Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

... Und nun ist es wieder einmal Nacht, und in unserem Versteck eine Viertelstunde vor dem Sumpfgürtel ist es bereits die dritte Nacht.

Wir haben da im Urwald eine Schlucht gefunden, die uns genügend schützt, die eine frische Quelle hat und in der auch unsere Büffel weiden können. Rings um die Schlucht häufen sich entwurzelte Stämme, von Dornen und Lianen durchzogen, zu festem Wall. Ein reiner Zufall, daß ich einen Durchschlupf entdeckte ...

In zwei Felslöchern der Südwand hausen wir kühl und trocken. Das Leopardenpärchen, das bisher diese Urwaldfestung bewohnte, hat daran glauben müssen. Tikkus Pfeil und mein Wurfmesser und einige Felsbrocken taten geräuschlose Arbeit. – Geräuschlos ist hier Hauptbedingung. Wir haben bereits so manches erkundet und gesehen, sind jedoch bisher unentdeckt geblieben, und das danken wir nur meinem Einfall, niemals auf dem üblichen Wege auf festem Boden den Sumpfrand zu besuchen. Wir wählen stets den Weg durch die Baumkronen. Er ist mühsam, aber wir vermeiden auf diese Weise alle Spuren. Nicht eine einzige Fährte auf dem weichen Humusboden verrät uns.

So manches erkundet ...

Schon am ersten Tage nach unserem Eintreffen hier war ich bis zu dem Sumpfgürtel geklettert, hoch in den Ästen, hatte dann einen Durchblick gefunden und mit dem Fernglas über die Moräste hinweggespäht. – Ich schätzte die Breite des Sumpfringes auf eine Meile. Mac, der arme tote Mac, war ein Optimist, wenn er hoffte, jemals diese nasse Wildnis durchdringen zu können. Ich habe den Gedanken längst aufgegeben. Im Grunde ist unsere Anwesenheit hier sehr überflüssig, denn wir werden niemals das Smaragdland besuchen können, es sei denn, wir besäßen ein Flugzeug und könnten diese Dornenverhaue, die grünen trügerischen Sumpflachen und diese Dickichte überfliegen – niederdrückende Erkenntnis gleich am ersten Tage!

Und dann: was Mac da von Holzschuppen, Häuschen und so weiter geredet hat, die er gesehen haben wollte (genau wie der bewußte wagemutige Konsulatsbeamte) – keine Rede davon.

Es war sehr klares Wetter, als ich das Smaragdland an jenem Vormittag mit dem Glase durchforschte. Man könnte es eine felsige, buschreiche große Insel nennen – mit einigen Wäldern, einem blinkenden See, einem schillernden breiten Fluß, der einen schönen Wasserfall bildet ...

Aber Gebäude, Menschen?!

Nein, nichts davon ...!

Diese »Insel« also, umsäumt von der flüssigen, dornigen, fieberschwangeren Mauer, dürfte drei bis vier Meilen Durchmesser haben. Die Vogelschwärme des Dschungels kreisen darüber – der »Adler« kreist dort niemals. Nicht ein einziges Mal bemerkten wir ihn, und auch Tikku und Elsie haben schon des öfteren das ferne, unerreichbare Smaragdland mit dem Glase betrachtet.

Nichts Auffälliges zeigt sich dort. Nach Westen zu sperrt freilich eine kahle steile Hügelkette den Blick ab. Trotzdem: befänden sich dort noch Menschen, sagte ich mir am ersten Tage, müßte man etwas von ihrer Anwesenheit spüren, Rauch müßte aufsteigen, die Vogelschwärme würden scheuer sein ...

Sagte ich mir ...

Und am zweiten Tage hockte ich bereits vor Tagesanbruch mit Tikku in der Krone desselben Kampfergiganten, der in seiner duftenden Familie Urahn sein muß. Sechzig Meter hoch – bestimmt. Den Umfang des Stammes unten kenne ich nicht, wir betreten den Boden nicht.

An diesem zweiten frühen Morgen im Dämmerlicht der ersten Helle wurden wir eines Besseren belehrt, da sahen wir einen der Wächter lautlos schräg unter uns vorsichtig dahinschreiten, einen Karabiner im Arm, im Rucksack aber – und das war das Bedenkliche – einen stichelhaarigen, gefleckten Terrier, der Kopf, Brust und Vorderpfoten außerhalb seines Tragbeutels hatte.

Der Zweck war ersichtlich: die feinere Hundenase sollte diesen Posten, diesen Mann in Kakhi mit Kakhimütze, rechtzeitig warnen.

Ein blonder Mann mit sauber gepflegtem Spitzbart übrigens.

Das war nicht alles.

Der Mann trug derbe Schuhe und leichte Schnallgamaschen – gewiß ...

Aber Spuren hinterließ er nicht ...

Er trug unter den Sohlen eine Art kanadischer Schneeschuhe – so etwa sahen die Dinger aus –, und sie verursachten weder Geräusche noch tiefere Eindrücke, zumal dieser Wachtposten sehr sorgfältig grasfreie Stellen wählte.

Wir hielten den Atem an, als er unter uns mit seiner Hundelast dahinschritt ... Er verschwand, und nach einer Stunde erschien eine zweite Wache, genau so ausgerüstet, ein langer Bursche mit trägen Bewegungen – auch mit Terrier auf dem Buckel.

Nun wissen wir: der Außenrand mit Sumpfgürtel wird Tag und Nacht abpatrouilliert.

Schlußfolgerung: Die Smaragdinsel ist doch bewohnt!

Was hilft uns dieses Wissen?!

Nichts! Gar nichts!

Hinüber können wir ja doch nicht. Würden wir es wagen, etwa einen toten Baum zum Nachen auszuhöhlen und in die Wildnis dort einzudringen: die Hunde würden uns wittern, unsere Fährten könnten wir niemals völlig verwischen, und ... dann das Fieber!!

Ich habe nachts aus den Morästen die Nebel aufsteigen sehen. Gewiß, wir schlucken jeder jeden Tag unsere Dosis Chinin, wir leiden daher dauernd unter Ohrensausen, aber in dem Dschungel hülfe uns auch Chinin nichts! Milliarden von Stechmücken flattern dort sofort nach Sonnenuntergang auf, wir erkennen diese Wolken surrender Insekten mit bloßem Auge ...

Selbstmord wäre es, das grünbraune Gebräu im Nachen zu durchfahren – – vielleicht fünfzig Meter weit, dann würden die stachligen Mauern uns zur Umkehr oder zu fragwürdigen Umwegen zwingen.

Es hilft uns auch nichts, daß wir ebenso genau wissen, daß diese Wächter diesen Morastring zweifellos sehr bequem überwinden, daß sie ganz nach Belieben ihr geheimnisvolles kleines Land verlassen und dorthin zurückkehren können.

Wie bringen sie das fertig?!

Wir, Tikku und ich, haben die Frage schon soundso oft erörtert. Möglich, daß es doch eine geheime Wasserstraße durch dieses Labyrinth von grünbraunen Wasserlöchern, Dornen, Lianen, Sträuchern und nochmals Dornen gibt. Möglich, daß sich irgendwo an anderer Stelle des Sumpfrandes genügend hohe Bäume quer durch den Schutzwall hinziehen und so mit ihren Ästen eine Brücke bilden – möglich beides, aber nicht sehr wahrscheinlich. – Eine Übergangsstelle muß vorhanden sein! Wäre sie nicht da, würde diese scharfe Bewachung sich erübrigen.

Rätselraten also ...

Und ich schreibe hier diese Rätsel nieder, eine Steinplatte als Tisch, auf der die halbverhüllte Karbidlampe steht. Tikku schläft im Hintergrund der Grotte, Elsie desgleichen nebenan in der zweiten, und der vierte im Bunde, das Musterexemplar Taito, leistet natürlich Elsie Gesellschaft.

Elsie ist sehr enttäuscht. Ihre stille erste Liebe auf den ersten Blick zu John Burr dürfte wenig Aussicht haben, je über das Anfangsstadium hinwegzukommen. Die Smaragdinsel ist selbst einem so netten blonden Mädel gegenüber sehr unzugänglich.

... Meine Zigarre ist nur noch Stummel. Es wäre Zeit, das Mooslager aufzusuchen – es muß längst Mitternacht sein.

Ein Blick auf die Uhr: Halb eins!

Und doch: ich bin nicht müde, ich habe hier in dieser Schlucht zu wenig Bewegung, ich bin körperliche Anstrengungen gewöhnt – wie soll ich hier die träge gewordenen Glieder wieder geschmeidig machen?!

Zwischen den Blättern des Tagebuchs hat sich ein hellerer Zettel aufdringlich hervorgeschoben: die Warnung der Smaragdleute!

Ich überfliege sie nochmals, und – ein Zufall – ich drehe das Blatt um und sehe auf der Rückseite schwache lila Streifen: Durchdruck von Maschinenschrift.

Lese ... Schiebe die Lampe näher – buchstabiere, manche Buchstaben sind zu undeutlich, trotzdem ergibt das Ganze einen Sinn. – Es ist ein Geschäftsbrief einer Maschinenfabrik in Tokio an Mr. John Burr, Kelung, Formosa ... Datum von vor zwei Jahren, Herbst. Die Firma meldet Mr. Burr, daß die Zahlung für die beiden Leichtmotoren eingegangen sei und daß die Motoren in zehn Tagen in Kelung mit Frachtdampfer Hata Maru eintreffen würden.

Zwei Vierzylinder, geringstes Gewicht – – das gibt zu denken. Und die Gedanken lassen mir keine Ruhe ...

Schon gestern entwarf ich flüchtig einen Plan, wie man nachts einmal einem der Wächter folgen könnte. Aber mir fehlte gestern der große Ansporn für ein großes Wagnis. Heute habe ich ihn: diesen durchgedrückten Brief der Firma aus Tokio!! John Burr hat also vor zwei Jahren zwei Motoren für die Smaragdleute in Empfang genommen ... Und damit ist die Frage »Geisteradler« wieder so sehr in den Vordergrund gerückt, daß ich endlich mit dieser Ungewißheit Schluß machen will.

Ruhe – – Nerven meistern!! Es wäre ja noch schöner, Olaf Karl, wenn du alter Ritter ungebahnter Pfade dich hier wie ein Unterrock von den sogenannten Nerven peinigen lassen wolltest! – Ruhe – eine neue Zigarre, überlegen, genau überlegen ...!

Wie ist das doch da mit den Wächtern draußen? – Immer zwei sind es, der eine umkreist den Sumpf nach dieser, der andere nach jener Richtung, und gegen zwei Uhr morgens und elf Uhr vormittags und acht Uhr abends werden sie abgelöst, wechseln sie. – Das weißt du, Olaf Karl, und jetzt zeigt deine Uhr drei Viertel eins.

Beeile dich ein wenig, überhaste nichts, du wirst schon noch zur Zeit zur Stelle sein.

– – Ich hockte oben in dem bewußten Baum, wartete ... Vor mir der Sumpf, hinter mir die Lichtung, wo Mac den Fremden erschoß und den Smaragd dann mitnahm, der letzten Endes doch wertlos ist, wenn er auch ein Geheimzeichen der Smaragdbrüder sein sollte.

Die Nacht ist windstill – mondhell – die Nebel des Dschungels reichen nicht bis hierhin. Ich habe die Büchse in der Grotte gelassen, sie würde mich nur behindern ... Ich habe auch auf die Stiefel verzichtet und mir die Sandalen von Tikku ohne dessen Wissen ausgeliehen.

Ich warte ...

Es ist ein gefährliches Spiel ... Ich bin fünf Äste tiefer geklettert. Wenn der Terrier mich wittert, ist die Partie verloren.

... Und dann kommt der eine Wächter von Norden her ... Es ist wieder der mittelgroße mit dem feinen Spitzbart. Ich beuge mich vor – weit vor – ich sehe den Rucksack, den Hund darin ...

Und verwünsche den Drahthaarfox.

Mein Lasso hängt fast bis zum Boden hinab – ich rutsche abwärts, ziehe den Lasso hinterdrein und bleibe im Walde unter den Bäumen, immer schräg hinter dem langsam, behutsam Dahintappenden. Es kann kaum ein Vergnügen sein, mit diesen geflochtenen Dingern unter den Sohlen stundenlang die Runde zu machen.

Ich bin leichtfüßiger ...

Zehn Minuten dauert nun bereits dieses Schleichen, Kriechen, Spähen, diese immerwährende Nervenspannung.

Der Mann mit dem Terrier macht wiederholt halt. Ich spüre geradezu seine wachen Sinne, sein Mißtrauen gegen jedes Geräusch. Zum Glück ist der Urwald um diese Stunde belebt von allerlei Nachtgeschöpfen, das Jaulen und Schreien der Leoparden ertönt aus allen Richtungen, schwarze Bären sind zu dritt und zu vieren auf der Honigsuche und gleiten, die Krallen als Bremsen benutzend, an den Bäumen herab, fauchen, zischen, balgen sich, wilde Zwergkatzen haben anscheinend Balzzeit, und ihr Konzert vereint sich mit dem schrillen, kurzen Aufheulen der seltsamen, mörderischen Baumzibetkatzen zu gräßlichen Disharmonien.

Ja, der Urwald lebt, und hier so unmittelbar in der Nähe der weiten Hochlandmoraste ist die Wildnis offenbar furchtbarer und bewohnter von scheuem Getier als drüben in den leichter zugänglichen Gegenden der östlichen und westlichen Gebirgskette. Dies hier, betonte Freund Tikku stolz, ist seine Heimat, wenn auch die weit verstreuten Dörfer der Lamsi nördlicher auf den Grassteppen und an der Grenze der Region des Nadelholzes liegen.

Der Mann da vor mir ist dieses nächtliche Konzert gewöhnt, das merke ich, und wenn er haltmacht und horcht, dürfte er genau unterscheiden, welches der Geräusche altgewohnt und daher harmlos und welches wieder neuartig und verdächtig sein könnte. Der Mann hält sich stets im Schatten der überhängenden Zweige, seine Gestalt verschmilzt mit den Farben der Stämme und Büsche in eins, soundso oft verliere ich ihn aus den Augen, muß dann mühsam, wagemutig näher heran, bis der helle Kopf des Hundes ihn wieder verrät – soundso oft wird sein Mißtrauen rege, dann setzt er – für mich qualvolle Minuten – den Terrier zu Boden und schickt ihn mit leisem Befehl in das Gestrüpp ... Dann muß ich schleunigst den nächsten Baum erklettern – ahne die schleichende Gefahr des Entdecktwerdens, ahne das Mißlingen des ganzen Planes – – aber alles verebbt wieder zum bisherigen Verfolgungsspiel, und mein schweißfeuchter Leib, das hämmernde Herz finden neue Galgenfrist.

Noch zehn Minuten so ...

Meine Hände bluten, mein Gesicht erscheint mir eine einzige große Kratzwunde gehässiger Dornen.

Und dann taucht der zweite Wachtposten auf – beide stehen im Mondlicht, sprechen leise miteinander, und vereint setzen sie den Weg nach Westen fort.

Ich atme auf.

Ihr Tempo beschleunigt sich, ihre Aufmerksamkeit erlischt, der Kleinere zündet sich eine Zigarette an, und – noch ein paar Minuten, und vor uns tritt der Wald in scharfem Bogen vom Sumpfrande zurück und macht einer Reihe kahler dunkler Felsen Platz. Die beiden verschwinden in den zackigen Hügeln düsterer Felsen, und ich, alles auf eine Karte setzend, laufe flüchtigen Fußes über die mondhelle freie Strecke, werfe mich nieder und krieche die kleine Schlucht auf der Schattenseite entlang, sehe gerade noch, wie zwei weitere Leute gleichsam da vor mir zwischen Geröll und ein paar schlanken Nadelbäumen aus dem Boden wachsen ...

Vier sind es nun ...

Die Ablösung übernimmt von den beiden ersten die Hunde – sie reden, es geht etwas erregt her, und ich, Schüler Coys, des Unvergeßlichen, schiebe mich näher und näher heran, finde Deckung – noch näher – höre jetzt einzelne Worte, verstehe sie, kenne die Sprache ...

Es sind Finnländer ...

Söhne des Landes der tausend Seen ...

Der Schlagschatten eines betäubend duftenden Busches mit knallgelben Glockenblüten (übrigens eine böse Giftpflanze, mir schon bekannt) gestattet mir den Kopf zu heben ...

Ich horche ...

Was sie sprechen, betrifft nicht uns, nicht Dinge der Nähe. Ich glaube zu träumen ... Namen werden laut, die fern im Süden, wo das ewige Eis des Poles beginnt, als Inselgruppen jedem Robbenschläger vertraut ...

Ich erhasche die Wörter »Funkspruch«, »Dreimaster«, »Fackel« ...

Aber die verbindenden Sätze fehlen mir – der eine Terrier knurrt, es wird still, ich halte die Pistole bereit, ducke mich – der Tod scheint bereits nach mir zu greifen – dann lacht der eine Finne.

»... Wildkatze – still, Abo, still!!«

Sei gesegnet, Wildkatze!!

Meine zum Sprung, zur Verteidigung verkrampften Muskeln lösen sich ...

Aber ich vernehme nichts mehr, ich hebe den Kopf, erblicke die beiden Leute der Ablösung, die sich bereits in entgegengesetzter Richtung entfernen.

Die beiden ersten ...?!

Wo?

Wo nur?!

Soll ich um den Lohn dieser qualvollen Stunde betrogen werden?!

... Dort standen die vier, zwanzig Meter entfernt, dort neben den krummen Fichten an der überhängenden Steilwand.

Ich warte, obwohl der Eifer der Ungewißheit mir die Sinne verwirrt – die überanstrengten Augen schmerzen, tränen ...

Wo sind sie?! – Die Felsen antworten nicht.

Totenstille ...

Eine Rieseneule schwebt dem Sumpfe zu, stößt herab – ein jämmerliches Quieken ...

Arme Wasserratte ...

Und – armer schweißgebadeter zerschundener Olaf!

Alles war vergeblich – die Stunden der Pein hättest du dir sparen können!

Mit dem Handrücken wische ich den beißenden Schweiß und das rinnende klebrige Blut aus den Augen ... Ich zwinge die Enttäuschung nieder – der klare Verstand sagt mir, daß ich dem Geheimnis des Zuganges zur Smaragdinsel ganz nahe bin.

Wo sollten die beiden stecken?! Etwa sich dort niedergesetzt haben, ausruhen?!

Niemals!

Und das Bild von vorhin rufe ich mir zurück: wie die beiden neuen Wachen gleichsam aus dem Boden wuchsen!

Wuchsen – – also emporstiegen aus dem Geröll, aus irgendeinem Loche dort ... – Loch ... Höhle ... lange, endlose Felsenhöhle, lang genug, unterirdisch den Sumpf zu überbrücken.

Das ist es!

Und der Gedanke elektrisiert mich – ich krieche vorwärts, bin zwischen den duftenden, harzschwitzenden Fichten, schiebe mich unter die tiefhängenden Äste – – und sehe ... sehe ... und der Atem stockt mir ...

Im Mondlicht kniet da Freund Tikku, den ich schlafend wähne, und hebt mit beiden Händen eine flache, harmlose, große Steinplatte auf ...

Ein dunkles Loch darunter, eine Spalte, schräg hinabgehend in die Tiefe ...

»Tikku ...!!«

Er wendet kaum den Kopf.

»Hole Elsie, Olaf ...!« sagt er leise ... »Elsie und Taito. Wir werden die Fremden sehen, Olaf ... ihre Insel, ihr Land, den Adler ... Hole Elsie! Es eilt. Auf dich hört sie und ...«

Ich biege mich halb in die Spalte – das Mondlicht zeigt mir eine blankgescheuerte Steinfläche – dort rutschen sie hinab, die Finnen – dort kommen sie empor aus dem Schoße der Erde.

»Eile, Olaf ...!!« mahnt der Häuptlingssohn. »Ihr müßt hiersein, bevor die Wachen wieder nahen ... Führe die Büffel in den Wald, Olaf, denn ob wir sie je wiedersehen werden, ich weiß es nicht ...«

Tikkus Diplomatie ist denn doch zu anfängerhaft. Ich durchschaue seine Absicht. Er will mir den ungefährlicheren Teil der Fortsetzung dieses Abenteuers zuwenden, denn es ist wahrlich keine besondere Tat, das Mädchen, den Hund und unser notwendigstes Gepäck herbeizuschaffen, da ich doch bestimmt weiß, daß die beiden Wachtposten mich vorderhand kaum belästigen können. – Anders liegen die Dinge hier an dieser brenzlichen Stelle, wo jeden Moment aus dem Schlunde unerwartet ein paar der Smaragdleute auftauchen können – vielleicht mit ihren fixen Drahthaarterriern, die dann sofort die Anwesenheit eines Fremden wittern würden.

»Ganz recht«, sage ich nun, »– beeile du dich, Freund Tikku, bestelle Elsie nur, daß sie dir folgen muß, treibe du die Büffel in den Wald – ich bleibe!«

Der Lamsi erhebt sich sofort. »Wie du willst – aber verschließe das Loch wieder, nimm auch dort die gelben Blüten und ... – aber du kennst das ja, Olaf ...«

Wie ein Schatten entschwindet er, trabt durch die Schlucht, und ich bin allein.

In meiner Seele erhebt sich ein heißer Widerstreit zwischen Neugier, frischem Wagemut und der Einsicht, daß jedes vorschnelle, unkluge Handeln uns noch in letzter Minute den Weg zu der geheimnisvollen Kolonie der Einsamen drüben jenseits der Sümpfe versperren kann.

Noch immer knie ich vor der Felsplatte, zaudere – aber ich gebe der mahnenden Stimme in meinem Innern dennoch nach, packe den Rand der hochgekippten Steinplatte, schiebe ein paar der längsten, tiefsten Fichtenzweige zurück und ...

Zu spät – zu spät etwa?!

Lichtschein dort in der Tiefe? – Eine Laterne, deren Leuchtkranz hin und her schwankt?

Es ist eine Laterne – es ist ein Mensch, der da aus den Schlünden der Felsen empor will ...

Zu spät!

Nur eins noch, meinen Fehler wettzumachen: ist es nur ein einzelner Mann, so soll er lautlos hier oben im Scheine des Mondes mein Gefangener werden – nur das verspricht Abwendung dringendster Gefahr!

Ich krieche zurück, kauere zwischen den tiefhängenden Ästen, sprungbereit – und mein Herz pocht ruhig, ohne Hast ...

Nun taucht eine braune Mütze auf, zwei Arme greifen nach einem Halt, zwei Hände ziehen den Körper nach ... Die Laterne, die dem Manne vor der Brust hängt, klirrt leise gegen das Geröll, der nur mittelgroße Mann richtet sich auf, kehrt mir den Rücken zu, blickt flüchtig ringsum – kein zweiter folgt ihm, und mit flinkem Ansprung werfe ich ihn nieder, presse ihm die Kehle zu, die Mütze gleitet herab, und unter der Mütze quillt jetzt eine Woge braunroten seidigen Frauenhaars hervor ...

Ein Weib – – vielleicht gar Mita MacBarny, Tochter der Chippeway-Indianerin – – vielleicht ...

Ich lockere den derben Griff – ihr Kopf schnellt herum, ein Paar übergroße dunkle Augen glühen mich drohend an, und noch blitzschneller zuckt blanker, schmaler Stahl gegen meine Brust ...

»Katze mit Krallen!!« – ein Fausthieb, das Messer fliegt davon, und auf meine hastige Frage kommt leise, hastige Antwort:

»Ja, ich bin Mita MacBarny ...! Und – wer sind Sie?!«

»Ein Freund Ihres Vaters«, flüstere ich fast beschwörend. »Bei Gott, ein Freund von ihm, der ...«

»Sie lügen ...!« – Aufrecht sitzt sie da, Verachtung in Blick und Stimme. »Sie lügen – mein Vater – – hier?! Das ist unmöglich, das ...«

»Es ist die Wahrheit! Woher wüßte ich sonst Ihren Namen?! Urteilen Sie nicht vorschnell, beantworten Sie mir meine Fragen – wir haben nicht viel Zeit, die Wachen werden in einer knappen Stunde wieder hier sein, und bis dahin müssen wir ...«

Ich hatte noch immer ihr rechtes Handgelenk umklammert, denn diese junge Dame, mehr reizende Wildkatze, ist gefährlich.

»Lassen Sie mich los!« sagt sie in gänzlich verändertem Tone. »Ich glaube Ihnen – verzeihen Sie ... woher sollten Sie auch meinen Namen kennen?! Ich war töricht, aber es war die letzte Chance für mich, Mr. ... Mr. ... – wie heißen Sie?!«

»Abelsen.« Weshalb soll ich mich Macs Tochter gegenüber hinter einem der vielen anderen Namen scheu verkriechen, die man mir hier und dort beigelegt hat, vielleicht stolzere, gewichtigere Namen als das nichtssagende Abelsen. Waren die Zeiten nicht köstlich, als ich nur El Gento hieß?!

Sie zuckt merklich zusammen. Ihr sprühender Blick gleitet von Kopf bis Fuß über mich hin.

»Abelsen ...« wiederholt sie gedehnt ... »Oh – also Abelsen ... Dann sind Sie der, den man fürchtet ... mit dessen Kommen sie rechnen, diese, diese ...«

»Wer?« frage ich dringend. »Wer sind die Leute, wie viele sind es, was treiben sie hier?! – Miß Mita, ich weiß so gar nichts von den Leuten. Aber Ihrem Vater gelobte ich es in die Hand, für Sie zu sorgen, und ich gehöre nun einmal zu den altmodischen Naturen, die ein Versprechen unbedingt halten ... Es ist alles so dunkel, so geheimnisvoll, was ich bisher über das Smaragdland in Erfahrung bringen konnte.«

Ein schwaches Lächeln überfliegt ihr dunkel getöntes Gesicht.

»Das glaube ich Ihnen, Mr. Abelsen ... Es ist schon sehr viel, daß Sie überhaupt diese richtige Bezeichnung wählten: Smaragdland!! – Aber, wo ist mein Vater? Hat er mir verziehen? Er hat ja damals Thomas Malcolm so falsch beurteilt ...«

Armes Mädel – sie war so ganz ahnungslos, und wenn mir jemals die peinliche Rolle des Überbringers einer Trauerbotschaft schwergefallen war – hier doppelt, dreifach!

Mita Barny schien Gedanken lesen zu können. Mochte mein Gesicht auch im Schatten liegen, mochte ich meine Züge noch so sehr beherrschen können – jetzt umklammerte ihre Hand die meine, und diese Hand zitterte leise und war eisig kalt ...

»Er ... ist ... tot – ich ... ich fühle es, er ist tot«, flüsterte sie scheu. »Es sollte nicht sein, daß ich ihm nochmals für seine Liebe und Güte dankte. Ich ... konnte ihm ja niemals Nachricht zukommen lassen ... Wüßten Sie, was alles in diesen zehn Jahren das Schicksal mir grausam aufbürdete, Sie würden vielleicht zweifeln, daß ein junges Weib, kaum erst Gattin des besten Menschen der Welt, derartiges überstehen könnte.« Sie kämpfte die Tränen nieder, ich merkte, wie tief die Trauerbotschaft sie getroffen hatte, ich gewann aber auch Achtung und Bewunderung für diese Frau, von der ich bisher so wenig gewußt hatte. Sie war offenbar eine schlichte, aufrichtige, starke Seele, und gerade ihre pikante Schönheit, dazu die vollendet ebenmäßige, kräftige Gestalt, die angenehme, klare, feste Stimme mußten Sympathie erwecken.

Sie schwieg eine geraume Zeit. Regungslos starrte sie zum Monde empor, mir halb den Rücken zukehrend. Die edle Linie ihres Profils verriet, daß ihre indianische Mutter zu jenem südlicher hausenden Unterstamm des Chippeway-Volkes gehört haben mußte, der noch nicht die unschönen Merkmale der farbigen Bewohner der unendlichen Wälder und Einöden des nördlichsten Kanada besaß.

Dann sagte sie mit einem schwachen Seufzer, der mehr wie ein tiefer, befreiender Atemzug klang: »Mr. Abelsen, es ist jetzt nicht die Stunde, uns gegenseitig das Herz auszuschütten. Nur eins müssen Sie wissen: ich wollte fliehen, denn die Finnländer dort jenseits der Sümpfe halten mich als Gefangene fest. Ich muß meinen Gatten wiederfinden – sein Schiff ist jener Dreimaster ›Eisvogel‹, mit dem die Südpolexpedition Doktor Vandermars damals vor drei Jahren so hoffnungsfroh die Reise antrat. Mein Gatte Thomas Malcolm war mit Vandermar befreundet und Erster Offizier des prächtigen Schiffes. – Haben Sie von dem traurigen Schicksal des ›Eisvogels‹ gehört?«

Ich verneinte. »Und – wie kamen Sie hierher, gerade hierher nach Formosa, Frau Malcolm?«

»Taifun!« erwiderte sie gepreßt. »Orkan – das sagt alles. Ich wurde hier im Chinesischen Meer über Bord gespült ... Der Sturm riß gleichzeitig den Kombüsenaufbau wie eine Pappschachtel weg. Ich trug bereits zwei Schwimmgürtel, band mich an das treibende Holzgehäuse fest, verlor die Besinnung und erwachte erst – – hier im Smaragdland. Man hat mich nicht schlecht behandelt – nein, ich würde den Leuten Unrecht tun, nur – ich war eine Gefangene, und als ich dann zufällig erlauschte, daß der Dreimaster irgendwo vor der großen Eisbarriere des Poles seit anderthalb Jahren eingefroren festliegt und daß die Funksprüche der Besatzung wohl lediglich durch Professor Sven Burrs Empfänger mehr durch Zufall aufgefangen wurden, und als ...« – sie stockte, horchte – auch ich war zusammengefahren, denn vom Smaragdlande her war ein dumpfer Knall ertönt wie von einer gewaltigen Explosion ...

Wir blickten über den Dschungel hinweg in die im bläulichen Dämmer verschwindende Ferne, wir sahen eine Flammensäule hochschießen, kleinere Detonationen folgten, neue Flammenfontänen gingen empor, dann ward die Nacht dort drüben von einer stetig anwachsenden rötlichen Glut durchleuchtet – – noch ein letzter Knall – so stark, daß wir den Luftstoß spürten und Mita Malcolm gegen meine Schulter flog ...

»Der Benzinschuppen!« rief sie atemlos ... »Das Benzin für den Braunen Falken ...!!«

Sie lehnte noch immer halb an meiner Brust.

»Ein Flugzeug?« fragte ich ebenso atemlos.

»Nein, ein Schwingenflieger, Mr. Abelsen. Vielleicht der herrlichste künstliche Vogel, der je konstruiert wurde ... Ein Wunderwerk des Professors, dieses ebenso genialen wie brutalen Menschen!«

Nun wußte ich es. Also doch Schwingenflieger!

Aber Mita Malcolms helle Stimme entriß mich jäh den tastenden Gedanken, die mühsam das soeben Gehörte, ihr Schicksal und das Ungemach der Expedition als neue Verwicklung in das mir bisher Bekannte hatten einreihen wollen.

»... Sie arbeiteten gerade am Umfüllen des Benzins, Mr. Abelsen ... Niemand achtete auf mich, ich entfloh ... Ich fürchte, sie werden sämtlich tot sein ... Kommen Sie, kommen Sie – retten wir den Falken ... Sie sind Ingenieur, ich weiß es – Sie werden den Falken steuern können, und ... nein, kommen Sie – nicht reden, handeln ... handeln, es geht um meinen Tom, es geht um die allerletzte Hoffnung für mich – jetzt vielleicht eine starke Hoffnung!«

Sie glitt bereits in die Felsspalte hinab. Ihrer Laterne weißer Lichtschein wies mir den Weg. Einen letzten Blick warf ich über den Dschungel. Gegen den dunklen Hintergrund der Bergmassen erstrahlte die feurige Lohe eines gewaltigen Brandes. Ich ahnte, daß es die Vorratshäuser und Baulichkeiten der Kolonie der Smaragdleute waren, die da in Flammen aufgingen. Ich folgte Mita Malcolm, und wir rannten wie gehetzt durch das tiefe weite Höhlengebiet, über dem die Moräste und die Sumpflachen und die feuchte Wildnis der Dornen sich dehnten.

 

* * *

 


 << zurück weiter >>