Johann Heinrich Jung-Stilling
Henrich Stillings Jugend / 1
Johann Heinrich Jung-Stilling

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Henrich Stilling war die Freude und Hoffnung seines Hauses; denn ob gleich Johann Stilling einen ältern Sohn hatte, so war doch niemand auf denselben sonderlich aufmerksam. Er kam oft, besuchte seine Großeltern, aber wie er kam, so ging er auch wieder. Eine seltsame Sache! – Eberhard Stilling war doch wahrlich nicht parteiisch. Doch was halt ich mich hierbei auf? Wer kann davor, wenn man einen Menschen vor dem andern mehr oder weniger lieben muß? Pastor Stollbein sah wohl, daß unser Knabe etwas werden würde, wenn man nur was aus ihm machte; daher kam es bei einer Gelegenheit, da er in Stillings Hause war, daß er mit dem Vater und Großvater von dem Jungen redete, und ihnen vorschlug, Wilhelm sollte ihn Latein lernen lassen. »Wir haben ja zu Florenburg einen guten lateinischen Schulmeister; schickt ihn hin, es wird wenig kosten.« Der alte Stilling saß am Tisch, kaute an einem Spänchen; so pflegte er wohl zu tun wenn er Sachen von Wichtigkeit überlegte. Wilhelm legte den eisernen Fingerhut auf den Tisch, schlug die Arme vor der Brust übereinander und überlegte auch. Margrethe hatte die Hände auf dem Schoß gefalten, knickelte mit den Daumen gegeneinander, blinzte gegenüber auf die Stubentüre und überlegte auch. Henrich aber saß, mit seiner wollenen Lappmütze in der Hand, auf einem kleinen Stuhl, und überlegte nicht, sondern wünschte nur. Stollbein saß auf einem Lehnstuhl, eine Hand auf dem Knopf des Rohrstabes und die andere in der Seiten, und wartete der Sachen Ausschlag. Lange schwiegen sie, endlich sagte der Alte. »Nu, Wilhelm, es ist dein Kind; was meinst du?«

»Vater, ich weiß nicht woher ich die Kosten bestreiten soll.«

»Ist das deine schwerste Sorge, Wilhelm? Wird dir dein lateinischer Junge auch noch Freude machen? da sorg nur!«

»Was Freude!« sagte der Pastor; »mit Eurer Freude! Hier ist die Frage, ob Ihr was Rechts aus dem Knaben machen wollt, oder nicht. Soll was Rechts aus ihm werden, so muß er Latein lernen, wo nicht so bleib er ein Lümmel wie –«

»Wie seine Eltern«, sagte der alte Stilling.

»Ich glaube Ihr wollt mich foppen«, versetzte der Prediger.

»Nein, Gott bewahr uns!« erwiderte Eberhard, »nehmt mir nicht übel; denn Euer Vater war ja ein Wollenweber, und konnte auch kein Latein; doch sagten die Leute, er wäre ein braver Mann gewesen, wiewohl ich nie Tuch bei ihm gekauft habe. Hört, lieber Herr Pastor, ein ehrlicher Mann liebt Gott und den Nächsten, er tut recht und scheut niemand, er ist fleißig, sorgt für sich und die Seinigen, damit sie Brot haben mögen. Warum tut er doch das alles?« –

»Ich glaube wahrhaftig Ihr wollt mich katechisieren, Stilling! Braucht Respekt und wißt mit wem Ihr redet. Das tut er, weil es recht und billig ist daß er's tut.«»Zürnet nicht daß ich Euch widerspreche; er tut's darum, damit er hier und dort Freude haben möge.«

»Ei was! damit kann er doch noch zur Hölle fahren.«

»Mit der Liebe Gottes und des Nächsten?«

»Ja! ja! wenn er den wahren Glauben an Christum nicht hat.«

»Das versteht sich nun endlich von selber, daß man Gott und den Nächsten nicht lieben kann, wann man an Gott und sein Wort nicht glaubt. Aber antworte du, Wilhelm! Was dünkt dich?«

»Mich dünkt, wenn ich wüßte, woher ich die Kosten nehmen sollte, so würde ich den Jungen wohl hüten, daß er nicht zu lateinisch würde. Er soll immer die müßigen Tage Kamelhaarknöpfe machen und mir nähen helfen, bis man sieht was Gott aus ihm machen will.«

»Das gefällt mir nicht übel, Wilhelm«, sagte Vater Stilling; »so rat ich auch. Der Junge hat einen unerhörten Kopf etwas zu lernen; Gott hat diesen Kopf nicht umsonst gemacht; laß ihn lernen was er kann und was er will; gib ihm zuweilen Zeit dazu, aber nicht zuviel, sonst kommt er dir ans Müßiggehen, und liest auch nicht so fleißig; wenn er aber brav auf dem Handwerk geschafft hat und er wird auf die Bücher recht hungrig, denn laß ihn eine Stunde lesen, das ist genug. Nur mach daß er ein Handwerk rechtschaffen lernt, so hat er Brot bis er sein Latein brauchen kann und ein Herr wird.«

»Hm! Hm! ein Herr wird«, brummte Stollbein, »er soll kein Herr werden, er soll mir ein Dorfschulmeister werden, und dann ist's gut wann er ein wenig Latein kann. Ihr Bauersleute meint, das ging so leicht ein Herr zu werden. Ihr pflanzt den Kindern den Ehrgeiz ins Herz, der doch vom Vater dem Teufel herkommt.«

Dem alten Stilling heiterten sich seine großen hellen Augen auf; er stund da wie ein kleiner Riese (denn er war ein langer ansehnlicher Mann) schüttelte sein weißgraues Haupt, lächelte und sprach: »Was ist Ehrgeiz? Herr Pastor!«

Stollbein sprang auf und rief: »Schon wieder eine Frage, ich bin Euch nicht schuldig zu antworten, sondern Ihr mir. Gebt acht in der Predigt, da werdet Ihr hören was Ehrgeiz ist. Ich weiß nicht, Ihr werdet so stolz, Kirchenältester! Ihr wart sonst ein sittsamer Mann.«

»Wie Ihr's aufnehmt, stolz oder nicht stolz. Ich bin ein Mann; ich hab Gott geliebt und ihm gedient, jedermann das Seinige gegeben, meine Kinder erzogen, ich war treu; meine Sünden vergibt mir Gott, das weiß ich; nun bin ich alt, mein Ende ist nah; ob ich wohl recht gesund bin, so muß ich doch sterben; da freu ich mich nun drauf, wie ich bald werde von hinnen reisen. Laßt mich stolz drauf sein, wie ein ehrlicher Mann mitten unter meinen großgezogenen frommen Kindern zu sterben. Wenn ich's so recht bedenk, bin ich munterer als wie ich mit Margrethen Hochzeit machte.«

»Man geht so mit Strümpf' und Schuh' nicht in Himmel!« sagte der Pastor.

»Die wird mein Großvater auch ausziehen, eh' er stirbt«, sagte der kleine Henrich.

Ein jeder lachte, selbst Stollbein mußte lachen.

Margrethe machte der Überlegung ein Ende. Sie schlug vor, sie wollte morgens den Jungen satt füttern, ihm alsdenn ein Butterbrot für den Mittag in die Tasche geben, des Abends könnte er sich wieder daheim satt essen; »und so kann der Junge morgens früh nach Florenburg in die Schule gehen«, sagte sie, »und des Abends wiederkommen. Der Sommer ist ja vor der Tür; den Winter sieht man wie man's macht.«

Nun war's fertig. Stollbein ging nach Hause.

Zu dieser Zeit ging eine große Veränderung in Stillings Hause vor, die drei ältesten Töchter heurateten auswärts, und also machte Eberhard und seine Margrethe, Wilhelm, Mariechen und Henrich die ganze Familie aus. Eberhard beschloß auch nunmehr sein Kohlbrennen aufzugeben, und bloß seiner Feldarbeit zu warten.

Die Tiefenbacher Dorfschule wurde vakant, und ein jeder Bauer hatte Wilhelm Stilling im Auge ihn zum Schulmeister zu wählen. Man trug ihm die Stelle auf; er nahm sie ohne Widerwillen an, ob er sich gleich innerlich ängstigte, daß er mit solchem Leichtsinn sein einsames heiliges Leben verlassen und sich unter die Menschen begeben wollte. Der gute Mann hatte nicht bemerkt, daß ihn nur der Schmerz über Dortchens Tod, der kein ander Gefühl neben sich litt, zum Einsiedler gemacht hatte, und daß er, da dieser erträglicher wurde, wieder Menschen sehen, wieder an einem Geschäfte Vergnügen finden konnte. Er legte sich's ganz anders aus. Er glaubte, jener heilige Trieb fange an bei ihm zu erkalten, und nahm daher mit Furcht und Zittern die Stelle an. Er bekleidete sie mit Treue und Eifer, und fing zuletzt an zu mutmaßen, daß es Gott nicht ungefällig sein könnte, wenn er mit seinem Pfund wucherte und seinem Nächsten zu dienen suchte.

Nun fing auch unser Henrich an in die lateinische Schule zu gehen. Man kann sich leicht vorstellen, was er für ein Aufsehen unter den andern Schulknaben machte. Er war bloß in Stillings Haus und Hof bekannt, und war noch nie unter Menschen gekommen; seine Reden waren immer ungewöhnlich, und wenig Menschen verstunden was er wollte; keine jugendliche Spiele, wornach die Knaben so brünstig sind, rührten ihn, er ging vorbei und sah sie nicht. Der Schulmeister Weiland merkte seinen fähigen Kopf und großen Fleiß; daher ließ er ihn ungeplagt; und da er merkte daß ihm das langweilige Auswendiglernen unmöglich war, so befreite er ihn davon, und wirklich Henrichs Methode Latein zu lernen war für ihn sehr vorteilhaft. Er nahm einen lateinischen Text vor sich, schlug die Worte im Lexikon auf, da fand er dann was jedes für ein Teil der Rede sei; suchte ferner die Muster der Abweichungen in der Grammatik usf. Durch diese Methode hatte sein Geist Nahrung in den besten lateinischen Schriftstellern, und die Sprache lernte er hinlänglich schreiben, lesen und verstehen. Was aber sein größtes Vergnügen ausmachte, war eine kleine Bibliothek des Schulmeisters, die er Freiheit zu brauchen hatte. Sie bestund aus allerhand nützlichen Kölnischen Schriften; vornehmlich: der Reineke Fuchs mit vortrefflichen Holzschnitten, Kaiser Oktavianus nebst seinem Weib und Söhnen; eine schöne Historie von den vier Haimonskindern; Peter und Magelone; die schöne Melusine, und endlich der vortreffliche Hanns Clauert. Sobald nun nachmittags die Schule aus war, so machte er sich auf den Weg nach Tiefenbach und las eine solche Historie unter dem Gehen. Der Weg ging durch grüne Wiesen, Wälder und Gebüsche, bergauf und -ab, und die reine wahre Natur um ihn machte die tiefsten feierlichsten Eindrücke in sein offenes freies Herz. Abends kamen dann unsere fünf liebe Leute zusammen; sie speisten, schütteten eins dem andern seine Seele aus, und sonderlich erzählte Henrich seine Historien, woran sich alle, Margrethe nicht ausgenommen, ungemein ergötzten. Sogar der ernste pietistische Wilhelm hatte Freude daran, und las sie wohl selbsten sonntags nachmittags, wenn er nach dem alten Schloß wallfahrtete. Henrich sah ihm denn immer ins Buch wo er las, und wenn bald eine rührende Stelle kam, so jauchzte er in sich selber, und wenn er sah, daß sein Vater dabei empfand, so war seine Freude vollkommen.

Indessen ging doch des jungen Stillings Lateinlernen vortrefflich vonstatten, wenigstens lateinische Historien zu lesen, zu verstehen, lateinisch zu reden und zu schreiben. Ob das nun genug sei, oder ob mehr erfordert werde, weiß ich nicht, Herr Pastor Stollbein wenigstens forderte mehr. Nachdem Henrich ohngefähr ein Jahr in die lateinische Schule gegangen, so fiel es gemeldetem Herrn einmal ein, unsern Studenten zu examinieren. Er sah ihn aus seinem Stubenfenster vor der Schule stehen, er pfiff, und Henrich flog zu ihm. »Lernst auch brav?«

»Ja, Herr Pastor.«

»Wieviel Verba anomala sind?«

»Ich weiß es nicht.«

»Wie, Flegel, du weißt's nicht? Es möchte leicht, ich gäb' dir eins aufs Ohr. Sum, possum, nu! wie weiter?«

»Das hab ich nicht gelernt.«

»He, Madlene! ruf den Schulmeister.«

Der Schulmeister kam.

»Was laßt Ihr den Jungen lernen?«

Der Schulmeister stand an der Türe, den Hut unterm Arm, und sagte demütig:

»Latein.«

»Da! Ihr Nichtsnutziger, er weiß nicht einmal, wieviel Verba anomala sind.«

»Weißt du das nicht, Henrich?«

»Nein«, sagte dieser, »ich weiß es nicht.«

Der Schulmeister fuhr fort: »Nolo und malo was sind das vor Wörter?«

»Das sind Verba anomala.«

»Fero und volo was sind das?«

»Verba anomala.«

»Nun, Herr Pastor«, fuhr der Schulmeister fort, »so kennt der Knabe alle Wörter.«

Stollbein versetzte: »Er soll aber die Regeln alle auswendig lernen; geht nach Haus, ich will's haben!«

(Beide.) »Ja, Herr Pastor!«

Von der Zeit an, lernte Henrich mit leichter Mühe auch alle Regeln auswendig, doch vergaß er sie bald wieder. Das schien seinem Charakter eigen werden zu wollen; was sich nicht leicht bezwingen ließ, da flog sein Genie über weg. Nun genug von Stillings Lateinlernen! wir gehen weiter.


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