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Daß Tugend erworben werden müsse (nicht angeboren sei), liegt, ohne sich deshalb auf anthropologische Kenntnisse aus der Erfahrung berufen zu dürfen, schon in dem Begriffe derselben. Denn das sittliche Vermögen des Menschen wäre nicht Tugend, wenn es nicht durch die Stärke des Vorsatzes in dem Streit mit so mächtigen entgegenstehenden Neigungen hervorgebracht wäre. Sie ist das Produkt aus der reinen praktischen Vernunft, so fern diese im Bewußtsein ihrer Überlegenheit (aus Freiheit) über jene die Obermacht gewinnt.
Daß sie könne und müsse gelehrt werden, folgt schon daraus, daß sie nicht angeboren ist; die Tugendlehre ist also eine Doktrin. Weil aber durch die bloße Lehre, wie man sich verhalten solle, um dem Tugendbegriffe angemessen zu sein, die Kraft zur Ausübung der Regeln noch nicht erworben wird, so meinten die Stoiker hiemit nur, die Tugend könne nicht durch bloße Vorstellungen der Pflicht, durch Ermahnungen (paränetisch), gelehrt, sondern sie müsse durch Versuche der Bekämpfung des inneren Feindes im Menschen (asketisch) kultiviert, geübt werden; denn man kann nicht alles sofort, was man will, wenn man nicht vorher seine Kräfte versucht und geübt hat, wozu aber freilich die Entschließung auf einmal vollständig genommen werden muß: weil die Gesinnung ( animus) sonst bei einer Kapitulation mit dem Laster, um es allmählig zu verlassen, an sich unlauter und selbst lasterhaft sein, mithin auch keine Tugend (als die auf einem einzigen Prinzip beruht) hervorbringen könnte.
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Was nun die doktrinale Methode betrifft (denn methodisch muß eine jede wissenschaftliche Lehre sein: sonst wäre der Vortrag tumultuarisch): so kann sie auch nicht fragmentarisch, sondern muß systematisch sein, wenn die Tugendlehre eine Wissenschaft vorstellen soll. – Der Vortrag aber kann entweder akroamatisch, da alle Andere, welchen er geschieht, bloße Zuhörer sind, oder erotematisch sein, wo der Lehrer das, was er seine Jünger lehren will, ihnen abfrägt; und diese erotematische Methode ist wiederum entweder die, da er es ihrer Vernunft, die DIALOGISCHE Lehrart, oder bloß ihrem Gedächtnisse abfragt, die KATECHETISCHE Lehrart. Denn wenn jemand der Vernunft des Anderen etwas abfragen will, so kann es nicht anders als dialogisch, d. i. dadurch geschehen: daß Lehrer und Schüler einander wechselseitig fragen und antworten. Der Lehrer leitet durch Fragen den Gedankengang seines Lehrjüngers dadurch, daß er die Anlage zu gewissen Begriffen in demselben durch vorgelegte Fälle bloß entwickelt (er ist die Hebamme seiner Gedanken); der Lehrling, welcher hiebei inne wird, daß er selbst zu denken vermöge, veranlaßt durch seine Gegenfragen (über Dunkelheit, oder den eingeräumten Sätzen entgegenstehende Zweifel), daß der Lehrer nach dem docendo discimus selbst lernt, wie er gut fragen müsse. [Denn es ist eine an die Logik ergehende, noch nicht genugsam beherzigte Forderung: daß sie auch Regeln an die Hand gebe, wie man zweckmäßig suchen solle, d. i. nicht immer bloß für bestimmende, sondern auch für vorläufige Urteile ( iudicia praevia), durch die man auf Gedanken gebracht wird; eine Lehre, die selbst dem Mathematiker zu Erfindungen ein Fingerzeig sein kann und die von ihm auch oft angewandt wird.]
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Das erste und notwendigste doktrinale Instrument der Tugendlehre für den noch rohen Zögling ist ein moralischer Katechism. Dieser muß vor dem Religionskatechism hergehen und kann nicht bloß als Einschiebsel in die Religionslehre mit verwebt, sondern muß abgesondert, als ein für sich bestehendes Ganze, vorgetragen werden: denn nur durch rein moralische Grundsätze kann der Überschritt von der Tugendlehre zur Religion getan werden, weil dieser ihre Bekenntnisse sonst unlauter sein würden. – Daher haben gerade die würdigsten und größten Theologen Anstand genommen, für die statutarische Religionslehre einen Katechism abzufassen (und sich zugleich für ihn zu verbürgen); da man doch glauben sollte, es wäre das Kleinste, was man aus dem großen Schatz ihrer Gelehrsamkeit zu erwarten berechtigt wäre.
Dagegen hat ein rein moralischer Katechism, als Grundlehre der Tugendpflichten, keine solche Bedenklichkeit oder Schwierigkeit, weil er aus der gemeinen Menschenvernunft (seinem Inhalte nach) entwickelt werden kann und nur den didaktischen Regeln der ersten Unterweisung (der Form nach) angemessen werden darf. Das formale Prinzip eines solchen Unterrichts aber verstattet zu diesem Zweck nicht die sokratisch- dialogische Lehrart: weil der Schüler nicht einmal weiß, wie er fragen soll; der Lehrer ist also allein der Fragende. Die Antwort aber, die er aus der Vernunft des Lehrlings methodisch auslockt, muß in bestimmten, nicht leicht zu verändernden Ausdrücken abgefaßt und aufbewahrt, mithin seinem Gedächtnis anvertraut werden: als worin die katechetische Lehrart sich sowohl von der dogmatischen (da der Lehrer allein spricht), als auch der dialogischen (da beide Teile einander fragend und antwortend sind) unterscheidet.
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Das experimentale (technische) Mittel der Bildung zur Tugend ist das gute Beispiel an dem Lehrer selbst (von exemplarischer Führung zu sein) und das warnende an Andern; denn Nachahmung ist dem noch ungebildeten Menschen die erste Willensbestimmung zu Annehmung von Maximen, die er sich in der Folge macht. – Die Angewöhnung oder Abgewöhnung ist die Begründung einer beharrlichen Neigung ohne alle Maximen durch die öftere Befriedigung derselben; und ist ein Mechanism der Sinnesart statt eines Prinzips der Denkungsart (wobei das Verlernen in der Folge schwerer wird als das Erlernen). – Was aber die Kraft des Exempels (es sei zum Guten oder Bösen) betrifft, was sich dem Hange zur Nachahmung oder Warnung darbietet Beispiel, ein deutsches Wort, was man gemeiniglich für Exempel als ihm gleichgeltend braucht, ist mit diesem nicht von einerlei Bedeutung. Woran ein Exempel nehmen und zur Verständlichkeit eines Ausdrucks ein Beispiel anführen, sind ganz verschiedene Begriffe. Das Exempel ist ein besonderer Fall von einer praktischen Regel, sofern diese die Tunlichkeit oder Untunlichkeit einer Handlung vorstellt. Hingegen ein Beispiel ist nur das Besondere ( concretum), als unter dem Allgemeinen nach Begriffen ( abstractum) enthalten vorgestellt, und bloß theoretische Darstellung eines Begriffs., so kann das, was uns Andere geben, keine Tugendmaxime begründen. Denn diese besteht gerade in der subjektiven Autonomie der praktischen Vernunft eines jeden Menschen, mithin daß nicht anderer Menschen Verhalten, sondern das Gesetz uns zur Triebfeder dienen müsse. Daher wird der Erzieher seinem verunarteten Lehrling nicht sagen: Nimm ein Exempel an jenem guten (ordentlichen, fleißigen) Knaben! denn das wird jenem nur zur Ursache dienen, diesen zu hassen, weil er durch ihn in ein nachteiliges Licht gestellt wird. Das gute Exempel (der exemplarische Wandel) soll nicht als Muster, sondern nur zum Beweise der Tunlichkeit des Pflichtmäßigen dienen. Also nicht die Vergleichung mit irgend einem andern Menschen (wie er ist), sondern mit der Idee (der Menschheit), wie er sein soll, also mit dem Gesetz, muß dem Lehrer das nie fehlende Richtmaß seiner Erziehung an die Hand geben.
Der Lehrer =L. frägt der Vernunft seines Schülers = S. dasjenige ab, was er ihn lehren will, und wenn dieser etwa nicht die Frage zu beantworten wüßte = O, so legt er sie ihm (seine Vernunft leitend) in den Mund.
1. L. Was ist dein größtes, ja dein ganzes Verlangen im Leben? S. o.-L. Daß es dir Alles und immer nach Wunsch und Willen gehe.
2. L. Wie nennt man einen solchen Zustand? S. o. L. Man nennt ihn Glückseligkeit (das beständige Wohlergehen, vergnügtes Leben, völlige Zufriedenheit mit seinem Zustande).
3. L. Wenn du nun alle Glückseligkeit (die in der Welt möglich ist) in deiner Hand hättest, würdest du sie alle für dich behalten, oder sie auch deinen Nebenmenschen mitteilen? – S. Ich würde sie mitteilen, Andere auch glücklich und zufrieden machen.
4. L. Das beweist nun wohl, daß du noch so ziemlich ein gutes Herz hast; laß aber sehen, ob du dabei auch guten Verstand zeigest. – Würdest du wohl dem Faullenzer weiche Polster verschaffen, damit er im süßen Nichtstun sein Leben dahinbringe, oder dem Trunkenbolde es an Wein, und was sonst zur Berauschung gehört, nicht ermangeln lassen, dem Betrüger eine einnehmende Gestalt und Manieren geben, um Andere zu überlisten, oder dem Gewalttätigen Kühnheit und starke Faust, um Andere überwältigen zu können? Das sind ja so viel Mittel, die ein jeder sich wünscht, um nach seiner Art glücklich zu sein. S. Nein, das nicht.
5. L. Du siehst also: daß, wenn du auch alle Glückseligkeit in deiner Hand und dazu den besten Willen hättest, du jene doch nicht ohne Bedenken jedem, der zugreift, preis geben, sondern erst untersuchen würdest, wie fern ein jeder der Glückseligkeit würdig wäre. – L. Für dich selbst aber würdest du doch wohl kein Bedenken haben, dich mit Allem, was du zu deiner Glückseligkeit rechnest, zuerst zu versorgen? S. Ja. L. Aber kommt dir da nicht auch die Frage in Gedanken, ob du wohl selbst auch der Glückseligkeit würdig sein mögest? S. Allerdings. L. Das nun in dir, was nur nach Glückseligkeit strebt, ist die Neigung; dasjenige aber, was deine Neigung auf die Bedingung einschränkt, dieser Glückseligkeit zuvor würdig zu sein, ist deine Vernunft, und daß du durch deine Vernunft deine Neigung einschränken und überwältigen kannst, das ist die Freiheit deines Willens.
6. L. Um nun zu wissen, wie du es anfängst, um der Glückseligkeit teilhaftig und doch auch nicht unwürdig zu werden, dazu liegt die Regel und Anweisung ganz allein in deiner Vernunft; das heißt so viel als: du hast nicht nötig diese Regel deines Verhaltens von der Erfahrung, oder von Anderen durch ihre Unterweisung abzulernen; deine eigene Vernunft lehrt und gebietet dir geradezu, was du zu tun hast. Z. B. wenn dir ein Fall vorkommt, da du durch eine fein ausgedachte Lüge dir oder deinen Freunden einen großen Vorteil verschaffen kannst, ja noch dazu dadurch auch keinem Anderen schadest, was sagt dazu deine Vernunft? S. Ich soll nicht lügen; der Vorteil für mich und meinen Freund mag so groß sein, wie er immer wolle. Lügen ist niederträchtig und macht den Menschen unwürdig glücklich zu sein. – Hier ist eine unbedingte Nötigung durch ein Vernunftgebot (oder Verbot), dem ich gehorchen muß: wogegen alle meine Neigungen verstummen müssen. L. Wie nennt man diese unmittelbar durch die Vernunft dem Menschen auferlegte Notwendigkeit, einem Gesetze derselben gemäß zu handeln? S. Sie heißt Pflicht. L. Also ist dem Menschen die Beobachtung seiner Pflicht die allgemeine und einzige Bedingung der Würdigkeit glücklich zu sein, und diese ist mit jener ein und dasselbe.
7. L. Wenn wir uns aber auch eines solchen guten und tätigen Willens, durch den wir uns würdig (wenigstens nicht unwürdig) halten glücklich zu sein, auch bewußt sind, können wir darauf auch die sichere Hoffnung gründen, dieser Glückseligkeit teilhaftig zu werden? S. Nein! darauf allein nicht; denn es steht nicht immer in unserem Vermögen, sie uns zu verschaffen, und der Lauf der Natur richtet sich auch nicht so von selbst nach dem Verdienst, sondern das Glück des Lebens (unsere Wohlfahrt überhaupt) hängt von Umständen ab, die bei weitem nicht alle in des Menschen Gewalt sind. Also bleibt unsere Glückseligkeit immer nur ein Wunsch, ohne daß, wenn nicht irgend eine andere Macht hinzukommt, dieser jemals Hoffnung werden kann.
8. L. Hat die Vernunft wohl Gründe für sich, eine solche die Glückseligkeit nach Verdienst und Schuld der Menschen austeilende, über die ganze Natur gebietende und die Welt mit höchster Weisheit regierende Macht als wirklich anzunehmen, d. i. an Gott zu glauben? S. Ja; denn wir sehen an den Werken der Natur, die wir beurteilen können, so ausgebreitete und tiefe Weisheit, die wir uns nicht anders als durch eine unaussprechlich große Kunst eines Weltschöpfers erklären können, von welchem wir uns denn auch, was die sittliche Ordnung betrifft, in der doch die höchste Zierde der Welt besteht, eine nicht minder weise Regierung zu versprechen Ursache haben: nämlich daß, wenn wir uns nicht selbst der Glückseligkeit unwürdig machen, welches durch Übertretung unserer Pflicht geschieht, wir auch hoffen können, ihrer teilhaftig zu werden.
In dieser Katechese, welche durch alle Artikel der Tugend und des Lasters durchgeführt werden muß, ist die größte Aufmerksamkeit darauf zu richten, daß das Pflichtgebot ja nicht auf die aus dessen Beobachtung für den Menschen, den es verbinden soll, ja selbst auch nicht einmal für Andere fließenden Vorteile oder Nachteile, sondern ganz rein auf das sittliche Prinzip gegründet werde, der letzteren aber nur beiläufig, als an sich zwar entbehrlicher, aber für den Gaumen der von Natur Schwachen zu bloßen Vehikeln dienender Zusätze, Erwähnung geschehe. Die Schändlichkeit, nicht die Schädlichkeit des Lasters (für den Täter selbst) muß überall hervorstechend dargestellt werden. Denn wenn die Würde der Tugend in Handlungen nicht über Alles erhoben wird, so verschwindet der Pflichtbegriff selbst und zerrinnt in bloße pragmatische Vorschriften; da dann der Adel des Menschen in seinem eigenen Bewußtsein verschwindet und er für einen Preis feil ist und zu Kauf steht, den ihm verführerische Neigungen anbieten. Wenn dieses nun weislich und pünktlich nach Verschiedenheit der Stufen des Alters, des Geschlechts und des Standes, die der Mensch nach und nach betritt, aus der eigenen Vernunft des Menschen entwickelt worden, so ist noch etwas, was den Beschluß machen muß, was die Seele inniglich bewegt und den Menschen auf eine Stelle setzt, wo er sich selbst nicht anders als mit der größten Bewunderung der ihm beiwohnenden ursprünglichen Anlagen betrachten kann, und wovon der Eindruck nie erlischt. – Wenn ihm nämlich beim Schlusse seiner Unterweisung seine Pflichten in ihrer Ordnung noch einmal summarisch vorerzählt (rekapituliert), wenn er bei jeder derselben darauf aufmerksam gemacht wird, daß alle Übel, Drangsale und Leiden des Lebens, selbst Bedrohung mit dem Tode, die ihn darüber, daß er seiner Pflicht treu gehorcht, treffen mögen, ihm doch das Bewußtsein, über sie alle erhoben und Meister zu sein, nicht rauben können, so liegt ihm nun die Frage ganz nahe: was ist das in dir, was sich getrauen darf, mit allen Kräften der Natur in dir und um dich in Kampf zu treten und sie, wenn sie mit deinen sittlichen Grundsätzen in Streit kommen, zu besiegen? Wenn diese Frage, deren Auflösung das Vermögen der spekulativen Vernunft gänzlich übersteigt und die sich dennoch von selbst einstellt, ans Herz gelegt wird, so muß selbst die Unbegreiflichkeit in diesem Selbsterkenntnisse der Seele eine Erhebung geben, die sie zum Heilighalten ihrer Pflicht nur desto stärker belebt, je mehr sie angefochten wird.
In dieser katechetischen Moralunterweisung würde es zur sittlichen Bildung von großem Nutzen sein, bei jeder Pflichtzergliederung einige kasuistische Fragen aufzuwerfen und die versammelten Kinder ihren Verstand versuchen zu lassen, wie ein jeder von ihnen die ihm vorgelegte verfängliche Aufgabe aufzulösen meinte. – Nicht allein daß dieses eine der Fähigkeit des Ungebildeten am meisten angemessene Kultur der Vernunft ist (weil diese in Fragen, die, was Pflicht ist, betreffen, weit leichter entscheiden kann, als in Ansehung der spekulativen) und so den Verstand der Jugend überhaupt zu schärfen die schicklichste Art ist: sondern vornehmlich deswegen, weil es in der Natur des Menschen liegt, das zu lieben, worin und in dessen Bearbeitung er es bis zu einer Wissenschaft (mit der er nun Bescheid weiß) gebracht hat, und so der Lehrling durch dergleichen Übungen unvermerkt in das Interesse der Sittlichkeit gezogen wird.
Von der größten Wichtigkeit aber in der Erziehung ist es, den moralischen Katechism nicht mit dem Religionskatechism vermischt vorzutragen (zu amalgamieren), noch weniger ihn auf den letzteren folgen zu lassen; sondern jederzeit den ersteren und zwar mit dem größten Fleiße und Ausführlichkeit zur klarsten Einsicht zu bringen. Denn ohne dieses wird nachher aus der Religion nichts als Heuchelei, sich aus Furcht zu Pflichten zu bekennen und eine Teilnahme an derselben, die nicht im Herzen ist, zu lügen.
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Die Regeln der Übung in der Tugend ( exercitiorum virtutis) gehen auf die zwei Gemütsstimmungen hinaus, wackeren und fröhlichen Gemüts ( animus strenuus et hilaris) in Befolgung ihrer Pflichten zu sein. Denn sie hat mit Hindernissen zu kämpfen, zu deren Überwältigung sie ihre Kräfte zusammen nehmen muß, und zugleich manche Lebensfreuden zu opfern, deren Verlust das Gemüt wohl bisweilen finster und mürrisch machen kann; was man aber nicht mit Lust, sondern bloß als Frondienst tut, das hat für den, der hierin seiner Pflicht gehorcht, keinen inneren Wert und wird nicht geliebt, sondern die Gelegenheit ihrer Ausübung so viel möglich geflohen.
Die Kultur der Tugend, d. i. die moralische Asketik, hat in Ansehung des Prinzips der rüstigen, mutigen und wackeren Tugendübung den Wahlspruch der Stoiker: gewöhne dich die zufälligen Lebensübel zu ertragen und die eben so überflüssigen Ergötzlichkeiten zu entbehren ( assuesce incommodis et desuesce commoditatibus vitae). Es ist eine Art von Diätetik für den Menschen, sich moralisch gesund zu erhalten. Gesundheit ist aber nur ein negatives Wohlbefinden, sie selber kann nicht gefühlt werden. Es muß etwas dazu kommen, was einen angenehmen Lebensgenuß gewährt und doch bloß moralisch ist. Das ist das jederzeit fröhliche Herz in der Idee des tugendhaften Epikurs. Denn wer sollte wohl mehr Ursache haben frohen Muts zu sein und nicht darin selbst eine Pflicht finden, sich in eine fröhliche Gemütsstimmung zu versetzen und sie sich habituell zu machen, als der, welcher sich keiner vorsetzlichen Übertretung bewußt und wegen des Verfalls in eine solche gesichert ist ( hic murus aheneus esto etc. Horat.). – Die Mönchsasketik hingegen, welche aus abergläubischer Furcht, oder geheucheltem Abscheu an sich selbst mit Selbstpeinigung und Fleischeskreuzigung zu Werke geht, zweckt auch nicht auf Tugend, sondern auf schwärmerische Entmündigung ab, sich selbst Strafe aufzulegen und, anstatt sie moralisch (d. i. in Absicht auf die Besserung) zu bereuen, sie büßen zu wollen, welches bei einer selbstgewählten und an sich vollstreckten Strafe (denn die muß immer ein Anderer auflegen) ein Widerspruch ist, und kann auch den Frohsinn, der die Tugend begleitet, nicht bewirken, vielmehr nicht ohne geheimen Haß gegen das Tugendgebot statt finden. – Die ethische Gymnastik besteht also nur in der Bekämpfung der Naturtriebe, die das Maß erreicht, über sie bei vorkommenden, der Moralität Gefahr drohenden Fällen Meister werden zu können; mithin die wacker und im Bewußtsein seiner wiedererworbenen Freiheit fröhlich macht. Etwas bereuen (welches bei der Rückerinnerung ehemaliger Übertretungen unvermeidlich, ja wobei diese Erinnerung nicht schwinden zu lassen, es sogar Pflicht ist) und sich eine Pönitenz auferlegen (z. B. das Fasten), nicht in diätetischer, sondern frommer Rücksicht, sind zwei sehr verschiedene, moralisch gemeinte Vorkehrungen, von denen die letztere, welche freudenlos, finster und mürrisch ist, die Tugend selbst verhaßt macht und ihre Anhänger verjagt. Die Zucht (Disziplin), die der Mensch an sich selbst verübt, kann daher nur durch den Frohsinn, der sie begleitet, verdienstlich und exemplarisch werden.