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»Ach Gott, wenn ich Sie früher gesehen hätte, gnädige Frau,« rief Doktor Müllhardt, als er Kamilla Goldegg in seinem Wartezimmer erblickte.
Sie schlug in die dargebotene Hand ein und versetzte:
»Ich wollte nur nach der Reihe herankommen, Herr Justizrath, nicht anders – ich wollte auch einmal nicht privilegirt sein. Wissen Sie, Verehrtester, daß es nicht immer ein Vergnügen ist, ein bevorzugtes Wesen zu sein?«
Er gestand zu, das nicht zu begreifen. Ihm waren der Privilegien noch immer nicht genug. Artig führte er sie in sein Zimmer, dem Bureauvorsteher zurufend: »Ich bin heute nicht mehr zu sprechen, hören Sie, Wendland?«
»Sie haben uns große Verlegenheiten bereitet, gnädige Frau,« wandte er sich an Kamilla, »wir wußten ja schon gar nicht mehr, wo Sie finden! Hatten Sie denn gar kein Verlangen, zu erfahren, wie hier Ihre Angelegenheiten stehen? Ich gebe ja zu, Hassemann ist ein tüchtiger Mann, aber das hindert nicht, daß es in einem so großen Geschäft zahllose Dinge giebt, die auf Ihre Entscheidung warten. Soll ich …?«
Sie wehrte lebhaft ab.
»Nein, nein, ich habe leider keinen Sinn dafür, liebster Herr Justizrath, ich verstehe doch nun einmal nichts davon! Es ist ja wahr, es ist fast eine Schande, daß ich an den Arbeiten meines verstorbenen Mannes kein Interesse genommen habe, aber das läßt sich nun nicht mehr ändern. In meinem Alter …«
Der Justizrath machte eine scherzhaft drohende Bewegung.
»Ich wollte Sie fragen, um etwas – mich persönlich Betreffendes.«
»O bitte, bitte,« antwortete Müllhardt; die Miene des Anwalts wurde gleichgiltig. Um was Anderes konnte es sich handeln, als um eine jener unverständigen Frauenfragen, für die er so gar kein Verständniß hatte?
»Ich habe eine Person in meinen Dienst genommen, die sich in Ehescheidung befindet. Sie ist ihrem Mann davongelaufen, aus triftigen Gründen, aber doch davongelaufen.«
»Das nennt das preußische Eherecht ›bösliche Verlassung‹, Paragraph …«
»Ja, das weiß ich, Herr Justizrath, aber die Frau hat ein Kind.«
»Um so schlimmer, dann kann die Scheidung überhaupt nicht so ohne Weiteres erfolgen. Jede Scheidung wird schwieriger, wenn einmal ein Kind da ist. Die Rechte des Kindes müssen nämlich gewahrt werden und das ist viel komplizirter, als das Laienpublikum anzunehmen beliebt.«
Kamilla zwang sich zur Ruhe, sie lächelte mühsam.
»Sie wissen vielleicht,« begann sie von Neuem, »wir Frauen halten zu einander, wenn es gegen den Mann gilt. Ich stimme für meine Wirthschafterin. Darf sie wenigstens das Kind behalten?«
»Sie wird es doch nicht allein versorgen wollen,« versetzte Müllhardt, »das wäre ja eine Thorheit! Eine arme Person, die ohnehin genug zu thun hat, sich durchzubringen und ein paar Groschen für das Alter zurückzulegen. Uebrigens, ist es ein Knabe?«
»Dann gehört er erst vom fünften Jahre ab dem Vater, vorausgesetzt nämlich, daß beide Theile gleich schuldig sind.«
Kamilla erbleichte, aber der Anwalt beachtete sie gar nicht. Ihm war die Unterredung höchst lästig, der Fall interessirte ihn nicht.
»Wie meinen Sie das, ›gleich schuldig‹, Herr Justizrath?« –
»Nun, es giebt drei Fälle: der Mann kann schuldig sein, die Frau kann es sein und endlich kann der Richter finden, daß die Schuld sich auf die Beiden gleichmäßig vertheile. Im ersteren Falle verbleiben die Kinder der Frau überhaupt, im zweiten bleiben ihr die Mädchen, während sie Knaben mit Ablauf des fünften Jahres dem Manne zu überantworten hat, und das Letztere trifft auch in dem Falle zu, wo eben die Schuld gleichmäßig vertheilt ist. In Ihrem Falle scheint ja die Frau der schuldige Theil zu sein, wohlverstanden, nach den Begriffen des Rechts. Außer dem Prozesse kann sie ja ein Ausbund von Tugend und er ein ausgemachter Schuft sein, aber das kann und darf das Gericht nicht interessiren. Der Sohn gehört dem Vater, insofern dieser nicht durch schwere Schuld das Recht auf sein Kind verwirkt hat.«
»Aber das ist ja empörend!«
»Vielleicht,« meinte der Anwalt ruhig, »unter Umständen – aber es ist so und kann nicht anders sein, weil das Gericht ja fast niemals in der Lage ist, die Individualitäten zu prüfen. Da kann wirklich nur der todte Buchstabe entscheiden.«
Es pochte in diesem Augenblick an der Thür und zwar nicht an jener, die in's Bureau führte. Ohne das Herein abzuwarten, trat Lora ein. Die Sprechstunde war ja vorüber, da pflegte sie den Vater gern zu überfallen. Diesmal war der Justizrath ganz froh darüber; er hatte weder Zeit noch Sinn für die Schmerzen der Frau Goldegg.
Die beiden Damen waren sich einmal flüchtig begegnet, bei irgend einem Wohlthätigkeitsfest, zu welchem Goldegg mit seiner Frau nach Berlin gekommen war. Doktor Müllhardt mußte seiner Tochter Frau Goldegg erst in Erinnerung bringen.
Lora hatte viel gehört von der Schönheit, dem Talent und dem Reichthum der Frau Goldegg, und jetzt war ihre Neugierde gereizt. Warum sich nicht einmal messen mit der Vielbewunderten?
Mit allem Aufgebot ihrer graziösen Salonliebenswürdigkeit schwebte sie auf Frau Goldegg zu. Justizrath Müllhardt fiel sofort mit einer dringenden Einladung ein, er würde sich außerordentlich freuen, er und seine Tochter, wenn Frau Goldegg die Güte haben wollte, ihnen den Rest des Tages zu schenken.
Aber mit einer Zerstreutheit, die fast unhöflich war, lehnte Kamilla ab. Kaum daß sie für Lora die nothwendigste Artigkeit hatte. Sie war »leider« heute versagt, es war ihr beim besten Willen nicht möglich – ein ander Mal! Und sie empfahl sich kurz.
Wüthend stampfte Lora mit dem Füßchen auf. Was hatte diese hochmüthige Person und warum gab sich Papa mit dieser Närrin ab? Schauderhaft, daß doch den Leuten die Provinz immer überall herausguckt! Und sie begann Papa zu quälen, er solle das Mandat niederlegen, denn diese Art und Weise brauche sich ein Justizrath Müllhardt nicht bieten zu lassen.
»Die wird ihrem Manne gut zusetzen,« dachte der geplagte Papa, und er beschwichtigte Lora so gut er konnte.
*
Doktor Müllhardt hatte seine redliche Plage gehabt mit dem schönen Töchterchen. So launisch und unerträglich war Lora noch nie gewesen. Nichts war ihr recht, nichts gefiel ihr, nach dem Grafen Uhlenhorst hatte sie den Sohn eines der ersten Wiener Bankiers rundweg abgewiesen. Der Justizrath wußte genau warum. Das thörichte Mädchen hatte sich in den Doktor Horn verliebt; aber der Vater mit seiner reiferen Lebenserkenntniß sah, daß Horn nicht wollte. Er hielt sich beharrlich im Hintergrund.
Müllhardt nahm das nicht ernst. Warum sollte das launische Mädchen gerade diesen Mann haben wollen, der unter den Vielen der Einzige war, der Lora nicht begehrte? Aber der weise Anwalt irrte sich.
Gerade darum wollte Lora so eigensinnig den Doktor Horn, weil er nicht wollte. Es war ihr noch nicht vorgekommen, daß ihr ein Wunsch versagt wurde. Nur einmal, mit fünfzehn Jahren, hatte sie sich einen Spreedampfer zum Geburtstag gewünscht und damals sagte Papa, das sei Unsinn, und scherzend fügte er hinzu, es sei bei den Kohlenpreisen unerschwinglich. Sonst aber gab es kaum etwas so Verrücktes, daß man ihr nicht gewährte. Lange Zeit konnte sie sich über den Dampfer nicht trösten, sie hatte es sich so schön vorgestellt. Der Dampfer hieß »Lora« und Alle, an denen er vorüberfuhr, sangen verzückt zu ihr hinauf, zur »Loreley«.
Sonst aber war ihr schier alles bewilligt worden. Ein Rococo-Boudouir und ein Ausstellungs-Piano, echte Spitzen und ein Reitpferd – letzteres ein dem Justizrath nicht wenig verübelter Luxus. Nur allein den Mann, den sie wollte, vermochte ihr Papa nicht zu schaffen! Nein, das konnte sie ihrem Vater nicht verzeihen.
Direkt von der Eisbahn fuhr sie zum Bureau Müllhardts. Es war Sprechstunde, aber was fragte sie danach! Mitten in eine wichtige Ausgleichsverhandlung platzte sie hinein.
Sie müsse warten, rief ihr der Vater sehr erregt zu; er habe jetzt keine Zeit für sie.
Wie? Sie, die Tochter – sie, Lora – warten? Was waren denn das für neue, schlimme Erfahrungen, die sie da machen mußte?
Nachdem drinnen die beiden Parteien sich geeinigt hatten, mußten die Leute im Vorzimmer warten – Lora kam heran – endlich! – schon Thränen der Ungeduld und des Zornes im Auge.
»Papa,« ging sie auf den Justizrath los, »bitte, lade doch den Doktor Horn ein – ich bitte Dich!«
Müllhardt lehnte unwirsch ab. Horn sei nun einmal nicht zu haben. Aber Lora behauptete, er habe sich heute erklärt, wenn auch zunächst nur indirekt.
Trotzdem wollte der Justizrath nichts davon wissen. Was sie da erzähle, sei nichts als Einbildung, Thorheit! Horn wollte ganz gewiß nicht. Er, der Justizrath, wisse aus persönlichster Erfahrung, wie man sich anstellt, wenn es Einem Ernst ist – gleichviel, ob aus »Liebe«, oder auch ohne Liebe! Da lasse sich keiner bitten. Das sei doch unschwer zu durchschauen!
Lora bekam einen förmlichen Weinkrampf. Ob denn Papa nicht sah, daß sie sterben würde?! Ihr gefiel eben nur Doktor Horn und sonst Niemand …
Und während dieser Szene klopfte der Bureaudiener immer wieder an der Thür, weil die draußen wartenden Klienten ungeduldig wurden.
»Ja – ja, Mädchen,« sagte der Justizrath schließlich halb ängstlich, halb unwillig, »ich werde ihn bitten, zu kommen!«
»Meine Erziehungskunst!« knurrte er, als er sie los war. Aber Lora war sein einziges, sein verhätscheltes Kind. Er erschrak vor dieser Erregung, welche er noch nie bei ihr gesehen hatte. Und er lud Horn für denselben Abend zu einer »geschäftlichen Konferenz« ein.
Guido hatte inzwischen Arnsburg seine Unterredung mit Lora mitgetheilt. Und Arnsburg zerbrach sich nun den Kopf darüber, wie er Lora beweisen könnte, daß er sie wirklich liebe. Ja – wie fängt man das an? Er konnte doch nicht auf einmal lyrisch werden – er, der erst neulich eine flammende Philippica gegen die Reimdichtung losgelassen hatte! Freilich, das war wohl mehr geschehen, um aufzufallen. Was thut ein Mitgiftjäger nicht Alles, um aufzufallen. Hatte doch jüngst ein scharfsinniger Kopf behauptet, das »Gigerlthum« sei nichts Anderes, als eine neue Form der Mitgiftjagd. Sollte er, Arnsburg, ein »Gigerl« werden?
»Ja, ich habe schauderhaftes Pech,« rief er, »ich kann nicht gleich mich ihretwegen in's Wasser stürzen, wie Du, Glückspilz!«
»Was hatte ich auch davon, daß sich mir solch glückliche Gelegenheit bot,« seufzte Horn melancholisch.
Er ging zu Müllhardt; solcher direkten Einladung war ja gar nicht auszuweichen. Vielleicht auch – ja, das war nicht unmöglich – ein Auftrag von Kamilla! Und er beflügelte seinen Schritt.
Der Justizrath kam ihm sehr höflich entgegen – aber auch nur höflich. Er ging, seiner Gewohnheit gemäß, gleich in medias res über. Er habe gehört, sagte er, daß Horn seine Kanzlei verkaufen wolle. Das war natürlich nur fingirt. Er, der Justizrath, sei müde und gar zu sehr in Anspruch genommen. Ob sich Doktor Horn nicht mit ihm associiren wolle? Man würde einfach die Horn'sche Klientel, vielleicht auch einen und den anderen der Angestellten, mit herübernehmen in das Müllhardt'sche Bureau, wogegen sich ja kaum Jemand sträuben dürfte.
Horn war geradezu sprachlos vor Staunen. Da bot sich ihm ein in der That fabelhafter Glücksfall – etwas, was er sich nie hätte träumen lassen. Wie aber kam der Justizrath zu diesem, äußerlich so gut wie unmotivirten Vorschlag?
Nur allzunahe lag die Vermuthung: Müllhardt wollte ihn zum Schwiegersohn. Es konnte nichts Geringeres sein – dem jungen Anwalt schwindelte es!
Da bot sich ihm alles mit einem Schlage: Reichthum, Stellung, eine schöne, junge Braut! Er brauchte nur zuzugreifen … Und man müßte ihn geradezu für verrückt halten, wenn er nein sagte. Aber natürlich – er mußte nein sagen! Er war ja gebunden! Mit Herz und Hand und Wort!
Mannhaft sagte er:
»Ich muß ehrlich sein, Herr Justizrath. So blendend Ihr Anerbieten ist, ich darf es nicht annehmen! Meine Privatverhältnisse müssen zuvor geregelt werden.«
»Wieso – Privatverhältnisse? Sagen wir einfach: Schulden!«
»Nein – nicht das! Schlimmeres! Ich habe mich im vorigen Sommer, so zu sagen, im Geheimen, verheirathet … Eine romantische Geschichte! Meine Frau hat mich nach einigen Tagen verlassen. Die Schuld mag auf beiden Seiten gleich groß sein. Auch ist von beiden Seiten die Scheidung im Prinzip beschlossen; aber wir sind noch nicht über die einleitenden Schritte hinausgekommen …«
Nun war es an dem Justizrath, perplex zu sein.
Wie sollte er das Lora beibringen? Indessen er beruhigte sich bald. Man mußte eben die beiden Leutchen scheiden!
»Ihr Fall ist ja schließlich sehr einfach,« meinte er, die Sache schon wieder objektiv, vom Standpunkte des Advokaten aus betrachtend. »Da ist mir erst gestern ein ungleich schwierigerer vorgetragen worden, wo nur die Frau, und auch diese nur bedingungsweise, geschieden zu werden wünscht. Das sagte ich auch der Frau Goldegg … Aber Ihr Fall ist ja ein ganz anderer: beide Theile sind einverstanden – das ist nur eine Spielerei!«
Horn suchte sich zu fassen. Der Justizrath, schon wieder ganz Geschäftsmann und völlig ahnungslos, hatte gar nicht bemerkt, wie seinen jungen Kollegen beinahe eine Ohnmacht anwandelte.
»Frau Goldegg,« preßte er hervor, »ist doch, wenn ich nicht irre, Wittwe – wie?«
»Ja,« bestätigte der Justizrath, »es handelte sich auch nicht um sie selber – gewiß, sie ist Wittwe. Sie suchte mich im Interesse eines Dritten auf.«
»Ich habe Frau Goldegg vor einiger Zeit kennen gelernt,« warf Horn, schon beruhigt hin. »Ist sie augenblicklich in Berlin?«
»Doch nicht,« versetzte der Justizrath, »sie ist gestern nach ihrer Besitzung – Schwarzenau in Thüringen – abgereist. Ich habe vor einer Stunde eine Depesche von ihr erhalten …«
Horn versprach schließlich, in den nächsten Tagen seine Akten dem Doktor Müllhardt vorzulegen. Aber er hielt sein Wort nicht, er reiste noch am selben Abend Kamilla nach. – –