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Ich will mich mit Stillings einförmigen Lebensart und Verrichtungen die ersten vier Jahre durch, nicht aufhalten, sondern ich gehe zu wichtigern Sachen über. Er war nun schon eine geraume Zeit her mit der Information, und Herrn Spaniers Geschäften umgegangen; er rückte immer mehr und mehr in seinen Jahren fort, und es begann, ihm zuweilen einzufallen: was doch wohl am Ende noch aus ihm werden würde? – Mit dem Handwerk war's nun gar aus, er hatte es in einigen Jahren nicht mehr versucht, und die Unterweisung der Jugend war ihm ebenfalls verdrießlich, er war ihrer von Herzen müde, und er fühlte, daß er nicht dazu gemacht war: denn er war geschäftig und wirksam. Die Kaufmannschaft gefiel ihm auch nicht, denn er sah wohl ein, daß er sich gar nicht dazu schicken würde, beständig fort mit dergleichen Sachen umzugehen, dieser Beruf war seinem Grundtrieb zuwider; doch wurde er weder verdrießlich noch melancholisch, sondern er erwartete, was Gott aus ihm machen würde.
Einsmals an einem Frühlingsmorgen, im Jahr 1768, saß er nach dem Coffeetrinken am Tisch; die Kinder liefen noch eine Weile im Hof herum, er griff hinter sich nach einem Buch, und es fiel ihm just Reitzens »Historie der Wiedergebornen« in die Hand, er blätterte ein wenig darinnen herum ohne Absicht und ohne Nachdenken; indem fiel ihm die Geschichte eines Mannes ins Gesicht, der in Griechenland gereist war, um daselbsten die Überbleibsel der ersten christlichen Gemeinden zu untersuchen. Diese Geschichte las er zum Zeitvertreib. Als er dahin kam, wo der Mann auf seinem Todbette noch seine Lust an der griechischen Sprache bezeugt, und besonders bei dem Wort Eilikrineia so ein vortreffliches Gefühl hat, so war es Stilling, als wenn er aus einem tiefen Schlaf erwachte. Das Wort Eilikrineia stand vor ihm, als wenn es in einem Glanz gelegen hätte, dabei fühlte er einen unwiderstehlichen Trieb, die griechische Sprache zu lernen, und einen verborgenen starken Zug zu etwas, das er noch gar nicht kannte, auch nicht zu sagen wußte, was es war. Er besann sich, und dachte: Was will ich doch mit der griechischen Sprache machen? wozu wird sie mir nutzen? welche ungeheure Arbeit ist das für mich, in meinem 28sten Jahr noch eine so schwere Sprache zu lernen, die ich noch nicht einmal lesen kann! Allein alle Einwendungen der Vernunft waren ganz fruchtlos, sein Trieb dazu war so groß, und die Lust so heftig, daß er nicht genug eilen konnte, um zum Anfang zu kommen. Er sagte dieses alles Herrn Spanier; dieser bedachte sich ein wenig, endlich sagte er: »Wenn Ihr Griechisch lernen müßt, so lernt es!« Stilling machte sich alsofort auf, und ging nach Waldstätt zu einem gewissen vortrefflichen Kandidaten der Gottesgelahrtheit, der sein sehr guter Freund war, diesem entdeckte er alles. Der Kandidat freute sich, munterte ihn dazu auf, und sogar empfahl er ihm, die Theologie zu studieren; allein Stilling spürte keine Neigung dazu, sein Freund war auch damit zufrieden, und riet ihm, auf den Wink Gottes genau zu merken, und demselben, sobald er ihn spürte, blindlings zu folgen. Nun schenkte er ihm die nötigen Bücher, die griechische Sprache zu lernen, und wünschte ihm Gottes Segen. Von da ging er auch zu den Predigern, und entdeckte ihnen sein Vorhaben, diese waren auch sehr wohl damit zufrieden, besonders Herr Seelburg versprach ihm alle Hülfe und nötigen Unterricht, denn er kam alle Woche zweimal in Herrn Spaniers Haus.
Nun fing Stilling an, Griechisch zu lernen. Er applizierte sich mit aller Kraft darauf, bekümmerte sich aber wenig um die Schulmethode, sondern er suchte nur mit Verstand in den Genius der Sprache einzudringen, um das, was er las, recht zu verstehen. Kurz, in fünf Wochen hatte er auch die fünf ersten Kapitel des Evangeliums Matthäi, ohne Fehler gemacht zu haben, ins Lateinische übersetzt, und alle Wörter zugleich analysieret. Herr Pastor Seelburg erstaunte und wußte nicht, was er sagen sollte; dieser rechtschaffene Mann unterrichtete ihn nur in der Aussprache, und die faßte er gar bald. Bei dieser Gelegenheit machte er sich auch ans Hebräische, und brachte es auch darin in kurzem so weit, daß er mit Hülfe eines Lexikons sich helfen konnte; auch hier tat Herr Seelburg sein Bestes an ihm.
Indessen daß er mit erstaunlichen Fleiß und Arbeit sich mit diesen Sprachen beschäftigte, schwieg Herr Spanier ganz still dazu, und ließ ihn machen; kein Mensch wußte was aus dem Dinge werden wollte, und er selber wußte es nicht; die mehresten aber glaubten von ihm, er würde ein Prediger werden wollen.
Endlich entwickelte sich die ganze Sache auf einmal. An einem Nachmittag im Julius spazierte Herr Spanier in der Stuben auf und ab, wie er zu tun pflegte, wenn er eine wichtige Sache überlegte, Stilling aber arbeitete an seinen Sprachen, und an der Information. »Hört, Präzeptor!« fing endlich Spanier an: »mir fällt da auf einmal ein, was Ihr tun sollt, Ihr müßt Medizin studieren.«
Ich kann's nicht aussprechen, wie Stilling bei diesem Vorschlag zumute war, er konnte sich fast nicht auf den Füßen halten, so daß Herr Spanier erschrak, ihn angriff und sagte: »Was fehlt Euch?« »O Herr Spanier! was soll ich sagen, was soll ich denken? das ist's, wozu ich bestimmt bin. Ja, ich fühl in meiner Seelen, das ist das große Ding, das immer vor mir verborgen gewesen, das ich so lange gesucht, und nicht habe finden können! dazu hat mich der himmlische Vater von Jugend auf durch schwere und scharfe Prüfungen vorbereiten wollen. Gelobet sei der barmherzige Gott, daß er mir doch endlich seinen Willen offenbaret hat, nun will ich auch getrost seinem Wink folgen.«
Hierauf lief er nach seiner Schlafkammer, fiel auf seine Knie, dankte Gott, und bat den Vater der Menschen, daß er ihn nun den nächsten Weg zum bestimmten Zweck führen möchte. Er besann sich auf seine ganze Führung, und nun sah er klar ein, warum er eine so ausgesonderte Erziehung genossen, warum er die lateinische Sprache so früh habe lernen müssen, warum sein Trieb zur Mathematik, und zur Erkenntnis der verborgenen Kräfte der Natur ihm eingeschaffen worden, warum er durch viele Leiden beugsam und bequem gemacht worden, allen Menschen zu dienen, warum eine Zeit her seine Lust zur Philosophie so gewachsen, daß er die Logik und Metaphysik habe studieren müssen, und warum er endlich zur griechischen Sprache solche Neigung bekommen? Nun wußte er seine Bestimmung, und von Stund an beschloß er, für sich zu studieren, und so lange Materialien zu sammlen, bis es Gott gefallen würde, ihn nach der Universität zu schicken.
Herr Spanier gab ihm nun Erlaubnis, des Abends einige Stunden für sich zu nehmen; er brauchte ihn auch nicht mehr so stark in Handlungsgeschäften, damit er Zeit haben möchte zu studieren. Stilling setzte nun mit Gewalt sein Sprachstudium fort, und fing an, sich mit der Anatomie aus Büchern bekanntzumachen. Er las Krügers »Naturlehre«, und machte sich alles, was er lase, ganz zu eigen, er suchte sich auch einen Plan zu formieren, wornach er seine Studien einrichten wollte, und dazu verhalfen ihm einige berühmte Ärzte, mit denen er korrespondierte. Mit einem Wort, alle Disziplinen der Arzeneikunde ging er für sich so gründlich durch, als es ihm für die Zeit möglich war, damit er sich doch wenigstens allgemeine Begriffe von allen Stücken verschaffen möchte.
Diese wichtige Neuigkeit schrieb er alsofort an seinen Vater und Oheim. Sein Vater antwortete ihm darauf: daß er ihn der Führung Gottes überlasse, nur könne er von seiner Seiten auf keine Unterstützung hoffen, er sollte nur behutsam sein, damit er sich nicht in ein neues Labyrinth stürzen möchte. Sein Oheim aber war ganz unwillig auf ihn, der glaubte ganz gewiß, daß es nur ein bloßer Hang zu neuen Dingen sei, der sicherlich übel ausschlagen würde. Stilling ließ sich das alles gar nicht anfechten, sondern fuhr nur getrost fort zu studieren. Wo die Mittel herkommen sollten, das überließ er der väterlichen Vorsehung Gottes.
Im folgenden Frühjahr, als er schon ein Jahr studiert hatte, mußte er wieder in Geschäften seines Herrn ins salensche Land reisen. Dieses erfreute ihn ungemein, denn er hoffte jetzt seine Freunde mündlich besser zu überzeugen: daß es wirklich der Wille Gottes über ihn sei, die Medizin zu studieren. Er ging also des Morgens früh fort, und des Nachmittags kam er bei seinem Oheim zu Lichthausen an. Dieser ehrliche Mann fing alsofort, nach der Bewillkommnung, an, mit ihm zu disputieren, wegen seines neuen Vorhabens. Die ganze Frage war: wo soll so viel Geld herkommen, als zu einem so weitläuftigen und kostbaren Studium erfordert wird? – Stilling beantwortete diese Frage immer mit seinem Symbolum: »Jehovah iuvabit«, (der Herr wird's versehen.)
Des andern Morgens ging er auch zu seinem Vater; dieser war ebenfalls sorgfältig, und fürchtete, er möchte in diesem wichtigen Vorhaben scheitern: doch disputierte er nicht mit ihm, sondern überließ ihn seinem Schicksal.
Nachdem er nun seine Geschäfte verrichtet hatte, ging er wieder nach seinem Vater, nahm Abschied von ihm, und darauf nach seinem Oheim. Dieser war aber in ein paar Tagen ganz verändert. Stilling erstaunte darüber, noch mehr aber, als er die Ursache vernahm. »Ja«, sagte Johann Stilling: »Ihr müßt Medizin studieren, jetzt weiß ich, daß es Gottes Wille ist!«
Um diese Sache in ihrem Ursprung begreifen zu können, muß ich eine kleine Ausschweifung machen, die Johann Stilling betrifft. Er war, noch ehe er Landmesser wurde, mit einem sonderbaren Mann, einem katholischen Pfarrer, bekannt geworden, dieser war ein sehr geschickter Augenarzt, und weit und breit wegen seiner Kuren berühmt. Nun hatte Johann Stillings Frau sehr wehe Augen, deswegen ging ihr Mann zu Molitor hin, um etwas für sie zu holen. Der Pfarrer merkte bald, daß Johann einen offenen Kopf hatte, und deswegen munterte er ihn auf, sich wacker in der Geometrie zu üben. Molitor hatte es gut mit ihm vor, er hatte Anleitung, bei einem sehr reichen und vornehmen Freiherrn Rentmeister zu werden, und dieser Dienst gefiel ihm besser als seine Pfarre. Nun war dieser Freiherr ein großer Liebhaber von der Geometrie, und willens, alle seine Güter auf Karten bringen zu lassen. Hierzu bestimmte Molitor Johann Stillingen, und dieses geriet auch vollkommen. Solange der alte Freiherr lebte, hatten Molitor, Johann Stilling und zuweilen auch Wilhelm Stilling ihr Brot zu diesem Herrn; als dieser aber starb, so wurde Molitor abgedankt, und die Landmesserei hatte auch ein Ende.
Nun wurde Molitor in seinem Alter Vikarius in einem Städtchen, welches vier Stunden von Lichthausen nordwärts liegt. Seine meiste Beschäftigung bestand in chemischen Arbeiten und Augenkuren, worinnen er noch immer der berühmteste Mann, in der ganzen Gegend, war.
Just nun während der Zeit, daß Heinrich Stilling in Geschäften seines Herrn, im salenschen Lande war, schrieb der alte Herr Molitor an Johann Stilling: daß er alle seine Geheimnisse für die Augen ganz getreu und umständlich, ihren Gebrauch und Zubereitung sowohl, als auch die Erklärung der vornehmsten Augenkrankheiten, nebst ihrer Heilmethode aufgesetzt habe. Da er nun alt, und nah an seinem Ende sei, so wünschte er, dieses gewiß herrliche Manuskript in guten Händen zu sehen. In Betracht nun der festen und genauen Freundschaft, welche unter ihnen beiden, ohngeachtet der Religionsungleichheit, ununterbrochen fortgewährt habe, wollte er ihn freundlich ersuchen, ihm zu melden: ob nicht jemand Rechtschaffenes in seiner Familie sei, der wohl Lust hätte, die Arzeneiwissenschaft zu studieren, den sollt' er zu ihm schicken, er wäre bereit, demselben alsofort das Manuskript, nebst noch andern schönen medizinischen Sachen, zu übergeben, und zwar ganz umsonst, doch mit dem Beding, daß er ein Handgelübde tun müßte, jederzeit arme Notleidende umsonst damit zu bedienen. Nur müßte es jemand sein, der Medizin studieren wollte, damit die Sachen nicht unter Pfuschers Händen geraten möchten.
Dieser Brief hatte Johann Stilling in Absicht auf seinen Vetter ganz umgeschmolzen. Daß er just in diesem Zeitpunkt ankam, und daß Herr Molitor just in dieser Zeit, da sein Vetter Medizin studieren wollte, auf den Einfall kam, das schien ihm ein ganz überzeugender Beweis zu sein, daß Gott die Hand mit im Spiel habe; deswegen sprach er auch zu Stillingen: »Lest diesen Brief, Vetter! ich habe nichts mehr gegen Euer Vorhaben einzuwenden! ich sehe, es ist Gottes Finger.«