Arthur Kahane
Willkommen und Abschied
Arthur Kahane

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7.

Bald nach dem Frühstück, als alle, zuletzt Otto Moser, den seine Verabredung in den Ort hinunterrief, das Haus verlassen hatten, ging, allein geblieben, Frau Blanche daran, zunächst im Hauswesen nach dem Rechten zu sehen und dann den köstlichen Vormittag in Ruhe für sich auszunützen. Sie hatte sich schon lange auf diese erste, ihr nicht allzu häufig beschiedene Stunde des Alleinseins gefreut und sich vorgenommen, sie mit einer Reihe kleiner, immer schon geplanter und immer wieder aufgeschobener Lieblingsgeschäfte und -verrichtungen, zu deren Erfüllung sie einer gewissen behaglichen Stimmung des Ungestörtseins bedurfte, auszufüllen. So war es ihr nicht unwillkommen, daß sich gerade heute, nach den Überraschungen und Erregungen der letzten Tage, diese Gelegenheit der Sammlung ergeben hatte und sie sich mit einem Male allein gelassen fand. Es war so schön, sich kurze Zeit wieder einmal in keiner anderen Gesellschaft als in der eigenen zu fühlen, sich auf sich zu besinnen und sich in Ruhe an dem liebgewordenen Hause und hübschen Dingen zu erfreuen.

Sie schellte dem Mädchen und hieß es den Frühstückstisch abdecken. Als dieses geschehen war, blieb Kathi, wie zögernd, noch einen Augenblick am Tische stehen und fragte dann: »Glauben die gnädige Frau, daß die jungen Herrschaften noch vor eins zum Essen zurück sein werden?« »Warum, Kathi?« »Weil ich sonst, wenn die gnädige Frau erlauben und noch so viel Zeit ist, gern in den Ort gesprungen wäre und meine neue Bluse vom Putzen geholt hätte. Wo doch jetzt ein junger Herr im Hause 93 ist, möchte man nicht gern immer in der alten herumlaufen.« »Gehen Sie ruhig, Kathi. Warum nicht? Wenn die Zimmer geräumt sind.« »Alles, gnädige Frau. Bis auf das Schlafzimmer des gnädigen Herrn, weil er jetzt erst heraus ist. Und das ist auch gleich fertig.« »Schön, Kathi. Dann habe ich nichts dagegen.« Und weg war die Kathi.

Frau Blanche erhob sich und trat, wie alle Vormittage, den Gang durch das Hauswesen an. Das Speisezimmer lag, mit seinen schweren, alten, dunklen Möbeln, in tadelloser Ordnung und Sauberkeit da. Statt des anderswo üblichen Büfettungetüms die glatte, breite Fläche der Anrichte, in deren Fächern und Schüben das blitzblanke Besteck, in gepolsterten Schatullen sorgfältig gereiht, und die stattliche Tischwäsche, in zierlich gefalteten Päckchen mit bunten Bändern verschnürt, sich häufte. Hinter den Scheiben eines schlanken Glasschrankes blitzte das Service aus der königlich preußischen Porzellanmanufaktur, funkelten, in geraden Kolonnen, die Weingläser und Karaffen aus hellrotem böhmischem Glase, venezianische dunkelrote Likörgläser, wiener Sektkelche, mit goldenen Bändern eingelegt, und dunkelgrüne Römer mit eingebrannten Blumen, standen tiefe Obstschalen, bemalte Fruchtteller, jeder anders gezeichnet, schlanke Blumengläser und niedrige Blumenbänke, und dazwischen, mit weißlackiertem Gestänge, Körbchen für Brot, Obst, Salz und Pfeffer. Ein Blick überzeugte die Hausfrau, daß nichts fehlte und alles sauber geputzt und gereinigt war. In der Mitte des Raumes lag über dem quadratisch wuchtigen Tisch, der auf vier mächtigen Beinen ruhte und nur selten benutzt wurde, solange das Wetter den Aufenthalt in der Veranda erlaubte, die schwarzrote Decke in Ordnung gebreitet. Die dunkelrote tiefe Schale darauf stand mit frischen Blumen gefüllt. Die Wände glänzten, von keinem anderen Schmuck geziert, als von der mannshohen Täfelung aus dunkelgebeizter Eiche. Ernst und dunkel lag der Raum da, der sein einziges Licht durch die Türen und Fenster der Veranda empfing.

94 Frau Blanche streifte ihn mit einem Blick, verließ ihn und stieg die Treppen zur Küche hinunter. Aber hier wehrte ihr die Köchin den Eintritt. »Heute müssen die gnädige Frau mich nur machen lassen!« rief sie ihr schon bei der Tür entgegen. »Ich habe, dem neuen jungen Herrn zu Ehren, für heute etwas ganz besonders Extrafeines zum Essen vorgerichtet, womit ich die gnädige Frau überraschen möchte. Also bitte, nicht herschauen, gnädige Frau!« Frau Blanche war es zufrieden: auf die Köchin konnte sie sich verlassen, und sie ließ ihren Ehrgeiz gewähren.

Im Erdgeschoß galt ein flüchtiger Besuch dem Arbeitszimmer ihres Mannes. Auch dieses hatte seine Ordnung, wenn es auch nicht ganz ihre Ordnung war. Er liebte es, viele Bücher an den Wänden stehen zu haben, die er zwar nicht las, aber sehr sorgfältig nach Größe und Einbänden ordnete. Immerhin war ihm durch die hohen Bücherregale die Anbringung von Bildern eigener Wahl unmöglich gemacht, und so wirkten die dunkelgrünen Wände schlicht und einfach. Auf dem Schreibtisch lag nicht allzuviel Papierzeug herum, meist unbeschriebenes, das nicht weiter störte und sich unbemerkt in Ordnung halten ließ, und so begnügte sie sich in diesem Zimmer damit, allzu kühne Arrangements von Jagdtrophäen, für die er als Nichtjäger, und von langen Studentenpfeifen, für die er als Zigarrenraucher eine unbegreifliche Vorliebe zeigte, durch frische Blumen zu ersetzen, und da er das als zarte Aufmerksamkeit nahm, ging er über das Verschwinden der Geweihe und Pfeifen stillschweigend hinweg. So war es ihr möglich, durch unmerkliche kleine Eingriffe auch dieses Zimmer so zu halten, daß es sie, im Organismus des ganzen Hauses, nicht als fremdes Element belastete. Heute allerdings fühlte sie auch zu diesen kleinen Retuschen keine rechte Lust und verließ es schnell, wie man eine Pflicht und Anstandsvisite abzukürzen sucht.

Im ersten Stockwerk, in Ottos Schlafzimmer, fand sie die Kathi noch, die gerade mit dem Aufräumen fertig geworden war 95 und eben einen Blick auf Otto Mosers Porträt warf, das über dem Bette hing. »Der junge Herr,« sagte sie, »schaut aber dem gnädigen Herrn gar nicht ähnlich. Man möchte gar nicht glauben, daß die Herren Brüder sind.« Frau Blanche überhörte die Bemerkung. »Kathi, wollten Sie nicht in den Ort hinunter?« fragte sie, übrigens nicht unfreundlich. »Ich gehe schon, gnädige Frau. Ich habe ja nur gemeint. Küß' die Hand!« Und lief, so schnell sie konnte, die Treppe hinunter. Im nächsten Augenblick schon hörte man das Haustor gehen und Frau Blanche sah sie durch die kleine Gartentür hinter den Gebüschen des Seeuferweges verschwinden.

»Sie sind Brüder«, wiederholte sie. »Zu merkwürdig, wie selten man daran denkt! Nicht einen Zug wüßte ich, in dem sie aneinander erinnern.« Ein halber Blick flog über das Porträt ihres Mannes, das sie auch sonst der indiskreten, knalligen Farbe wegen nicht liebte. Sie ging. Es war etwas Fremdes in der Atmosphäre dieser Herrenschlafstube, das sie heute nicht vertrug. Sie klinkte die Tapetentür in ihr eigenes Schlafzimmer auf und verschloß sie sorgfältig wieder von der anderen Seite. Dann löste sie die emporgeraffte Kretongardine, die das zarte hellblaue Blumenmuster der Tapete ihres Zimmers wiederholte, und ließ sie fallen. Ein fast verlegenes, schämiges Lächeln trat, wie gegen ihren Willen, auf ihre Lippen.

Hier war sie in ihrem eigensten Bereich. Die wie immer weit offen stehende breite Flügeltür ließ beide Zimmer wie einen einzigen Raum erscheinen, und harmonisch ging das zarte helle Blau des Schlafzimmers in das matte silbrige Grau des Boudoirs über. Ganz still und abgeschlossen war es hier, gewissermaßen eine kleine Wohnung für sich, die, von den übrigen Gemächern abgetrennt, die ganze westliche Tiefe des Hauses einnahm und nach drei Seiten völlig frei dalag. Das eine der Schlafzimmerfenster sah nach rückwärts auf Wald und Gebirge, das zweite auf die dichten Bäume der benachbarten Gärten; der andere 96 Raum, in dem sich Frau Blanche am liebsten aufhielt, hatte sein Fenster ebenfalls auf die Nachbargärten, hinter denen ein Teil des Sees aufschimmerte, während nach vorn eine Tür auf die Veranda führte und den Blick auf den in seiner ganzen Ausdehnung sich öffnenden See und die dahinterliegende Kette der Berge gab. Hier fühlte sich Blanche ganz bei sich zu Hause. Hier war ihr Allerheiligstes, das kein ungeladener Fuß zu betreten wagte, von dem sich der Lärm der Außenwelt von selbst respektvoll fernzuhalten schien. Dieser Raum war ihr eigenstes Produkt, alles nach ihren Angaben entworfen und ausgeführt, und zwar durch eine besonders glückliche Fügung bis ins kleinste so, daß ihr Geschmack keine Konzessionen und Abstriche zu machen genötigt gewesen war; kein Stück, an dem nicht ihr Herz besonders hing und das nicht seine kleine Geschichte hatte, um die sie allein Bescheid wußte. Hier arbeitete, las und träumte sie am liebsten; trieb ihre kleinen Verrichtungen, genoß die kleine Sammlung ihrer Schätze, spielte auch zuweilen mit ihnen wie ein Kind, und tat auch zuweilen gar nichts, den Blick über See und Berge in die wundervolle Ferne verloren.

Im Schlafzimmer hing, über dem Bette, ein einziges Bild, das sie über alles liebte. Das Bildnis einer jungen Frau, von einem heutigen Franzosen, in ganz hellen, leichten Farben. An einem gestürzten Baumstamm, von gebrochenem Sonnenlicht mit gelblich grünen Reflexen überspritzt, lehnt der schlank gebaute Körper einer Weltdame von vollendeter Eleganz, mit auffallend kleinen Händen und Füßen; sie ist blond, von einer durchsichtigen Blässe des Teints, mit großen, blauen, langgeschnittenen Augen, in denen sich ein anderer Blick gefangen zu haben scheint, mit glänzenden Lippen voll weicher Erwartung, die zu zucken scheinen. Das Herz dieser Frau kannte sie wie kein zweites: so nahe, so verwandt, so schwesterlich empfand sie es. Und jedesmal, wenn sie hinsah, strömte aus dem Bilde dieser klugen, zarten, feinen, bewegten und doch vollkommen beherrschten, 97 wissenden und doch noch unerfüllten Frauenseele eine gute Ruhe freundschaftlichen Verstehens über sie. Was sie an dieser Frau immer wieder so vertraut berührte, war diese kluge, kultivierte, schweigsame, förmlich weiche Intelligenz, die so gar nicht nach Männlichkeit schielte, es gar nicht erst darauf anlegte, wie männlich zu wirken, vielmehr ihre Weiblichkeit, ja fast Weibchenhaftigkeit betonte, ohne dadurch etwas von ihrer Überlegenheit einzubüßen. Auch heute blieb Frau Blanche vor dem Bilde stehen und sah es lange, fast zärtlich an; aber merkwürdig: heute versagte der Zauber des Bildes. Das beglückende Gefühl, das sonst aus der reichen Farbenharmonie strömte, in die sich wie in einer höheren Einheit die innere Bewegtheit des Vorwurfs löste, wollte sich nicht recht einstellen. Im Gegenteil: eine Unruhe ging von dem Bilde auf sie über, und sie mußte sich von ihm zur Seite wenden, um sich davon zu befreien.

Sie ging in das andere Zimmer, das sogenannte Boudoir, hinüber. Von dem ruhigen, zarten Raum mit seinen milden, weichen Farben erhoffte sie Beruhigung. Er schien größer, als er in Wirklichkeit war, denn er enthielt, wie sie es liebte, nur das Notwendige an Möbeln, und die Mitte war frei gelassen. Nur die Ecken hatte sie zu gemütlichen, kleinen Winkeln ausgebaut, jede anders und jede einer bestimmten Tätigkeit geweiht, die ihr seinen Charakter gab. An der einen Wand die Schreibecke um einen altväterischen Biedermeiersekretär, mit vielen Läden und Schüben, an der anderen das Regal mit wenigen ausgesuchten Büchern, in dem einen Fenster die Staffelei mit dem Stickrahmen und an dem anderen das Lesetischchen mit dem Großvaterstuhl und einer Vitrine, in der sie ihre kleinen Sammlungen ausbreitete. Zwischen den Fenstern der große offene Flügel und das Notenregal. So blieb ihr die Mitte des Raumes von Möbeln unverstellt, ebenso wie die Wände, an denen, an grauen Schnüren symmetrisch verteilt, in Kopfhöhe und dem Auge bequem erreichbar, so daß die oberen Rahmenleisten mit den niedrigen Türkanten eine ruhige, 98 fortlaufende Linie durch beide Zimmer bildeten, einige wenige kleine wundervolle Landschaften eines Hamburger Meisters aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts hingen, die sie merkwürdigerweise in Tiroler Bauern- und Wirtshäusern entdeckt und die ihr Mann für lächerlich kleine Beträge erhandelt hatte. Hier konnte sie nach Herzenslust mit ihren schnellen, schwebenden Schritten auf und ab laufen, wie sie es jedesmal, wenn sie irgend etwas innerlich beschäftigte, zu tun pflegte. Dann ordneten sich ihr die Vorstellungen, und mit ihrer Gabe, Gedankengänge konsequent und unbeirrt bis ans Ende zu denken, zuerst die Situation zu formulieren, sie dann in ihre Ursachen zu verfolgen, dann die Möglichkeiten aufzurollen und zu kombinieren, die Folgen zu berechnen, und schließlich den Entschluß als die letzte resultierende Notwendigkeit zu fassen, gewann sie Klarheit in sich und damit Ruhe und mit der Ruhe die sichere Herrschaft über jede Schwierigkeit. Und wenn die lebhafte kleine Frau von Zeit zu Zeit ihre Wanderung unterbrach und vor einer der stillen Landschaften stehenblieb, in denen die ganze grandiose Ruhe der Natur im kleinsten Rahmen eingefangen schien, wuchs diese Ruhe und Beherrschtheit in ihr in dem Maße, wie die Hemmungen und Störungen durch menschliche Angelegenheiten ihr geringfügiger und gleichgültiger wurden.

So versuchte sie es auch heute. Sie lief hin und her, auf und ab, blieb vor den Bildern stehen; die freuten sie wie immer, atmeten Ruhe und friedliche Stille wie immer, aber ihr System verfing nicht recht. Weil sie eigentlich nicht wußte, was sie innerlich beschäftigte. Es war etwas da, dessen sie nicht habhaft werden konnte. Und sie endigte damit, anzunehmen, daß es die Fülle des Vorgehabten war, die sie wie eine Last drückte. Dagegen gab es nur eine Hilfe: anzufangen; sich hineinzustürzen, dann würde mit der Tätigkeit schon die Klarheit kommen. Und zuerst den Rundgang durch die Wohnung zu Ende.

Sie durchkreuzte noch einmal den Speisesaal, an dessen 99 anderer Seite Billys Zimmer lagen. Billy hatte sich ihr weißes kleines Himmelreich, bei dem ihren Wünschen die vollste Freiheit gelassen worden war, ganz ähnlich wie die Mutter aufgebaut: auch hier war aus den beiden Zimmern ein einziger Raum geschaffen; auch hier war die Zahl der Möbel auf das Nötigste beschränkt, waren mit den einfachsten Mitteln liebe kleine Winkel hergestellt, gab es keinen anderen Schmuck der Wände, als einige geliebte Bücher und wenige Bilder, gute Reproduktionen sienesischer und kölnischer Heiligen, für deren herbe Innigkeit Sibyl eine besondere und heftige Vorliebe hatte, und über alles war schneeweiße Sauberkeit und Ordnung gebreitet. Frau Blanche sah mit Rührung das schweigsame, unnahbare Kind vor sich, wie es, lautlos fast und unauffällig, zwischen diesen Dingen schaltete, an deren jedem ihr heißes Herz, den Menschen gegenüber spröde und verschlossen, mit einer beharrlichen und treuen Liebe hing. Frau Blanche kannte dieses Herz und diese Liebe, die von keinem Zurück, keiner Furcht und keinem Ende wußte, und auf einmal überkam sie mitten zwischen diesen Dingen, die von Billy erzählten, eine Sehnsucht nach dem Kind und eine unerklärliche Angst um die Abwesende, und es war ihr, als müßte sie sie gerade jetzt vor einem unbekannten Schicksal schützen, vor allem Unbekannten und vor allem Schicksal, das in den einsam abgeschlossenen Frieden dieses kleinen Raumes hereinbrechen könnte; und gleichzeitig auch ein Gefühl der Ohnmacht, das bestimmte Gefühl, als wäre dieses Schicksal unabwendbar auch für die ausgebreiteten Arme einer Mutter. Ein Schatten glitt über die weiße Helligkeit, wie ein grauer Schleier breitete es sich über den Raum, den sie, bis zu Tränen traurig, verließ.

Unfreien Fußes und innerlich gehemmt und bedrückt, ging sie die Stiege ins obere Stockwerk hinauf, in dem neben den Bodenräumen das als Fremdenzimmer benützte Giebelstübchen lag. Sie spürte eine ungewohnte Schwere in den Gliedern und Druck an der Schläfe. Wo die Treppe wendete, stand das Fenster offen 100 und zeigte den weiten Ausblick über den See und das ganze grüne Tal zwischen den hohen Bergen. Ruhig lag es in der Mittagsonne da und atmete nicht. Sie stand einen Augenblick, suchte Luft und sah hinaus. Aber die übergroße Helligkeit schmerzte sie, die Ruhe sprach zu ihr nicht. Sie wandte sich und stieg weiter. Sie öffnete die Tür in das Mansardenstübchen, das man Florentin eingeräumt hatte, hausmütterlich besorgt, ob er auch alles in Ordnung habe. Es war, in seiner bauernhaften Einfachheit, peinlich nett und sauber gehalten. Bett und Nachttisch, Waschtisch, zwischen den schrägen, mit weißen Gardinen verhängten Fensterchen ein kleiner Schreibtisch mit Aufsatz, ein Schrank, eine Kommode, das war alles, was es enthielt. Sie konnte sich nicht enthalten, in Schrank und Kommode zu gucken. Da hing der Lodenmantel und der alte Anzug, in dem er gekommen war, in der Kommode lagen die paar Wäschestücke, die er am ersten Tage unten im Ort gekauft hatte. Der arme Junge besaß nichts, als was er am Leibe hatte. Sonst nichts. Nicht der kleinste Gegenstand gehörte ihm. Doch. Auf dem Schreibtisch, in einem holzgeschnitzten Rahmen, den er vorgefunden hatte, stand eine Art Ansichtskarte. Sie sah hin und war betroffen. Es war ein japanischer Farbenholzschnitt, aus der Schule des Suzuki Harunobu, und zeigte das Bild eines jungen Teemädchens von wunderbarer, fast unirdischer Schönheit und einem geheimnisvoll vibrierenden Leben in aller regungslosen Starrheit und scheinbaren Ausdruckslosigkeit. Das also war Florentins ganzer Besitz, die ganze Ausbeute von zehn Jahren der Wanderschaft und Weltreise. Und sie verstand den Flüchtigen, Unsteten, Unbehausten, den sein Leben, ohne Sinn für Wirklichkeit und Besitz, hinter einer nie gesehenen Schönheit her hetzte, der es ahnungslos in die Hände eines unbekannten Schicksals legte, und sie verstand dieses Schicksal, und es trug für sie auf einmal die starre, grausame, ungerührte und doch unsäglich schöne Maske dieses kleinen japanischen Teemädchens. Und nun ging dieser Fremde, dieser weltfremde 101 Träumer und mit ihm ihr Mädel, ihr Kind, ihre Billy, da oben in den Bergen, wie zwei hilflose Kinder, und um sie her das geheimnisvolle Schicksal dieses Mannes. Und auf einmal sah sie, in jäh erschreckten Gedanken, die beiden miteinander Hand in Hand ins Unbekannte wandern, und eine nie gefühlte Unruhe, ihr selbst unverständlich, erfaßte sie.

Mit einem Ruck streifte sie den Gedanken von sich, als sie die Treppe wieder herabstieg. »Dieser Mensch ist lauter,« – sagte sie sich – »ein Blick in diese Augen, die nicht lügen können, genügt; und Billy ist ein Kind. Ein stolzes, ahnungsloses, unberührtes und unberührbares Kind. Zwei reine Menschen, die kein Vertrauen mißbrauchen können. Das ist ausgeschlossen. Und was sollte ihnen sonst für Gefahr drohen? Er ist stark, ruhig, verläßlich. Wem könnte man das Kind ruhiger anvertrauen? Er wird es schützen. Und wovor? Lächerlich. Was sind das für lächerliche Grillen? Die verfliegen werden, sobald ich zu arbeiten anfange. Ich werde doch diesen goldenen Vormittag nicht ungenützt vorübergehen lassen.«

Und wie ein kühlender Balsam lag der Entschluß, sich in Tätigkeit zu neutralisieren, auf ihren noch fliegenden, aber sich langsam bereits glättenden Nerven, als sie ihren geliebten Wohnraum wieder betrat. Es war so gut, wollen zu können. Noch einmal ruhigeren Schrittes auf und ab gehend, baute sie sich ihren kleinen Plan. Dabei blieb ihr Blick auf den Tiroler Bergen, die der Meister, mit seinem Gott allein, in seinen Landschaften mit fromm versenkter Liebe nachgepinselt hatte, hängen: aber seltsam! es war nicht wie sonst, daß die Einsamkeit dieser Bilder ihr einen stillen Frieden ins Gemüt strömte; unwillkürlich belebte sich ihr die menschenleere Natur und es war ihr, als sähe sie, ganz hoch oben, zwei Menschenkinder durch den Frühschnee steigen, als sähe sie, hinter denselben beiden, das aufsteigende Gewitter sich drohend zusammenballen, und zwischen den Beeten des Meraner Blumengartens sah sie sie wieder Hand in Hand durch die jauchzende 102 rote und blaue Pracht wandeln. Unwillkürlich zog es sie ans Fenster, an jenes, das, nach rückwärts gelegen, den Blick aufs Gebirge gab. Einsam und menschenleer lag es da, die beiden Berge, der eine kleiner mit dem vorgelagerten Steinblock, der wie ein trotzig gereckter Daumen in den Himmel drohte, und die riesigen graukahlen Felswände des anderen, und zwischen den beiden Bergen eingesattelt, die hellgrüne Bergwiese. Aber weit und breit war kein Mensch zu sehen.

Sie trat an ihren Sekretär, ließ die Platte herunter, rückte sich ein Stühlchen davor und das Schreibzeug zurecht und schrieb, ohne lange zu überlegen, in einem herunter, folgenden Brief:

»Liebe Sylvia!

Das ist das Nette zwischen uns beiden, daß ich Dir nicht erst weitläufig zu erklären brauche, warum ich Deinen letzten so furchtbar inhaltsvollen Brief nicht schon längst beantwortete, und warum ich es heute tue: heute, wenn sich, hoffentlich, schon lange alle Wunden geschlossen haben und nur eine ganz, ganz kleine Narbe zurückgeblieben ist, die Dich gewiß allerliebst kleidet. Du weißt, ich liebe es nicht, zu trösten, weil ich es nicht liebe, getröstet zu werden, und ich weiß, Du empfindest in diesen Dingen ganz ähnlich wie ich: wir sind, zum Glück, beide Frauen (und sind es mit Bewußtsein) und können mit dem Leben allein fertig werden, und nur die Männer sind so dumm und können das nicht und sind, die Hilflosen, auf unsere Hilfe angewiesen. Darum schreibe ich Dir jetzt erst, weil ich annehme, daß Du mittlerweile Deinen Ausreißer, Deinen armen Heinrich, mit Deinen kleinen Füßchen längst wieder eingeholt und mit Deinen kleinen Fingern längst wieder eingefangen hast, und er gewiß – ach, wie gerne! – wieder in Deinem angenehmen Netze zappelt. Hoffentlich läßt Du ihn die kleine Eskapade in die Freiheit nicht allzu strenge entgelten, wenn Dich auch diese merkwürdige 103 Weltflucht und dieses abenteuerliche, um jeden Preis Verschollen-sein-Wollen den Schlaf einiger einsamer Nächte gekostet hat. Revanchiere Dich! Diese Revanche wird dem Unbegreiflichen keine allzu harte Strafe sein. Das heißt: mir ist er eigentlich gar nicht unbegreiflich. Nur zu gut verstehe ich das. Ich erinnere mich, einmal bei Balzac gelesen zu haben: «Les Allemands ont une chose nommée ‹Weltanschauung›.» Nicht bloß «les Allemands» sondern alle Männer haben sie. Und wir Frauen, die, Gott sei Dank, keine haben, weil wir dazu zu klug und vielleicht auch zu dumm sind, müssen sie ausbaden. Das ist unsere dolorose Mission auf Erden. Wir sind offenbar nur dazu da, das Unheil wieder gutzumachen, das sie mit ihren Weltanschauungen und dem unseligen Drang, sie in Tat umzusetzen, anrichten. Ein gräßliches Männerwort, dieses ›Tat‹. Es kommt auch nie etwas Gescheites dabei heraus. Und es ist unser hübschestes Amt, sie hübsch langsam, ohne daß sie's merken, von der Tat ab zum Werk zu bringen. Aber es dauert lang und braucht viel Geduld und Zärtlichkeit, bis man so einen Mann, wenn er hinter seiner Freiheit her durch die ganze Welt gejagt ist und ramponiert und mit hängenden Flügeln wieder heimkehrt, wieder einigermaßen instand gesetzt und ihm die Flügel zurechtgeputzt hat. Dabei sind es immer noch die besten, denn nur wer sich nach Freiheit sehnt, taugt für unsere Herrschaft, und nur bei denen lohnt es die Mühe, und ich glaube, eigentlich läuft beides auf dasselbe hinaus, und jedenfalls sind sie besser als die, die breit und fett zu Hause sitzen, was sie sich übrigens auch als Weltanschauung anrechnen, nur daß die andere hübscher ist. Aber das Theoretisieren steckt an und ich sehe, ich bin auf einmal hineingeraten und mitten drin und da breche ich lieber ab; weil doch das kleinste Stückchen wirklichen Erlebens tausendmal besser ist. Grüße Deinen Heinrich von mir und auch Deinen lieben Mann und sei selbst gegrüßt und geküßt von Deiner

Blanche.«    

104 Sie las den Brief und zerriß ihn. Nein, das war nicht das Richtige. Das klang alles nach persönlicher Erfahrung und Beichte. Wenigstens für die kluge Sylvia, die viel zu gut zwischen den Zeilen zu lesen verstand. So nahe durfte man sich auch die intimste Freundin nicht kommen lassen. Die erst recht nicht. Und schließlich, gar so nahe stand sie ihr gar nicht, stand ihr überhaupt keine Frau. Aber Gleichgültiges, Unpersönliches, Nur-Höfliches konnte sie ihr heute nicht schreiben. Heute nicht und überhaupt nicht. So gleichgültig war ihr niemand, den sie einmal ihres Briefes würdigte. Und so wäre, was sie ihr geschrieben hätte, hübsch versteckt freilich und eingekapselt, doch wieder Geständnis geworden. Aber wenn sie schon Geständnisse zu machen hatte, dann doch zuerst sich selbst. Ganz ehrlich, bitte, sich selbst. Gott sei Dank aber gab es keine.

Sie gab es also auf für heute. Sylvia mußte schon weiter warten. Sie wollte sich jetzt mit ihren Miniaturen beschäftigen. Diese zarten, kleinen Dinger, die nur mit behutsamen, zärtlichen Fingern angefaßt werden konnten, verlangten Konzentration, und das war es, was ihr not tat.

Sie setzte sich in die Fensternische, vor die Vitrine, und überblickte mit dem glücklich-stolzen Gefühl des Besitzers die kleine Sammlung. Es waren nicht mehr als etwa zwanzig Stücke, durchweg Bildnisse schöner Frauen französischen und österreichischen Ursprunges, Rokoko, Empire und Biedermeier. Sie löste die seitlich angebrachten, silberbeschlagenen Verschlüsse, schlug langsam das deckende Glas zurück und lehnte es vorsichtig an die Wand. Sie strich wie kosend über den weichen Samt, in dem ihre Schätze ruhten, und hob das erste der Bildnisse, ein entzückendes Marquisenköpfchen, um den Hals den blutroten Streifen, der das Opfer der großen Revolution kennzeichnete, aus seinem dunkelvioletten Bette. Ein Puppenantlitz, strahlend von Jugend und allem Glück und Glanz des Lebens, von den tausend Nichtigkeiten und Eitelkeiten eines ewig festlichen Heute ausgefüllt, und das von nichts als Liebe 105 und Küssen zu erzählen wußte. Und dann das Zweite: noch edler, noch stolzer, sehr wissend, und hinter einem unnachahmlichen, unnahbaren Ernst ihre Leidenschaften verbergend, und wieder der dunkelrote Blutstreif um den prachtvollen, majestätischen Hals; und dann das Dritte, Typus der »grande amoureuse«, in den halbgeschlossenen Augen den müden Abglanz erlebter Nächte, und um die vom Maler kaum hingewischten, feinen, dünnen, halboffenen Lippen den Ausdruck einer solchen Hingegossenheit, einer so traumseligen Versenkung in Erinnerung und Erwartung, und wiederum das rote Todeszeichen um den blühenden Hals und Nacken; und dann kam, in blau und rosa, ein ganz duftiges, ganz zartes Bild einer weichen, jungen Frau, aus dem alles Glück einer jungen erfüllten Liebe sprang, und auch sie trug, statt jedes Schmuckes, das blutige Halsband ihres Geschickes.

Sie lehnte sich zurück. Mehr vertrug sie heute nicht. Sie konnte nicht mehr weiter. Dieses fortwährende Widerspiel von Glück und Schicksal, von Liebe und Tod regte sie zu sehr auf. Es war ihr nicht möglich, mit dem ruhigen Behagen des Sammlers, des Besitzenden, des Genießenden alle diese Schönheit zu schauen, wissend, daß dahinter das Schafott lauerte. Und aus diesem Kontrast wuchs ein zweiter auf: der zwischen der Bewegtheit dieser Frauenschicksale und der Ruhe ihres eigenen Lebens. Sie konnte sich, zum ersten Male, eines leisen Neides nicht erwehren: auf beides, gestand sie sich: auf das Übermaß an Liebe und das große Geschick. Oder war Starkes stark zu erleben, in Liebe und Tod, wirklich nur ein Vorrecht vergangener Zeiten? Und heute nicht mehr möglich? Waren Schicksal und Abenteuer unzeitgemäß? Florentin hatte erlebt.

Sie sprang auf und ging erregt durch das Zimmer. Eine dunkle Erinnerung an die trübste Zeit ihres Lebens, an die Zeit ihrer ersten Ehe stieg in ihr auf. Auch sie hatte erlebt. Mehr und Schwereres, als irgend jemand von ihr wußte, als das langsam und mühevoll errungene Gleichgewicht ihres Wesens, als die 106 scheinbar so untrübbare Heiterkeit ihrer Natur irgend jemanden ahnen ließ. Sie hatte Tage in ihrem Leben, die mit so viel Schmach getränkt waren, wie sie noch keine Frau erlitten hat. Sie dachte an jene dunkelste Zeit ihres Lebens, da sie mit Sibyl schwanger war und die ganze Brutalität eines unwürdigen Mannes erdulden mußte, der sie betrog und hinterging und sie zwingen wollte, seinem grenzenlosen Leichtsinn den Sinn und die Hoffnung ihres Daseins, das in ihr werdende Kind, zu opfern. Wenn sie es schließlich fertiggebracht hatte, sich von diesem Manne und ihr Kind von diesem Vater zu befreien und ihr Leben so aufzubauen, daß sie sich jener Leidensjahre nur mehr wie eines dunklen Hintergrundes zu erinnern brauchte, von dem sich alles übrige Geschehen und Erleben um so heller abheben konnte, dann war es ihre Energie und ihre Kunst gewesen, und die Ruhe und Stille dieser Existenz, die äußere und ihre innere, waren ihr nicht bequem in den Schoß gefallen, sondern ihr ureigenstes Werk, wie alles rings um sie; und sie durfte stolz darauf sein. Sie, sie ganz allein war mit dem Leben fertig geworden, und niemand hatte ihr dabei geholfen. Denn jener eine Moment, da sie, in grenzenloser Verlassenheit, vor Hilflosigkeit und Alleinsein fast zusammengebrochen war, nach Menschen schrie, die Hände ausstreckte nach einem Manne, an den sie sich hätte anlehnen können, bereit, jede Hand zu ergreifen, die sich ihr bot, und sie geglaubt hatte, den Einen, den Helfer, den Retter, den Mann in Otto Moser zu finden: wie kurz war er gewesen! Wie rasch der Irrtum verflogen! Und wie bald hatte sie erkannt, daß ihr niemand helfen konnte, als sie selbst! Am wenigsten aber ihr Mann, der bei aller scheinbaren Sicherheit hilfloser war als ein Kind und ihrer mehr bedurfte, als sie seiner, und selbst mehr noch als Billy. Und heute wußte sie, ihrer selber bewußt und in ruhiger Klarheit, daß sie sich nicht bloß selbst helfen konnte, sondern auch anderen.

»Ja, auch anderen!« sagte sie. Ein Gefühl der Kraft und 107 Sicherheit durchströmte sie, und sie war ganz fröhlich geworden und es war ihr, als müßte sie jetzt singen vor Fröhlichkeit. Sie setzte sich an den Flügel. Auf dem Notenpult lag die »Winterreise«. Sie schlug ein beliebiges auf, präludierte und begann: »Ein Licht tanzt freundlich vor mir her.« Gesang, ihr die subjektivste aller Künste, war ihre Geheimkunst, und daß sie singen konnte, ein vor allen anderen streng gehütetes Geheimnis. Sie übte es nur, wenn sie sicher war, von keinem Ohr gehört zu werden, darum aber um so herzhafter und ungenierter und von keiner Scham behindert, ihre ganze Seele ausströmen zu lassen. Die kleine, aber geschmeidige und geschulte Stimme klang auch heute ganz hell und fröhlich, anfangs, aber gleich nach den ersten Takten fühlte sie, wie sich ihr, wie nie zuvor, die eigene Stimme entrang und sie entrückte. Sie hörte sich nicht mehr, sondern schwebte irgendwo im Vagen, Nebelhaften. Sie sah, sah den Schatten eines Mannes, der, in schneeigen Wäldern, schwer, scheu, gehetzt, mit ausgestreckten Armen, hinter etwas Weißem, Flackerndem, Tanzendem herstrich, und es war ihr, als sei sie selbst das Weiße, Tanzende. »Ich folg' ihm nach die Kreuz und Quer. Ich folg' ihm gern und seh's ihm an, daß es verlockt den Wandersmann.« Sie fühlte, wie ein unwiderstehlicher Drang sie ergriff, zu spielen und zu locken, unwiderstehlich und doch tief schmerzlich, daß sie es mußte. »Ach, wer wie ich so elend ist,« sang sie und hatte Mitleid mit jenem und Mitleid mit sich, »gibt gern sich hin der bunten List« und erkannte, mit einer schmerzlichen und doch stolzen Beschämung, wie tief auch in ihrer Seele das Weibchen saß.

»Die hinter Eis und Nacht und Graus
Ihm weist ein helles, warmes Haus
Und eine treue Seele drin –«

sang sie, und auf einmal war alle Beklemmung weg und ein gutes, friedliches, tröstliches Gefühl erfaßte sie; nicht sie war das 108 Irrlicht mehr und die bunte Verlockung, sondern sie fühlte ihre Seele, die Klarheit, Stetigkeit, Wärme und Liebe verbreitete. »Nur Täuschung ist für mich Gewinn.« Aber sie glaubte es nicht mehr. »Gewinn ja, aber keine Täuschung«, fühlte sie, in tiefster Bejahung ihrer wasserklaren Natur.

Sie schlug ein anderes Lied auf, das sie mit seinem Durcheinanderwogen von Moll und Dur und Moll immer besonders geliebt hatte. Sie sang: »Wie eine trübe Wolke«, und noch nie war ihr die schmerzzerfetzte Melancholie dieser Einsamkeit so zu Herzen gegangen wie heute. Aber als sie zu der Stelle kam:

»Ach, daß die Luft so ruhig!
Ach, daß die Welt so licht!
Als noch die Stürme tobten,
War ich so elend nicht.«

versagte ihr die Stimme, sie konnte nicht mehr weiter, ließ die Arme sinken und weinte bitterlich.

Lange blieb sie so sitzen, sie wagte nicht, den Kopf zu erheben. Sie fürchtete sich vor der Helligkeit und Freundlichkeit dieser Räume, sie fürchtete sich vor der ewigen Ruhe und Schönheit dieses umfriedeten Daseins, alle die schönen Dinge schienen ihr lauter allzu grelle Sonnen zu sein, die eine grenzenlose Leere beleuchteten.

Sollte sie etwas anderes spielen? Etwas recht Schweres, dessen technische Bewältigung sie zwang, von sich selbst abzurücken? Sie nahm, wie alles im Leben, ihre Kunst, auch wenn sie sie nur zu ihrer eigenen Befriedigung ausübte, nicht leicht, und ruhte nicht eher, bis es ihrer Energie gelang, über das Technische und Formale, das ihrem im besten Sinne dilettantischen Klavierspiel naturgemäß nie Hauptsache sein konnte, mit Mühelosigkeit hinwegzukommen. Und darum wußte sie, daß, wenn sie sich einmal so weit hatte, anzufangen, die Aufgabe, die sie sich setzte, über jede Stimmung Herr werden mußte. Aber sie hatte 109 sich nicht so weit. Es kam immer ein Neues, das ihre Hände lähmte. Sollte sie Tschaikowsky spielen? Wie sie sich vor dieser süßen, einlullenden Schwermut fürchtete! Diesem gefährlichen süßen Gifte der Melancholie, der alles in ihrem aufgewühlten Inneren entgegenkam? Die war es ja gewesen, deren sie sich heute mit allen Kräften zu erwehren suchte und nicht vermochte. Oder einen jener jüngeren Franzosen, die sie so sehr liebte, etwa Debussy? Mit seinen kühnen, aufreizenden, verwirrenden, wie Küsse berauschenden Rhythmen. Daß sie die Unordnung ihrer Gedanken, die Verwirrung ihrer Sinne vermehren, die Sehnsucht, die in ihrem Blute sang, ins Unerträgliche steigern sollten? Nein, spielen konnte sie heute nicht, heute vertrug sie die artistischen Schönheiten nicht, ja, es war fast wie ein Grauen, das sie überkam, vor aller Schönheit, mit der sie bisher ihr Leben geziert hatte.

Sie mußte arbeiten. Ruhige Arbeit der Hände, das war es, was ihr helfen sollte. Nichts denken, nichts fühlen, nur die Arme und die Finger regen und gezwungen sein, mit den Augen gespannt der Bewegung der Finger zuzusehen. Sie setzte sich an ihren Stickrahmen. Er zeigte, halb vollendet, ein Panneau, dessen Sujet eine Szene aus Keats »Lorenzo und Isabella« nachbildete. Schon sah man, zur Hälfte wenigstens, den schönen Jüngling, der Geliebten die goldene Schüssel mit den Pfirsichen reichend, die blonde Isabella, mit den sehnsüchtigen Augen an den Händen des Geliebten hängend, schon schmiegte das dunkle Windspiel den seinen Kopf an die linke hängende Hand des Mädchens, schon stieß der tückisch blickende Bruder mit weitgestreckten Füßen unter dem Tische in dumpfer Wut nach dem treuen Hund, alles das in zarten Pastellfarben dem Gemälde eines der englischen Präraffaeliten getreu nachgebildet. Die ganze vordere Partie war fertig, nur der Hintergrund fehlte noch, die Tafel mit den Gästen. Die Arbeit freute sie, die getane wie die noch zu tuende. Die Erinnerung vieler stiller, einsamer Wintertage stak darin und die gute Freude, eine 110 leere Fläche sich füllen, färben und beleben, ein Werdendes wachsen zu sehen. Es war ihr eine ruhige Befriedigung und Genugtuung gewesen, heimlich für sich die Technik dieser Arbeit zu erlernen, sie zu erweitern und zu bereichern, sie ins Persönliche zu wenden. Es hatte lange gewährt und nicht wenig Mühe gekostet, die Besonderheit des Materials, das Geheimnis der Farben zu ergründen und sie auf ihren persönlichen Geschmack zu stimmen, aber die Mühe lohnte. Und nun kostete sie den Genuß, in dem bunten Material zu wühlen, sich an der farbigen Schönheit der Stoffe, Tülle, Stramine und Garne zu ergötzen. Wie schön und weich und zierlich und verschieden war all dies bunte Zeug! Kobaltblaue, ultramarinblaue, himbeerrote, moosgrüne, ockergelbe, kupferfarbene Zephirwolle, leuchtend grünes und silbergraues Moulinégarn, graues und dunkellila Perlgarn, feuerrote, nordische Wolle, Seiden und Satins in allen Farben, schwere, schwarze Merveilleuxseide und rötlich orangefarbene Filofloßseide, schwarze Kordonetseide, weinrote Kabelseide und violette Stickseide und Perlen aller Arten und Farben, Goldperlen, tiefbraune, graugrüne Holzperlen und durchsichtige, leuchtendblaue und rote Glasperlen. Und sie begann. Sah, wie sonst, dem Heben und Senken der Nadel zu, nahm, im Heben, die Fäden des Gewebes auf, zog Nadel und Faden durch, so daß die aufgenommenen Gewebefäden oben liegend sichtbar wurden, während die anderen, durch den eingezogenen Faden gedeckt, verschwanden. Wechselte, wie sonst, mit kunstverständiger Absichtlichkeit zwischen Flachstich und Kreuzstich; achtete, in der Farbenfläche einen Stich auszulassen, damit durch die Lücke der Grundstoff wirke; oder ließ durch den Stich das kleine Farbenquadrat entstehen, das dennoch durch seine schräge Fadenlage, weich und locker, nicht hart begrenzt auf dem Stoffe liegt; und holte klug aus Wechsel und Verteilung der Farbe, die sie manchmal in der feinen, aufgelösten Linie des Stoffes ließ, manchmal als volle Fläche dick auftrug, wobei der Gegensatz der größeren, ruhigen Farbenmasse die Kraft der kleinen, leuchtenden, 111 führenden unterstützte, alle Wirkungsmöglichkeit des edlen Gewebes. Und sah nach der flinken Arbeit weniger Stiche die erste Kontur entstehen: es war die Hand Lorenzos, die die goldene Schale hielt. Und es war ihr, als sei es die Hand Florentins.

Natürlich war es eine Augentäuschung: sie hatte genau nach der entworfenen Vorlage gearbeitet. Aber mit dem Sticken war es für heute vorbei. Sie ließ die Nadel sinken.

Es wollte heute nicht recht. Nichts wollte recht. Keine Arbeit gelang ihr: sie war zu zerstreut. So blieb ihr also nichts übrig, als mit irgendeinem Buche in den Garten hinunterzugehen, stillzusitzen und zu warten, bis die anderen kämen. Vielleicht gelang es ihr, zu lesen. Sie glaubte es nicht mehr.

Sie ging an ihre kleine Bibliothek, um ein Buch zu wählen. Sie hatte außer einigen Bänden Goethes, die sie immer mit sich nahm, weil sie ohne sie nicht leben konnte und sie ihr alles ersetzten, Freundschaft, Ansprache, Gottesdienst und Lebensordnung, so daß ihr Goethe längst kein Buch mehr, sondern ein Lebendiges geworden war, zu dessen Füßen sie sich oft, gleich jener Bettina, kniend träumte, um sich in allen Lebensdingen Rat, Mut und Schönheit von ihm zu holen – außer der Goetheschen Lyrik und den »Wahlverwandtschaften« hatte sie nur wenige Bücher in diesen Sommer mitgenommen. Sie erinnerte sich an jenen Moment, da sie in ihrer Stadtwohnung wie jetzt vor der Bibliothek gestanden und gewählt hatte und von einer seltsam ahnungsvollen und erwartenden Stimmung sich zu einer ganz bestimmten Art von Büchern getrieben fühlte, in denen Männerschicksal von Frauenseele und Frauenverständnis umrankt erschien, oder weise Männlichkeit sich zart und liebevoll in das Geheimnis der Weiblichkeit versenkte. Das erste, nach dem sie da gegriffen hatte, war jenes erste griechische Gedicht gewesen, in dem das erlebnisreichste Männergeschick durch eine Reihe harrender, pflegender, ratender, helfender, lockender, anklagender und verzichtender Frauen hindurchschreitet; sie hatte, in der zierlichen französischen Miniaturausgabe, 112 mit Kupfern geschmückt, die Liebeslieder und Liebesgeschichten des verliebtesten aller Poeten ausgewählt, des letzten der Troubadoure, der sich so ganz der Liebe ergeben hatte, bis sein eigenes Leben langsam an den Frauen verronnen war, und der für sein Dichten kein anderes Motto fand als das:

«Si deux noms, par hasard, s'embrouillent sur ma lyre,
Ce ne sera jamais que Ninette ou Ninon.»

Dann hatte sie die Bücher jenes altösterreichischen Biedermeierdichters mitgenommen, der sich seine enge Welt mit Goethescher Ordnungsliebe und tiefer Andacht zum Kleinen ausgebaut hatte, und in dessen bedächtiger Kunst es sich wie zwischen den abgezirkelten Beeten eines wundervoll friedlichen Blumengartens wandeln ließ; und seinen nördlichen Gegenpart, hinter dessen hanseatisch abgemessener, kleinstädtischer Steifheit und Stille alle Stürme der Leidenschaft, in seelenvoller Schönheit gebändigt, zu ahnen waren; und sich zu den beiden großen Seelenkündern entschlossen, jenem Russen, dem sich die menschliche Seele bis in ihre letzten geheimnisvollsten Tiefen entschleiert hat, und dem Franzosen, der das grausame Geheimnis der Alltäglichkeit entdeckte; und mit zärtlichen Händen die moderne Frauenbibel jenes dänischen Meisters vom Leben Mariä herausgenommen, der Marie Grubbe aus dem siebzehnten Jahrhundert, in deren seelischen Interieurs sich die Seele jeder Frau mit persönlichem Leben wiederspiegelt; und jenen anderen Dänen, der, selbst zart wie eine Frau, aus Sehnsucht und kindhafter Mütterlichkeit jene elfenleichten Frauengestalten gewoben hat, in denen Frauenträume ihre Erfüllung wiederfinden. Dann jenen seltsamen Norweger, der seine einsam urwaldhafte Kraft wie einen Teppich ausbreitete, um darauf in seiner scheuen keuschen Schamhaftigkeit das Mysterium Weib anzubeten; und jenen anderen Norweger, den früh vom Tode gezeichneten, allerzartesten, der mit unbeschreiblicher Reinheit und Innigkeit sein Kreuz durch die wüste Ebene seines Lebens getragen hatte. Schließlich hatte sie 113 noch ein paar Bücher mit Biographien, Memoiren und Briefen dazugepackt, in denen sie besonders gerne las: so die Lebensbeschreibung einiger Frauen des Romantikerkreises, die Briefe Mozarts an Konstanze, die Memoiren der Glückel von Hameln, jener prachtvollen Jüdin aus dem siebzehnten Jahrhundert, die, eine andere Frau Rat, ihr Leben und das Leben ihres Mannes, ihrer Familie und ihrer Umwelt mit festen Händen gepackt und gestaltet hatte. In allen diesen Büchern hatte sie sich gespiegelt, hatte Frauen ihrer Art und Männer ihres Traumes gefunden. Nun stand sie heute wieder vor ihnen; aber keins fand sich, das heute zu ihr sprechen wollte. Eins glitt ihr in die Hand; sie schlug es auf und las die Verse:

«Tal di me stesso nacqui e venni prima,
Umil model, per opra più perfetta,
Rinascer poi di voi, donna alta e degna.
S'el manco adempie, e'l mio soperchio lima,
Vostra pietà, qual penitenzia aspetta,
Mie fiero ardor se mi gastiga e insegna?»

Und sie grüßte, über die Jahrhunderte hinweg, die Schwester, die den Titanen zu dem Geständnisse gezwungen hatte, daß eines Weibes Hand das schlechte Tonmodell seines Lebens neubeseelt und höherer Vollendung gebracht hatte:

»So ich, wie ich zuerst war: nur mein eigen
Modell, durch dich erst, Herrin, neugeartet
In höherer Vollendung mich zu zeigen.
Bald gibst du zu, was fehlt; dann wieder waltest
Du scharf wie Feilen; – aber was erwartet
Mein wildes Herz, wenn du das umgestaltest?«

Einen Augenblick lang kostete sie den Triumph ihres Geschlechts; um sofort darauf wieder demütig und kleinlaut zu werden. Sie stellte die Gedichte Michelangelos in die Reihe 114 zurück. Die ganz Großen waren ihr heute zu groß und zu erhaben. Der große Russe war ihr heute zu grausam und zu hart, der französische Romantiker zu weich. Keiner paßte zu ihrer heutigen Stimmung. Selbst die gute alte Jüdin war ihr heute viel zu brav und viel zu ehrbar. Wie weit, wie bis zur Gleichgültigkeit weit lagen ihr heute die pedantisch umständliche Altväterlichkeit des Biedermeierdichters, die gemessene wohlausdistanzierte Förmlichkeit des Hanseaten? Und wie indiskret war die Nähe der neueren Bücher, mit ihrer bis zur Hautlosigkeit getriebenen Selbstentblößung, mit ihrer hemmungslosen Subjektivität, die ihr heute fast unerträglich schien? Schließlich entschied sie sich für die »Bovary«. Das war das Richtige. Herb und kompliziert, ging es sie näher an als die Älteren und blieb doch, in seiner wohltuenden Gegenständlichkeit, objektiver als die Neueren.

Sorgfältig wickelte sie den oft gelesenen Band in die rote saffianlederne Lesetasche, nahm Wollplaid und Kissen auf den Arm und ging die Stiege hinab in den Garten. Unterwegs wandelte sie einen Augenblick lang etwas wie Furcht vor dem Buche an, als könnte sie heute etwas Unerwartetes darin finden, eine unerwartete, bisher nicht gefühlte Ähnlichkeit, ein verwandtes Schicksal, nicht dem bisherigen Schicksal verwandt, gewiß nicht, aber ein Kontagium, das Schicksal werden könnte. Sie kannte sich und die Intensität, mit der sie las, wußte, welche Empfänglichkeit sie Büchern entgegenbrachte. Und wenn Bücher bisher nur ihren Träumen gefährlich werden konnten, ach nein! nicht einmal das, das Wort war viel zu stark, manchmal ihre Phantasie schaukelten, sie ein ganz klein wenig über den Rand ihres gewohnten Lebens hinausblicken ließen in eine vage, verschwimmende Weite, im Dunkel schlafende Wünsche ganz leise streiften, aber doch immer so, wie wenn es sich um eine fremde Seele handelte, und sie selbst blieb unbeteiligte Zuschauerin, die nie mit sich verglich, nie auf sich bezog, so hatte sie diese Ruhe nur ihrem Wunsche nach Ruhe zu verdanken, der ehernen Energie, 115 mit der sie die strenge Ordnung ihres rings gegen die Welt abgeschlossenen Lebens aufrechterhielt. Würde sie das auch heute noch können? Würde sie in dieser Unruhe und Verwirrung ihrer Sinne, in dieser Auflösung und Unordnung ihres Inneren genügend Widerstandskraft in sich selbst finden, um das Aufsteigen gefährlicher Analogien, merkwürdiger Vergleiche, deren Möglichkeit ihr leise dämmerte, zu verhindern? Aber blitzschnell, wie er aufgeschossen war, kämpfte sie den Gedanken nieder. Das war es ja, warum sie gerade dieses Buch gewählt hätte: weil diese Sachlichkeit, diese ehrliche, saubere, gewissenhafte, ernste Treue der Darstellung alles andere bezwingen mußte, zwingen mußte, an sich zu vergessen, stärker sein muß als das ichbesessene immer nur an sich denken Müssen. Wozu wäre die ganze Erziehung zur Kunst gewesen, wenn sie nicht das eine vermochte, den Menschen von sich selbst abzurücken, ihn sich selbst zu objektivieren, ihm die Kraft zu geben, Welt und Wirklichkeit mit Ernst und Ruhe anzuschauen. Sie hatte diesen religiösen Glauben an die Kunst, sie glaubte an Flaubert und fühlte nun mit einemmal diesen Ernst und diese Kraft in sich.

Sie rückte sich ihren Liegestuhl in die schattige Laube des Gartens, von der aus der Blick über die niedrige Gartentür weg auf den See ging, stellte sich das kleine runde Tischchen zurecht und begann zu lesen. Die ersten Seiten, die Vor- und Jugendgeschichte der Bovarys, überschlug sie, die interessierte sie heute nicht, sie fing gleich mit jenem siebenten Kapitel an, in dem die Flitterwochen der Bovaryschen Ehe erzählt wurden. Was hatte diese Ehe mit ihrer zu schaffen? Welche Ähnlichkeit gab es? Lächerlich! Ihre Befürchtungen waren lächerlich gewesen. Wo lag da eine Analogie? Sie – und dieses Provinzgänschen! Was hatte sie mit diesem verträumten, mäßig begabten, ein wenig sentimentalen, ein wenig konventionellen, ein wenig vernachlässigten Kleinstadtfrauchen zu schaffen, dieser kleinen Bourgeoise, die sich langweilte? Sie langweilte sich nie. Manchmal langweilten sie andere. Sie fühlte genug Ressourcen in sich, um gegen alle Langeweile 116 und gegen alle Gefahren der Langeweile geschützt zu sein Wenn man sie nur allein ließ! Sie hatte das Talent, allein sein zu können. Und ihr Mann? Welche Ähnlichkeit hatte Otto mit jenem brutalen, zynischen Landarzt? Das heißt, ein bißchen Ähnlichkeit hatten alle Männer miteinander. Wirklich alle? Gab es keine Ausnahmen? Sollte es nicht auch andere geben? Ganz andere? Solche, deren Art zu sprechen nicht »platt war wie das Trottoir auf der Straße«? Männer ohne »Allerweltsgedanken und Alltäglichkeiten«, Männer ohne Roheit und Brutalität und laute, lärmende Gebärden, Männer, die ein großes Schicksal still und gelassen trugen, mit zarten Frauenseelen und starken zärtlichen Händen?

Aber was sie heute an diesem Buche so sehr reizte, war etwas anderes, war Frankreich. Wie sie diese französische Luft liebte! Diese französische Atmosphäre! Diese französische Landschaft! Sie erinnerte sich, welchen Eindruck auf sie die paar Worte gemacht hatten, mit denen Florentin gestern seinen Aufenthalt in Paris und Marseille berichtet hatte; wie die Vorstellung der Straßen sie schon berauscht, die wenigen Namen, die er nannte, sie fasziniert hatten. Schon die Sprache, diese wundervollste Schöpfung des lateinischen Genies, machte ihr warm. Und sie stellte sich den armen, weltfremden Jungen vor, wie er einsam durch die vornehme, geschlossene, kultivierte Schönheit dieses Landes strich, von allen Seiten von Wohllaut, Anmut, Grazie umwogt und gelockt.

Sie hatte es nicht gemerkt, daß das Buch längst ihren Händen entglitten war und sie mit halbgeschlossenen Augen dalag. Ganz dem fließenden Durcheinander ihrer Bilder und Träume hingegeben.

Merkwürdig, wie seltsam die Erzählung dieses fremden Lebens auf sie gewirkt hatte! Ein junger Mensch, vor wenigen Tagen ihr noch ganz fremd, hatte Verwandten ruhig und einfach seine Schicksale erzählt, und ein Irgendetwas hatte daraus an ihr Ohr 117 geklungen, das sich merkwürdig heiß und zärtlich in ihr Blut goß und noch heute in ihrer Erinnerung fortflammte und fortbrannte. War es die französische Atmosphäre, die so wirkte? Aber es war ja gar nicht von Liebe oder von Frauen die Rede gewesen. Im Gegenteil. Das hatte ihr gerade darin gefehlt. Jetzt fiel es ihr auf. Gerade das. Sie hatte die ganze Zeit über das Gefühl gehabt, etwas fehle, um dieses Geschick zu einem Ganzen zu machen, dieses Leben abzurunden. Natürlich waren es die Frauen. Abenteuer ohne Liebe, ein Männerschicksal ohne Frauen. Alle Frauen, die vorkamen, waren die Frauen oder Geliebten seiner Freunde oder gleichgültige Komparserie. War es möglich, daß die Frau, die Liebe in diesem Leben keine Rolle spielte, daß dieser Mann nicht liebte? Oder bloß bisher nicht? War es möglich, daß dreißig Jahre dieses Lebens ohne Liebe vergangen waren? Oder war es Scham gewesen, die ihm den Mund verschloß?

Und fieberhaft stellte sie sich noch einmal alles vor, was sie von diesem Leben wußte. Sie blätterte es in jagenden Gedanken auf, suchte, bohrte darin, zerrte jedes Detail aus dem Winkel ihres Gedächtnisses, bis sie das hatte, was sie finden wollte und was sie zu finden fürchtete. Ging es durch, von Anfang an, von dem Leben mit der Bohême, wie sie es aus den Erzählungen ihres Mannes kannte, mit Künstlern und jungen Schauspielerinnen, und die Flucht in die Schweiz aus wütender Gier nach Freiheit, und das Studium mit den Studentinnen, und das enge Zusammenleben mit wilden Ehen und freien Liebesgemeinschaften gläubiger, junger Menschen, mit Genossen und Genossinnen, die begeistert an den Lippen des jungen Redners hingen, und das gemeinsame Streifen durch die Berge der Schweiz und den Sturm vor dem Konsulat, und sie sah ihn dreimal befreit von den Händen glühender Proletarierinnen, und den rührenden Abschied von Zürich, den sie sich ohne Frauentränen nicht denken konnte, und die zweite Flucht in neue Abenteuer, und die Jahre auf der kleinen Münchener Redaktion, und sie zweifelte 118 auf einmal gar nicht, daß jene Lina Merkt, jenes resolute Tiroler Mädel, tatsächlich Florentins Geliebte und die eifersüchtige Anspielung jenes rothaarigen Berliners nicht gar so unberechtigt gewesen sei; und sie sah ihn in Paris, in dieser Atmosphäre der Liebe, auf den Straßen, in den Cafés, auf den Boulevards, auf den geheiligten Stätten der Pariser Liebessonntage, sehnsüchtig nach Liebe, umwogt von Liebe, glühend vor Liebe, jauchzend vor Liebe. Und sie sah ihn auf seiner abenteuerlichen Fahrt mit dem Abhub der österreichischen Kolonie, mit den ungarischen Sängerinnen und der bildhübschen kleinen Italienerin, wie ein Zauberer von den Weibern umringt und angebetet. Und sie sah ihn mit heißester Lebensgier sich in den Strudel seines Marseiller Abenteuers stürzen und versinken, taumelnd zwischen den Weibern der Hafenschenken und Tavernen und den eleganten Mondänen der Diplomatie. Und sie sah ihn, nie gesättigt und immer wieder dürstend, hinter der Schönheit her durch Italien ziehen, und weiter, durch die ganze Welt, von Sehnsucht getrieben, gehetzt, gepeitscht, bis er sich, schließlich, wie ein Symbol seiner unerfüllten Wünsche jenes kleine Bild der japanischen Geisha als einzigen Schatz nach Hause rettete.

Und nun fiel es ihr wie eine Binde von den Augen: das Leben dieses Mannes gehörte der Frau. Wie hatte sie das nicht sofort begreifen können! Sonnenklar wurde es ihr: alles, hinter dem er herjagte, war Frau und Frauenliebe. Das Weib suchte er und ersehnte es für sich. Alles, was er Freiheit nannte, oder Schönheit, Kultur, Ferne, das war die Frau. Die Frau war ihm alles. Die Unrast dieses Lebens, der Drang zu Flucht, Reise, Abenteuer, das ewige Gehetztsein war Sehnsucht nach der Frau, sonst nichts; dieser Mann war dem Weibe verfallen; und daß er es aus Scham verschwieg, war das Zeichen, wie tief er ihm verfallen war. Nur die Frau konnte diesem Leben die Erfüllung bringen. Die Frau und die Liebe.

Sie sprang auf. Erregung ohnegleichen ergriff sie, packte 119 sie mit klammernden Fäusten, schüttelte ihren Körper. Sie wagte es, die sonst so Kluge, Selbstbeherrschte, in zitternder Scham vor sich selbst, nicht, sich zu fragen, warum diese Entdeckung wie ein Feuer in ihrem Blute raste; was es sie anging, wenn das Leben dieses Mannes dem Weibe gehörte. Sie suchte nach keinem Namen für den Sturm, der in sie gefahren war: was half es ihr, wenn sie es Mitleid nannte oder Eifersucht, Angst oder Sehnsucht oder noch anders?! Das eine wußte sie, daß ihre Ruhe weg war, der mühsam erkämpfte Gewinn langer Jahre; weg, verloren war die Herrschaft über sich selbst, die Klarheit ihres Bewußtseins, die Macht über ihren Willen. Sie wußte nichts mehr von sich, wußte nicht, was in ihr vorging, wußte nicht, was sie wollte. Weg wollte sie, von sich selbst weg, aus diesem Leben hinaus, ihrem Schicksal entrinnen, sich selbst entrinnen. Ohne zu wissen, was sie tat, stieß sie mit dem Fuße das Buch weg und rannte, jagte, von Unbekanntem getrieben, die Stiegen hinauf, in das verlassene Haus. Leer und öde stand es da, und sein stiller Friede starrte sie wie ein böses Gespenst an. Sie jagte durch das dunkle Speisezimmer und riß die Tür auf, die in ihre Zimmer führte, als müßte sie in dem hellen Glück dieser gewohnten Räume Schutz und Asyl finden. Aber wie durch Zauberspuk verwandelt, kalt, grell, unfreundlich, feindselig blitzte sie das sonst so Vertraute an, mit Gesichtern verratener Treue, Scherben und Ruinen ihres gestrigen Friedens. Und sie jagte weiter, von einer unsichtbaren, unwiderstehlichen Gewalt gezerrt und gestoßen, ins zweite Stockwerk hinauf, in Florentins Zimmer, als müsse sie zu ihm, als könnte sie irgend etwas von ihm dort finden. Und nun stand sie da in der kleinen Mansarde, festgewurzelt an der Tür und wagte keinen Schritt hineinzutun und glaubte, seinen Atem zu spüren und wagte nicht, die Augen zu erheben, kaum daß ein irrer Blick das kleine Bild der Japanerin auf dem Schreibtisch streifte, und fühlte, wie sie im nächsten Augenblick umfallen müßte vor Scham. Und plötzlich überkam es sie, jäh 120 durchschneidend, mit einer grausam blitzhaften Überdeutlichkeit: er ist ja nicht da. Er kann ja gar nicht da sein. Er ist mit meiner Tochter in den Bergen draußen. Der fremde Mann, nein, der Bruder meines Mannes, mit meiner Tochter. Und sie jagte, sinnlos vor Schmerz, die Treppen hinunter, durch den Garten durch, durch die Tür hinaus, an den See, auf dem friedlich, hell und strahlend die breite Mittagsonne lag.

Der See hielt ihren Schmerz auf. Ihr Schritt stockte. Zum erstenmal schlug sie wieder die Augen empor. Das stille Wasser lag ganz einsam. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Wie weh ihr all dieser Glanz und alle diese Schönheit tat! Wie sie ihr unbarmherzig in die wunde Seele schnitten! Sie hätte schreien mögen vor Leid, und sie fühlte sich wie ein vom Jäger getroffenes Reh, das, die Todeswunde im Fleisch, mit seinem Blut die durcheilten Felder betaut. Sie lief, hart am Rande des Sees, den kleinen, schmalen Weg auf und ab, auf und ab, immer wieder denselben schmalen Weg, mit denselben schweren gehetzten Schritten und konnte nichts fühlen, nichts denken als immer wieder dasselbe? Warum jetzt erst? Warum so spät?

Sie sagte nichts. Sie sprach kein Wort. Ihre Lippen öffneten sich nicht. Sie bissen sich fest ineinander, um nicht zu schreien, um es nicht herauszuschreien, was jetzt in so ungeheurer Klarheit vor ihrer Seele stand: dieser Mann gehört zu mir. Ich gehöre zu ihm. Wir sind von einer Art. Unter Millionen Menschen wir beide. Sein Schicksal will mich, braucht mich. Nur ich verstehe seine Schicksale, nur ich verstehe ihn, nur er wird mich verstehen. Nur ich kann sein Schicksal zur Erfüllung bringen. Was soll das Kind, was soll mein armes Kind damit? Dieses wilde Schicksal wird es mithineinreißen, wird es zermalmen. Während ich allein es glätten, auflösen, zur Reife bringen könnte. Ich allein weiß, wie edel, wie einfach, wie reich dieses Leben ist. Ich allein könnte diesen weltfremden Träumer zur Welt, zur Wirklichkeit, zum Willen, zu seinem Werk erlösen. Zu spät!

121 So lief sie immer wieder denselben schmalen Weg auf und ab und streckte in ohnmächtiger Sehnsucht ihre Arme über den See. Aber nichts antwortete ihrer Sehnsucht.

Eine grenzenlose Müdigkeit überfiel sie, und sie schleppte sich, ohne es zu wissen, mit schweren Schritten in den Garten, ließ sich in ihren Liegestuhl fallen und versank in einen traumlosen Schlaf, aus dem sie erst erwachte, als sie einen Mund auf den herabhängenden Fingern spürte, und Sibylla, Florentin an der Hand, zu ihren Füßen kniend, mit stockender Stimme sagte: »Muttchen, ich habe mich soeben mit Onkel – mit Florentin verlobt.« 122

 


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