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Drittes Kapitel.

Mein Metier und meine Hütte.

 

Später durfte beim Malen auch schon gesprochen werden. Ja, dies ist zum Studium des Charakters des zu Porträtierenden sogar notwendig und auch deshalb, damit der Sitzende das Unangenehme seiner Zwangslage nicht so sehr empfinde.

»Haben Sie, mein Fräulein, schon Petöfis Gedichte gelesen?«

»O, in unserem Hause liest man nicht.«

»Warum nicht?«

»Weil diejenigen, die uns besuchen, keine Bücher bringen.«

»Und erhalten Sie keine Zeitung?«

»Doch, doch, das ›Journal des Demoiselles‹, aber dieses ist sehr langweilig.«

»Lassen Sie doch lieber ein ungarisches Blatt kommen, vielleicht das ›Pesti Divatlap‹.«

»Ich will Mama sagen, daß sie es bestelle. Haben auch Sie etwas hineingeschrieben?«

»Ja.«

»Was denn?«

»Die Schilderung einer Sumpfinsel.«

»Waren Sie denn auf jener Sumpfinsel?«

»Nein, ich habe sie nur aus meiner Einbildung geschrieben.«

»Wozu soll das?«

»Es ist ein Teil aus einem Roman, den ich schreibe.«

»Ah, Sie schreiben auch einen Roman! Sie werden gewiß uns alle hineinbringen?«

»O nein. Das Romanschreiben besteht nicht darin, daß man alles das, was man um sich gesehen und gehört hat, abschreibe.«

»Ich möchte wissen, wie Sie das anfangen?«

»Zuerst ersinne ich das Ende einer Geschichte.«

»Wie, Sie fangen mit dem Ende an?«

»Ja, dann schaffe ich die Gestalten der Geschichte. Sodann kombiniere ich aus dem Verhältnisse dieser Gestalten zu einander, was inzwischen geschehen sein mußte, bis die Katastrophe der Geschichte eintrat.«

»Somit ist nichts an dem Ganzen wahr?«

»Das heißt, es ist darin nichts Wirkliches, aber wahr muß sie sein.«

»Das verstehe ich nicht. Und warum bringen Sie die Zeit damit zu, einen Roman zu schreiben? Wird derselbe erscheinen?«

»Ganz sicher.«

»Freilich, Sie haben's leicht. Sie haben eine reiche Tante in Ogyalla; wenn Sie dieser ein Wort sagen, läßt sie Ihr Buch drucken.«

»Aber ich werde meiner reichen Tante nichts davon sagen.«

»Sie werden selbst Ihre Arbeit bei Johann Weinmüller drucken lassen? Nun, hören Sie, das ist kein guter Gedanke. Ich kannte schon einmal einen Schriftsteller, der sein Buch selbst herausgab und damit von Dorf zu Dorf ging, und jedem Grundbesitzer ein Exemplar aufdisputierte. Das ist eine gar dornenvolle Laufbahn.«

»Mein Roman wird kein solcher, mit dem der Autor von Haus zu Haus wandert, sondern ein solcher, für welchen der Verleger ein Honorar bezahlt.«

Dafür lachte mir nun Erzsike ins Gesicht.

Es war ja auch zum Lachen, daß jemand mit der Prätension auftrete: »Ich habe jetzt etwas geschrieben, woran kein wahres Wort ist, aber nichtsdestoweniger fordere ich, daß man es lese und mich dafür bezahlt.«

»Glauben Sie, Fräulein Erzsike, daß Petöfi für seine Gedichte kein Honorar erhielt? Für die ›Liebesperlen‹ hat man ihm 200 Gulden bezahlt.«

»Was sind denn die ›Liebesperlen‹?«

»Herrliche Gedichte an ein schönes Mädchen.«

»Und hat er jenes schöne Mädchen zur Frau bekommen?«

»Wahrhaftig, nein.«

»Nun, das ist nicht übel. Jemand macht einer Dame den Hof, bringt seine Gefühle in Reime, bekommt schließlich einen Korb und verlangt, daß man ihm diesen Korb mit Silberzwanzigern fülle.«

Noch an demselben Tage sandte ich ihr Petöfis »Liebesperlen« und »Cypressenblätter«. Meine Porträtmalerei nahm ich erst am drittnächsten Tage wieder auf. Meine erste Frage an Erzsike war die, ob sie die »Liebesperlen« in die Hand genommen habe.

»O ja, ich trockne Blumen darin.«

»Aber in die ›Cypressenblätter‹ haben Sie doch hineingeblickt?«

»Ich mag solche Dinge nicht, denn ich weine gleich dabei und davon werden meine Augen rot.«

Ich hatte genug und ließ das Thema fallen.

Erzsike aber beeilte sich, meine Verstimmung mit der angenehmen Nachricht zu versüßen, daß Mama infolge meines Vorschlages auf das »Pesti Divatlap« pränumeriert habe, und zwar gleich auf ein halbes Jahr.

Ich war noch da, als man das bestellte Blatt brachte. Damals mußte jedes Blatt im Couvert versendet werden, die Briefmarke war noch nicht erfunden. Die Post brachte ihr Porto gleich von dem Abonnementspreis in Abzug.

Da die Pränumeration verspätet geschehen war, kamen gleich vier Nummern auf einmal. Nachdem das Couvert feierlich erbrochen worden, beeilten sich sämtliche Damen der Familie natürlich zunächst nachzusehen, ob Bilder da wären und insbesondere Modebilder. War es doch ein Modeblatt! Ein Modebild war wirklich da. Der wackere patriotische Emerich Vahot strebte mit eiserner Konsequenz, die Mode zu einer nationalen umzugestalten. »Nun wahrhaftig, wer eine solche Kleidung anziehen würde, könnte sich für Geld sehen lassen!« Dies war die einhellige Ansicht der Damen.

Die Illustrationsbeilage der zweiten Nummer war Gabriel Egressy als Richard III. in der Traumscene, von Gespenstern umgeben, gezeichnet von unserem Landsmann Valentin Kiss.

Die gnädige Frau fragte mich, wo auf diesem Bilde der Kopf und wo die Füße wären. Ich konnte mir selbst nicht enträtseln, wie der Kopf Richards III. zwischen die Knie geraten sei.

Mit der Beilage der dritten Nummer waren die Damen zufrieden. Es war Rosa Laborfalvy als Königin Gertrud, von Barabás gezeichnet, eine Zeichnung von künstlerischem Werte. Diese interessierte die Gesellschaft schon mehr.

»Man sagt, sie habe so wunderbar schöne Augen, die ihresgleichen nicht wieder haben,« bemerkte Fräulein Erzsike.

Die Höflichkeit hätte erfordert, daß ich dem schmeichelhaften Kompliment widersprach, allein mir war, als würde mir eine unsichtbare Macht die Kehle zuschnüren, daß keine Silbe herausdringe. »Ich habe sie noch nie gesehen,« – stammelte ich endlich.

Der vierten Nummer endlich wurde das lithographische Bild eines schlanken Jünglings mit struppigem Haupthaar entfaltet. Das Bild trug den Namen » Petöfi Sándor«. Es war die beste Zeichnung Barabás' und das einzige getreue Konterfei des Unsterblichen. So kannten ihn alle jene, die gleichzeitig mit ihm gelebt haben: mit diesen in die Ferne blickenden Augen, mit diesem wie zu einer Weissagung geöffneten Munde, mit den rückwärts gekreuzten Händen, die etwas zu verbergen scheinen. Dieses Bild scheint zu sagen: »Ich werde Petöfi sein.« Alle anderen Bilder sagen: »Ich bin Petöfi.«

Dieses Bild übte eine tiefe Wirkung auf die Meinung der Damen. Ein lithographisches Porträt als Beilage eines Modeblattes war zu jener Zeit ein großes Ereignis. Damals gab es noch keine wohlthätigen Kreuzerblätter, für die es ein ausreichender Rechtstitel zum Erscheinen ist, wenn auf dem Titelblatte jemand eine alte Frau mit der Holzhacke erschlägt; zu jener Zeit wurde nur sehr bekannten Patrioten die Ehre zu teil, ihr Bild in den Zeitungen reproduziert zu sehen; auch die Photographie war noch nicht erfunden. Ich kann mich kaum erinnern, ein anderes Porträt eingerahmt gesehen zu haben, als dasjenige Nikolaus Wesselényis Arm in Arm mit Johann Balogh. Hervorragende Politiker der vierziger Jahre. Anmerkung des Herausgebers. Die Bilder der Deputierten des 1836er Landtags waren zwar gleichfalls auf einem Tableau erschienen; allein dieses Tableau war eine große Seltenheit. Sämtliche Deputierten waren da im Profil und einer sah dem anderen ähnlich.

Es war also ein wahrhaft sensationelles Ereignis, als Petöfis Bildnis als Beilage des »Divatlap« erschien. Dieser Petöfi ist also doch noch mehr als ein Landstreicher; – ein geradezu berühmter Mann!

Daraufhin ließ sich die Gesellschafterin zu der Erklärung herbei, sie werde die von mir gesandten Gedichte Petöfis lesen.

Erzsike aber war auf das begierig, was sie von mir in der belletristischen Beilage des Blattes finden würde. Sie fand es denn auch: es war eine Probe aus meinem Roman und hieß: »Die Oase des Sumpflandes«.

»Nun, das will ich sogleich lesen.«

Ich ließ ihr Zeit dazu und kam erst nach einigen Tagen wieder.

Sie empfing mich mit der Versicherung, daß sie das Ding gelesen habe.

»Nun bin ich doch begierig zu erfahren, was der Anfang dieser Geschichte gewesen und was das Ende sein werde? Wissen Sie es schon?«

»Wie ... zum Kuckuck ... sollte ich es ... nicht wissen!«

»Nur den Titel verstehe ich nicht: wo ist da der › oiseau‹?«

Ich erklärte ihr nun, daß die »Oase« kein geflügeltes Tier ist, sondern eine in einer Wüste geborgene Flur sei.

»Warum schreiben Sie nicht ›Insel‹?«

Darin hatte sie Recht.

» A propos ›Insel‹. Ich sehe Sie oft von der Veranda unseres Lusthauses auf der Insel vor unserem Garten vorübergehen; aber Sie schauen nicht hin, obwohl wir uns lärmend genug betragen.«

»Das kann schon sein. Ich bin dann vertieft.«

»In was vertieft?«

»Ich arbeite an meinem Roman.«

»Sie arbeiten und gehen dabei herum?«

»Es ist so meine Gewohnheit. Ich arbeite vorher die ganze Scene, bis in die kleinsten Details, in meinem Kopfe aus; wenn ich mich dann hinsetze, um sie niederzuschreiben, so ist das nur mehr eine mechanische Arbeit.«

»So daß Sie nichts sehen und nichts hören, wenn Sie auf jener langen Promenade mit raschen Schritten dahineilen?«

»Doch, doch: ich sehe Gräser, Bäume, Blumen, von Pflanzen überwucherte Baumstämme, von Schlinggewächsen eingesponnene Rohrhütten. An diese knüpfe ich meine Gedanken gleich Spinngeweben und ich höre den Schlag der Goldamsel, das Gezwitscher des Zeisigs, von fernen Schiffen herüberschallendes Getute, das Gesumme der Mückenschwärme; alle diese haben mir Verschiedenes zuzuflüstern und zu erzählen; die brummende Wespe leiht meiner Phantasie ihre Flügel. Begegne ich aber einem Menschen, so reißt mich der aus meinen Gedanken. Ruft mir einer sein ›Servus‹ zu, so zerstiebt die ganze Fata Morgana bis ich wieder Kehrt mache und bei den neuerdings aufgefundenen Rohrhütten, Baumstämmen und Blumen meine Spinnfäden sammle und die wohlbekannten Stimmen der Bewohner der Einsamkeit mir von neuen die entflohenen Gedanken wiederbringen. Dann flüchte ich in die in unserem Garten stehende kleine Hütte, wo mich niemand stört und schildere das Bild, das vor meinem geistigen Auge steht.«

Und wider alles Erwarten ward ich von Erzsike für diese Elukubration nicht ausgelacht, vielmehr war sie ernster geworden. Der Ausdruck ihrer Augen glich jetzt demjenigen, den ich auf ihrem Porträt festgehalten hatte.

»Und das macht Ihnen Freude?« flüsterte sie. »Es ist als wenn einer träumte und sich gebieten könnte, Schönes zu träumen.«

»Herr Bagotay Muki,« meldete der Diener.

Ich nahm meinen Hut, um zu gehen, denn ich konnte diesen Menschen nicht leiden. Dieser hat schon alles genossen, was mir erst meine Einbildungskraft erzählte.

... Ich kann es jetzt schon aufrichtig gestehen: ich liebte sehr mich selbst. Ich darf es jetzt schon sagen, denn ich habe keinen Nebenbuhler mehr. Ich liebte das Alleinsein gar so sehr und konnte mich mit mir selbst sehr gut unterhalten. Wir suchten einander, wir hatten miteinander immer etwas zu reden. Wir lieben einander Glauben, Hoffnung und Vertrauen: das Ich dem Ich. Manchmal entzweiten wir uns auch, wenn irgend etwas fehlgegangen war; doch immer war ich der Schuldige; dieses Ich aus Fleisch und Bein, dieses hungrige, genußsüchtige, eitle, selbstzufriedene Ich; das andere Ich war im Rechte; es söhnte mich mit mir selbst aus, es war mein Ratgeber, mein Lustigmacher, mein Beistand in der Not, mein Richter.

Die kleine hölzerne Hütte in dem Obstgarten auf der Donauinsel (ich weiß nicht, ob sie noch vorhanden ist) war der kostbarste Palast, in dem ich jemals gehaust. Dort schrieb ich meinen ersten Roman.

Ach, er verträgt gar sehr die Kritik, dieser erste Roman! Wie sollte auch ein Jüngling, der die Menschen und die Welt noch nicht kennt, dieses Handwerk verstehen? Aber ich liebte dieses mein Erstlingswerk dennoch so sehr, wie jedermann seinen Erstgeborenen liebt, auch dann, wenn derselbe durch leibliche und seelische Gebrechen verunstaltet ist.

Noch sehe ich vor mir die alten breitästigen Reineclaudebäume, bedeckt mit reifen, platzenden Früchten, welche die Hütte völlig verdeckten; weiterhin stand ein Apfelbaum mit blutroten Früchten und wieder einer mit weißen Taffetäpfeln. Aus der offenen Thüre der Hütte hatte man einen Ausblick auf den grasbewachsenen Weg, welchen zu beiden Seiten eine Weinlaube einsäumte. Wenn zwischen dem schütteren Laub das warme Sonnenlicht durchsickerte, war es, als bestünde jeder Schatten aus grünem Gold. Aus weiter Ferne, über die Donau herüber klang die Militärmusik, die im »Englischen Garten« spielte. In der Nähe pfiff die Goldamsel, von Zeit zu Zeit quakte in dem nahen Wassergraben ein Frosch dazwischen. Ich schrieb den schwierigsten Teil meines Romans: die Liebe. Von allen unbekannten Welten ist diese diejenige, die am schwierigsten zu entdecken ist. Aus der Einbildung kann man eine Sumpfwelt schildern, aber nicht die Liebe. Hat sie das Herz nicht entdeckt, so wird der Kopf sie nicht erlernen.

Plötzlich ward der grüngoldige Halbschatten durch irgend etwas licht erhellt. Sie stand vor der Thür meiner Hütte; sie trug ein weißes Kleid, hatte den Strohhut mit den blauen Bändern auf den Arm gehängt, ihr Haar fiel in langen Flechten herab. Einen Augenblick glaubte ich, das Traumbild meiner Phantasie sei lebendig geworden, allein ihr helles Lachen bewies mir, daß ich eine lebendige Gestalt vor mir habe.

»Fräulein Erzsike, wie kommen Sie hierher?«

»Nun so; über den schönen weichen Rasen bin ich hierher spaziert.«

»Allein?«

»Freilich allein. Wen hätte ich denn mitbringen sollen? Ich werde mich doch nicht von einem Bedienten in die Nachbarschaft begleiten lassen.«

Allerdings lagen unsere Gärten nur ein paar hundert Schritte voneinander entfernt, an dem langen Mittelwege, welcher die ganze Insel durchschnitt.

»Bin ich Ihnen denn nicht willkommen?« fragte sie, in die Hütte eintretend.

Ein Schwindel erfaßte mich.

»O, ich bitte, ich bin vielmehr außerordentlich erfreut, Fräulein Erzsike, ich will Ihnen sogleich mit Reineclauden aufwarten.« Damals hatte noch kein anderer solche Pflaumen.

Dies wäre der schönste Vorwand gewesen, aus der Hütte zu entkommen.

»Ich bin nicht wegen Ihrer Reineclauden gekommen; ich habe mir davon schon gestohlen, noch ehe Sie dieselben gekostet haben. Ich bin jetzt gekommen, um zu sehen, wie ein Roman gemacht wird.«

Ich zeigte ihr das Papier und die Feder und sagte, man habe die Feder in die Hand zu nehmen und dieselbe läuft dann von selbst über das Papier hin.

»Und müssen Sie nicht erst in ein Buch hineingucken?«

»Sie sehen doch wohl, daß ich mit keinerlei Hilfsmitteln ausgerüstet bin.«

»Nun, so setzen Sie sich, ich will neben Ihnen Platz nehmen, um zu sehen wie Sie schreiben.«

Und ohne erst meine Einwilligung abzuwarten, setzte sie sich aus das Ende der Bank und brachte mich so in die Zwangslage, gleichfalls an dem Tische Platz nehmen zu müssen. Die Hütte war so eng, daß der Tisch von der Thür bis zum Fenster reichte.

»Aber ich kann in diesem Augenblicke kein Wort schreiben.«

»Weshalb nicht? Weil ich da bin?«

»Natürlich.«

»Nun denn, lesen Sie mir vor, was Sie soeben geschrieben haben.«

»Aber das ist sehr lang.«

»Um so besser, dann bleibe ich langer hier.«

»Wird man Sie zu Hause nicht vermissen?«

»Mein Gott, sie wissen zu Hause, daß ich wieder zum Vorschein komme, wenn ich in Verlust geraten bin.«

Die Eitelkeit: das sind die Hörner, an welchen der Mann sicher gefaßt werden kann. Es schmeichelte mir, daß ich jemandem vorlesen durfte, was ich geschrieben hatte. In anderen Gegenden des Landes hatte ich mit meinen Vorlesungen schon geräuschvolle Erfolge gehabt; nur in meiner Geburtsstadt hatte noch niemand meine Stimme gehört. » Nemo propheta in patria.«

Und Erzsike war ein sehr dankbares Publikum. Die Wirkung, das Interesse war ihr vom Gesichte abzulesen. Sie stützte die Wange auf die hohle Hand und lauschte; um besser hören zu können, strich sie die Haare zur Seite; wo es eine ergreifende Scene gab, sah man ihr den Schrecken an, da öffneten sich Mund und Augen. Ich sage dies nicht aus Prahlerei, sondern führe den Umstand nur zur Erhärtung dessen an, daß ich sehr effektvoll zu deklamieren wußte. An einer Stelle aber stockte meine Stimme.

»Nun, was ist's? Können Sie Ihre eigene Schrift nicht lesen?«

»Ja ... nein ... vielleicht brechen wir hier ab ...«

»Warum? Jetzt kommt das Interessanteste!«

»Ich will es Ihnen nicht vorlesen.«

»Wie? Könnten Sie etwas schreiben, was ein Mädchen nicht erfahren darf?«

»Nein, nein. Jedermann darf es lesen, nur ich kann es Ihnen nicht vorlesen.«

Das Mädchen lachte hell auf, aber in ihrem Lachen lag eine gewisse Bitterkeit.

»Ach, meinethalben seien Sie ganz unbesorgt. Wir haben in der Pension Sachen gelesen, von welchen Sie sich nichts träumen lassen. Unter anderem gab es zwischen uns ein altes Bündnis, laut welchem jede Pensionärin, die sich verheiratete, verpflichtet war, an die in der Pension zurückgebliebenen Freundinnen einen Brief über ihr neues Leben zu schreiben. Wir hatten schon eine ganze Sammlung solcher Briefe.«

»Und haben auch Sie versprochen, diese Sammlung zu bereichern?« fragte ich mit der ganzen Entrüstung meines jugendlichen Gemütes.

Das Mädchen mußte mir die Erregtheit vom Gesichte ablesen; sie senkte die Augen und stammelte leise:

»Das hängt davon ab, wer mich zur Frau bekommt.«

Dann lachte sie wieder übermütig auf und rief:

»Mir können Sie Ihre Liebesscene getrost vorlesen.«

Nun sprach ich bestimmter.

»Ich kann sie Ihnen nicht vorlesen.«

Sie begriff und schaute mich groß an.

»Sie fürchten, daß ich das Kapitel für eine Liebeserklärung halten oder auch, daß ich Sie dafür auslachen werde?«

»Nein, Sie werden mich nicht auslachen.«

»Was fürchten Sie dann?«

»Ich fürchte nichts; ich warte.«

»Worauf warten Sie?«

»Ich erwarte, daß ich in der Welt etwas sei. Jetzt bin ich eine Null.«

»Ein Mann ist niemals eine Null.«

»Schauen Sie: diese Bretterhütte ist derzeit mein ganzer Besitz; dieses Häuflein Papier mein Anspruch an die Welt; doch lodert in meiner Seele eine mächtige Flamme, der ich keinen Namen zu geben weiß. Diese Flamme genügt, um jemanden zum Thronprätendenten zu machen; aber sie genügt nicht, um ihn zum Brautwerber zu machen.«

»Sie wissen, daß ich reich bin.«

»Ich bin noch reicher: ein Stück Brot ist mir ein Festmahl und auf einem Strohlager ruhe ich sanft.«

»Nun denn, ich bin auch mit trockenem Brote und einem Strohlager zufrieden. Sie kennen mich nicht. Aus mir kann einer eine Teufelin machen, selbst wenn er nur einen Tempel errichtet, mich als Altarbild aufstellt und tagtäglich zur Anbetung vor mir in die Knie sinkt. Doch kann mich derjenige, den ich wahrhaft liebe, auch zu einem Engel machen. Und auch ich könnte glücklich sein – wo immer: in der Hütte eines Hirten, in dem Leinwandzelte eines fahrenden Komödianten, am Biwakfeuer eines Soldaten, in der ärmlichen Lehmhütte eines Dorfschullehrers, – und könnte auf einem Strohlager von der Seligkeit träumen.«

Damit warf sie sich rücklings auf meine deckenlose Lagerstatt hin und kreuzte die Hände über dem Kopfe.

Oh, wie schön war sie da! Schön, um mich um das bißchen Vernunft zu bringen!

War es für mich ein Segen oder war es ein Fluch der ewigen Macht, die unsere Geschicke lenkt, daß ich auch mit der Seele zu sehen vermochte und nicht bloß mit den Augen?

Ein anderer glücklicher Sterblicher hätte diesen günstigen Augenblick des paradiesverwirkenden Wonnetraumes sicherlich nicht ungenützt vorübergehen lassen. Nah und fern war niemand da außer mir und ihr: Adam und Eva.

In den wenigen Worten hatte dieses Mädchen ihr ganzes künftiges Lebensgeschick mir erzählt; – und ich hatte in einem Augenblicke, wie bei dem Aufflammen eines Blitzes in finsterer Nacht, sie in all den Situationen gesehen, die ihr beschieden waren.

Ich setzte mich zu ihren Füßen auf das Bett und blickte ihr in die Augen. In diesen halbgeschlossenen Augen lauerte die grausamste der Bestien, die mehr Menschen zerfleischt, als alle Königstiger Ostindiens.

Ich sprach leise zu ihr.

»Diejenige, die ich lieben werde, wird nicht meine Sklavin, sondern meine Königin sein. Nicht stehlen will ich mein Glück, sondern erringen. Wie die Reichen hienieden die Geliebten ihres Herzens mit Diamanten und Perlen überschütten, so will ich das Haupt derjenigen, die meine Seele begreift, mit einer Gloriole umgeben. Die Dame meines Herzens muß von der ganzen Welt geehrt sein, vor allem aber von mir

Und während ich sprach, öffneten sich die halbgeschlossenen Augenlider und diese Augen machten eine wunderbare Wandlung durch. Das flammendurstige Ungeheuer war im Wasser der Meeraugen untergegangen: zwei schimmernde Thränen hatten es begraben. Das Mädchen begann heftig zu schluchzen; dann sprang es von dem Lager auf, warf die beiden Arme um meinen Nacken, küßte mich und entfloh.

Wie ein Träumender blickte ich ihr nach, bis ihre davoneilende Gestalt hinter dem Weinlaub und den Sträuchern verschwand.

Die Goldamsel rief mir zu: »Närrischer Bub! Närrischer Bub!«

Und ich dachte sogleich an den Jüngling, dem sein Beichtvater ein Bündel Heu vorlegte – als Buße für die nicht vollbrachte Sünde.

Und heute noch, wenn ich vor der Bibliothek stehen bleibe, die mit meinen eigenen Werken gefüllt ist, frage ich mich, ob es nicht besser wäre, wenn alldies nicht ersonnen worden wäre? Ob es nicht besser wäre, wenn ich, anstatt für die Welt so vieles zu schreiben, für mich selbst nur so viel geschrieben hätte, als auf der Innenseite des Einbanddeckels einer Bibel Platz findet?

Ich habe derzeit in meiner Geburtsstadt eine Straße, die auf meinen Namen getauft ist. Wäre es nicht besser, wenn ich dort eine Hütte besäße?

Sic fata tulere! ...

Nein! Ich selbst habe es so gewollt! Und könnte ich noch einmal zu dem Beginn meines Lebensweges zurückkehren, ich würde doch nur wieder in die Fußstapfen treten, die ich zurückgelassen ...


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