Carl Karlweis
Adieu Papa
Carl Karlweis

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Adam und Eva.

Sie hieß Erwina und er hieß Peter. Sie war schwarz und schmächtig, mit großen, dunklen Augen in dem mageren Gesichtchen, er war blond und ungeschlacht, mit den tolpatschigen Händen und Füßen des Jünglings am Ausgange der Flegeljahre. Beide so eine Art Kinderausgabe von Adam und Eva. Um ein Jahr älter, war Peter um zehn Jahre dümmer oder doch ungeschickter als seine halbwüchsige Geliebte. Aber nein, Liebe war es ja nicht, was sie aneinander fesselte, seit Peter zur 39 Erholung nach einer schwer überstandenen Prüfung zu seinen Verwandten nach Langenlois geschickt worden war. Von Liebe sprachen sie nie, an Liebe dachten sie nicht. Was sie zusammenhielt, war eine gemeinsame schwere Schuld.

Du sollst nicht stehlen!

Und sie hatten gestohlen. Das war so gekommen: Erwina's Vater hielt einen Kaufladen, will sagen den Kaufladen in Langenlois. In seinem Geschäfte war alles vorräthig, was die guten Bewohner des Ortes benöthigen konnten: Wäsche und Petroleum, sauere Gurken und Regenschirme, Sodawasser und Cigarren . . . . .

Cigarren!

Das war das Unheil. Peter durfte noch nicht rauchen und sein überaus karg bemessenes Taschengeld gab diesem Verbot seiner Eltern und Lehrer noch obendrein 40 praktischen Nachdruck. Lange begnügte er sich denn auch mit dem Anschauen der verlockenden braunen Dinger, die ihn aus den zierlichen Holzschachteln so verführerisch anlachten, wenn er sich in dem dunklen Kaufladen herumtrieb. Welche Versuchung, wenn Louis, der Commis, just wegsah, oder ins Magazin hinübergegangen war! Peter widerstand ihr tapfer, bis – – nun, bis er eines Tages erlag.

Kein Sündenfall ohne Eva. Natürlich hatte Erwina den armen Peter zu dem ersten diebischen Griff verleitet. Hinter dem Hause lag der Garten und am Ende dieses Gartens ein dichtes Weidengebüsch. Dorthin eilten Beide mit ihrem Raub und pafften ihn in die Luft. Sie rauchten abwechselnd, einen Zug sie, einen Zug er, und so fort, bis ihm »so g'wiß quasi« wurde. Erwina lachte ihn hochmüthig aus 41 und rauchte allein weiter. Dabei übertrieb sie boshaft das Behagen, das ihr der Rauchgenuß angeblich verursachte. Aber allmählich wurde auch sie still und stiller. Schließlich meinte sie:

»Man muß nichts übertreiben!«

Der unverbrauchte Rest der Cigarre entsank ihrer Hand, sie selbst wurde bleich und lehnte ihr Köpfchen an Peters breite Schulter. Gemeinsame Schuld – gemeinsame Sühne . . . .

»Erwina!« rief eine Stimme vom Hause her. »Peter! Erwina! . . . . Wo seid Ihr?«

Die Stimme des Herrn im Paradiese.

Erwina zwickte Peter in den Arm.

»Die Stiefmutter!« flüsterte sie. »Rühr' Dich nicht, sonst findet sie uns!«

»Erwina! Peter!« tönte es nah und näher dem Versteck der Kinder. Diese hörten 42 die Schritte auf dem Kiesweg und duckten sich lautlos.

Die Stiefmutter horchte eine Weile, dann ging sie langsam ins Haus zurück. Sie war eine stattliche Frau, wohl um zwanzig Jahre jünger als ihr Gatte, Erwina's Vater. Dieser hatte sie aus traurigen Verhältnissen erlöst, als er sie vor drei oder vier Jahren an den Altar führte. Sie war die Tochter eines Trunkenboldes und hatte mit ihren sechs Geschwistern von Kindesbeinen aus betteln und hungern müssen. Nun sie wohlhabend war, that sie nichts für die Ihren, obgleich ihr alternder Gatte ihr jeden Wunsch von den Augen ablas.

Das nahm man ihr übel.

»Sie hat ein hartes Herz!« sagten die Leute.

44 »Sie hat gar kein Herz!« behauptete Erwina mit heißen Backen, wenn sie von der Stiefmutter sprach. »Und wenn der Vater so lieb mit ihr ist und sie abtätschelt, und sie ihm dann vor allen Leuten die Hand küßt, möchte ich ihr . . . .!«

Sie sagte nicht, was sie ihr möchte, aber die großen Augen sprühten Haß.

Peter begriff das nicht. Er hatte noch nie gehaßt. Selbst seine Lehrer fürchtete er nur.

»Du bist manchmal wie ein Frauenzimmer!« sagte Erwina zu ihm. Er wollte auch den Griff in die Cigarrenkiste nicht wiederholen. Erwina aber forderte ihn schon am nächsten Tage dazu auf. Ihr Vater schlief, und Louis, der Commis, war eben im Magazin beschäftigt.

»Greif zu – aber gleich ordentlich, für ein paarmal!« raunte sie Peter ins 45 Ohr. Da Peter unentschlossen mit baumelnden Händen dastand, blitzte sie ihn aus ihren dunklen Augen überlegen verächtlich an, schob den Muthlosen beiseite und schlich auf den Zehen zum Verkaufstisch.

»Da!« sagte sie, indem sie ihm eine Handvoll Cigarren in die Tasche seines Spensers schob, »da – Du Traumichnicht!«

»Aber –!« wehrte Peter, noch immer ängstlich. »Wenn . . . .«

Er schwieg plötzlich, denn eben schrillte die Klingel an der Ladenthür und der Forstadjunct trat ein. Das war der Riese von Langenlois, ein hübscher, baumlanger Kerl von etwa fünfundzwanzig Jahren, der täglich die Stunde Weges vom Forsthause hereinkam, um bei Erwina's Vater ein Glas Wachholder zu trinken.

46 Den Vater selbst traf er freilich nie an, denn er kam immer um die Zeit, um welche der alte Herr sein Mittagsschläfchen hielt. Aber er blieb doch meist eine geraume Weile sitzen und plauderte mit dem Commis oder mit der Stiefmutter, die als tüchtige Geschäftsfrau doch zum Rechten sehen mußte, während ihr Mann der Ruhe pflegte.

Auch diesmal war der Adjunct kaum eingetreten, als die Stiefmutter bereits im Halbdunkel des Ladens auftauchte. Sie schickte die Kinder in den Garten.

»Treibt Euch dort herum – hier habt Ihr nichts zu thun!« Erwina zog Peter hinaus.

»Sie ist dumm!« flüsterte sie ihm draußen triumphirend zu.

»Oh! Sie hat 'was bemerkt!« erwiderte er besorgt.

47 »Unsinn! Uebrigens, wenn Du Dich fürchtest, können wir die Cigarren ja zurückgeben! Mir scheint, Du traust Dich nur nicht zu rauchen!«

Das entschied. Eine solch demüthigende Zumuthung konnte Peter nicht auf sich sitzen lassen. Die Rauchversuche wurden also fortgesetzt – das Gebüsch war ja verschwiegen.

Eine Woche später sagte Erwina's Vater beim Mittagessen plötzlich zu seiner Gattin:

»Ich mein' immer, Betty, der Louis schnipft Cigarren! Die Cuba geh'n mir ein bißl zu gut ab! . . . . Kannst ihm jedensfalls auf die Finger schau'n!«

Peter erblaßte und ließ die Gabel fallen.

»Siehst Du, sie erwischen uns!« klagte er später, als er mit Erwina wieder allein war.

48 Erwina zog ein Schnoferl.

»Wir nehmen halt im Laden nichts mehr!« meinte sie achselzuckend. Und nach einer Pause:

»Wir könnten ja ein ganzes Kistl haben!«

Peter riß Augen und Ohren auf.

»Wie denn? Wieso denn? Woher denn?«

Sie zog ihn die Treppe hinauf ins Wohnzimmer.

»Dort oben, auf dem großen Garderobekasten siehst die vielen Kisteln? Das kann doch lang nicht auskommen, wenn wir da eines davon nehmen! Wir vergraben 's dann im Gebüsch, . . . . weißt, dort bei der großen Wurzel, . . . . und haben einen Schatz!«

Der Gedanke, ein ganzes Kistl zu rauben, war groß und kühn. Er 49 überwältigte Peter. Rasch wurde ein Tisch an den Kasten gerückt, ein Stuhl darauf gestellt und Erwina schwang sich hinauf – Peter sollte die Stuhlbeine halten. Er that dies auch getreulich. Da glaubte er Schritte auf der Treppe zu hören. In seiner Angst ließ er den Stuhl los, dieser kippte um und Erwina's Füße zappelten in der Luft. Sie hatte eben nach dem vordersten Kistl gelangt und vermochte sich nur noch am Sims des Garderobekastens anzuklammern, sonst wäre sie herabgestürzt.

»Aber, Peter! Nein, wie dumm Du bist!« kreischte sie. »Ueber ein Frauenzimmer! So halt' doch . . . . ich fall' ja!«

»Bst! Um Gotteswillen! Es kommt wer!«

»Unsinn! Wer soll denn kommen? Der Vater liegt auf dem Kanapee im Schlafzimmer und die Stiefmutter ist unten im 50 Laden mit dem Adjunct! Halt' den Stuhl, sag' ich Dir . . . .!«

Peter sah noch einmal ängstlich nach der Thür. Nein, er hatte sich nicht getäuscht. Jetzt hörte auch Erwina die nahenden Schritte. Aber sie verlor darum noch lange nicht den Kopf, wie der Tolpatsch von Peter.

»Gib mir einen Schupfer in die Höh'!« rief sie ihm leise, doch gebieterisch zu. »Da . . . . pack' meine Füße an und schupf' mich in die Höh', damit ich hinaufkomme! Herunter geht's nimmer! Und oben sucht mich auch niemand hinter den Cigarren! . . . . So! . . . . Und jetzt rück' den Tisch zurück!«

»Und ich?«

Peter stand rathlos mitten im Zimmer.

»Kriech' unter das Sopha und leg' Dich platt auf den Boden! Aber rühr' 51 Dich nicht! Verstehst Du! . . . . Und schau, daß Deine Füße nicht hervorstehen! Roll' Dich halt zusammen!«

Er hatte eben noch Zeit, dem Commando Erwina's zu folgen, als die Thür auch schon geöffnet wurde. Ein Frauenzimmer trat ein. Er konnte nur den Rocksaum sehen und die Damenschuhe. Diese waren nicht gerade klein und der linke Absatz ein wenig schief getreten. Ein paar Stiefel von riesenhaftem Ausmaß folgten den Damenschuhen. Das Gespräch, welches die Besitzer dieser Fußbekleidungen führten, hörte Peter wohl, verstand es aber nicht ganz. Es hatte nur den allgemeinen Eindruck, daß die Sprechenden sich über »einen Alten« beklagten, der ihnen irgendwie und in irgend etwas hinderlich zu sein schien. Die männliche Stimme war übrigens unzweifelhaft diejenige des Forstadjuncten . . . . 52 aber die weibliche? Sie klang leise und ein wenig athemlos. Jedenfalls mußte sie einer Verwandten des Forstadjuncten gehören, denn Riesenstiefel und Damenschuhe dutzten sich.

Peter machte sich übrigens darüber keine besonderen Gedanken, dazu war er auch zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Seine Lage wurde nämlich von Minute zu Minute unerträglicher. Der Staub unter dem Sopha kitzelte ihn in der Nase, er fürchtete jeden Augenblick nießen zu müssen. Auch drohte der rechte Fuß einzuschlafen, er spürte schon das Ameisenlaufen bis in die Zehen. Vorsichtig versuchte er den Fuß ein wenig zu bewegen. Himmel! Wie das gleich knarrte. Die Beiden hatten es auch richtig schon gehört.

»Da rührt sich etwas!« riefen die Damenschuhe.

53 »Aber! Wer soll denn da sein!« beruhigten die Riesenstiefel.

»Ich habe wen gehört!« versicherten die Damenschuhe ängstlich.

»Wenn wer da ist, soll er sich zeigen!« sagten die Riesenstiefel laut und herausfordernd. »Dem Kerl wird einfach der Kragen umgedreht!«

Peter schnappte nach Luft. Er spürte die Faust des Forstadjuncten bereits an seinem Halse. Das Herz pochte ihm so laut, daß er fürchtete, der Wütherich müßte es hören . . . .

Glücklicherweise erklärten die Damenschuhe, unter keiner Bedingung hier länger bleiben zu wollen und eilten der Thür zu. Die Riesenstiefel folgten. Jetzt verhallten die Schritte auf dem Flur – – –

Peter wartete, bis alles wieder ganz still war. Dann rutschte er mühselig unter 54 dem Sopha hervor. Er vermochte sich kaum aufzurichten, alle Knochen im Leibe schmerzten und an den Fußsohlen kitzelte es so unangenehm.

»Erwina!« rief er kläglich und blinzelte zu seiner Kameradin empor. Sie hockte auf dem hohen Garderobekasten und sah mit weit geöffneten Augen auf ihn herab. Nein, nicht auf ihn. Ihr Blick war nach der Thür gerichtet. Dabei war ihr Gesicht so bleich geworden und ihre Züge hatten einen so seltsam fremden Ausdruck angenommen, daß Peter erschreckt noch einmal ihren Namen rief.

Nun erst schien sie zu sich zu kommen.

»Was . . . . was hast denn g'habt?« fragte er bange.

Sie schüttelte den Kopf.

»Nichts! Gar nichts! Rück' den Tisch her! Und den Sessel!«

55 Er that es und wollte ihr beim Heruntersteigen behilflich sein, sie hieß ihn aber beiseite stehen, ordnete erst sorgfältig ihr halblanges Röckchen und stieg dann herab. Nicht mehr so keck und flink, wie sie sich vorhin hinaufgeschwungen hatte. Unten angekommen, klammerte sie sich dann an die Tischkante und stand eine Weile schwer athmend. Die Cigarren hatte sie auch nicht mitgebracht. Da er sie daran erinnerte und nun selbst hinauf wollte, riß sie ihn hastig zurück.

»Weißt Du, daß wir den armen Vater bestehlen wollten?!« rief sie und begann plötzlich herzbrechend zu schluchzen.

Er suchte sie zu beruhigen, sie aber winkte ihm, daß er gehen solle. An Gehorsam gewöhnt, schlich er zur Thür, doch hielt sie ihn noch einmal zurück.

56 »Du mußt schwören, keinem Menschen zu sagen, was Du hier gehört hast!« sagte sie feierlich.

Er hob die Finger zum Schwur. Sie faßte ihn an den Schultern und sah ihn durchdringend an. Plötzlich schlang sie ihre Arme um seinen Hals und küßte ihn stürmisch. Im nächsten Augenblick hatte sie ihn aus dem Zimmer geschoben.

Als Peter am anderen Morgen herüberkam, suchte er Erwina vergeblich im Garten und an den gewohnten Spielplätzen im Hause. Endlich fand er sie im Hinterstübchen des Ladens. Dort saß sie neben dem eifrig rechnenden Vater und stickte. Bei seinem Eintreten hob sie langsam den Kopf und sah ihn an. Eine Fremde blickte aus diesen Augen. Er kam sich auf einmal ganz erbärmlich jung vor und schlich beschämt davon. Die wilde Spiel- 57 und Diebskameradin von gestern war über Nacht ein Fräulein geworden. Und er war der Tolpatsch von gestern geblieben. Adam und Eva. 58

 

 


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