rhythmus schreiend und die Glieder verzerrend um das Feuer tanzten. Die Trommel wirbelte, die Hörner jauchzten, und die Blechdeckel fuhren klatschend widereinander.

Plötzlich trat eine Erholungspause ein. Es war so still, daß man das Rauschen der Bäume hörte und das Pfeifen des Windes. Aber nur für einen ganz kurzen Moment, während dessen der Ringelreihen sich aufgelöst hatte und die Paare sich zu neuen Figuren ordneten. Lange Linien getrennter Geschlechter traten einander mit suchenden und fliehenden Bewegungen gegenüber. Einzelne Tänzer avancierten und trafen mit ihrer Partnerin in der Mitte zwischen den Kolonnen zusammen. Es begann ein Bücken und Neigen, ein Ducken und Sichaufrichten, als wenn der Tauber um die Taube wirbt. Die ganze Bilderserie der Verstellungskunst, womit der Mann das Weib erobert, wurde aufgerollt, bis die breite Masse wie im Lancier vordrang und man das Treiben der Einzelnen im Klumpen nicht weiter verfolgen konnte.

Alles, was im Glanze des Feuerscheines sich abspielte, war, – soweit es sich übersehen ließ, – trotz großer Ungeniertheit immerhin dezent. Die Musik, die den ungeselligen Wilden aus seinen Gefilden hergerufen hatte, bändigte auch seinen Liebesdrang und sogar seine Streitsucht. Es gab zum Schluß weder ein Ineinanderhineinkriechen einzelner Liebespaare, noch ein »Geraaf«, wie 244 ein solches bei einer Oberbayerischen Tanzbelustigung üblich zu sein pflegt.

Die ganze groteske Feierlichkeit kam zum Schluß, als der Wind den Kehraus blies. Nach Mitternacht war nämlich die westliche Luftströmung abgeflaut, und ein frischer Landwind setzte ein und trieb das Wasser aus der Bucht hinaus und in den Atlantischen Ozean hinein.

»Das macht sich günstig,« sagte Herr Refior, »mit dem ablaufenden Wasser können wir unseren Kakao an die ›Eleonore‹ heranbringen,« und er gab ein Zeichen mit einer kleinen Zwergpfeife. Im Nu war der ganze Blocksberg geleert, und das schwelende Feuer war verlassen. Wer eben noch tanzte, beugte den schwitzenden Rücken unter die Last schwerer Kakaosäcke. Eine kleine Flotille belebte die Bucht. Beladene Schuten mit schwarzen Schiffern bemannt strebten über die Barre hinweg in die offene See hinaus, während andere von ihrer Ladung befreit schon wieder vom Dampfer zurückkehrten. Und dieser ganzen belebten Szene sah einzig nur mit einem Freibillet der Mond zu, der hoch über den Palmenwipfeln lächelnd am Himmel stand.

Wie glücklich war ich doch, daß ich den Schluß der Vorstellung nicht abzuwarten brauchte. Ich konnte meine müden Glieder ins Bett legen, tat es auch und schlief mit Wollust bis zum nächsten Morgen.

Während des Ankleidens merkte ich, daß im Zimmer nebenan Herr Refior schon oder noch am Schreibtisch 245 saß. Er hatte Briefe zu bestellen und Buchabschlüsse fertig zu machen, was alles die »Eleonore« mit in die Heimat nehmen sollte. Ich wollte nicht stören und schlich mich auf leisen Sohlen ins Speisezimmer, um nach einem kleinen Imbiß zu suchen. Ich fand, was ich suchte, und nahm nach dem Essen meinen Rucksack auf die Schulter, stülpte den Tropenhelm über den Schädel und ging zum Hausherrn, um mich zu verabschieden. Herr Refior wollte mich erst nicht ziehen lassen, willigte aber ein, als er die Gründe meines frühen Aufbruchs vernommen hatte. Er rief einen schwarzen Diener heran und übergab diesem ein Paket. Ehe der Junge die kleine Last auf seinen breiten Buckel schob, versuchte er, noch einmal auszureißen. »Wohin?« fragte sein Gebieter kurz. »Er wolle seinen Hut holen.« »Wozu dies?« schnitt sein Herr die Unterhaltung ab, »wenn man einen Kopf hat wie eine Kokosnuß?« Der Neger blieb, und nach kurzem Abschied von meinem pfälzischen Landsmanne schritt ich wie dereinst Tobias mit meinem schwarzen Gabriel zur Seite zum Hoftor der Farm hinaus. Kaum einige Schritte von den Gebäulichkeiten entfernt hatte ich meinen Erzengel, oder Holzengel, oder Steinbengel gesehen. Als ob ihn die Erde verschlungen hätte, war er plötzlich vom Wege verschwunden. Doch er kam bald wieder im Schmucke eines alten Filzhutes, der meiner Schätzung nach aus dem Nachlasse eines deutschen Lumpensammlers stammen mochte. Ohne dieses kostbare Kleidungsstück wäre mein Boy, wie er mir erklärte, nur ungern mit 246 mir nach Viktoria gegangen. Er hatte einen Schatz dort, der ihn seither nur in paradiesischer Nacktheit gesehen hatte und dem er nun mit einem Hut bekleidet in die Augen stechen wollte. Das Decolté gehört in Afrika zu den alltäglichsten Dingen. Wer den Liebesreiz erhöhen will, muß im Gegensatz von europäischen Gepflogenheiten etwas anziehen. »Andere Zungen,« dachte ich mir, »und ein anderer Geschmack« und schritt schweigend neben meinem verliebten Cherub her.

Wir hatten ein Vorgebirge zu umschreiten, das die Bucht von Kriegsschiffshafen von der Ambasbai trennt. Unser Weg führte im Schatten hoher Urwaldbäume an einem munteren Waldbach entlang, der schäumend und singend sich zwischen schwarzem Lavagestein hindurch seinen Weg zum nahen Meere suchte. Manchmal hatten wir sumpfige Stellen zu umgehen und manchmal mußten wir mitten hindurch durch den quatschenden Morast. Jedesmal bekamen wir nasse Füße, doch die trockneten schnell wieder in dem warmen Sonnenschein, der durch ein dichtes Blätterdach angenehm abgekühlt zu uns herunterfiel. Allein so milde blieb die Tropensonne leider nicht. Als wir aus dem Walde heraustraten, den Spiegel der Ambasbai gerade vor uns hatten und deren Ostgestade in kniehohem Gesträuche umgehen mußten, schien sie mit rücksichtsloser Grausamkeit auf uns nieder. Wie glühende Stricknadeln durchdrangen ihre Strahlen meinen Korkhelm, und sogar mein Gabriel schützte sich gegen die sengende Glut und tapezierte das Innere seines Hutes 247 zum Schutze seiner Kokosnuß mit Bananenblättern aus. Schlaff und ausgetrocknet schleppte ich mich mühsam weiter und ließ mich im Laden der ersten Faktorei von Viktoria lechzend in einen Sessel fallen. Man brachte mir Erfrischungen, und ich hatte mich von den Strapazen des Marsches so ziemlich erholt, als mich die Nachricht, daß seit drei Tagen auf dem Telegraphenamt eine Depesche auf mich warte, in nicht geringen Schrecken versetzte. Eine Depesche. – Niemand konnte mir sagen woher. Es war acht Uhr, und noch dauerte es eine ganze Stunde, bis die Tür zum Postbureau sich öffnen würde. An den Fingern meiner Hand versinnbildete ich mir die Lieben in der Heimat und legte mir die bange Frage vor: Wer von ihnen wird es sein, der dem Tod am Schlagbaum der Ewigkeit den Wegzoll des Lebens gezahlt hat? Himmel, wie sich vor mir die Möglichkeiten zu Wahrscheinlichkeiten, ja zu schrecklichen Gewißheiten ausbauten! Himmel, wie sich die sechzig Minuten zu einem Lustrum streckten, und wie ich immer laufen mußte und nicht sitzen konnte, obwohl ich müde war. Endlich, endlich hob die Uhr des Postgebäudes aus und klopfte ihre neun Schläge herunter. Es hob sich die Scheibe, und ein Beamter gab mir mit dem gleichgültigsten Gesicht von der Welt eine Depesche, vor deren Inhalt meine ganze Seele in Angst erzitterte, obwohl es sich nach Bruchteilen einer Sekunde bereits herausgestellt hatte, daß das nicht nötig gewesen wäre. Der anspruchslose Text des Telegrammes nämlich lautete: »Ihre Freunde in Buea 248 wünschen Ihnen eine glückliche Heimreise«. Dann folgten die Namen der Absender.

Zunächst ärgerte ich mich noch ein wenig über die Kassandrarufe meiner geängsteten Phantasie. – Man erschlägt den Ochsen mit der Axt, den Menschen mit einem Stück Papier, das war mir bekannt, und deshalb hatte ich gebangt. – Dann aber lachte ich mich selber aus.

Heute, anderthalb Jahre nach dem Geschehnis, sitze ich vor meinem Tagebuch und es fließen meine Tränen über das zerknitterte Papier. – Gestern haben die Zeitungen die Nachricht gebracht, daß Biernatzky, einer der Absender der Depesche, er, der sorgsame, der in Buea mein liebenswürdiger Wirt gewesen war, durch die Kugeln eines Wahnsinnigen geendet hat. – Ruhe seinem Gebein. Uns aber gebe an dieser Stelle meines Reiseberichtes der Himmel eine friedsame See und einen sanften Wind vom Achterdecke her. Denn schon hat die »Eleonore« auf dem Wasserspiegel der Ambasbai gedreht und wendet ihr Bugspriet dem Westen zu. In einer Stunde müssen wir an Bord sein, dann treibt die Schraube uns wieder von lieb gewordenen Plätzen weg ins Meer hinaus.

Doch es kam anders, als wir es wünschten und brauchen konnten. Ein steifer Südwestwind blies Tag und Nacht über den atlantischen Ozean vom Kap Horn herüber und trieb weiße, flatterige Schaumwellen wie eine Gänseherde in den Golf von Guinea hinein. Jede Ruhe war von dem Meere verscheucht. Alles war in Bewegung und Aufruhr. Wie ein junger Hund 249 zerrte die »Eleonore« an der Ankerkette, an die sie Tags vorauf in der Bucht von Benin gelegt worden war, ohne etwas anderes zu erreichen, als daß sie wie ein Trunkener von einer Seite auf die andere fiel. Wehe denen, die von ihren Stahlwänden umschlossen waren. Wer von Backbord nach Steuerbord wollte, hatte einen Berg zu ersteigen und kugelte drüben wider die Reeling, daß ihm die Rippen krachten. Wahnsinn war dem Mathematiker beschert, der das Metazentrum der sonst so sanften »Eleonore« suchen wollte.

Wir lagen vor Lagos, der schlechtesten Reede der Welt. Was die vereinigten Stromriesen Nigger und Benue an Sand und Schlammassen mit sich führen, hat sich seit Erschaffung der Welt am Meeresgrund zu Bergen abgelagert und eine Barre gebildet, die selbst der Kruneger fürchtet, der verwegenste Schiffer, der je mit einem Kiele die Salzflut pflügte. Und doch, Lagos, die Stadt von hunderttausend Seelen, der Handelsplatz, der mit hochragenden Silos über die weiße Mauer der Brandung herüberblickt, will mit der Welt in Verbindung treten, will leben und schaffen, will über die heimtückische Barre herüber- und hinübergeben und empfangen. Der Menschengeist, der sich an alles wagt, hat sich in den Dienst der Stadt gestellt, hat Schiffe gebaut mit flachem Vorderkiel, hat das Heck tief in die Flut gesenkt und zwingt mit starker Schraube den Schiffsleib, den Berg hinaufzusteigen. So schwanken sie an uns heran, die Barredampfer, mit Palmenkernen geladen, Häuten und Kakaobohnen. Bald 250 thronen sie wie ein Schloß, auf einem Wellenkamme weithin sichtbar, bald verschlingt sie ein grünes Tal, und sie erscheinen ausgelöscht – ausgelöscht für immer vorm Antlitz der Sonne. Der erste ist da, an der Seite des Dampfers; aber er versteht es nicht, sich liebevoll wie ein Freier anzuschmiegen, roh wie ein Felsblock tölpelt er wider die Backbordseite, daß der armen »Eleonore« das Herz im Leibe zitterte. Es ist ein schweres Stück Arbeit, die beiden mit Tauen und Trossen so aneinanderzuketten, daß sie ein Paar werden und vereinigt nach dem Takte der Wellen tanzen. Aber es gelingt, und Laden und Löschen nehmen ihren gedeihlichen Fortgang. Schon ist der erste Leichter leer. Er hat seine Ladung abgegeben und kann nun befreit nach Lagos zurückkehren.

In diesem Augenblick tritt der Kapitän an mich heran und sagt: »Doktor, einer der Offiziere muß die Schiffspapiere an Land bringen. Wenn Sie wollen, können Sie mit dem Barredampfer hinüberfahren. Lagos bietet viel des Interessanten, und Ihnen ist ja alles neu. Wir laden noch bis morgen gegen Abend. Sie können an Land übernachten und haben erst gegen 6 Uhr an Bord zu sein.«

Die »Eleonore« mit ihrem ewigen Stampfen und Schlingern hatte mich nervös gemacht, und ich war froh, daß ich ihr für einige Stunden den Rücken kehren konnte. Also den Tropenhelm über den Schädel und hinein in den Förderkorb.

»Ich möchte mit Ihnen durch die Brandung,« 251 rief Hauptmann Dominik, und er ließ sich neben mir in dem Kasten nieder. Diesen Mann von Stahl und Eisen reizte offenbar die Gefahr. Er wollte einmal dabei gewesen sein, als ein Häuflein Menschen sich lustig machte über den bleichen Tod, der aus fletschenden Wellenkämmen der Lagosdünung die gelben Zähne wies. Die Winde rasselte, die Stränge verkürzten sich, und die Davits drehten die Holzschachtel mit unseren Leibern über die Reeling. Ein Spiel des Sturmes schwebten wir in grausiger Höhe über dem Deck des Leichters. Dann ging es ruckweise tiefer. Die Wellen hoben den Barredampfer uns entgegen; ein hastiges Aufstoßen, das jede Nervenwurzel des Rückenmarkes aufschreien ließ, und unsere Überfrachtung war gelungen.

Ein vierschrötiger Kapitän mit einem friesischen Bauernschädel auf den breiten Schultern streckte uns wortkarg die steinharte Hand entgegen und trat ans Steuer.

»Die Trosse einziehen und los,« kommandierte er mit einer Viertelsdrehung des Rückgrats nach der schwarzen Schiffsmannschaft. Er sah nicht hinter sich. Er kontrollierte nicht. Es war ja nicht möglich, daß man seine Befehle nicht ausführte. Bei allen Teufeln, zu welchen Zwecken hätte sonst ein gerechter Gott das Tauende entstehen lassen und seine durchschlagende Wirkung auf das schwarze Niggerfell?

All right, der losgekoppelte Tender flog wie eine Sturmschwalbe über Wellenberge und Täler hin, und 252 wenn es auch denen, die er trug, schwer wurde, sich auf den Beinen zu halten, er selber war wohlauf und kannte sein Ziel, dem er mit Kraftbewußtsein zustrebte, obwohl es von keinem Sinne geahnt, von keinem Auge gesehen werden konnte. Denn merkwürdig genug, eine weiße Mauer war wie eine Kulisse vor den grünen Streifen Land gezogen, auf dem sich Lagos ausbreiten mußte. Es war unmöglich, über den Zinnenkranz hinüberzuschauen, der, wie es schien, von den schneeweißen Mustern einer Brüsseler Seidenspitze überkleidet war.

Die Schraube des Tenders wühlte unermüdlich. Wir kamen dem Wunder näher. Da stand es leibhaftig vor uns, dieses Werk der Ewigkeit aus Wasser. Aere perennius. Fest und unverrückbar wie der Schöpfungswille und doch voll Leben und Bewegung steht die Brandung da, wie sie von Anbeginn der Dinge gestanden hat, und ihre Donnerstimme ruft uns zu: »Verwegener, wie willst du wagen, meinem Grimm zu trotzen?« Und in der Tat, angesichts des gewaltigen Schwalles, der eben wie eine Lawine niederstürzend, im nächsten Augenblicke wie eine granitene Mauer aufsteht, hin- und herflutet, und doch als Ganzes unbeweglich scheint, angesichts eines sinkenden und entstehenden Gebirges, dessen Werden und Sterben von rollenden Donnern begleitet ist, da wird manches sonst an Schrecken gewohnte Männerherz zum Beben gebracht, und man möchte fliehen. Aber nun gab es keinen Rückzug mehr für uns. Schon hatte die Schraube des Tenders uns hineingedrückt in den weißen 253 Schaum. Wie auf einer schiefen Ebene wurden wir hinaufgeschoben, höher und höher, bis wir mit einem Male eine Hochebene erreichten, die starr wie ein Gletscherfeld sich vor uns ausbreitete. Doch diese Starrheit war nur eine Maske, die sich das beweglichste aller Elemente vors Gesicht gebunden hatte. Bei näherem Zusehen war alles Bewegung. Lange Wimpel, in ihren Farbentönen ein wenig nur voneinander verschieden, wurden von unsichtbaren Händen hin- und hergezogen und verstrickten sich ineinander wie Schlangenleiber. Zu tausendköpfigen Ungetümen geworden, rissen Fabeltiere den weiten Rachen auf und warfen ihren weißen Geifer über das Deck des Tenders hin, über unsere Kleider, unseren Kopf und uns in die Augen, in den Mund, so daß uns Blindheit schlug und ein salzigbitterer Geschmack uns mit Ekel füllte. Mitten in dem gefährlichen Aufruhr eines entfesselten Elementes kannte keiner mehr von uns die Furcht. Das Staunen ist es, was ganz lückenlos unsere Seele füllt. Zufrieden und fast glücklich sahen wir, trotz mancher Unbequemlichkeit, in die unheimliche Pracht der Szene hinein, wie die Inhaber von Logensitzen auf die Bühne sehen, gefesselt, hingerissen, bezaubert.

Doch aus unserer weltfremden Ekstase schreckte uns plötzlich die Stimme des Kapitäns: »Daß Euch das Fegefeuer in den Gedärmen säße,« donnerte er los. »Nun haben diese trägen Stachelschweine die Trosse nicht eingezogen; das Seil schleift hinter uns her und 254 braucht nur in die Schraube zu kommen, und wir fahren in Gesellschaft dieses Schwarzwildes samt und sonders in die Hölle.«

Alle Gesichter drehten sich nach dem Polterer um, und die Augen starrten an ihm vorbei, rückwärts nach dem Achterteil des Tenders. Es war in der Tat so. Die Trosse schleifte nach, und wehe uns, wenn sie von einem Schraubenflügel gefaßt wurde. Der Gedanke, daß unser aller Leben jetzt an eines Zufalls Laune hing, war ein erschrecklicher. Drüben sah man schon das Ufer. Aber zwischen ihm und uns war Platz genug für manches Grab, das ohne Spaten die Welle hier zuvorkommend aus dem Dünensand schaufelt. Wie viele Schläfer wohl mag er bergen, dieser Kirchhof der Namenlosen vor der Lagune von Lagos? Kein Epitaph, das ihre Namen nennt.

Und doch, ein großes Denkmal ist ihnen errichtet. Drüben an der Klippe hängt ein gestrandeter Dampfer mit geknicktem Schornstein. Noch hängen Flaggen und Segelfetzen, noch Seile und Strickleitern von seinen Masten und Raaen. Noch kann es nicht so lange her sein, daß ihn sein Schicksal hier ereilte, und doch schon ist sein Bauch aufgerissen. Um seine schwarzen Stahlrippen schwappt die kräuselnde Welle, während der Schwall sich ins Innere stürzt und wie ein Räuber die Zwischenwände zu durchschlagen sucht. Wo werden wir sein, wenn unser Dampfer dem Einsiedler da drüben Gesellschaft leistet? Das ist ein Gedanke, der in diesem 255 Moment auf jeder bleichen Stirne nur zu leserlich geschrieben steht, der sich in bleichen Lippen verrät und in den Runzeln vieler bleichen Stirnen.

Der Kapitän hatte eine schwere Aufgabe. Einerseits mußte er den Kiel in der schmalen Fahrrinne halten, anderseits mußte er so steuern, daß die Schraubenflügel der schleppenden Trosse auswichen. Und über Erwarten gelang beides. Wir kamen an den nördlichen Rand der hohen Wassermauer, glitten sanft wie auf einer Rodelbahn in die stille Wiege der Lagune hinein, konnten dem Steuer Spielraum gönnen und waren gerettet.

Wer nun denkt, daß der Kapitän die Hände erhoben und ein frommes Dankgebet zum Himmel geschickt hätte, der kennt diese Gemütsmenschen nur wenig. Er nahm vielmehr das Ende der hereingeholten Trosse in seine schwielige Rechte und bearbeitete damit das Rückenstück seiner leichtsinnigen Kruneger so recht nach Herzenslust. Wir Reisenden sahen dem Walten der Gerechtigkeit zu, derweilen der Tender mit dem Abendstrahle der stolzen Marina des afrikanischen Venedigs entgegen fuhr.

Am provisorisch hergerichteten Holzkai lag ein wohlgezähltes Dutzend kleiner Leichterschiffe, und ihr Hintersteven kokettierte mit grünen und roten Lichtern, die sich im Wasser der Lagune spiegelten und so eine ganze Handelsflotte vortäuschten. Es nahm eine geraume Zeit hinweg, und die Stimme der Sirene mußte fortissimo ins Land hineinschreien, bis wir endlich Gehör fanden und man uns Platz machte zwischen den anderen 256 Schiffsleibern. Kaum daß wir festgemacht hatten, ging's munteren Schrittes über die Laufplanke hinüber und hinein in die Stadt. Das flüssige Gold, das aus elektrischen Glühbirnen niederströmte und von dem Blätterdach weitgeästeter Mangoalleen einen lichtgrünen Schimmer mitnahm, verwandelte die gut chaussierte Straße längs der Lagune hin in einen Pariser Boulevard. Arm in Arm promenierten hier vor den abwechselungsreichen Fassaden europäischer Bankhäuser, Kirchen, Moscheen, Gerichtspaläste und Faktoreien der coloured Gentlemen und die schwarze Lady. Der Sproß vom braunen Berberstamme zog ein Kamel hinter sich her. Ein Negergigerl auf dem Zweirad verstand es, mit gewandter Schwenkung dem langhalsigen Lasttiere aus dem Wege zu gehen. Da wurde eine Verschleierte aus Muhameds weitverbreitetem Samen in eleganter Sänfte vorübergetragen, während dort ein splitternackter Dahoméjüngling auf einem Reitstier durch die Menge trabte. Hier weißumschleierte Gruppen von Hausaweibern, die sich niedersetzen, um einander zu begrüßen; dort stolze, hochragende Marokkanerfürsten, die sich bückten, den Staub der Straße aufhoben und sich auf die Stirne streuten, wenn sie einem ihresgleichen begegneten. Dann geschäftige Europäer im blendenden Weiß des Tropenanzuges zu Fuß oder im Gigg hinter dem Mauleselschwanz nachgezogen. Reiter aller Farben zu Pferd und Esel, Landauer, Halbverdecke und Automobile, dazu noch die Sommerwagen der Straßenbahn und der Drückkarren des 257 Sorbettoverkäufers. Man wird zugeben müssen, daß die Marina von Lagos mit ihrer Randsteinverzierung von Ganz- und Halbmenschen, Strolchen und Bettlern, Lahmen, Blinden und Aussätzigen genug des Interessanten bietet, um die Eile des landfremden Europäers auf ein Minimum herabzudrücken. Und so war es denn schon spät geworden, als wir, eine Anzahl weit verschlagener Nordmänner, uns um die gastliche Tafel des Herrn Brünger setzten, und noch später war es, als wir wieder aufstanden, um nach dem hochgeschnäbelten Wikingerdrachen an der Marina zurückzugehn. Wir hatten nämlich keine Betten gefunden und mußten uns mit den gepolsterten Salonbänken des Dampfers »Gouverneur Puttkamer«, der am Kai festgemacht hatte, für die Nacht begnügen. Herrlich war es, als wir im leichten Nachtgewand an der Reeling standen, der kühlen Brise preisgegeben, über uns des Südens zaubervoller Sternenhimmel und unter uns in der stillen Lagune nicht minder die Himmelslichter. Dazu das geheimnisvolle Flüstern des Windes, der durch das Röhricht strich, und das lockende »Geh mit«, »Geh mit« irgend eines Wasservogels. Wir waren gewiß müde gehetzt von den wechselvollen Eindrücken eines so ereignisreichen Tages, und doch, es dauerte noch lange, bis jeder auf seiner Pritsche lag, und bis das letzte Wort in der schlaftrunkenen Reisegesellschaft gesprochen war.

Ein mehr als bloß kühler Zugwind, der durch die offenen Türen des Rauchsalons strich, weckte mich am 258 nächsten Morgen. Ich setzte mich auf und sah durch die Scheibe des Bullenauges. Schon warfen die Bäume an der Marina lange Schatten über das Wasser hin. Denn schon war die Sonne aufgestanden und war daran, die Rohrspitzen im Lagunendickicht drüben zu vergolden. Nun fand ich keine Ruhe mehr und fing an, mich zu bekleiden. So geräuschlos ich auch jede meiner Bewegungen zu gestalten suchte, es gab doch Lärm genug, die Genossen zu wecken, und es begann alsbald eine feierliche Auferstehung des Fleisches, bei der manches scherzhafte Intermezzo mitunter spielte, bis aus einem chaotischen Kleiderwirrwar heraus für alle Gebeine die zuständigen Hosen glücklich geangelt waren. Einmal angekleidet, gab es für uns kein Halten mehr. Wie Bienenschwärme suchend durch die Maienblüte schwärmen, so verteilte sich unsere Gesellschaft über die Stadt hin. Die geheimnisvolle Königin in der Lagune schien für jeden eine eigene Süßigkeit versteckt zu haben, und auf eigene Rechnung und Gefahr ging jeder los, den Leckerbissen zu suchen.

Mir hatte die Lagunenstadt ein paar Kranke aufgestapelt, müde Menschen, die der Weisheit des Quacksalbers mißtrauend gerne einmal das Urteil eines europäischen Arztes gehört hätten. Ob sie mit mir so zufrieden waren wie ich mit ihnen, weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß ich in Lagos zum ersten Male an die Wahrheit der Worte glaubte: »Dat Galenus opes«, denn höhere Honorare, wie sie hier bezahlt wurden, leistete 259 sich nicht einmal die Maurerkrankenkasse, aus der beim Baue von Aphroditens goldenem Hause in Heliopolis die Medici bezahlt wurden. Ich hatte eine Anzahl leichtverdienter Guineen in der Tasche, als ich die Märkte der Stadt durchstöberte, ins Hausalager eilte, mit einer Negerhochzeit in die Kirche zog, über den Rennplatz galoppierte, in ein Varieté hineinfiel, zwischen die schwarzen Zöglinge eines Mädchenpensionates geriet, einem Automobil noch glücklich auswich und über ein schlafendes Känguruh stolperte. Zwischen Turbanen, Zylindern, Strohhüten und Fezen; zwischen braunen, schwarzen und gelben Gesichtern; zwischen Geschminkten und Ungeschminkten, Getauften und Beschnittenen; zwischen Splitternackten und Vermummten traf ich zuweilen einen meiner bummelnden Reisegenossen. Aber keiner war zum Stehen zu bringen.

»Sie wissen doch, daß wir um zwölf Uhr zu Herrn Brünger geladen sind?« Das war's, was einer dem anderen statt eines Grußes zurief, bevor er weiterstürmte, um Futter zu suchen für seinen Hunger und seinen Wissensdurst. Ich war gegen die elfte Stunde übersättigt von all den tausend neuen Eindrücken und schlenderte gelangweilt der Marina zu, als mich der Smallboy irgend einer europäischen Firma anredete:

»Mein Herr, falls Sie zur Reisegesellschaft der »Eleonore Wörmann« gehören, so wartet auf Sie eine unangenehme Nachricht. Draußen herrscht ein starker Westwind, die Barre ist vom Hafenmeister geschlossen. 260 Jeder Verkehr ist unterbrochen, kein Schiff darf hinaus, keines herein. Wenn auch mit Bedauern, ich muß es Ihnen doch sagen: Sie sitzen in der Mausefalle. Ein Herein in die Lagune gab es gestern noch, an ein Hinaus ist vor drei Wochen nicht zu denken.«

Das überlegene Lächeln eines furchtlosen Globetrotters war alles, was ich dem Bringer einer solchen Nachricht zu schenken hatte. Er war davon nicht gekränkt. Er drehte sich nur um, wies mit dem Finger nach Süden und sagte trocken: »Überzeugen Sie sich selbst. Die weiße Mauer, die Sie da draußen sehen, das ist die Brandung, und was Sie nicht mehr sehen, das ist der Pier, der unterm Wasser begraben ist.«

Ich sah hin. Bei Gott, auch das Lotsenhäuschen an der Spitze der Mauer war, von Schaum umkräuselt, kaum mehr zu sehen. Da wurde es mir doch ein wenig warm unter der Haut, und ich fing an, mit großen Schritten der Wörmannfaktorei zuzulaufen. Als er mich springen sah, stach den jungen Handlanger Merkurs, den ich ein wenig von obenherunter behandelt hatte, der Kitzel der Vergeltung, und höhnisch rief er hinter mir her: »Bemühen Sie Ihre Beine nicht zu sehr, Sie haben ja Zeit. Bis jetzt wieder ein Dampfer von Lagos abgeht, können Sie gemächlich bis zum Senegal laufen oder, wenn Sie hier bleiben, die Dualasprache gelernt haben.«

Ich gab dem Kaffeebohnennigger keine Antwort, kam aus dem Laufen ins Rennen und stürzte in 261 Wörmanns Kontor. Das Büropersonal stand verwundert ums Fernrohr herum. Einer nach dem anderen kam, drückte ein Auge zu, sah durch den Tubus, guckte durch die Faust und eilte an eine Tafel, die das A-B-C-Buch der Flaggensignale ist. Dann sehen sich die Leute gegenseitig an, schütteln den Kopf und zucken mit den Schultern, ohne meiner Persönlichkeit die gebührende Beachtung zu schenken. Sie hatten wichtigeres zu tun, als den galanten Wirt zu machen. Endlich erbarmte sich Herr Brünger meiner, legte mir die Hand auf die Schulter und sagte im mitleidsvollen Tonfall eines Steuerexekutors: »Nichts zu wollen, Herr Doktor. Überzeugen Sie sich selber am Teleskop. Sie werden mit Leichtigkeit den Mast finden neben dem Hafenamt, und wenn Sie wissen wollen, was die gehißten Flaggen sagen, dann bitte, bemühen Sie sich hier an diese Tafeln. Diese werden Ihnen gleichlautend mit mir erklären, daß der Verkehr jeglichen Fahrzeuges über die Barre unmöglich 262 und von Amtswegen – überflüssiger Weise möchte man sagen – noch verboten ist. Jeder Kapitän und Lotse, der es wagen wollte, den Hafenausgang zu erzwingen, verliert sein Patent. Verstehen Sie, verliert einfach sein Patent!«

»Ja, aber was wird aus uns, die wir doch mit der »Eleonore« heim wollten,« fragte ich kleinlaut.

»O, die Herren fahren nach drei Wochen mit der »Alexandra«, das ist eine kleine Verspätung, mit der man in diesem Erdteil rechnen muß, wo Uhr und Kalender noch nicht die Menschheit chikanieren, sondern nur der Erfahrungssatz regiert, daß erstens in Afrika alles anders geht, zweitens, als man glaubt, und drittens, als es im Fahrplan steht. Wäre Ihnen eine dreiwöchentliche Verspätung etwa unangenehm, wenn es einmal mit Ihnen dem Sterben zugehen soll?«

»Für meine Person, Herr Brünger, will ich den Empfang Ihrer Trostworte dankend quittieren, weil ich sehe, daß Sie ein Gemütsmensch sind, allein was wird aus der »Eleonore«? Sie wissen, daß ein Schiff ohne Papiere einem Handwerksburschen ohne Wanderbuch gleicht und in keiner Herberge aufgenommen wird, und die Papiere unseres Dampfers liegen zur Stunde noch auf dem Seeamt.«

Da wurde der Phlegmatiker nervös und fing an mit den Beinen zu zappeln. »Ei, verflucht ja,« so jammerte er, »daß dies nun gerade auch heute passieren mußte; seit sieben Jahren zum ersten Male wieder. Mir 263 ist, als ob ich Kokosnüsse verschlingen müßte. Wenn doch nur der Wind etwas abflauen wollte. Noch haben wir ja zwei Stunden Zeit; die Wasser könnten ablaufen.«

Er rieb die Kniee aneinander und rannte ans Fernrohr. »Noch immer die gleichen Signale. Fühlt denn der Hafenmeister nicht, daß wir hier auf heißen Kohlen sitzen. Ich will doch rasch einmal ans Telephon laufen und ihn zu uns herein bitten. Vielleicht weiß der alte Karpfen doch ein Loch, durch das Sie aus der Fischreuße herausschlüpfen können.«

Im Abgehen herrschte er die schwarze Dienerschaft an: »Boys, da steht ihr und habt die Zunge im Maul. Ei das Gewitter, sorgt für einige Kocktails. Wie lange wird's währen, und die Stube füllt sich wie ein Irrenhaus mit Verzweifelten. Alko-hol mich der Teufel, wenn mir diesmal der Alkohol nicht einen guten Gedanken ins Gehirn pumpt.«

Es dauerte in der Tat nicht lange, und die verstreute Reiseherde hatte sich, einer nach dem anderen ankommend, im Bureau des Herrn Brünger versammelt. Die meisten nahmen die Nachricht, daß wir in der Lagune eingesumpft seien, mit Lachen auf, weil sie dahinter einen schlechten Witz vermuteten, und griffen guten Mutes nach dem Eierpunsch. Ernstere Naturen zählten nachdenklich die Schnürlöcher ihrer Schuhe, vergaßen aber gleichfalls, trotz dieses anstrengenden Geschäftes, das Trinken nicht.

So mochte unter Gläserklang, Lachen und Seufzen 264 eine halbe Stunde ins Land gegangen sein, als draußen unter Schnaufen und Pusten ein Automobil stoppte. Nicht lange, und zwei Herren in tadellos gebürsteter Marineuniform traten ins Zimmer. Die glattrasierten Gesichter hatten einen Stich ins Weinrote, eine Farbe, die gleich gut für eine Seemannsvisage paßt wie für ein Missionarsgesicht. Von beiden erwarten wir ja die Wahrheit, die im Weine lebt und mit der ein Biedermann anzustoßen pflegt.

Die beiden Söhne des meerumschlungenen Albions griffen erst nach den gelben Kocktailgläsern, ließen sich dann in Korbsessel nieder, schlugen die Beine übereinander und ließen die schwarzschimmernden Glanzlederschuhe in den Sonnenstrahlen tanzen, die durch das Mattengeflecht der Türspalte drangen. Dann prosteten sie uns freundlich an, lächelten vieldeutig und schwiegen wieder. Wie geheimnisvoll erhaben wird doch ein Mensch, der in schicksalsentscheidenden Augenblicken zu schweigen versteht. Das schienen sie zu ahnen, denn sie gönnten unserer Verehrung ihr gnadenreiches Buddhaantlitz noch während vieler Koktailschlücke.

Als ihr Durst gestillt war, und ihre Gesichter noch etwas mehr Farbe angenommen hatten, erhoben sie sich und erklärten mit eleganter Verbeugung gegen ihr Publikum: »So leid es uns tut, meine Herrschaften, die Barre muß der hohen Brandung wegen in Ihrem eigenen Interesse geschlossen bleiben. Aber, selbst wenn die Dünung abließe, wir dürften Sie nicht hinaus lassen, 265 bevor der Sand abgelotet ist, da nach solchem Seegang die Fahrrinne erfahrungsgemäß sich zu verlegen pflegt.«

Nach diesen Worten stülpten sie die goldbetreßten Mützen auf den Kopf, verneigten sich und waren im Nu zur Tür hinaus. – Man hörte, wie ein Automobil die Marina entlang klapperte.

Da saßen wir mit langen Gesichtern und sahen einander an. Ein ungläubiger Thomas war nicht mehr unter uns. Der Hafenmeister und sein Assistent hatten die Finger in die wunde Seite unseres Reiseplanes gelegt. Dumpfes Schweigen. Wäre Herr Brünger nicht mit nervösen Schritten im Zimmer auf- und abgelaufen, man hätte wohl die Tritte der weißen Ameise hören können, die in den Tropen in jedem Hause ungeniert durch alle Räume ihre Spaziergänge macht.

Herr Brünger hatte das Kinn zwischen die Finger seiner linken Hand genommen. Es war klar, er wollte irgend einen Gedanken heruntermelken, der in seinem Gehirn Milch geworden war. Plötzlich stand er still, sein Gesicht leuchtete; kein Zweifel, das rettende Elixier war zur Welt gebracht, und er bereitete sich, uns das Neugeschaffene vorzustellen.

»Wie wär's, meine Herrn, wenn ich Sie mit einem Dampfer nach Cotonou in Dahomé bringen ließe? Die Franzosen haben da über die Dünung weg, weit ins Meer hinein einen Landungssteg gebaut, an dessen Ende bei jedem Wetter geladen werden kann. Achtzehn Stunden Fahrzeit durch die Lagunen bringen Sie an Ort und 266 Stelle. Bißchen verrufene Gegend. Viel Moskitos mit den Malariabazillen am Saugrüssel, viel Krokodile im Fahrwasser. Aber es ist ja nicht gesagt, daß Sie hineinfallen müssen. Und dann, was soll's? Es liegt im heimtückischen Charakter Afrikas, daß man zuweilen sich entscheiden muß, welchem Ungeheuer man in den Rachen laufen will. Hier am Orte herrscht zur Stunde auch das Schwarzwasserfieber. Ob wir vorwärts oder rückwärts gehen, in unser Grab kommen wir schließlich doch alle. Falls Sie sich zur Fahrt durch die Lagune entschließen, werde ich an die ›Eleonore‹ signalisieren, daß sie zeitig heute losdampft, um Sie morgen in Cotonou zu erwarten.«

Wenn man keine Wahl hat, ist der Weg zum Entschluß ein kurzer. Es war keine halbe Minute vergangen, und Herr Brünger stand am Telephon und unterhandelte. »Dampfer ›Kamerun‹ bereitstellen!«

»Um ein Uhr?«

»Ja spätestens.«

»Kein Lotse sagen Sie, schadet auch nicht. Sie kennen ja das Wasser bis Porto novo. Von da ab hilft die Regierungsbarkasse der Franzosen weiter. Sind honette Leute die dortigen Franzmänner. Ja, oder wir patteln uns mit Hilfe der Schwarzen im Kanu durch den Nicuosee. Nur Mut, es wird schon glücken, und schließlich haben wir ja keine andere Wahl.«

»Also abgemacht.«

Herr Brünger hängte den Hörer ein und kam zu 267 uns. »Nun aber rasch, meine Herren, und zu Tisch. Die Lagune hat so einige Stellen, wo mit Beginn der Ebbe das Wasser abläuft, die müssen vor Eintritt der Dunkelheit hinter Ihnen liegen, sonst sitzen Sie am Ende gar im Urwald fest.«

Im Nu hockte jeder von uns vor seinem Teller, nur Herr Brünger nicht. Er hatte noch mancherlei zu ordnen, ehe er zu seiner Suppe kam.

»Lauf, Boy, zu den Damen hin, die mit der »Eleonore« fort wollten und sage: Die Reise ginge durch die Lagunen. Wenn sie sich entschließen könnten – Wir unserseits könnten die Route nicht empfehlen. Das Gepäck würde ihnen übrigens heute noch zurückgeschickt werden. Und nun guten Appetit, meine Herren. Greifen Sie gehörig zu, vor morgen Nachmittag werden Sie keinen warmen Bissen mehr auf der Zunge fühlen. Übrigens vergessen Sie ja nicht etwas Proviant einzukaufen. Den beißt der Hunger dreimal so giftig, der keinen Vorrat im Rucksack hat.«

Als Hannibal vor den Toren stand, war den Römern der Appetit vergangen. Auch für uns war die Mahlzeit rasch erledigt. Rücksichten auf das Tafelzeug gab es nicht mehr. Der Serviettenring wartete vergebens auf das, was seinem Dasein Inhalt gab. Die Gesellschaft stob auseinander, brach in die benachbarten Faktoreien ein, kaufte Lebensmittel zusammen und sammelte sich wieder auf dem Deck des »Kamerun« mitten zwischen Käsekisten und Konservedosen.

268 Es hätte also losgehen können, und doch, es ging nicht los. Wir warteten noch auf irgend etwas. Niemand aber wußte auf was.

Der Kapitän mißhandelte voller Ungeduld mit dem Absatz die Brückendielung, er fluchte und wetterte, legte zuweilen den Mund auf den Messingtrichter des Sprachrohrs, und doch, es war klar, seine Worte durften den Dampf noch nicht entfesseln, er mußte auf irgend etwas warten. Was mochte es nur sein?

Drüben auf der Marina lief Hauptmann Dominik mit ruhigen Schritten auf und ab. Hatte er nicht das gleiche lebhafte Interesse an einem rechtzeitigen Aufbruch? Warum kam er nicht an Bord? Warum drängelte er nicht gleich uns? Es war unbegreiflich.

Derweilen waren hohe, edle Gestalten in weißen Turbanen und fliegendem Burnus über die Reeling gestiegen, hatten ihr Gepäck im Kielraum niedergelegt und sich darauf gesetzt. Die Perlen des Rosenkranzes glitten durch die Finger der weitgewanderten Männer. Sie hatten kein Auge für ihre Umgebung. Sie redeten mit ihrem Gotte, unter dessen Schutz sie ihre fromme Pilgerreise zur heil. Kaaba im steinigen Arabien gestellt hatten. Wenn der Herr für sie war, wer und was wollte wider sie streiten! Wenn Allah am Steuer stand, welcher Sturm war stark genug, den Kiel aus seinem Kurs zu drücken! Wer das Gottvertrauen gesehen hat, mit dem in mißlichen Lebenslagen Mohammeds Söhne ihr Geschick in des Allmächtigen Hand legen, der weiß, 269 daß Afrika trotz aller christlichen Missionstätigkeit dem Islam erhalten bleiben wird.

Und doch, heute schien des Herrn Auge nicht über seine Diener zu wachen. Ein Angestellter der Reederei, der an Bord kam, sah die frommen Pilger sitzen und polterte los: »Wie kommen diese braunen Wüstenstrolche an Bord? Hinaus mit ihnen. Mag der Erzengel Gabriel sie nach Mekka tragen, wir nehmen sie nicht mit. Ob sie einst Platz finden in Abrahams Schoß, soll mir gleichgültig sein. Vorläufig weiß ich nur, daß sie hier keinen Platz finden, denn die Barkasse, auf die wir heute Nacht angewiesen sind, faßt zehn Personen und darüber hinaus kein Wickelkind mehr. Also hinaus mit diesen Aufdringlichen!«

Und er griff mit rücksichtslosen Händen zu. Andere halfen ihm, und das Gepäck der ungebetenen Gäste flog über die Laufplanke ans Ufer, ihm nach die schweigenden Beduinen. Kein Zug in ihrem Gesicht verriet auch nur eine Spur von Erregung. Allah hat es gefügt, daß die Enkel jener Janitscharenhelden, die einst vor Wien gestanden, dem Gjaur sich beugen müssen. Er weiß zu welchem Zwecke. Gepriesen sei sein Name und getragen sei die Schmach bis zum Tage der Vergeltung, denn unser ist die Verheißung des Triumphes.

Kaum waren die Beduinen fort, so kam mit schnaufendem Gehetz ein Negerboy über die Planke gelaufen. Er hielt einen Brief in der Hand und bat mich, die Adresse zu lesen. Das Schreiben war an Hauptmann 270 Dominik gerichtet, und ich beeilte mich, diesem die Zeilen an Land zu bringen. Sie waren von seinem Diener und stammten aus dem Gefängnis. Man hatte den schwarzen Gentleman eingelocht auf die Angabe eines Weibes hin, die behauptete, er habe vor zwei Jahren ihre Tochter aus Nigeria mit sich nach Kamerun gelockt. Dem gegenüber versicherte Hauptmann Dominik mit Bestimmtheit, daß der Diener seit fünf Jahren auf allen seinen Zügen kreuz und quer durch Adamaua und den Sudan nicht von seiner Seite gewichen sei. Leicht hätte sich zu anderen Zeiten die Befreiung des Gefangenen ermöglichen lassen, jetzt aber konnte nichts für ihn geschehen, da die Zeit drängte. Dominik war froh, daß er wußte, wo sein Diener war, und daß er wenigstens sein Geld und seine Schlüssel besaß, die man ihm geschickt hatte, und eilte nach der Laufplanke. Wir hinter ihm drein. Während die Sirene brüllte und zur Abfahrt drängte, wußten wir nun auch, auf was wir seither gewartet hatten. Doch wozu dies nutzlose Nachdenken? Schon schlug ja die Schraube unter dem Hinterdeck Schaum, und die Steuerbordseite löste sich langsam los vom Festland. Es tanzte die Back überm trüben, ölschimmernden Wasser. Es ging den Binsenstrudeln der Lagune zu. Leb', Lagos, wohl auf Nimmerwiedersehen, wenn der Wasserstand der Lagune uns nicht foppt und wir doch am Ende wieder zu dir zurückmüssen.

In weitem Bogen ging das Schiff einer typischen Sumpflandschaft aus dem Wege. Der Oagbo, aus dem 271 Inneren des Landes kommend, irrt wie ein Geist, der die Himmelspforte verfehlt hat, zwischen Cotonou und Lagos in mancherlei Gestalten hin und her und kann den Weg ins Meer nicht finden. Elefantengras und Röhricht bildeten vor uns eine grüne Mauer, und über ihr schwebte mit schwerem Fluge der Reiher. Vielleicht hätte ich der Pelikan sagen sollen und wäre der zoologischen Wahrheit näher gekommen, indem ich zugleich mit tropischen Requisiten die Bühne schmückte. Allein die Landschaft war ein veritabler Sumpf, den auch ein Pelikan zu nichts anderem stempeln konnte. Ich hörte das Rauschen seiner Rohrbüschel, roch seine muffige Ausdünstung und berechnete im Stillen die Anzahl der Malariabazillen, die durch jede Inspiration meinen Blutbahnen zugeführt wurde. Von unten drohte der Tod, aber er tat es auch von oben. Denn die Sonne stach unbarmherzig auf meinen Schädel nieder, und ich hatte meinen Tropenhelm vergessen. Gleichwohl mochte ich mich nicht in das enge Salönchen einsperren, dessen verschossene Plüschbänke so verdächtig staubten, wenn man auch nur schonend die Faust auf sie niederdrückte. Also holte ich mir einen Klappstuhl und setzte mich neben den Kapitän auf die Brücke, über deren Brustwehr mein Kopf noch bequem hinausragte. Ich wollte allem ins Auge sehen, was da kommen mochte, und in dieser Position konnte ich das kommod genug tun.

Nicht lange mehr, und die Landschaft verlor ihren Sumpfcharakter. Die breite Wasserfläche verengte sich 272 zu einem Strome. Die Ufer wurden gewellt und trugen uns auf ihren grünen Stirnen die ganze Pracht des tropischen Urwaldes entgegen.

Hoch überm niedern Erdenleben träumt in Wolkenschleiern das Haupt der Königspalme.

Die Liane hebt ihr Blütenmeer in Ätherbläue hinein.

Aus Waldeszwielicht leuchtet der Tulpenbaum.

Am Boden hin verstreuen Azaleen und Rhododendron ihren Duft, und von den schwanken Gerten des Bambusrohres hängen vielgestaltet, vielgefärbt die Orchideen nieder, ein wahrhaft königlich Geschmeide.

Es ist keine Übertreibung, wenn ich sage: Wer empfänglichen Sinnes in den blühenden Urwald der Lagune blickt, muß Schauer empfinden wie Moses vor dem brennenden Dornbusch, muß staunend zittern vor der Größe der Schöpfergüte, die sich menschlichen Sinnen hier leibhaftig entschleiern will. Für mich war die Fahrt durch dieses Urwaldparadies ein Feiertagskirchgang, dem nur das ferne Geläute fehlte. Aber vielleicht war das gut. Die Einsamkeit war um so größer, und je weniger das Ohr zu tun hatte, um so mehr konnte das Auge in all der Schönheit wandeln, sie in sich saugen und festhalten als Erinnerungsbilder für nordische Wintertage, wenn der Frost den Fluß in Fesseln schlägt, der Sturm an den Fensterläden rüttelt, und eine weiße Schneedecke der Mutter Erde jede Farbe und jede Schönheit raubt.

273 Der Kiel schnitt ruhig in die grüne Flut, bog um bewaldete Uferecken und brachte uns des Südens üppige Flora in immer neuen Gruppierungen vielgestaltet wieder und wieder vors Auge. Aber noch war von einer Fauna nichts zu Gesicht gekommen.

Da machte mich der Kapitän auf etwas aufmerksam, was da im Flusse trieb, träge und formlos wie ein morscher Baumstamm. »Alligator« sagte der Seemann, indem er mich mit dem Ellenbogen stieß. »Die Bestie läßt sich da drüben nach den Hühnerställen treiben; da braucht sie nur den Rachen aufzumachen. Die dummen Viecher spazieren ahnungslos hinein, zappeln dem Ungeheuer mit den Füßen ein wenig um die Augen und sind verschwunden. Wer's so bequem hätte wie so ein Vielfraß. Sehen Sie, über Krokodile hätte der Sonnenkönig regieren sollen, dann war er sicher, daß jeder seiner Untertanen am Sonntag sein Huhn im Magen hatte.«

274 Ich guckte in der Richtung, die der Seemann mir mit dem Finger bezeichnete, und entdeckte in einer kleinen Bucht versteckt zunächst ein Kanu, dann etwas hellen Ufersand und auf ihm einige emsig scharrende Hühner. Fernerhin sah man im gelichteten Urwald von ungeheuren Baumriesen überschattet weit ausgebreitet, mit rauchenden Dächern ein Dorf der Eingeborenen. Nackte Kinder sprangen in die Höhe und schlugen beim Anblick des Dampfers die Hände über dem Kopf zusammen. Fette, schwarze Weiber traten unter die Türen der Hütten, und Ziegen mit neugierigen Augen wagten sich bis dicht ans Wasser vor. ›Eine von ihnen wird voraussichtlich im Magen des Alligators übernachten‹, dachte ich bei mir und sah mich nach dem gepanzerten Räuber um. Doch er war spurlos verschwunden. Auch die Hütten waren fort, als ich wieder aufguckte. Der Urwald hatte sie wieder in sein dunkles Geheimnis gehüllt.

Doch nun mehrten sich am Strome hin die menschlichen Ansiedelungen. Man sah weite Rodungen mit Bananen, Mais, Pisang und Baumwolle bepflanzt, sah Reinbestände von Öl-, Dattel- und Kokospalmen und zwischen ihren Stämmen Hütten und Gehöfte mit Ställen. Man sah zwischen den Reihen der Gummibäume schwarze Männer an der Arbeit, andere sah man im Kanu über den Strom gleiten, oder sie standen in ausgehöhlten Baumstämmen und warfen das Fischgarn in den Strom.

»Starke Ausfuhr von Öl und Kakao,« murmelte 275 der Kapitän zwischen den Zähnen durch. »Reiche Leute hier.«

»Reiche Leute,« entgegnete ich belustigt, »dann werden wir wohl bald einige aus dem Automobil sausen und das Genick brechen sehen?«

»Ganz so dumm sind sie doch nicht. Sie legen vorläufig noch ihr Geld in Weibern, statt in einem guten Tropfen Rheinwein an,« sagte der alte Seebär, rieb sich die Nase, die er aus Mangel an Besserem mit Whiskysoda etwas blau grundiert hatte, und war dann stumm wie ein Fisch. Sein Auge sah mit gespannter Aufmerksamkeit nach vorn, wo das Wasser kräuselte und das Gold der Abendsonne aus tausend kleinen Spiegeln uns entgegenwarf. Er rief kurze Kommandoworte durch das Sprachrohr in den Maschinenraum und ins Steuerhäuschen, trippelte, neigte, bückte sich und benahm sich etwa so wie einer, der einen Tiger erlegen möchte und fürchtet, daß ihn die Bestie anspringen könne. Der Dampfer, gleichfalls nervös geworden, manövrierte hin und her. Wie eine Blindschleiche tastend ihren Weg durch dürre Gräser sucht, so suchte er den seinen durch die Klippen und Untiefen der ersten Stromschnelle. Nach einer bangen Viertelstunde arbeitete die Maschine wieder lebhafter, der Kurs wurde ein gestreckter und der Kapitän sagte erleichtert: »Eine liegt hinter uns, nun noch zwei, da droben, wo der Fluß sich teilt und eine Insel zwischen seine beiden Arme nimmt.«

Wir kamen näher, sahen wieder die spiegelnden 276 Wasser, und wieder begann das vorsichtige Kreuzen des Schiffes. Alles war so still, kein Lüftchen regte sich. Es war, als ob die ganze Natur mit uns den Atem anhielte voll innerer Spannung, ob unser Wagestück gelingen werde oder nicht. Nur das Stromwasser schien uns zu grollen, denn es murrte und gurgelte verdrießlich um unseren Kiel. Doch wir blieben Sieger über seine Heimtücke und wichen mit Geschick den Klippen aus. Die ersten Sterne beleuchteten vor uns eine spiegelglatte Fläche. Da drehte sich der Kapitän herum und sagte: »So, nun will ich zu Abend speisen. Von jetzt ab haben wir Wasser genug.«

»Volldampf,« rief er durchs Sprachrohr. Das Schiff schoß durch die Wasser. Sein Lenker klingelte einen Schiffsjungen herbei, der ihm die Speisen brachte. Mir war das Zusehen gelassen. Es war unglaublich, was da nicht alles in einen Seemannsmagen hinein mußte. Wenn dieser Tenderführer die Speisung der fünftausend Mann mitgemacht hätte, der liebe Heiland wäre blamiert gewesen und die Kirchengeschichte wäre um ein beweiskräftiges Wunder ärmer. Ich bekam Sodbrennen vom Zuschauen und war froh, als der Alte fertig war und schweren Schrittes ging, um sich schlafen zu legen.

Das Deck war leer. Die meisten meiner Reisegenossen hatten sich eine Ecke gesucht, wo sie den Kopf anlehnen und schlafen konnten. Ich war allein auf der Brücke. Nur der Mond, der hinter Palmenwipfeln heraufstieg, leistete mir Gesellschaft. Vom bewaldeten Ufer her hörte 277 man zuweilen das Bellen eines Hundes, oder man sah in dunkelrotem Glanze die Feuer der Eingeborenen durch Mangrovedickicht glühen. Ein Himmelsfriede lag über Strom und Urwald und allem, was er deckt. Nur in den Tiefen der Seele arbeitete es unablässig. Gedanken und Empfindungen rangen nach Form. Sie wollten nicht bleiche Schemen bleiben, sondern Gestalten werden, die auf festen Füßen standen, wenn's auch nur Versfüße waren. Und wie denn nun so die Phantasie trotz Raum und Zeit Großes und Schönes zu verbinden weiß, so flossen Gegenwart und Vergangenheit ineinander und es wurde ein Gedicht, das folgendermaßen aus mir herausklang:

Schön ist der Tropen Sommernacht,
Wenn sie mit Zephyrkosen
Durch Palmenwedel niederlacht
Auf zitternde Mimosen.

Schön ist des Meeres stiller Strand,
Wo die Medusen blühen
Und über'm weißen Dünensand
Die Silberstraße ziehen.

Doch schöner noch, du Nordlandskind,
Ist deiner Augen Winken,
Wenn sie mit Tau gefüllet sind
Und gleich den Sternlein blinken.

Ich meinerseits war mit der poetischen Schlacke, die der Vulkan in mir ausgespieen hatte, wie das bei Dichtern meist so ist, zufrieden. Der Himmel aber 278 muß anderer Ansicht gewesen sein, denn er trübte sich und fing mit tropischer Leidenschaftlichkeit zu weinen an, so daß ich ganz naß wurde. Eben noch voll Mondesglanz, hüllte sich der Fluß in rabenschwarze Nacht. Seine Ufer waren verschwunden wie er selber. Man sah nur, soweit der Strahl der Buglampe vorausfiel, ein mattes Flimmern, wie es über Atlaswimpeln hinhuscht, wenn sie der Wind bewegt. Ich war von der Brücke heruntergetreten, denn ich störte da nur in der Gesellschaft, die sich an meine Seite drängte. Der Kapitän hatte aus dem Heizraum herauf einige Krujungen beordert, damit sie Ausguck hielten. Wo Kompaß und Berechnung aufhörten, mußte die Fahrt unter den Schutz von Niggeraugen gestellt werden, deren Sehschärfe fast durch Bretter schneidet. Die Maschine verminderte auch keineswegs ihre Tourenzahl. Im Vertrauen auf Gott und die Netzhaut der Schwarzen fuhr man in die dicke Tinte hinein, und es ging, ging bis eine Stunde vor Mitternacht. Da heulte die Sirene auf und weckte ein vielstimmiges Echo, das aus den Uferwänden schauerlich zu uns herüber hallte.

Was war geschehen? Sicher rein gar nichts. Wir hatten nur einen Strich erreicht, den menschliche Rechthaberei eigenmächtig in die Natur gezeichnet hat. Nigeria lag hinter uns und Dahomé begann. Hier endete die Machtsphäre des stolzen Albions und jene Galliens begann. Der Gegend sah das keiner an, und doch machte es sich bald fühlbar. An unserer Steuerbordseite 279 wurden nämlich am Ufer drüben Lichter wach, die hin und her wandelnd verschlafen zu uns herüber blinzelten. Bald hörte man Ruderschläge, die näher kamen, sah Laternen auf- und niedertanzen und erkannte zuletzt einen Nachen, dem von unserem Deck aus eine Trosse zugeworfen wurde. Man machte fest und warf die Strickleiter über die Reeling. Nicht lange, und es erschien eine kokette französische Dienstmütze, die über einen schwarzen Kokosnußschädel gestülpt war, überm Deckrand, und der Körper eines Zollbeamten folgte nach und dem noch ein Körper in gleicher Enveloppe.

Der Arm des Gesetzes greift tief in die Wildnis hinein. »Messieurs, la douane. Où sont vos effets?« Wir hatten nicht viel mehr, als wir auf dem Leibe trugen, und so machte Frankreich an uns ein schlechtes Geschäft. Die Zöllner verließen uns, und der Dampfer setzte seinen Weg fort.

Obwohl seither alles nach Vorschrift verlaufen war, so herrschte doch unter der Reisegesellschaft eine große Aufregung. Um Mitternacht mußten wir Porto novo erreichen. Über dieses Ziel hinaus konnte uns der geringen Flußtiefe wegen der »Kamerun« nicht tragen. Wir waren von da ab auf die französische Regierungsbarkasse angewiesen, oder wir mußten uns Schwarze suchen, die uns in ihren gehöhlten Baumstämmen weiter beförderten. Im ersteren Falle konnten wir in sieben Stunden in Cotonou sein, im letzteren vielleicht in zehn Wochen oder auch einen Tag nach dem Jüngsten 280 Gericht. Und dann der Regen! Wenn man erst, einer hinter dem anderen, im Kanu saß und unentgeltlich die Wohltat eines Sitzbades genoß, hätte man das Regenbad von oben entbehren können. Aber es war da, frostig und naß zu gleicher Zeit. Nein, das waren für die nächste Zukunft, ob so, oder so, keine erfreulichen Aussichten. Aber die Barkasse war doch im Vergleich zum Kanu ein Automobil gegenüber einem Hundefuhrwerk. Ja, aber könnte sie nicht zufällig in Reparatur sein? Oder können wir Deutsche es wirklich unserem Erbfeind zumuten, daß er des Nachts unter dem Moskitonetz hervorkriecht, in die Hosen fährt und die Barkasse zurecht macht? Und wenn er es nicht tat? Nun, dann Adieu »Eleonore«. Es muß noch vieles klappen, wenn wir dich dann auf deiner nächsten Ausreise vor der Mündung des Senegal noch einmal wieder zu sehen kriegen.

Verzagt und in unseren Hoffnungen niedergestimmt fuhren wir um Mitternacht der Landungsbrücke von Porto novo entgegen. Da rief einer mit ausgesprochen schwäbischem Dialekt vom Lande her: »Ihr müßet längsseits beifahren; längsseits.« Das klang wie Gottes Wort über dem Jordan: »Dieser ist mein geliebter Sohn.«

Da war uns einer erstanden, der sich unserer annehmen würde wie ein Vater, das wußten wir nun, der unsere Sache mit Wärme führen würde als Landsmann und überdies als gutmütiger Schwabe. Wir wären in diesem Augenblick mit einem Berliner zufrieden 281 gewesen, selbst mit einem Mann aus Neuruppin, daß uns aber der Heiland einen Schwaben schickte, das war fast zuviel des Guten: das war Pasch, Sequens und keins von beiden aus einem Würfelbecher.

Zu ihm, dem Manne aus der Nähe von Ellwangen oder Böblingen konnten wir rufen in unserer Not, und wir riefen zu ihm.

»Können wir die Barkasse haben?« klang es vielstimmig von dem Schiffe nach dem Lande hinüber.

»Ei, freilich,« rief der Landsmann des Philosophen Hegel. »Für Euch Kaibe habets wir ja schon herg'richtet. Schauts, da kommt's runter, sell da mit die rote Laterne.«

Da war jedem von uns ein Stein vom Herzen gefallen. Leichten Fußes sprangen wir ans Land, und mir persönlich war es, als ob ich schon in Hamburg vom Kehrwiedersteg nach der Stadt zu bummelte.

»Nein, was doch die Franzosen charmante Leute sind,« hörte ich hinter mir reden. »Ob wohl auch ein deutscher Oberamtmann den dreimal heiligen Staatsbesitz einer Barkasse an Angehörige einer fremden Nation verliehen hätte? Laßt uns die Franzosen loben, sie haben die Ritterlichkeit gepachtet.«

Ich mußte an Heinrich Heine denken, dem man es übel nahm, als er einst schrieb: »Laßt uns die Franzosen loben, sie haben uns die Revolution gebracht,« und dachte meinerseits: »Ja, laßt sie uns loben; Sie haben uns die Barkasse geliehen.« Und ich nahm mir vor, ihnen ehrlich und bei Heller und Pfennig zurückzugeben, was 282 dazumal von den Milliarden der Kriegsentschädigung auf mein Teil gekommen war. Auch gelobte ich im Stillen, fünf Jahre lang nicht mehr die Wacht am Rhein zu singen – die Wacht am Rhein, die diesen heimatfernen Patrioten erst neulich wieder so heimtückisch nachgeschlichen war. Da hatten sie hier an der Grenze von Dahomé am 13. Juni ihr Nationalfest gefeiert und sich einen Negerkapellmeister von Lagos kommen lassen. Ja und was geschieht? Als man die Gläser erhob und die Republik hochleben ließ, da spielte der schwarze Biedermann die Wacht am Rhein. Man war zu wohlerzogen, um den Künstler zu unterbrechen. Stehend hörte man die Melodie bis zum letzten Takt, und als man nachher das schwarze Genie fragte: »Wie er dazu komme, die Wacht am Rhein bei einer französischen Nationalfeier zu spielen?« da sagte dieses Ehrenmitglied aus dem Klub der Harmlosen: »Ja, da sind da in Lagos die Deutschen, die hören diese Weise immer sehr gern.« Und die Franzosen? Nun sie hatten hören müssen, was sie nicht gerne hören. Der Himmel vergebe ihnen für diese Buße einen Teil ihrer Sünden.

»Wie wäre der Fall in Deutschland behandelt worden?« fragte einer. Und man stellte Vergleiche an zwischen mancherlei Nationen, und alle fielen sie in dieser Sache zu Gunsten der Franzosen aus. Ja, sie hatten uns ja auch die Barkasse geliehen. Diese Barkasse, die eben näher kam mit ihren roten und grünen Lichtern an den Masten.

Ich war einer der ersten, der über Bord kletterte, 283 denn ich brauchte Schutz gegen einen feinen Staubregen, der sich dünn und zurückhaltend gab, aber doch bereits durch meinen leichten Leinenanzug bis auf die Haut vorgedrungen war. Ich setzte mich unters Sonnensegel, den Rücken der Wasserseite zugewandt, und mühte mich ab, meinem schlecht beleuchteten Zifferblatt das Geheimnis der Stunde zu entreißen, als mir eine geängstete Stimme vom Ufer her zurief: »Ei, Herr Doktor, merken Sie denn nicht, was hinter Ihnen vorgeht? Bringen Sie rasch Ihre Gliedmaßen in Sicherheit, oder Sie riskieren, daß Ihnen ein Alligator einen Arm amputiert.«

Ich drehte mich um, und wenn ich Verstand zu verlieren gehabt hätte, so wäre er in diesem Augenblicke sicher fort gewesen. Arm und Beine waren mir vor Verwunderung starr geworden. Ich stand da wie ein Wegweiser. Was war denn das? Da hatte ich doch eben an der Seite noch die Wasser des Oagbo oder Whome gesehen, und da war nun eine Wiese mit allerlei Gräsern überwuchert und durchleuchtet von den Flammenschildern von Millionen glühender Leuchtkäfer. Und doch, ich konnte es beschwören, das Schifflein hatte sich nicht vom Platze gerührt. Der Fluß war auch nicht gestohlen worden, also mußte jemand die Wiese hergetragen haben. Und so war es auch. Der Oagbo hatte es getan. Was ich vor mir hatte, war eine jener schwimmenden Triften, die sich im Urwalddickicht aus Holzgeschiebe bilden, im Weitertreiben ständig wachsen, mit einem reichen Mantel 284 tropischer Schlinggewächse sich überkleiden und Schlangen und Alligatoren eine billige Reisegelegenheit vermitteln. Die Sorge für die Sicherheit meines Lebens war bei mir immer noch etwas größer als meine Neugierde. Ich wußte die letztere auch in diesem Moment zu beherrschen. Ich wartete nicht ab, bis so ein schuppenbekleidetes Ungetüm sich mir vorstellte, sondern sprang wie ein Windhund mit großen Sätzen ans Land zurück. Langsam wie ein Floß trieb die grüne Wiese den Strom hinab, ohne uns mehr zu rauben als eine halbe Stunde Zeit, die wir allerdings recht nötig hätten brauchen können.

Als das Fahrwasser frei war, fackelte die Barkasse nicht länger. An Backbordseite wurde eine Schute vertaut, um das Gepäck mitführen zu können. Die Reisenden stiegen ein, und hurtig wie eine Schwalbe schoß das kleine elegante Ding in die Malariaatmosphäre hinein, die schwer und feucht wie Novembernebel im Geäste des Ufergesträuches hing. Moskitos fielen über uns her. Doch es ging. Wir waren nicht allzusehr von diesen Blutsaugern geplagt. Die Barkasse war ihnen zu schnell. Ehe sie sich noch zum Angriff auf unsere Haut geordnet hatten, waren wir unter ihnen weg in ruhiger, sicherer Bewegung. Ein leichtes Wiegen war alles, was uns erinnerte, daß wir im Fahren waren, und dies Wiegen war angenehm. Es rief den Schlaf herbei. So nickte ich denn mehr und mehr zur Seite und schlief ein, als mein Kopf an der Schulter meines Nachbarn eine Stütze gefunden hatte. Lange kann die süße Ruhe, die 285 mitleidsvoll mein ganzes Wesen aufgelöst hatte, nicht gedauert haben, als mich ein Stoß ins Kreuz, ein rauhes Kratzen und ein furchtbarer Schrei erweckte. Auch war ich nach vorn gefallen und lag mit dem Oberkörper in dem Schoß meines vis-à-vis. Der Pulsschlag der Maschine stockte, die Barkasse hing auf die Seite und bewegte sich nicht.

Um Himmels willen, was war geschehen? Warum der wilde Schrei der Bedienungsmannschaft, warum das Stilliegen über dem gurgelnden Wasser in der schwarzen Nacht des Urwaldes, und warum neigte sich die Barkasse, als ob sie den Spiegel des Oagbo küssen wollte, der unter sich ihr Grab versteckte. Bald war alles klar. Die an Backbordseite vertaute Schute war auf eine Untiefe geraten. Wir mußten den Versuch machen, sie vom Sande herunterzureißen. Gelang dies nicht, so konnten wir das Feuer löschen, einschlafen und sehen, was die Götter am nächsten Tage mit uns beschließen würden. Aber wo war unterdessen die »Eleonore«, die wir in keiner Weise von unserem Schicksal unterrichten konnten?

Es war eine fatale Situation. Doch das wackere Schiffchen ließ uns nicht im Stich. Die Maschine arbeitete mit Volldampf nach rückwärts. Unter uns knirschte der Sand, die Schute krachte und dehnte sich. Aber wir kamen los, wurden flott, und das Schiff schwamm weiter wie eine Forelle. Noch eine Zeitlang prickelte einem der Schrecken in den Nerven und deklamierte dem Gehirne vor, was alles hätte passieren 286 können, dann beruhigte auch er sich, und unbehelligt von den Schreckgestalten einer überreizten Phantasie schlief ich wieder ein.

Ich bin schon einmal mit Mißbehagen aus süßen Träumen gefahren, als mir ein Strolch eine Stallaterne unter die Augen hielt, schon einmal, als mir ein Wildschwein ins Gesicht schnaufte. Unangenehm waren beide Arten des Erwachens, aber sie waren doch noch gar nichts gegen die schonungslose Methode, die heute meinen Schlummer störte. Ich erhielt nämlich einen Schlag ins Kreuz, daß ich glaubte, unter dem Huf eines Flußpferdes zu liegen, und ich hörte ein Krachen, als wenn Schiffsmaste im Sturme brechen und mit Spieren und Raaen übers Deck niederhageln. Dazu das Wimmern der schwarzen Schiffsbemannung. Diesmal war's kein alarmierendes Schreien, das um Beistand rufend vielleicht noch manches ändern konnte; diesmal waren's die stilleren Klagetöne, die hinter den Geschehnissen nachjammern, obwohl sie wissen, daß sie zwecklos sind. Es gibt einen Schrecken, der plötzlich über uns niederfällt, so schnell, daß wir zum Erschrecken keine Zeit haben. Wir haben das Unglück, bevor es uns noch bedrohte. Die Folgen sind beinahe früher da als das Ereignis. Wir klagen schon nicht mehr, wir fangen an, das Geschehene als unabwendbar hinzunehmen, und in des Schiffbruchs Knirschen suchen wir nach einer Planke, an der wir das nackte Leben vielleicht retten könnten.

So war es auch jetzt. Das Auge prüfte zunächst 287 den Boden der Barkasse nach Quellen, die von da unten unheilvoll ihre Wasser spenden könnten. Sie waren nicht da. Noch sah man das Feuer unter dem Kessel glühen; also auch da war es noch trocken, und der Schornstein stand aufrecht. Das Schiff konnte keinen erheblichen Schaden genommen haben. Aber nebenan die Schute? Sie schwamm, wenn auch mit einer starken Schlagseite, schwamm neben einer senkrechten grauen Wand, über deren Wesenheit man zunächst noch keine klare Vorstellung gewinnen konnte. Die uns zugewandte Fläche war zu groß, um übersichtlich zu sein. Erst als wir weiter abtrieben, erkannten wir neben uns eine große Dhaw mit gewaltigem, trapezförmigem Segel, die ohne eine Spur von Licht sorglos im Strome schwamm. Diesem Ungetüm von Wikingerschiff also waren wir in die Rippen gerannt, ohne daß wir es durchschnitten hatten. Die Schute hatte sich wie ein Puffer vor seine Flanken gelegt. Die leichtsinnigen Schläfer auf seinem Deck konnten weiter schlafen und weitertreiben, vielleicht einem anderen Zusammenstoß entgegen. Auf dem Oagbo kennt man keine Strompolizei.

Auch wir hatten keinen erheblichen Schaden genommen, aber wir schliefen nun doch nicht mehr. Unsere Schwarzen waren nach vornen ans Bugspriet beordert, legten das Kinn auf die Reeling und durchschnitten mit den hellen Luxaugen die Nacht. Uns Weiße hielt das Schlagen der in ihrer Vertauung gelockerten Schute wach, die unablässig wider die Barkasse fuhr. Bis hierher hatte uns 288 das Mißgeschick genügsam mit seiner Tücke gepeinigt, und man hätte denken sollen, daß es uns jetzt in Ruhe lassen würde. Aber weit gefehlt. Der schwerste Teil der Unglücksnacht wartete noch auf uns.

Der Oagbo, der wie ein Rosenkranz von Perlmutter im Urwald liegt, war wieder über seine Dekade von »Gegrüßet seist du, Maria« hinaus und an einem dicken Vaterunser angekommen und zwar an einem sehr geschwollenen, dem Nicuosee. Fort waren die Ufer mit ihren Urwaldriesen, die seither wie gespenstische Schatten noch unsere Fahrt begleitet hatten. Das Auge sah nur noch in klumpig dicke Finsternis hinein, über die mit fletschenden Zähnen zuweilen weiße Wellenkämme hinhuschten. Die Barkasse kämpfte gegen einen steifen Westwind und neigte sich nach Steuerbord.

Ihr Kiel wurde spielend auf Wellenberge hinaufgetragen und glitt in gähnende Wellentäler nieder, aber er gehorchte dem Steuer und ließ sich nicht aus seinem Kurse treiben. Leichte Spritzwellen wagten zuweilen den Versuch, über Bord zu springen. Sie hatten ihre Kraft überschätzt. Kaum aufrecht stehend brachen sie zusammen und schlugen uns klatschend ins Genick. Angenehm war das nicht, wie so die klebrige Feuchtigkeit von einem Rückenwirbel zum andern tiefer kroch, aber wenns nicht schlimmer kam, wars zu ertragen.

Doch es kam schlimmer, je weiter wir uns in den See hinaus wagten. Vom offenen Meere oft nur durch eine schmale Felsenschwelle geschieden, herrschte auf dem 289 Binnenwasser der gleiche Aufruhr, der seit gestern im Atlantischen Ozean tobte. Hier mußte getanzt werden, wie draußen gegeigt wurde. Und wie wurde gegeigt! Der Wind, der um den kleinen Mast und seine runden Streben fingerte, strich die E-Saite, während die rollende Dünung unterm Stege grollte und donnerte. Es war, als ob die Hölle Kirchweih feierte und die Teufel tanzten. Wehe unserem armen Schifflein, das in den Strudel mitgerissen wurde und auf und nieder fuhr wie ein Korkstöpsel. Wehe uns, die wir vor der Dünung von Lagos geflohen waren und sie hier wiederfanden von Nacht und Finsternis umkleidet. Das Fahrzeug, das uns dort getragen hätte, konnte noch mit einer Badewanne verglichen werden, hier aber saßen wir in einem Barbierbecken. Was dem Barredampfer polizeilich verboten worden war, sollte jetzt die Nußschale der Barkasse vollbringen. An ein Gelingen des Abenteuers war ja nicht zu denken. Was geschah, wenn wir auf eine Untiefe gerieten, an die Klippe geschleudert wurden, wider einen treibenden Baumstamm rannten? Was, wenn ein Schraubenflügel brach, die Steuerkette sich für einen Augenblick festklemmte, die Laterne am Kompaß verlöschte?

Kaum gedacht, so war's geschehen. Eine schwere See holte über, brach in der Luft zusammen und goß schlimmer wie ein Wolkenbruch auf uns nieder. Da waren alle Lichter aus, und wir saßen im Dunkeln. Eine von den tausend Nöten war jetzt aufs äußerste getrieben und konnte nicht mehr gesteigert werden. Wir 290 waren naß wie die Katzen und standen bis an die Waden in einem Fußbad. Aber daß wir kein Licht mehr hatten, ach, das war so fürchterlich. Ich denke mir, wer in seinem Sarge erwacht, kann nichts schmerzlicher vermissen als diesen Himmelsfunken. Doppelt grausig ist alles im Dunkeln. Deshalb kann ich auch das Fegefeuer noch erträglich finden, weil es nach meiner Vorstellung wenigstens gut beleuchtet sein muß.

Wie sie so im Finstern schlangenartig näher kriechen, all' die Gedanken über das woher oder wohin. Wohin? Ja, da hinunter in die schlammige Tiefe, von der uns nur noch ein paar Bretter scheiden, die bald auseinanderweichen werden, denn unaufhörlich rannte die Schute mit verbissenem Haß wie ein Sturmbock gegen die Barkasse.

Wie lang man wohl brauchen wird, bis dann alles aus ist? Fünfundvierzig Sekunden etwa kann ein starker Mann den Atem anhalten. Im Theater ist das eine kurze Zeit. Im Sterben wird aber eine Dreiviertelminute doch wohl länger sein. Aber sie wird herumgehen, und dann ist Ruhe. So dachte ich und fühlte, daß die anderen gerade so dachten. Ich war nur froh, daß keiner redete. Jeder trug schweigend, was getragen werden mußte, ohne seinen Nachbar mit Stöhnen und Seufzen zu belästigen. Das war die Frucht männlicher Selbstzucht, und es war ein großes Glück. Wenn etwas die nervöse Spannung noch hätte steigern können, so wären es die Jammertöne der Verzweiflung gewesen.

291 Indessen sprang das wackere Schiff vom Wellenberg ins Tal, vom Tal zum Gipfel, bohrte sich zuweilen einen Tunnel durch die schäumenden Brecher, aber kam doch immer wieder hoch, tanzte weiter und schwamm obenauf. Das ging doch nun schon stundenlang so fort, und warum sollte es nicht noch eine Zeitlang so gehen. Wir mußten ja die längste Strecke des Weges hinter uns haben. Auch konnte der Tag nicht mehr gar so ferne sein.

Wenn doch nur einer sagen könnte, welche Stunde der Nacht es ist! Ich schätzte die Zeit so gegen fünf Uhr des Morgens. Wenn meine Rechnung stimmte, dann waren der Nacht ihre Minuten hingezählt, und jede von ihnen brauchte doch nur einmal, höchstens zweimal noch durchlebt zu werden. Ich glaube, in Momenten äußerster Gefahr denken Schicksalsgenossen einer wie der andere, denn neben mir hörte ich plötzlich eine Stimme fragen: »Hat denn nicht vielleicht einer von Euch noch ein trockenes Streichholz? Wir werden doch schon stundenlang herumgeworfen. Ich möchte wissen, ob denn diese Nacht gar kein Ende nehmen will.«

Jeder griff an seinen Kleidern auf und nieder, und zuweilen begegneten sich zwei fingernde Hände, die das gleiche Kleinod suchten, ein armseliges Streichholz, zu anderen Zeiten so gering geachtet, jetzt ersehnt wie ein Himmelsbote, der Lebensmut und Hoffnung uns zurückbringen sollte. Und doch, wie grausam sollte er uns enttäuschen, der Funke, den wir geweckt hatten! Einer rieb, ein anderer hielt das Zifferblatt der Uhr in den 292 werdenden Schein, und der ganze Bau unserer Hoffnung, an dem unsere Phantasie so fleißig gemauert hatte, stürzte in sich zusammen. – Was wir für eine halbe Nacht genommen hatten, war kaum mehr als eine Stunde gewesen. Es war erst zwei Uhr. Viermal sechzig Minuten zum mindesten lagen noch vor uns – eine Ewigkeit – bis der Tag erwachte.

Eine stumpfsinnige Resignation kam über jeden von uns. Nun war ja wohl unsere Vernichtung beschlossen. Nun brauchte man nichts mehr zu schonen, was so zu des Lebens kleinen Zierden gehört, nicht unsere Kleider, nicht unser Gepäck. Herunter mit den Dingen von der Bank und in den Sumpf des Kielraumes. Man gewann Platz, daß man die Beine etwas strecken konnte. Was für ein bescheidener Genuß war doch dies, und doch es war einer. Der einzige allerdings, den wir uns noch vorstellen konnten. Eine Art Henkersmahlzeit vor dem nahen Sterben.

Wieder ging es in Dunkel und Schweigen hinein. Mein Nachbar war eingeschlafen, und die Hälfte seines beträchtlichen Gewichtes hing auf mir. Ich ließ es geschehen. Zuweilen hörte man, daß die Tür der Feuerung aufgerissen wurde. Dann verirrte sich ein rascher Schein zu uns herüber, und man sah in seinem Glanze eine Schaufel, die Kohlen unter den Kessel warf. Dann der Knall der zugeworfenen Stahltür, und wieder Dunkel und Schweigen stundenlang – ewigkeitenlang. –

Da erwachte mit einem Male irgendwo ein 293 flüsternder Ton, und eine menschliche Stimme fragte zaghaft: »Kapitän, Kapitän, sieht man noch kein Licht?«

»Noch nicht,« war die wortkarge Antwort.

»Noch nicht?« – Dieses noch war das Wunderelixier, durch das die gebrochenen Hoffnungen wieder belebt werden konnten. – Noch nicht. – Also wartete man doch schon auf ein Küstenfeuer. Es konnte eigentlich schon da sein, war es nur noch nicht. Somit war Hoffnung, daß jede Minute den heißersehnten Schimmer bringen konnte, der uns sagte, ob wir im richtigen Kurs seien oder nicht und uns die Nähe des Festlandes verkündigte. Wie gaben wir doch dies bewegliche Element so billig. Zwanzig Breitegrade Meer für einen halben Morgen Heideland, ja für ein Plätzchen so groß nur, daß man einen Schusterstuhl hätte stellen können. Kommt und bringt zerrissene Sohlen. Mit Schuhflicken wollen wir uns ernähren, aber leben, leben! –

Da huschte etwas über die Wasser hin. Ein Ding, wie ein Windmühlenflügel, aber es war hell. Wir kannten es, hätten es umarmen und küssen mögen. Doch es war wesenlos. Geisterhaft wie es kam, war es wieder verschwunden, und doch, es hatte uns mehr gebracht wie ein Güterzug von hundert Wagen. Uns war der Lebensmut zurückgegeben. Das Blinkfeuer von Cotonou steuerte von jetzt ab den Kurs unseres Kieles. Daß wir kein Licht am Kompaß hatten, konnte uns nun nicht mehr gefährlich werden.

Indessen war das Wasser ruhiger geworden. Die 294 Schute schlug nicht mehr, nur zuweilen fühlte man noch, daß sie etwas unhöflich wider die Barkasse fuhr. Der Wind ruhte. Es war, als ob ein Vorhang ihn von uns fern hielte. Und in der Tat, man sah draußen eine schwarze Wand und zwar auf beiden Seiten der Fahrtrichtung. Der Oagbo hatte sich wieder auf sich selbst besonnen, war wieder Fluß geworden und floß bezähmt und besänftigt zwischen bewaldeten Ufern. Nun hatten wir's so gut wie schriftlich in der Tasche, daß wir gerettet waren. Denn wenn selbst das Schlimmste Ereignis wurde, so hätte man zur Not schwimmend das Ufer erreichen können.

Die Breitengrade in der Nähe des Äquators kennen keine Dämmerung, und so war denn mit einem Male plötzlich der Tag da. Man sah schwarze Dahomé-Eingeborene in ihren schmalen Kanus stehen und ihre Netze in den Fluß streuen, fast so, wie der Sämann das Korn in die Furchen wirft. Wenn das auch Schwarze waren, mit häßlichen Menschenfresserphysiognomien, es waren doch Wesen unserer Gattung, und anschließend an unsere große nächtliche Verlassenheit hatte ihre Gegenwart etwas Anheimelndes. Die Fahrt hat all' ihre Schrecken verloren und fängt schon an, mir zu gefallen, da knirscht der Kiel auf dem Strand. Die Barkasse hält, und wir steigen aus.

Feiner gelber Sand am Ufer hin, Sand so fein, daß er durch ein Stundenglas gelaufen wäre, und so beweglich, daß der Wind ihn aufheben, niederwerfen 295 und Arabesken auf die Böschungen zeichnen konnte. Das ansteigende Flußufer lag wie eine matte Goldfolie da, und schlanke Dahoméfrauen, vielleicht Reserveleutnants aus Behanzins Amazonentruppe, die mit Kalabassen zum Wasser kamen, hoben sich in ihrer Ebenholzschwärze prächtig ab von dem gelben Hintergrund. Man mußte an alte Altargemälde denken. Jedenfalls gefielen uns diese Weiber besser als wir ihnen, denn ihre stolzen Augen sahen verächtlich lächelnd auf unsere durchwässerte Erscheinung nieder. Noch vor einer Stunde um mein Leben bangend, hätte ich jetzt schon gerne wieder vor dem ewig Weiblichen eine gute Figur gemacht, und da ich keinen Spiegel hatte, so sah ich meinen Nachbar Dominik an, um durch einen Analogieschluß zu erfahren, wie es mit mir selber stehen möchte. Ich erschrak, als ich dem wetterharten Helden von Kamerun, der in fünfzehnjährigem Tropendienst tausend Gefahren getrotzt hatte, ins übernächtige, müde Gesicht sah.

Er hatte übrigens meinen fragenden Blick verstanden und sagte mit Humor: Tout comme chez vous, Doktor, wir werden keinen berückenden Eindruck machen. Zum Teufel aber auch. Eine Apollostatue aus Marmor würde runzlich geworden sein, wenn sie behandelt worden wäre wie wir. Sind wir nicht wie ein alter Waschlappen zehn Stunden lang durchs Wasser gezogen worden? Da geht die Stärke aus der Hemdenbrust. Begnügen wir uns mit dem, was wir jetzt noch sind. Wir könnten zur Stunde als Mageninhalt eines Alligators noch häßlicher aussehen.«

296 Ja, dieses Erinnern an schlechtere Zeiten war angebracht, wie es überhaupt im Leben öfter angebracht wäre, Vergangenes mit Gegenwärtigem zu vergleichen.

So ließ ich denn Weiber Weiber sein und wandte meinen Blick der Landschaft zu. Sie war echt afrikanisch. Sand und wieder Sand und zwischendrin einige vom Winde schief gewehte Palmen, denen man ansah, daß ihr hiesiger Unterstützungswohnsitz sie nur mangelhaft verköstigte. Das müßte doch wohl landeinwärts besser kommen, so dachten wir, denn die Franzosen sind alte Kolonialpolitiker, und wenn sie zugreifen, so wissen sie meistens auch warum. Wir hatten wohl nur noch keinen rechten Überblick über die Gegend. Wir waren noch im Ansteigen die sandige Böschung hinauf.

Oben angekommen, wurden wir Zuschauer eines verwunderlichen Schauspiels. Schwarze Männer in wilder Nacktheit hetzten zu ihrem Vergnügen einen kleinen Stier um eine Palme herum, wichen mit raubtierglatten Bewegungen den Angriffen seiner Hörner aus und schlugen ein unbändiges Gelächter an, wenn zufällig ein Fußtritt des gequälten Tieres einen seiner Peiniger erreicht hatte. Zuletzt warfen sie sich auf ein gegebenes Zeichen mit Geheul über ihr Opfer und rissen den Stier zu Boden. Ein wirrer Haufen schwarzer Gliedmaßen lag in wilder Unruhe über dem Sand. Gejauchze, Röcheln und Stöhnen erfüllte die Luft. Nicht lange, und nackte, blutbefleckte Leiber erhoben sich und schwangen siegestrunken blinkende Waffen im Glanze des ersten 297 Morgenstrahles. Der Einzige, der liegen blieb, war der Ochse. Er hatte diesen Ebenbildern Gottes zur Lust gedient, nun wurde er ihnen noch zum Fraß. Wahrhaftig, man kann's begreifen, daß die ältesten Völker in Tiergestalten den Abglanz der Gottheit suchten. Sie kannten sich eben selber gut genug und mochten in ihrer Bescheidenheit die Gottwesenheit nicht in menschliche Formen hüllen. Wer die Schlachtmethode der Dahoméleute roh findet, mag bedenken, daß wir in einem Lande sind, wo noch vor dreißig Jahren König Behanzin die soziale Frage löste, indem er jährlich einige Tausend der Vielen, allzu Vielen vor den Fetischaltären schlachtete. Laßt uns die Franzosen loben, die solchen Greueln ein Ende machten, und auch die hunderttausende von Palmölfässern, die sie seitdem jährlich aus dem Lande ausführen, seien ihnen gegönnt. Denn langsam, immer langsam, wir sind noch nicht auf der »Eleonore« und müssen uns die Leute warm halten, deren Gastfreundschaft wir vielleicht noch nötig brauchen können. Wer verdenkt uns in Europa, daß wir unseren Nationalhaß zähmen?

Wir hatten dem blutigen Treiben der Eingeborenen den Rücken gekehrt und wanderten auf der Suche nach dem Landungssteg – wir wußten selber nicht wohin. Von weitem winkte ein Lagerschuppen, der nach Europens übertünchter Höflichkeit aussah, und eine Mauer, so lang, wie jene von Athen nach dem Hafen Phaleron. Wir rückten beiden Gebilden auf den Leib, und ich fragte mich unterwegs des öfteren: ›Welchem Zwecke wohl 298 die sonderbare Mauer dienen möge, die mit weißen Scheiben wie ein Schießstand überzirkelt war.‹

Das Wetter war nämlich nicht ganz sichtig, und ein starker Wind, vor dem sich die Palmenwipfel schier bis zur Erde neigten, streute reichlich Wasserstaub und Flugsand in die Luft. Ich war nun nicht wenig erstaunt, als sich die Mauer bei unserem Näherkommen in Ölfässer auflöste, die auf den Dauben lagen. Da war er aufgestapelt in unübersehbar langer Reihe, der Preis, der Frankreichs Tugend lohnte, als Oberst Dodds mit dem Hinterlader im Arm den Menschenopfern ein Ende machte. Jetzt ist der Fetischdienst vernichtet, seine Tempel zerbrochen. Nur vor einem Idol noch darf geopfert werden, vor dem Fetisch Mammon. Der aber bevorzugt das Fleisch der weißen Rasse, und die Messer, mit denen er seine Opfer schlachtet, heißen: Malaria, Schwarzwasserfieber und Beulenpest. Fünfzig Prozent aller derer, die der Glanz des Goldes hergelockt, lassen ihre Knochen im Wüstensand von Dahomé.

»Weh dem Fremdling, den die Wogen
Warfen an den Unglücksstrand.«

Wehe uns, daß wir hierher nach Cotonou gerettet waren! Was hatten wir profitiert, wenn wir einem raschen Tod entronnen und einem langsamen Sterben in die Hände gelaufen waren?

Da drüben sah man Mauern aus Lehm geformt. Waren das wohl Kirchhofsmauern? Und 299 Zypressenwedel winkten darüber im Winde. Winkten sie uns? Fünfzig Prozent, das ist eine anständige Kopfsteuer. Einer sah den anderen an: Ich oder du, wenn die »Eleonore« nicht da ist; wenn sie gestern unsere Signale nicht richtig entziffert hat. Ach, und man weiß ja, wie schwer es oft ist, mit dem besten Glase selbst die Flaggen zu lesen. Wir hatten die Gefahren einer langen, bangen Nacht als Maklerlohn hinausgeworfen in einem Handel, der uns statt eines grindigen Hammels ein räudiges Schaf brachte, wenn die »Eleonore« nicht draußen vor den Brechern lag und auf uns wartete.

Doch wozu all dies nutzlose Gefrage. Wir konnten ja Gewißheit haben, brauchten ja nur zuzugehen, hinaus nach der Brücke und wußten, wieviel die Uhr geschlagen hat. Aber wir fürchteten die Gewißheit, denn wenn uns das Sehen enttäuschte, dann konnten wir mit Kassandra rufen: »Meine Blindheit gib mir wieder!« Dann war's mit dem fröhlich heiteren Sinn vorbei, für drei Wochen zum mindesten, bis für die »Eleonore« der Zwischendampfer »Alexandra« kam und uns mitnahm, auch dann noch unter der Reservatio mentalis, daß es der Seegang gestattete.

So kamen wir, in langsamer Eile vorwärtsschreitend, unter vielem Stehenbleiben an ein Schienengeleise und ließen uns von ihm führen. Es lenkte unsere Wege zwischen Lagerschuppen und Warenhäuser hindurch auf ein Wellblechhäuschen zu, das allein zuletzt noch den Ausblick auf das Meer uns vorenthielt. Indem immer 300 einer den anderen schob, waren wir doch alle um die kunstlosen Kanneluren seiner Wände herumgekommen und sahen, was wir nicht zu sehen gehofft hatten. Wir glotzten in einen grauen Nebel hinein, der oben mauerfest stand und unten einige Bewegung zeigte, indem er unter seinem Mantel hervor etwas losstürmen ließ, was wie eine Wildschweinherde aussah, weiße fletschende Gebisse sehen ließ und sich mit tobender Wut in das stählerne Filigran der Brücke stürzte. Da hatten wir sie wieder, die Dünung, die uns so verhaßte Dünung, und die Gewißheit, daß die »Eleonore« nicht da war und auch nicht kam. Denn selbst die widerlichsten Verhältnisse mit in Rechnung gezogen, mußte das Schiff vor drei Stunden bereits auf der Reede Anker geworfen haben und auf uns warten. Kein Zweifel mehr. Unsere Signale waren falsch verstanden worden, und der Kapitän suchte uns an einem Orte, wo wir nicht waren, und wir waren, wo uns niemand suchte. Schließlich ward er's müde und fuhr heim. So, nun brauchen wir keine Sybille mehr, um uns das Unglück zu prophezeien, wir hatten's zum Greifen vor uns, wir fühlten's sogar in den Beinen und ich für mein Teil so stark, daß ich matt wurde und mich gerne ein wenig gesetzt hätte, wenn ich gewußt hätte, wohin. Der Fahrdamm lag nämlich voller glasharter Kohlenschlacken, und rechts und links von ihm war nichts als ein sumpfiger Graben.

Die Brücke vor uns bot ein niedriges Geländer. Da schleppten wir uns schließlich hin, lehnten uns an 301 und guckten, einer dem anderen sprachlos ins Gesicht. Der erste, der ein in die Situation passendes Wort fand, war Hauptmann Dominik. »Eins, meine Herren,« so sagte er, »ist klar! Hier könnten wir wohl stehen bleiben, ohne fürchten zu müssen, daß uns ein Auto überfährt, aber leben bleiben würden wir dann doch nicht. Deshalb schlage ich vor, wir wandern nach Cotonou hinein und sehen, daß wir einen Kaffee oder sonst was Warmes bekommen. Später findet sich vielleicht ein Weg, der für uns gangbar ist,« und er schritt mit energischen Paradeschritten dem Dorfe zu. Wir rappelten uns auf und gingen vertrauensvoll hinter dem Manne her, der mit der Devise:

»Nicht rechts geschaut,
Nicht links geschaut,
Vorwärts gradaus, auf Gott vertraut
Und durch«

in fünfzehnjährigem Ringen das Hinterland von Kamerun bis zum Tschadsee dem jungen deutschen Reich als Kolonialbesitz angegliedert hat.

Schon hatten wir wieder das Wellblechhäuschen im Rücken, als ich merkte, daß jemand hinter mir nachkeuchte und mich beim Rockzipfel faßte. Ich drehte mich um und sah einem der Krujungen in die weißen Porzellanaugen, die vor Freude funkelten, als er vertraulich wie ein Liebesbote zu mir sagte: »Massa, der Dampfer, Massa, die ›Eleonore‹«. Doch auch die anderen hatten 302 die frohe Botschaft vernommen, und da fuhr es wie ein Schrei des Entzückens aus allen Kehlen, und es fehlte wenig und wir wären dem schwarzen Mitmenschen um den Hals gefallen, während die Geldbeutel ganz von selber aufgingen, um ihm die Freudenpost zu belohnen. Nun aber stürmte alles zurück nach der Brücke und viele Stimmen riefen gleichzeitig: »Wo, wo?«

»Hier,« sagte der Schwarze und deutete südwärts in den Nebel hinein.

Im Nu flogen die Operngläser vor die Augen. Doch sie senkten sich wieder. Es war ein eitel vergeblich Suchen. Das Schiff war nirgends zu finden. Man war ärgerlich, und erbitterte Vorwürfe hagelten auf den Neger nieder, der unsere Hoffnung so trügerisch genarrt hatte. Er aber blieb ungerührt und kalt, verfärbte sich auch nicht. Er sah nur immer mit weiter Pupille in die Ferne und sagte immer und immer wieder: »Massa, die Eleonore.«

Und in der Tat, er behielt recht. Nach einiger Zeit sahen auch unsere blöden Kulturaugen, wie in dem grauen Einerlei der Nebelwand ein noch grauerer Flecken sich abzeichnete, dicker wurde und in den Himmel hineinwuchs, klumpig und gerollt wie der Rauch von Abels Opferaltar. Es war der Atem der »Eleonore«. Noch ein paar Minuten, und wir sahen die Heißersehnte von Angesicht zu Angesicht und hörten ihre Stimme, die uns klang wie das Getön einer Äolsharfe, obgleich die Sirene heiser war und rauh wie eine Gänsegurgel.

303 Zwischen uns und die Wiedergefundene drängten sich nun noch die französischen Zöllner. Wir mußten pro Person sechzehn Franken Brückengeld bezahlen – »a la Tarifa«, wie die Kutscher zu Neapel sagen, wenn sie den Forestiere übers Ohr hauen, und durften dann hinüber auf unser Schiff.

So endete das Abenteuer in der Lagune von Dohome glücklich.

Wir hatten die gefürchtete Barre von Lagos umgangen und waren bei unserer schwimmenden Heimat angekommen. Die Verladung von der Landungsbrücke herunter und der Aufstieg am Fallreep der »Eleonore« bargen keine Gefahren mehr. 305

 


 << zurück weiter >>