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Hans hatte die kritischen Tage seines Gymnasiallebens nun hinter sich und konnte sich freier bewegen. Den Forderungen, welche die nun folgenden Klassen an ihn stellten, konnte er mit Leichtigkeit gerecht werden. Der Subrektor hatte seine Nachhilfstunden eingestellt, und so blieb Zeit für schöne Künste übrig. Hans kultivierte das Klavier, zeigte Talent und bald klang der »Schönbrunner« und »Bertrams Abschied« durch die sonst so stille Treibschule geistlicher Hochstämme. Der Rektor hörte mit Mißvergnügen diese Töne und schrieb hinter Hansens Namen in seine Konduitenliste: »Stark zur Weltlichkeit neigender Sinn.«
Der Mann hatte fein beobachtet. Hans konnte der Welt und ihrer Luft nicht entsagen, und er äugte in der Tat gefährlich nach den höheren Töchtern, die mit Musikmappen seinen Weg kreuzten. Ihm gefielen die netten Dinger, die so keck die Köpfe herumwarfen und sich selber mit den Zöpfen ohrfeigten. Die Käferfalle der Ehe stand noch so ferne von ihnen, daß sie ungeniert ihre Neigungen zeigen durften. In den Ferien setzte Hans die Mütze 109 verwegen aufs Ohr und traf eine peinliche Auswahl derer, die er mit einem Gruß beglückte. Er war der weltgewandte Mann, der sich an Onkel Schütteldichs Tische die Zähne stocherte und von Festungswerken, Brückenbauten und Altertumsfunden sehr gelehrt zu erzählen wußte. Obwohl der satte Faulpelz, um sich nicht zu überanstrengen, von allem nur die Hälfte glaubte, so blieb doch noch genug übrig, um Hans als eine interessante Persönlichkeit erscheinen zu lassen. Leute von Rang und Ansehen würdigten ihn ihres Umganges. Er tarockte mit dem Stationskommandanten, schob mit dem Schullehrer Kegel und ging mit dem Forstadjunkten auf die Jagd. Er schoß nie einen Schwanz, aber er heimste die ehrfürchtige Scheu ein, die das Publikum jedem Waffentragenden entgegenbringt.
Nach Agnes augelte er zuweilen, aber das Mädchen wich ihm aus. Sie dachte älter als er und mochte das Grüne, Unreife an ihm nicht leiden.
Mutter Höhrle nützte den Sohn in den Ferien nach ihrer Weise aus. Er hatte am Sonntag in der Kirche neben ihr in dem Herrenstuhl Platz zu nehmen, und die hochgemute Frau verstand es, die Aufmerksamkeit der Gemeinde auf ihn zu lenken, indem sie ihn des öfteren zwang, ihr Taschentuch vom Boden aufzuheben oder sich zu stellen, wenn andere knieten. So wurde Hans eine Persönlichkeit, auf die das ganze Pfarrspiel mit großen Erwartungen blickte.
Auch Vater Höhrle war nicht ohne Stolz auf seinen 110 Sohn. Er erwähnte gelegentlich bei einem Gespräche im Wirtshaus dessen gutes Zeugnis, machte an den Sonntagnachmittagen kleine Ausflüge über Land und sprach mit ihm bei Verwandten und Bekannten vor.
Hansens Schwester, Suse, ließ sich weniger von Sentimentalitäten leiten. Ihr praktischer Sinn sorgte für die nächstliegenden, realen Bedürfnisse. Sie besserte die Kleider ihres Bruders aus, besorgte dessen Wäsche, ärgerte sich über seine Stehumlegekragen, an denen die Kunst ihres Bügeleisens sich nicht bewähren wollte, und war vor allem bemüht, das Geld herbeizuschaffen, mit dem der Studienaufwand ihres Bruders bestritten werden konnte. Mit dem Markterlös der Schweine wurde der Halbjahreswechsel des Herbstes gedeckt, mit dem Verkauf eines fetten Rindes der des Frühjahrs. Doch Suse hatte zuweilen Unglück, und ein Stück Vieh wanderte zum Wasenmeister statt zum Schlächter. Dann wäre freilich Not im Lande gewesen, wenn Onkel Schütteldich mit seinen Tabak- und Heringsgroschen nicht in die Bresche getreten wäre, bis Suse auch wieder einmal Glück hatte, einen kleinen Lotteriegewinnst machte, oder einen Preis erzielte auf irgend einer Rindviehausstellung.
Der würdige Pfarrherr sah dem Treiben mit verhaltenem Kummer zu. Daß Hans entgleisen könne und für die Kirche verloren gehe, das war ihm klar, und in der Tat, es kam rascher, als man hätte denken sollen.
Ein Pfarrerstöchterchen in der Nachbarschaft des Konviktes hörte offenen Herzens und offenen Fensters unserem 111 Künstler beim Klavierspiel zu und verstand es, ihm eines Tages in eine Liebesepistel geschmackvoll verpackt einen halben Haarzopf und ein Stückchen Hackbraten zuzustellen. Den Hackbraten wußte Hans so aufzuheben, daß er unauffindbar war wie der Nibelungenhort im Rhein, den Zopf aber und die geheime Liebesoffenbarung fand der Rektor, und er geriet in ein wahres Dornengestrüpp stechender Gewissenszweifel. Das Endresultat tagelangen Nachdenkens war, daß Hans Höhrle vom Himmel nicht erkoren sei, dem Altare zu dienen, und so flog er aus dem Konvikt. Dieses Mißgeschick ertrug der Schüler leichter als die zu Hause.
Vater Höhrle konnte sich seinen Sohn auch als Richter oder Arzt denken, aber die Mutter litt darunter, daß sie bei der Primiz nicht an hervorragender Stelle im Chore knieen und im Angesichte von aller Welt Dankestränen vergießen sollte. Sie renommierte weniger mit ihrem Sohne, und wenn sie gefragt wurde, ob er bald ausgeweiht werde, sagte sie: ›Es sei noch nicht ganz sicher und nicht nur die Professoren der Gottesgelehrtheit rissen sich um ihn, sondern auch die anderen.‹
So hüpften Hansens Jahre im Wechsel von Ferien und Schulzeit wie bunte Vögel an ihm vorüber, Vögel mit glänzendem Gefieder durch Rosenhecken girrend, Vögel mit starkem Flügelschlag, die sich mit Wollust vom Sturme tragen ließen, zur Erde niedergeweht wurden und sich mit neuer Kraft wieder erhoben. Bald war er der Liebling aller seiner Lehrer, bis ihn die Verhätschelung langweilte, 112 und der Onkel Schütteldich bei ihm zum Durchbruch kam. Nach Monaten empörender Faulheit aber setzte er wieder mit frischen Kräften ein und gelangte in die Nachbarschaft des großen James, der durch all die Jahre von keinem Zufall erschüttert am Bugspriet der Klasse stand.
Es ereignete sich nichts Besonderes mehr. Der Jahrgang trieb wie eine Heringbank, der große James immer voran, den Strom der Wissenschaft hinunter, fiel an jedem August über ein Wehr und nahm anstandslos die Barre des Maturitätsexamens.
Nun rauschte vor den jungen Leuten das Meer des Lebens. Sie stürzten sich hinein. Einer verlor den anderen aus dem Auge, jeder Zusammenhang löste sich, und kaum mehr fand sich Gelegenheit, daß Hinz und Kunz sich wiedersahen. 113
So war denn auch Hans vor die große Frage gestellt: Was nun? Er war zwanzig Jahre alt und ein prächtiger Bursche. Manches Mädchen wußte das und konnte sich seinen schön gebildeten Leib nur schwer in einer Kutte denken. Auch Agnes, obwohl von mancherlei verschüchtert, hatte Augen, die ängstlich über des Jünglings nächsten Entschließungen wachten. Sie war eifersüchtig, sie gönnte ihn keiner anderen, selbst nicht der Mutter Kirche.
All die Jahre her hatte sie ihn des öfteren gesehen, aber sie vermied es, ihm nahe zu kommen, noch beherrschte sie die Schüchternheit des Mädchens. Seit in ihr die Jungfrau erwacht war, trat die kindliche Naivität zurück, sie fing an zu begehren, und doch hütete sie sich zu verraten, was ihre Sehnsucht forderte, hielt den Mund geschlossen und hütete ihre Blicke. Mußte sie auf der Straße an ihm vorüber, so senkte sie die schöne Stirne, daß er ihre Augen nicht sehen konnte, die in feuchter Glückseligkeit schwammen. Sie grüßte leichthin und schien ihn kaum zu bemerken.
114 Bei Gelegenheiten aber, wo sie ihn beobachten konnte, ohne selbst gesehen zu werden, da öffnete sie weit die Lider und faßte das Bild seiner Schönheit wie in einem Brennglase, daß seine Strahlen tief ihr Herz versengten, das so unvorsichtig mit dem Feuer spielte. Ihre Eltern hatten die gutgehende Wirtschaft »Zum Weltschirm«. Im Herrenstüble saß der Abiturient öfter unter den Honoratioren, und die Lampe mit dem grünen Schirm warf einen Heiligenschein über ihn und über alles, was im Dorfe Anspruch hatte auf das Wort Venerabile.
Wie kam es, daß Agnes in der dunklen Küche nebenan des öfteren den Herd bestieg und nach dem Fleische sah, das sich im Rauchfang bräunte? Wir wollen es dem Leser verraten. Hoch oben war ein Zugloch in der Mauer, das den Tabaksrauch der Gaststube in den Schornstein leitete, aber auch einen bequemen Überblick gestattete über die Hinterstube und ihre Insassen. Dort stand die Jungfrau oft geängstigt, als ob sie ihre Seele mit einem Verbrechen belastet hätte, zitternd, daß man sie überraschen könne, und sie stand doch, glühte vor Erregung und fror gleichzeitig.
Im Garten der Apotheke sah man Hans zuweilen mit einem Buche in der Laube sitzen. Das heißt, nicht alle Welt sah ihn. Es konnten sogar hundert Menschen außen am Fichtenzaune vorbeigehen, ohne daß ihn einer bemerkte, aber Agnes sah ihn, sah ihn von der Höhe ihrer Giebelstube herunter, und wenn sie ihn nicht ganz sah, so war sie zufrieden, wenn sie nur seine wohlgepflegten Hände entdeckte, die zuweilen auf der Fensterbrüstung des 115 Gartenhäuschens den Takt trommelten zu einer Melodie, die ihr Herz tanzen ließ in Lust und Weh.
Von ihrer Liebe geredet hatte Agnes seit ihren Kindertagen mit keinem Menschen, nicht mit einer Freundin, nicht mit der Mutter, nicht mit sich selbst und am allerwenigsten mit Hans. Und doch sehnte sie sich nach einer Aussprache mit dem Geliebten mehr, als sie sich damals wenigstens nach dem Himmel sehnte.
Im Dorfe herum redete man von der Mühle nicht mehr das Allerbeste. Es gab Leute, die von unbezahlten Rechnungen sprachen, und andere wollten gar bemerkt haben, daß der Gerichtsvollzieher auf offener Straße eindringlich auf Vater Höhrle hineinredete.
Agnes schloß nicht ohne Grund aus dem Gerede, daß mehr die Not als die freie Liebeswahl den Erkorenen ihres Herzens der Mutter Kirche zuführen könne. Man wußte ja, wie sie es versteht, mit dem Werbegold im Kasten zu klingeln und intelligente Führer zu suchen für die allezeit streitbare Armee.
Vielleicht hätte das Mädchen seinen Verlust getragen und im Gebete Trost gefunden, wenn Hans sich dem Dienste des Altares als freier Mann geweiht hätte. Der Gedanke aber, daß ihn die Not an ihrer Kette aus dem frohen Leben in die einsame Zelle eines Priesterseminars zerren könne, war ihr unleidlich. Sie fühlte, daß sie in der Lage war, helfen zu können, und daß sie reden müsse, bevor die Würfel gefallen waren.
Man kann nicht sagen, der Zufall führte Röse Ricke 116 ins Haus, denn sie schwärmte ja immer wie eine Fledermaus und war im Dämmerlicht unter das schützende Dach des Weltschirms geflogen.
»Guten Abend, Jungfer Agnes. Stricken sie nicht an einem Netz?«
»Doch, Frau Neugierde, und ich möchte mir einen Vogel fangen.«
»Wenn Ihr Euch mit einem halben Dompfaffen begnügt, so kann ich Euch sagen, wohin Ihr Euer Netz stellen müßt,« lachte die Alte.
»Hoch vor allem,« sagte Agnes aufgeräumt, »damit wir nicht statt eines Zeisigs eine Beutelratte fangen.«
»Aber eine Wasserratte dürfte es doch wohl sein, he, Jungfer Agnes? So eine, die im Mühlbau lebt oder drin groß geworden ist. Was meint Ihr dazu?« fragte sie mit anzüglichem Gelächter.
»Könnt Ihr schweigen?« fragte Agnes.
»Wie ein Sargnagel,« antwortete Röse Ricke.
»So sagt mir, Ihr, die Ihr ein Stück von Gottes Allwissenheit seid, Röse Ricke, sagt mir, was soll aus Hans Höhrle werden?«
»Nach Eurem Willen Euer Mann, Jungfer, nach seinem Willen das gleiche und ein Doktor nebenbei; aber, aber,« fügte sie bedenklich hinzu, streckte die Rechte aus und ließ den Daumen über dem Zeigefinger Kreise beschreiben, die so groß wie ein rechtschaffener Taler waren.
Agnes wußte, was das bedeuten sollte, und bemerkte verlegen: »Steht's so?«
117 »So steht's, genau so, und wenn der Husterloher Mühlwald so weiter ausgehauen wird wie bisher, so wird es ihm schwer fallen die Bretter zu liefern, in denen man den Vater Höhrle zu Grabe trägt.«
Agnes war durch die Nachricht, einen armen Schwiegervater zu bekommen, eher erfreut, als betrübt. Im Nu überschaute sie die Situation. Sie selber hatte ein respektables Vermögen. Damit wollte sie der Kirche ihr Opfer entreißen und durch Dankbarkeit den Geliebten an sich fesseln all die Tage seines Lebens. Ein nettes Häuschen mit weißen Vorhängen im blumenreichen Gärtchen, darinnen der Herr Doktor und hochwohlgeboren dessen Gemahlin und eins, zwei Lockenköpfe! Welch ein Blick in ein Himmelreich voll Glanz und Seligkeit!
Die heiße Sorge der nächsten Tage war: Wie komme ich allein mit ihm auf ein Viertelstündchen zusammen?
Der Himmel und das zuständige Kreisamt schafften Rat. Der erstere hatte das Fest Mariä Geburt in den September verlegt, das zweite hatte dem Wirt auf der Tromm einen Tanzzettel zugestanden.
Klaus Priester, der Musikant, trug seinen Bauch und seine Klarinette im Mittagssonnenschein des genannten Festtages über den kahlen Rücken des Berges. Zu seiner Seite schritt Veit Streichgut, die Baßgeige aus dem Rücken, während Franz Blasauf um sich und seinen Schnitzbuckel das Bombardon gewickelt hatte. Es war eine Hitze, daß das Kolophonium schmolz, und Bastel Fiedele, der Mann mit der dicken Schuhsohle am kurzen Bein, der den Geigenkasten 118 trug, blieb hinter seinen Kunstgenossen etwas zurück. Seine Schenkel schmerzten ihn, und in seiner Seele klang noch das tiefernste Leitmotiv einer eben überstandenen Missionswoche nach. Er war verstimmt, jetzt wo er nach empfangenen Bußsakrament zum ersten Male wieder seinem leichtlebigen Handwerk nachging.
»Nimm deine Beine unter den Arm und sieh, daß du nachkommst,« ließ Klaus Priester, der Mann an der Tete, sich hören.
»Höllenpriester, hast du es so eilig in den Teufelsrachen hineinzulaufen? Gehen wir nicht mit sieben und einem halben Bein den Weg der Sünde? Wo anders wird er enden als in dem Pech und Schwefelpfuhl? Fördern wir nicht mit unserem Handwerk alle Laster: Die Gotteslästerung, die Völlerei, den Totschlag mit und ohne mildernde Umstände? Wie gerne würde ich euch alle laufen lassen und allein den Dornenpfad der Tugend wallen, wenn die paar lumpigen Kreuzer nicht wären, die man doch die Woche über so notwendig braucht. Sei der zu einem Hammelragout zerrissen, der das lumpige Geld erfunden hat!«
»Halt's Maul, du krummer Kirchenleuchter,« herrschte ihn Klaus Priester an, »was kümmern uns die Sünden der anderen! Wir machen Musik zu gehaltenen und gebrochenen Liebesschwüren, zu den Sünden gegen das sechste und gegen das neunte Gebot. Der Mond sieht noch mehr als wir. Er kann's nicht ändern, also tun wir desgleichen, gucken zu und machen wie er, ein freundlich Gesicht.«
119 Unterdessen hatte Veit Streichgut einen Schwarm von Mädchen aufgestöbert, der rechts vom Wege hinter Ginsterbüschen lag und die ungeduldigen Füße nach süßen Walzermelodien im voraus in der Luft tanzen ließ. Zuweilen hatte sich eine von ihnen auf den Bauch gelegt und hatte den Feldweg entlang gesehen, ob sie nicht bald kämen der Baß und das Bombardon, die Trommel und die Pfeife, und nun waren sie plötzlich da und hatten das Thema heimlicher Vertraulichkeiten unterbrochen, in denen die Männer eine so wichtige Rolle spielten. Nein, das war doch auch zu arg. Der Veit war ein rechter Schlimmer, man mußte sich vor ihm schämen. Wer weiß, ob er nicht schon eine Zeitlang hinterm Busch gestanden und gelauert hatte. Wie eine Kette Rebhühner fuhren die frischen Dinger auseinander, als Streichgut plötzlich seinen Fidelbogen über die brummenden Saiten seiner Baßgeige tanzen ließ. Man sah nichts als ein Flattern, Flimmern und Blitzen heller Sommerkleider zwischen Ginster- und Wacholderstöcken und hörte nichts als ein silbernes Lachen, durchschossen von dem Schnurren der G-Saite des Kontrabasses. Veit Streichgut war ein Schlimmer und hatte die armen Mädchen in arge Verlegenheit gebracht. – Derweilen war der hinkende Nachzügler zur Stelle gekommen.
»Seid Ihr auch schon da, Ihr Cherubine der Verdammnis,« schrie Bastel Fiedele, »stellt eure Netze aus und seht, daß ihr einen kriegt, der mit euch zur Hölle fährt, da unten ist gerade wie auf einem Kasinoballe, Herrenmangel und Überfluß an Weibern.«
120 »Was in der Hölle vorgeht, schert uns nicht, wenn's nur beute nicht an Tänzern fehlt!« schrie eine aus der Schar der Versprengten.
Die anderen lachten, Klaus Priester zog seine »Gelberübe« aus der Tasche, und alsbald scheuchten jubelnde Klarinettentöne jedes Bedenken über das Morgen aus den flatternden Seelen der jugendlichen Schwärmerinnen. So kam die leichte Ware mit tänzelnden Schritten vorwärts.
Agnes, die unter den Mädchen war, gesellte sich zu Bastel Fiedele. Ihre Gegenwart wirkte beruhigend auf ihn ein. Er schimpfte nicht mehr, schritt langsam fürbaß, und das Mädchen hatte Zeit und Gelegenheit an den Knöpfen ihres Mieders die wichtige Frage zu studieren: »Kommt er, oder kommt er nicht,« bis das Wirtshaus erreicht war.
Über dem Rasen vor der Haustüre verstreut, saß auf rasch gezimmerten Bänken vor improvisierten Tischen bereits eine Anzahl Gäste. Im Nu hatte Agnes sie gemustert. Ihr Hans war nicht dabei. Es dauerte nicht lange, und Klaus Priester mit seinen Kunstgenossen hatte sich auf der erhöhten Musikantenbank eingerichtet. Alte, mit unterschiedlichen Kirchweihsaucen getaufte Notenblätter waren aufgestellt, und eine metallklingende erbärmliche Musik füllte den leeren Saal auf der Wiese. Nach und nach traten die Paare an, etwas schüchtern, als ob sie der Horror vacui beherrschte, dann aber sicherer, als die Zahl der Tanzenden sich mehrte und kräftige Absätze den Takt traten.
Agnes lag in den Armen eines Schullehrers, der bei 121 ihren Eltern den Mittagstisch hatte. Ihr blondes Haar peitschte im Schwunge der Bewegungen seine Wange, aber ihr Gesicht flog immer der Türe zu, auf deren Schwelle sie Hans zu finden hoffte.
Richtig! da war er, eine tadellose, vornehme Erscheinung, fast befremdlich in der Umgebung all der Bauernburschen und ihrer Freundinnen. Agnes zitterte, als sie ihn sah. Die eben noch so flinken Füße vermochten nicht mehr dem Takte der Musik zu folgen, sie wurden unsicher, und wohl oder übel mußte ihr Tänzer sich entschließen, mit ihr einer der Bänke zuzusteuern, die an den Wänden des Saales entlang den Ermüdeten Ruhe anboten.
Da saß sie nun und besann sich auf sich selber. Was hatte es für einen Zweck, an die Brust irgend eines gleichgültigen Menschen gelehnt, über die benetzte Diele zu rasen? Entweder er, der Einzige, kam, und dann, ja dann mit ganzer Hingabe von Leib und Seele, oder er kam nicht, nun, dann überhaupt nicht mehr. So saß sie fast trotzig an der Wand, lehnte jede Einladung zum Tanze ab, nur immer mit der hoffnungsfreudigen Erwartung beschäftigt, daß Hans den Saal durchqueren und sich ihr nähern möchte. Sie wartete lange. Schon hatte man die Lichter angezündet, und noch war er nicht nahegerückt. Schon kam ihr der Gedanke, daß er sich zu vornehm sein möchte für eine so bäuerliche Veranstaltung, als seine hohe Gestalt mit elastischen Schritten den Saal durchmaß. Ihre Augen, sonst so zaghaft, zogen ihn mit magnetischen Kräften an sich heran, und noch hatte er sie nicht erreicht, noch hatte er sich nicht verneigt 122 vor ihr, so stand sie schon, und leise neigte sich ihr voller Busen seinem Herzen. So schmiegt die Meise sich dem Weißdornhang, so greift der Rabe nach den Mistelzweigen. Wie wurden dem Kinde mit einem Male die Augen so groß. Stolz stand sie da und sah in die flimmernde, glitzernde Herrlichkeit des Kronleuchters und über die tanzenden Paare. Der Besitz des Geliebten gab ihr Sicherheit, beinah das Recht, sich über alles erhaben zu fühlen. Nur tanzen, tanzen mit ihm in jeder Richtung, selbst in die Hölle, wie Bastel Fiedele meinte.
Und als sie nun am Abend den Saal verließen und hinaustraten ins Freie, wie wurde da ihr Herz so weit, wie wurde sie da durch die Liebe dem Unendlichen so nahe verwandt. Ein leichter Nebel füllte die Täler und verhüllte alles Gegenständliche. Nur der kahle Bergesrücken war erhellt und über ihm schwamm in stahlblauen Fernen der Mond. Welch wundervolle Dreieinigkeit, der Mond und er und sie. Ist es verwunderlich, wenn sie sich vorkam wie der Mittelpunkt des Universums. Sie legte den Arm um den Nacken des Geliebten. Die Flammen der Liebe schlugen ineinander, und zum Himmel stieg das stille Gelöbnis zweier Seelen, einander treu zu sein; ein Opferdampf, dem Herrn nicht minder genehm, wie einst der Rauch vom Altare Abels.
Wie lange sie so gestanden? Wer wird das fragen! Vielleicht ständen sie heute noch, wenn nicht die Tritte anderer Gäste, die heimwärts strebten, sie verscheucht hätten. Agnes, deren aufmerksames Ohr zuerst wieder Fühlung 123 mit der Erde gewann, zog den Geliebten aus dem Bereiche des Lichtes und tauchte mit ihm in den Nebel unter, der die Seiten des Berges bedeckte. Hier, wo das feuchtgraue Dunkel sie wie furchtsam frierende Kinder enger aneinanderpreßte, fand Agnes zuerst die Sprache wieder.
»Wie weit haben wir noch nach Hause?« klang es von ihren Lippen.
»Ach, daß es nur noch eine kleine Stunde ist und nicht eine kleine Ewigkeit,« gab Hans zurück.
»Unser Hans ist im Himmel, und bis dahin könnten wir doch zusammengehen,« sagte Agnes fromm.
»Ja, mein Herz, das wollen wir, und wenn der Weg durch brot- und wasserlose Einsamkeiten führen sollte.«
»Das wird er nicht, in einigen Jahren ist mein Hans ein Herr Doktor und übernimmt die Sorge für sein Weib. Bis dahin aber, Guter, mußt du mir erlauben, dir beizustehen. Siehe, ich darf die Schuld meiner Dankbarkeit nicht so hoch anwachsen lassen, daß ich dir späterhin durch Treue die Zinsen nicht zahlen könnte. Mein Liebster, zeige, daß du mich lieb hast, indem du mir gestattest am Werke deiner Vollendung mitzuarbeiten. Gewiß, ich spüre keinen Geheimnissen nach, aber wer kann dem Flüstern des Windes sein Ohr verschließen? Siehe, Hans, ich weiß es, daß dein guter Vater nur schwer die Last der Sorge trägt, die auf seinen Schultern liegt. Dein Aufenthalt auf der Universität wird sie vermehren. Sei gnädig, du mein Bester, und laß mich ihm helfend beispringen. So kann ich einst sagen: Das, was ist, ist zu einem kleinen Teile auch 124 mit meiner Hilfe erreicht, und ich stehe nicht so arm vor dem, der mir so reichen Schatz in seiner Liebe schenkt.«
Hans war betroffen und gerührt zu gleicher Zeit. Zum ersten Male hatte er aus fremdem Mund, wenn auch mit schonenden Worten, gehört, was er seither nur von Suse wußte, daß der Glanz des Vaterhauses am Erbleichen war. Der hohe Ernst des Lebens redete zu ihm durch den liebsten Mund, den die Erde trug, und verfehlte nicht eines tiefen Eindruckes. Rasch wie der Schaumwein aus der Flasche sprudelt, schoß aus seinem Gemüte der Vorsatz, dem festgesteckten Ziele auf geradem Wege mit sicherem Schritt entgegenzugehen. Er wollte der starke Stamm werden, an dem die niedergewehte Rebe der ganzen Familie sich aufrichten sollte, und daß Agnes die stille Kraft werden wollte, die seine Wurzeln speiste, erfüllte ihn mit heiliger Verehrung für sie.
Er zog das Mädchen an sich heran und küßte sie in Dankbarkeit auf die kluge Stirn. Sie schlug die Arme um seine Schultern, überglücklich, daß das Band ihrer Liebe noch durch ein wirtschaftliches verstärkt worden sei.
Bald standen sie vorm Elternhause des Mädchens, obwohl sie nicht gesprungen waren. Der Mond hatte bereits Abschied genommen von den Zweien. Nun mußten sie es voneinander tun. Sie taten's auch, das Herz geschwellt von freudigen Erwartungen und mit dem festen Vorsatze, einer dem anderen Geist und Körper rein zu erhalten und so ihr gemeinsames Lager ohne reuevolle Hintergedanken zu einem frommen Altare der Liebe zu gestalten.
125 In den nächsten Tagen hieß es im Dorfe: »Hans Höhrle ist aus der Kutte gesprungen.«
»Doktor will er werden,« sagte Indigo, der Blaufärber, »ob's ihm dazu reicht? Zum Pfarrer braucht man einigen Verstand, zum Advokaten mehr, zum Doktor am allermeisten.«
»Ich hab's gedacht, daß was Besseres aus ihm wird,« meinte Pappdeckel, der Buchbinder. »Denn sein Studieren dauerte mir schon zu lange, der muß doch übern Pfarrer längst hinaus sein.«
»Das reißt seiner Mutter den Herzbändel durch,« orakelte Röse Ricke, »der viele Ärger über Groß und Moos hat sich ihr auf die Leber geschlagen, bereits sieht sie aus wie der Schweizerkäs. Nun auch das noch, wenn sie erst dem Limburger gleicht, dann ist damit das Leben prinzipiell nicht mehr vereinbar.«
So waren auf unseren Hans am Scheidewege die Augen vieler gerichtet. Wenige begleiteten ihn mit herzlichen Segenswünschen, die meisten erwarteten fromm, daß der neue Ikarus mit abgeschmolzenen Fittichen in den Sumpf des Stumpfsinnes zurückfallen möchte, in dem sie selber quakten. 126