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Der Anbau ( cultura) seiner Naturkräfte (Geistes-, Seelen- und Leibeskräfte) als Mittel zu allerlei möglichen Zwecken ist Pflicht des Menschen gegen sich selbst. – Der Mensch ist es sich selbst (als einem Vernunftwesen) schuldig, die Naturanlage und Vermögen, von denen seine Vernunft dereinst Gebrauch machen kann, nicht unbenutzt und gleichsam rosten zu lassen, sondern, gesetzt daß er auch mit dem angebornen Maß seines Vermögens für die natürlichen Bedürfnisse zufrieden sein könne, so muß ihm doch seine Vernunft dieses Zufriedensein mit dem geringen Maß seiner Vermögen erst durch Grundsätze anweisen, weil er als ein Wesen, das der Zwecke (sich Gegenstände zum Zweck zu machen) fähig ist, den Gebrauch seiner Kräfte nicht bloß dem Instinkt der Natur, sondern der Freiheit, mit der er dieses Maß bestimmt, zu verdanken haben muß. Es ist also nicht Rücksicht auf den Vorteil, den die Kultur seines Vermögens (zu allerlei Zwecken) verschaffen kann; denn dieser würde vielleicht (nach Rousseauschen Grundsätzen) für die Rohigkeit des Naturbedürfnisses vorteilhaft ausfallen: sondern es ist Gebot der moralisch-praktischen Vernunft und Pflicht des Menschen gegen sich selbst, seine Vermögen (unter denselben eins mehr als das andere nach Verschiedenheit seiner Zwecke) anzubauen und in pragmatischer Rücksicht ein dem Zweck seines Daseins angemessener Mensch zu sein.
Geisteskräfte sind diejenigen, deren Ausübung nur durch die Vernunft möglich ist. Sie sind so fern schöpferisch, als ihr Gebrauch nicht aus Erfahrung geschöpft, sondern a priori aus Prinzipien abgeleitet wird. Dergleichen sind Mathematik, Logik und Metaphysik der Natur, welche zwei letztere auch zur Philosophie, nämlich der theoretischen, gezählt werden, die zwar alsdann nicht, wie der Buchstabe lautet, Weisheitslehre, sondern nur Wissenschaft bedeutet, aber doch der ersteren zu ihrem Zwecke beförderlich sein kann.
Seelenkräfte sind diejenige, welche dem Verstande und der Regel, die er zu Befriedigung beliebiger Absichten braucht, zu Gebote stehen und so fern an dem Leitfaden der Erfahrung geführt werden. Dergleichen ist das Gedächtnis, die Einbildungskraft u. dgl., worauf Gelahrtheit, Geschmack (innere und äußere Verschönerung) usw. gegründet werden können, welche zu mannigfaltiger Absicht die Werkzeuge darbieten.
Endlich ist die Kultur der Leibeskräfte (die eigentliche Gymnastik) die Besorgung dessen, was das Zeug (die Materie) am Menschen ausmacht, ohne welches die Zwecke des Menschen unausgeführt bleiben würden; mithin die fortdauernde absichtliche Belebung des Tieres am Menschen Zweck des Menschen gegen sich selbst.
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Welche von diesen physischen Vollkommenheiten vorzüglich, und in welcher Proportion in Vergleichung gegen einander sie sich zum Zweck zu machen es Pflicht des Menschen gegen sich selbst sei, bleibt ihrer eigenen vernünftigen Überlegung in Ansehung der Lust zu einer gewissen Lebensart und zugleich der Schätzung seiner dazu erforderlichen Kräfte überlassen, um darunter zu wählen (z. B. ob es ein Handwerk, oder der Kaufhandel, oder die Gelehrsamkeit sein sollte). Denn abgesehen von dem Bedürfnis der Selbsterhaltung, welches an sich keine Pflicht begründen kann, ist es Pflicht des Menschen gegen sich selbst, ein der Welt nützliches Glied zu sein, weil dieses auch zum Wert der Menschheit in seiner eigenen Person gehört, die er also nicht abwürdigen soll.
Die Pflicht des Menschen gegen sich selbst in Ansehung seiner physischen Vollkommenheit ist aber nur weite und unvollkommene Pflicht: weil sie zwar ein Gesetz für die Maxime der Handlungen enthält, in Ansehung der Handlungen selbst aber ihrer Art und ihrem Grade nach nichts bestimmt, sondern der freien Willkür einen Spielraum verstattet.
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Sie besteht erstlich subjektiv in der Lauterkeit ( puritas moralis) der Pflichtgesinnung: da nämlich auch ohne Beimischung der von der Sinnlichkeit hergenommenen Absichten das Gesetz für sich allein Triebfeder ist, und die Handlungen nicht bloß pflichtmäßig, sondern auch aus Pflicht geschehen. – »Seid heilig« ist hier das Gebot. Zweitens objektiv in Ansehung des ganzen moralischen Zwecks, der die Vollkommenheit, d. i. seine ganze Pflicht und die Erreichung der Vollständigkeit des moralischen Zwecks in Ansehung seiner selbst, betrifft, »seid vollkommen«; zu welchem Ziele aber hinzustreben beim Menschen immer nur ein Fortschreiten von einer Vollkommenheit zur anderen ist, »ist etwa eine Tugend, ist etwa ein Lob, dem trachtet nach«.
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Diese Pflicht gegen sich selbst ist eine der Qualität nach enge und vollkommene, obgleich dem Grade nach weite und unvollkommene Pflicht und das wegen der Gebrechlichkeit ( fragilitas) der menschlichen Natur.
Diejenige Vollkommenheit nämlich, zu welcher zwar das Streben, aber nicht das Erreichen derselben (in diesem Leben) Pflicht ist, deren Befolgung also nur im kontinuierlichen Fortschreiten bestehen kann, ist in Hinsicht auf das Objekt (die Idee, deren Ausführung man sich zum Zweck machen soll) zwar enge und vollkommene, in Rücksicht aber auf das Subjekt weite und nur unvollkommene Pflicht gegen sich selbst.
Die Tiefen des menschlichen Herzens sind unergründlich. Wer kennt sich gnugsam, wenn die Triebfeder zur Pflichtbeobachtung von ihm gefühlt wird, ob sie gänzlich aus der Vorstellung des Gesetzes hervorgehe, oder ob nicht manche andere sinnliche Antriebe mitwirken, die auf den Vorteil (oder zur Verhütung eines Nachteils) angelegt sind und bei anderer Gelegenheit auch wohl dem Laster zu Diensten stehen könnten. – Was aber die Vollkommenheit als moralischen Zweck betrifft, so gibts zwar in der Idee (objektiv) nur eine Tugend (als sittliche Stärke der Maximen), in der Tat (subjektiv) aber eine Menge derselben von heterogener Beschaffenheit, worunter es unmöglich sein dürfte, nicht irgend eine Untugend (ob sie gleich eben jener wegen den Namen des Lasters nicht zu führen pflegen) aufzufinden, wenn man sie suchen wollte. Eine Summe von Tugenden aber, deren Vollständigkeit oder Mängel das Selbsterkenntnis uns nie hinreichend einschauen läßt, kann keine andere als unvollkommene Pflicht vollkommen zu sein begründen.
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Also sind alle Pflichten gegen sich selbst in Ansehung des Zwecks der Menschheit in unserer eigenen Person nur unvollkommene Pflichten.