Immanuel Kant
Kritik der Urteilskraft
Immanuel Kant

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§ 26
Von der Größenschätzung der Naturdinge, die zur Idee des Erhabenen erforderlich ist

Die Größenschätzung durch Zahlbegriffe (oder deren Zeichen in der Algebra) ist mathematisch, die aber in der bloßen Anschauung (nach dem Augenmaße) ist ästhetisch. Nun können wir zwar bestimmte Begriffe davon, wie groß etwas sei, nur durch Zahlen (allenfalls Annäherungen durch ins Unendliche fortgehende Zahlreihen) bekommen, deren Einheit das Maß ist; und sofern ist alle logische Größenschätzung mathematisch. Allein da die Größe des Maßes doch als bekannt angenommen werden muß, so würden, wenn diese nun wiederum nur durch Zahlen, deren Einheit ein anderes Maß sein müßte, mithin mathematisch geschätzt werden sollte, wir niemals ein erstes oder Grundmaß, mithin auch keinen bestimmten Begriff von einer gegebenen Größe haben können. Also muß die Schätzung der Größe des Grundmaßes bloß darin bestehen, daß man sie in einer Anschauung unmittelbar fassen und durch Einbildungskraft zur Darstellung der Zahlbegriffe brauchen kann: d. i. alle Größenschätzung der Gegenstände der Natur ist zuletzt ästhetisch (d. i. subjektiv und nicht objektiv bestimmt).

Nun gibt es zwar für die mathematische Größenschätzung kein Größtes (denn die Macht der Zahlen geht ins Unendliche); aber für die ästhetische Größenschätzung gibt es allerdings ein Größtes; und von diesem sage ich: daß, wenn es als absolutes Maß, über das kein größeres subjektiv (dem beurteilenden Subjekt) möglich sei, beurteilt wird, es die Idee des Erhabenen bei sich führe, und diejenige Rührung, welche keine mathematische Schätzung der Größen durch Zahlen (es sei denn, so weit jenes ästhetische Grundmaß dabei in der Einbildungskraft lebendig erhalten wird) bewirken kann, hervorbringe: weil die letztere immer nur die relative Größe durch Vergleichung mit andern gleicher Art, die erstere aber die Größe schlechthin, so weit das Gemüt sie in einer Anschauung fassen kann, darstellt.

Anschaulich ein Quantum in die Einbildungskraft aufzunehmen, um es zum Maße, oder, als Einheit, zur Größenschätzung durch Zahlen brauchen zu können, dazu gehören zwei Handlungen dieses Vermögens: Auffassung (apprehensio), und Zusammenfassung (comprehensio aesthetica). Mit der Auffassung hat es keine Not: denn damit kann es ins Unendliche gehen; aber die Zusammenfassung wird immer schwerer, je weiter die Auffassung fortrückt, und gelangt bald zu ihrem Maximum, nämlich dem ästhetisch-größten Grundmaße der Größenschätzung. Denn, wenn die Auffassung so weit gelanget ist, daß die zuerst aufgefaßten Teilvorstellungen der Sinnenanschauung in der Einbildungskraft schon zu erlöschen anheben, indes daß diese zu Auffassung mehrerer fortrückt; so verliert sie auf einer Seite ebensoviel, als sie auf der anderen gewinnt, und in der Zusammenfassung ist ein Größtes, über welches sie nicht hinauskommen kann.

Daraus läßt sich erklären, was Savary in seinen Nachrichten von Ägypten anmerkt: daß man den Pyramiden nicht sehr nahe kommen, ebensowenig als zu weit davon entfernt sein müsse, um die ganze Rührung von ihrer Größe zu bekommen. Denn ist das letztere, so sind die Teile, die aufgefaßt werden (die Steine derselben übereinander) nur dunkel vorgestellt, und ihre Vorstellung tut keine Wirkung auf das ästhetische Urteil des Subjekts. Ist aber das erstere, so bedarf das Auge einige Zeit, um die Auffassung von der Grundfläche bis zur Spitze zu vollenden; in dieser aber erlöschen immer zum Teil die ersteren, ehe die Einbildungskraft die letzteren aufgenommen hat, und die Zusammenfassung ist nie vollständig. – Ebendasselbe kann auch hinreichen, die Bestürzung, oder Art von Verlegenheit, die, wie man erzählt, den Zuschauer in der St. Peterskirche in Rom beim ersten Eintritt anwandelt, zu erklären. Denn es ist hier ein Gefühl der Unangemessenheit seiner Einbildungskraft für die Idee eines Ganzen, um sie darzustellen, worin die Einbildungskraft ihr Maximum erreicht, und, bei der Bestrebung, es zu erweitern, in sich selbst zurücksinkt, dadurch aber in ein rührendes Wohlgefallen versetzt wird.

Ich will jetzt noch nichts von dem Grunde dieses Wohlgefallens anführen, welches mit einer Vorstellung, wovon man es am wenigsten erwarten sollte, die nämlich uns die Unangemessenheit, folglich auch subjektive Unzweckmäßigkeit der Vorstellung für die Urteilskraft in der Größenschätzung merken läßt, verbunden ist; sondern bemerke nur, daß, wenn das ästhetische Urteil rein (mit keinem teleologischen als Vernunfturteile vermischt) und daran ein der Kritik der ästhetischen Urteilskraft völlig anpassendes Beispiel gegeben werden soll, man nicht das Erhabene an Kunstprodukten (z. B. Gebäuden, Säulen, usw.), wo ein menschlicher Zweck die Form sowohl als die Größe bestimmt, noch an Naturdingen, deren Begriff schon einen bestimmten Zweck bei sich führt (z. B. Tieren von bekannter Naturbestimmung), sondern an der rohen Natur (und an dieser sogar nur, sofern sie für sich keinen Reiz, oder Rührung aus wirklicher Gefahr, bei sich führt), bloß sofern sie Größe enthält, aufzeigen müsse. Denn in dieser Art der Vorstellung enthält die Natur nichts, was ungeheuer (noch was prächtig oder gräßlich) wäre; die Größe, die aufgefaßt wird, mag so weit angewachsen sein, als man will, wenn sie nur durch Einbildungskraft in ein Ganzes zusammengefaßt werden kann. Ungeheuer ist ein Gegenstand, wenn er durch seine Größe den Zweck, der den Begriff desselben ausmacht, vernichtet. Kolossalisch aber wird die bloße Darstellung eines Begriffs genannt, der für alle Darstellung beinahe zu groß ist (an das relativ Ungeheure grenzt); weil der Zweck der Darstellung eines Begriffs dadurch, daß die Anschauung des Gegenstandes für unser Auffassungsvermögen beinahe zu groß ist, erschwert wird. – Ein reines Urteil über das Erhabene aber muß gar keinen Zweck des Objekts zum Beistimmungsgrunde haben, wenn es ästhetisch und nicht mit irgendeinem Verstandes- oder Vernunfturteile vermengt sein soll.

*

Weil alles, was der bloß reflektierenden Urteilskraft ohne Interesse gefallen soll, in seiner Vorstellung subjektive und als solche allgemein-gültige Zweckmäßigkeit bei sich führen muß, gleichwohl aber hier keine Zweckmäßigkeit der Form des Gegenstandes (wie beim Schönen) der Beurteilung zum Grunde liegt; so fragt sich: welches ist diese subjektive Zweckmäßigkeit? und wodurch wird sie als Norm vorgeschrieben, um in der bloßen Größenschätzung, und zwar der, welche gar bis zur Unangemessenheit unseres Vermögens der Einbildungskraft in Darstellung des Begriffs von einer Größe getrieben worden, einen Grund zum allgemeingültigen Wohlgefallen abzugeben?

Die Einbildungskraft schreitet in der Zusammensetzung, die zur Größenvorstellung erforderlich ist, von selbst, ohne daß ihr etwas hinderlich wäre, ins Unendliche fort; der Verstand aber leitet sie durch Zahlbegriffe, wozu jene das Schema hergeben muß: und in diesem Verfahren, als zur logischen Größenschätzung gehörig, ist zwar etwas objektiv Zweckmäßiges nach dem Begriffe von einem Zwecke (dergleichen jede Ausmessung ist), aber nichts für die ästhetische Urteilskraft Zweckmäßiges und Gefallendes. Es ist auch in dieser absichtlichen Zweckmäßigkeit nichts, was die Größe des Maßes, mithin der Zusammenfassung des vielen in eine Anschauung bis zur Grenze des Vermögens der Einbildungskraft, und so weit, wie diese in Darstellungen nur immer reichen mag, zu treiben nötigte. Denn in der Verstandesschätzung der Größen (der Arithmetik) kommt man ebensoweit, ob man die Zusammenfassung der Einheiten bis zur Zahl 10 (in der Dekadik), oder nur bis 4 (in der Tetraktik) treibt; die weitere Größenerzeugung aber im Zusammensetzen, oder, wenn das Quantum in der Anschauung gegeben ist, im Auffassen, bloß progressiv (nicht komprehensiv) nach einem angenommenen Progressionsprinzip verrichtet. Der Verstand wird in dieser mathematischen Größenschätzung ebensogut bedient und befriedigt, ob die Einbildungskraft zur Einheit eine Größe, die man in einem Blick fassen kann, z. B. einen Fuß oder Rute, oder ob sie eine deutsche Meile, oder gar einen Erddurchmesser, deren Auffassung zwar, aber nicht die Zusammenfassung in eine Anschauung der Einbildungskraft (nicht durch die comprehensio aesthetica, obzwar gar wohl durch comprehensio logica in einen Zahlbegriff) möglich ist, wähle. In beiden Fällen geht die logische Größenschätzung ungehindert ins Unendliche.

Nun aber hört das Gemüt in sich auf die Stimme der Vernunft, welche zu allen gegebenen Größen, selbst denen, die zwar niemals ganz aufgefaßt werden können, gleichwohl aber (in der sinnlichen Vorstellung) als ganz gegeben beurteilt werden, Totalität fordert, mithin Zusammenfassung in eine Anschauung, und für alle jene Glieder einer fortschreitend-wachsenden Zahlreihe Darstellung verlangt, und selbst das Unendliche (Raum und verflossene Zeit) von dieser Forderung nicht ausnimmt, vielmehr es unvermeidlich macht, sich dasselbe (in dem Urteile der gemeinen Vernunft) als ganz (seiner Totalität nach) gegeben zu denken.

Das Unendliche aber ist schlechthin (nicht bloß komparativ) groß. Mit diesem verglichen, ist alles andere (von derselben Art Größen) klein. Aber, was das Vornehmste ist, es als ein Ganzes auch nur denken zu können, zeigt ein Vermögen des Gemüts an, welches allen Maßstab der Sinne übertrifft. Denn dazu würde eine Zusammenfassung erfordert werden, welche einen Maßstab als Einheit lieferte, der zum Unendlichen ein bestimmtes, in Zahlen angebliches Verhältnis hätte: welches unmöglich ist. Das gegebene Unendliche aber dennoch ohne Widerspruch auch nur denken zu können, dazu wird ein Vermögen, das selbst übersinnlich ist, im menschlichen Gemüte erfordert. Denn nur durch dieses und dessen Idee eines Noumenons, welches selbst keine Anschauung verstattet, aber doch der Weltanschauung, als bloßer Erscheinung, zum Substrat untergelegt wird, wird das Unendliche der Sinnenwelt in der reinen intellektuellen Größenschätzung unter einem Begriffe ganz zusammengefaßt, obzwar es in der mathematischen durch Zahlenbegriffe nie ganz gedacht werden kann. Selbst ein Vermögen, sich das Unendliche der übersinnlichen Anschauung, als (in seinem intelligibelen Substrat) gegeben, denken zu können, übertrifft allen Maßstab der Sinnlichkeit, und ist über alle Vergleichung selbst mit dem Vermögen der mathematischen Schätzung groß; freilich wohl nicht in theoretischer Absicht zum Behuf des Erkenntnisvermögens, aber doch als Erweiterung des Gemüts, welches die Schranken der Sinnlichkeit in anderer (der praktischen) Absicht zu überschreiten sich vermögend fühlt.

Erhaben ist also die Natur in derjenigen ihrer Erscheinungen, deren Anschauung die Idee ihrer Unendlichkeit bei sich führt. Dieses letztere kann nun nicht anders geschehen, als durch die Unangemessenheit selbst der größten Bestrebung unserer Einbildungskraft in der Größenschätzung eines Gegenstandes. Nun ist aber für die mathematische Größenschätzung die Einbildungskraft jedem Gegenstande gewachsen, um für dieselbe ein hinlängliches Maß zu geben, weil die Zahlbegriffe des Verstandes, durch Progression, jedes Maß einer jeden gegebenen Größe angemessen machen können. Also muß es die ästhetische Größenschätzung sein, in welcher die Bestrebung zur Zusammenfassung, die das Vermögen der Einbildungskraft überschreitet, die progressive Auffassung in ein Ganzes der Anschauung zu begreifen gefühlt, und dabei zugleich die Unangemessenheit dieses im Fortschreiten unbegrenzten Vermögens wahrgenommen wird, ein mit dem mindesten Aufwande des Verstandes zur Größenschätzung taugliches Grundmaß zu fassen und zur Größenschätzung zu gebrauchen. Nun ist das eigentliche unveränderliche Grundmaß der Natur das absolute Ganze derselben, welches, bei ihr als Erscheinung, zusammengefaßte Unendlichkeit ist. Da aber dieses Grundmaß ein sich selbst widersprechender Begriff ist (wegen der Unmöglichkeit der absoluten Totalität eines Progressus ohne Ende); so muß diejenige Größe eines Naturobjekts, an welcher die Einbildungskraft ihr ganzes Vermögen der Zusammenfassung fruchtlos verwendet, den Begriff der Natur auf ein übersinnliches Substrat (welches ihr und zugleich unserm Vermögen zu denken zum Grunde liegt) führen, welches über allen Maßstab der Sinne groß ist, und daher nicht sowohl den Gegenstand, als vielmehr die Gemütsstimmung in Schätzung desselben, als erhaben beurteilen läßt.

Also, gleichwie die ästhetische Urteilskraft in Beurteilung des Schönen die Einbildungskraft in ihrem freien Spiele auf den Verstand bezieht, um mit dessen Begriffen überhaupt (ohne Bestimmung derselben) zusammenzustimmen; so bezieht sich dasselbe Vermögen in Beurteilung eines Dinges als erhabenen auf die Vernunft, um zu deren Ideen (unbestimmt welchen) subjektiv übereinzustimmen, d. i. eine Gemütsstimmung hervorzubringen, welche derjenigen gemäß und mit ihr verträglich ist, die der Einfluß bestimmter Ideen (praktischer) auf das Gefühl bewirken würde.

Man sieht hieraus auch, daß die wahre Erhabenheit nur im Gemüte des Urteilenden, nicht in dem Naturobjekte, dessen Beurteilung diese Stimmung desselben veranlaßt, müsse gesucht werden. Wer wollte auch ungestalte Gebirgsmassen, in wilder Unordnung übereinander getürmt, mit ihren Eispyramiden, oder die düstere tobende See, usw. erhaben nennen? Aber das Gemüt fühlt sich in seiner eigenen Beurteilung gehoben, wenn es, indem es sich in der Betrachtung derselben, ohne Rücksicht auf ihre Form, der Einbildungskraft, und einer obschon ganz ohne bestimmten Zweck damit in Verbindung gesetzten, jene bloß erweiternden Vernunft, überläßt, die ganze Macht der Einbildungskraft dennoch ihren Ideen unangemessen findet.

Beispiele vom Mathematisch-Erhabenen der Natur in der bloßen Anschauung liefern uns alle die Fälle, wo uns nicht sowohl ein größerer Zahlbegriff, als vielmehr große Einheit als Maß (zu Verkürzung der Zahlreihen) für die Einbildungskraft gegeben wird. Ein Baum, den wir nach Mannshöhe schätzen, gibt allenfalls einen Maßstab für einen Berg; und, wenn dieser etwa eine Meile hoch wäre, kann er zur Einheit für die Zahl, welche den Erddurchmesser ausdrückt, dienen, um den letzteren anschaulich zu machen; der Erddurchmesser, für das uns bekannte Planetensystem, dieses für das der Milchstraße; und die unermeßliche Menge solcher Milchstraßensysteme unter dem Namen der Nebelsterne, welche vermutlich wiederum ein dergleichen System unter sich ausmachen, lassen uns hier keine Grenzen erwarten. Nun liegt das Erhabene, bei der ästhetischen Beurteilung eines so unermeßlichen Ganzen, nicht sowohl in der Größe der Zahl, als darin, daß wir im Fortschritte immer auf desto größere Einheiten gelangen; wozu die systematische Abteilung des Weltgebäudes beiträgt, die uns alles Große in der Natur immer wiederum als klein, eigentlich aber unsere Einbildungskraft in ihrer ganzen Grenzlosigkeit, und mit ihr die Natur als gegen die Ideen der Vernunft, wenn sie eine ihnen angemessene Darstellung verschaffen soll, verschwindend vorstellt.


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