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Die Mutter

Sussie ist nicht ganz wohl,« sagte Mrs. Almeida, indem sie Doktor van Leer am Tor zur Gärtnerei empfing. Sie war ihm entgegengegangen, als ob sie ihm dies anvertrauen wollte, ohne daß jemand im Hause es hörte. Sie sprach ganz leise, wiederholte, daß Sussie nicht ganz wohl sei, daß es aber natürlich nichts zu bedeuten habe, es wäre nur ein wenig Fieber. Und Mrs. Almeida blieb voll peinlicher Ungewißheit stehen, als ob die Wahrheit von dem abhinge, was sie selbst glaubte oder sagte.

Doktor van Leer blieb ebenfalls stehen, ohne etwas zu sagen, ja, ohne mit den Augenlidern zu blinken, um nicht Partei zu ergreifen; Mrs. Almeida würde am besten durch eigene Kraft ihr Gleichgewicht wiedergewinnen, an ihren Atemzügen konnte er hören, daß sie erregt war, daß sie sich aber fasten würde, wenn man ihr nur ruhig begegnete. Während Mrs. Almeida sich faßte, betrachtete er die beiden wuchtigen Pfähle, die die Einfahrt flankierten, zwei viereckig behauene Pfosten von Teakholz, ganz eingesponnen in einem Netz von kriechenden Schlingpflanzen, deren zähe Fibern sich tief in das Holz eingebohrt hatten und dort wie in einem anderen Erdboden wuchsen – welch eiserne Fruchtbarkeit, welch ein Appetit, und wie sonderbar sich zu denken, daß jedes Wachstum, selbst die gewaltigste Vegetation in den Tropen und die allerwildeste hier in Almeidas Garten, geradeswegs von der Abkühlung der Erde herrührte ...

»Es ist wirklich nichts von Bedeutung,« sagte Mrs. Almeida und ihr Gesicht begann sich aufzuklären. Van Leers klärte sich ebenso hoffnungsvoll auf, und als Mrs. Almeida lächelte, lachte er geradezu ... man hatte ihn natürlich mal wieder ohne den geringsten Grund holen lassen. Jetzt war Mrs. Almeida so weit, daß sie ihm derb aus die Schulter schlug, wieder ganz gefaßt, und sie gingen zusammen durch den Garten dem Hause zu, als sei van Leer nur wie ein lieber Gast zu Besuch gekommen. Sie berichtete, daß Mr. Almeida unten am Hafen sei, um einem Dampfer eine Partie Orchideen abzuliefern.

Mrs. Almeida schwatzte zungenfertig und sanguinisch, während sie in der Gärtnerei umhergingen. Überall wuchsen die seltsamsten und glühendsten Pflanzen. Der Garten war von einem weißlichen Dunst erfüllt, der so schwer war, daß er auf dem Grunde der Gebüsche stehen blieb, und die stille, badstubenwarme Luft unter dem dampfweißen Himmel war mit einem süßen Gas gesättigt, einem Blumendunst so dicht und fast handgreiflich, daß er sich wie eine Bettdecke auf das Gesicht legte. An was mußte man hier nicht alles denken! Warm war es hier wie in den Eingeweiden eines lebenden Wesens, und wie nackt war es in Almeidas Garten, es roch nach den Trieben und dem Schweiß der Pflanzen. Ein wunderliches, ganz leises Geräusch ging von diesem Garten aus, der in dem feuchten Dunst, den er selbst absonderte, halb versteckt lag, ein feiner, fast unhörbarer Chor von tausend zarten Lauten, die von den wachsenden Stengeln herrührten, von den Blumen, die sich entfalteten. Es war die Fruchtbarkeit, die flüsterte, heiße Geheimnisse, die zwischen der von Wachstum triefendnassen Erde und der Glut der im Zenit stehenden Sonne ausgetauscht wurden. Aus dem üppigen Sumpf des Untergrundes, zwischen smaragdgrünen Pisangs und den Riesengarben des Bambus hoben sich luftige Palmen empor, die mit hohen, nackten Stämmen aufwärts schwollen, bis sie sich oben unterm heißen Himmel zu herrlichen Zelten von grünen Spitzen entfalteten; auch sie sahen mystisch lebendig aus mit ihren schlangenartigen Stämmen und mit der Rinde, die einer Haut glich und die die Luft um sich her zu fühlen schien.

Mrs. Almeida zeigte van Leer einige Orchideen, die Mr. Almeida kürzlich aus Borneo geschickt bekommen hatte. Sie wuchsen in demjenigen Teil des Gartens, der wie ein Urwald dalag, weil die Orchideen es so heiß und verfault wie möglich haben mußten. Hier wuchsen alle wilden Waldbäume der Tropen und Lianen in hohen, verfilzten Massen wie Türme von Gewächsen. Nur wenige Schritte ins Gehölz hinein war es so dunkel wie in einem Keller und so triefend feucht wie in einem Dampfbad. Aus der nassen, schwarzen Erde schoß eine Üppigkeit von feuchtem, fruchtbarem Unkraut hervor, Nepentes mit ihren insektenfressenden Bechern, Farren, die sich wie lebende Wesen aus der Erde rollten, Schlingpflanzen, Mimosen. Hier im Moose und oben auf der Rinde der Bäume zog Almeida seine Orchideen. Sie krochen auf den Baumstämmen mit bleichen Drüsenwurzeln, mit Stengeln wie Finger toter Männer und mit Blumen wie Sternbilder, sie hingen von den Ästen wie Büschel geöffneter, durstiger Münder herab. Über diese Wildnis aber erhob ein einzelner alter Urwaldriese seinen zweihundert Fuß hohen Stamm und seine Krone, die oben in der weißen Luft fast verschwand. Dort oben passierten die großen Streifvögel, die rings umher auf den Sundainseln leben, man konnte durchs Fernglas sehen, wie sie herankamen und sich niedersetzten, große, blaue Vögel mit fleischfarbigen Lappen auf den Köpfen. Des Abends nisteten sich ganze Schwärme von fliegenden Hunden in dem Baum ein; sie saßen in der hereinbrechenden Dunkelheit und schlugen mit den Flügeln, als brächten sie die Nacht unter ihren Schwingen mit sich. Und unablässig feilten die Zikaden in dem heißen und dunsterfüllten Garten.

Mrs. Almeida und van Leer besahen auch die Tiere. Almeida betrieb außer der Gärtnerei einen Handel mit wilden Tieren für die zoologischen Gärten in Europa, und er hatte immer einige vorrätig, die in der Wildnis standen, wo sie so prächtig in die Landschaft hineinpaßten, Affen, Nasenbären, Schlangen und anderes Unwesen, das Mrs. Almeida van Leer mit einer reichen Entfaltung von Weiberhaftigkeit, Gekreisch und Verhätschelung zeigte. Sie schien keinen sonderlichen Unterschied zwischen einem Stachelschwein und einem Papageien zu machen, beide gehörten für sie, wie überhaupt alles, was sich in den Käfigen und Packkisten befand, unter den Inbegriff von ekelhaftem Gewürm. Nicht einmal die Schlange, für die sie doch eine gewisse schwache Erinnerung bewahrt haben müßte, sprach zu ihrer Phantasie wie ein Tier von besonderer Beschaffenheit, sie patschte ihr auf den Käfig ebenso wie den anderen und forderte sie mit Gekreisch heraus. Darauf streichelte sie einen süßen Affen in einem Holzkasten mit Stäben davor, und als der süße Junge kratzte und biß, schrie sie gekränkt auf und schloß ihn in gerechter Indignation mit in den übrigen schändlichen Begriff ein. Almeida hatte gerade ein neues Krokodil bekommen, einen langen, schweigsamen Herrn, der in einem Futteral von starken Brettern lag und mit offenen, grüngelben Augen, in denen die Pupillen sich wie schmale Schußkerben zusammenkniffen, schlummerte. Mrs. Almeida hüpfte zwischen den Käfigen umher, ängstlich und voller Drohungen und kam schließlich auch zu dem Krokodil, das so artig und zahm dalag, wirklich reizend, daß Mrs. Almeida mit zärtlichen Ausrufen und bis zu Tränen gerührt, einen Finger hineinstecken mußte, um das süße Krokodil auf dem Rücken zu streicheln. Da unterstand es sich im Käfig zu trotzen. Mit einer einzigen elektrischen Zuckung, in der es alle seine Kräfte vereinigte, brachte es Panzer und Bretter wie eine Sprengung zum Krachen, während die häßlichen Zähne, die aus dem Maul herausdrängten, sich trennten und mit einem Knall wieder zusammenschnappten. Mrs. Almeida schrie wie besessen. Die alte Frau sprang geradezu in die Luft vor Schreck und als sie wieder herunterkam, griff sie sich an ihr Mädchenherz und war einer Ohnmacht nahe. Nur Doktor van Leers ansteckendes Gelächter rettete sie vor einem Nervenzufall. Nachdem Mrs. Almeida sich aber von ihrem Schreck erholt hatte, nahm sie einen Stock und stach gierig und schweigend damit durch die Bretter nach dem Auge des Ungeheuers. Das Krokodil schloß das Auge, und da das Lid knochig und mit einem Dorn versehen war, konnte Mrs. Almeida leider nicht an das häßliche, gelbe Auge herankommen und mußte es seufzend aufgeben. Darauf sättigte sie ihre zärtlichen Gefühle an einem jungen Tapir, der in einem kleinen Stall hin- und herging und sich gnädigst den süßen Rüssel streicheln ließ, besonders wenn die Zärtlichkeit von einer Banane gefolgt wurde; und damit hatten sie die ganze Menagerie gesehen. Gott, Sussie ...

Mrs. Almeida eilte voran zum Hause. Das ganze kopflose Zeug, das sie unaufhörlich geschwatzt hatte, während sie zwischen den Tieren umhergingen, hinterließ ein gewisses Etwas in der Luft, das der lächelnde und gedankenvoll schnüffelnde van Leer eine Art weiblichen Nebels nannte, der sich mit dem warmen Gewächsdunst in Almeidas Garten vereinigte.

 

Almeidas Haus war ein offenes Bungalow ohne Fenster, aber mit großen Veranden und Jalousien von oben bis unten. Die Fußböden waren ebenso wie der Hof, in dem zwei chinesische Fayence-Drachen prangten, mit Ziegelsteinen belegt.

Im Erdgeschoß stand de Braganza, Almeidas Buchführer, an einem Pult, dem einzigen Möbel in dem großen offenen Raum, und arbeitete. Er war halfcast aber mit größter Vollbluteleganz gekleidet. Er pflegte stets gegen Ecken und Stühle zu stoßen, weil er seiner Würde halber eine Lorgnette trug. Als er den Arzt sah, verbeugte er sich voll steifer Zeremonie und mit einem unerhört ernsten Ausdruck in den dummerhaftigen Negeraugen hinter dem Glas. Und während van Leer ihn noch betrachtete, beeilte er sich die Feder zu ergreifen und wichtige Zahlen in ein Protokoll zu schreiben. O, jawohl, er stand hier und schrieb wie ein richtiger Europäer, ja, es war kolossal; jedesmal, bevor er eine Zahl aufs Papier setzte, machte er mit der Feder Schwingungen und große Anläufe in der Luft, wie ein richtiger Kontormensch. De Braganza war in diesem Augenblick, mit seinem gescheitelten Negerhaar und seinem Silberring am Finger, der feinste Herr, den man sich denken konnte, und man sah es ihm nicht an, daß er hin und wieder einen Rückfall bekam und nach Sumatra entfloh, von wo Mr. Almeida ihn dann in Gnade als einen nackten und schwermütigen Wilden zurückholte und von neuem kleidete.

Van Leer und Mrs. Almeida stiegen die gelben Ziegelstufen zur oberen Veranda hinauf. Unterwegs wurde Mrs. Almeida wieder so heftig von ihrer Angst befallen, daß sie stehen blieb:

»Sussie hat nur ein wenig Fieber ...«

Sie stieg eine Stufe höher:

»Es wird nichts zu bedeuten haben ...«

Dann blieb sie wieder wie mit einem Ruck stehen und bohrte ihre ausgelöschten, gleichsam blutigen Augen in die des Doktors, während sie nach Luft schnappte und flüsterte:

»Ach ... aber ich weiß ja, wie schnell es geht ...«

Sie zitterte von Kopf bis Fuß, ihr magerer Körper krümmte sich in dem gesteiften, weißen Kleid, als ob jemand sie rüttelte, und ihr Mund öffnete sich wie ein gähnendes Loch. Aber es dauerte nur einen Augenblick, dann ging sie weiter, lächelte, zeigte ihren einzigen Zahn, einen langen, gelben im Unterkiefer und sagte prahlend:

»Kommen Sie geschwind und sagen Sie guten Tag, Doktor. Sussie hat schon den ganzen Tag gefragt, weshalb der süße Holländer so lange nicht hier gewesen ist. Ja, freilich, hat sie das gesagt.«

Und Mrs. Almeida sandte Doktor van Leer einen langen Seitenblick voll Schlauheit und lachte himmelhoch. Doktor van Leer mißverstand natürlich nicht den augenscheinlich unpassenden Brand in Mrs. Almeidas Augen, er kannte sie und wußte, daß der Scherz in keiner Weise unehrbar gemeint war; freies Wort war nun einmal Mrs. Almeidas Form für Gastfreundschaft. Es machte ihr Spaß, ihre Tochter und van Leer sündiger Zuneigungen zu bezichtigen.

Van Leer hatte übrigens nichts dagegen, sich dieser Art zusammengesetzten Stimmungen hinzugeben, vorausgesetzt, daß sie unter seiner Kontrolle blieben.

In Wirklichkeit nährte Mrs. Almeida keinen höheren Traum, als Sussie mit dem Doktor zu verheiraten, doch war es eine so schwache Hoffnung, daß sie sie kaum auszudenken wagte, obgleich sie halb wehmütig und halb dreist damit zu scherzen pflegte. Das Kind war ja halfcast. Sussie war Mischblut, niemand machte es sich unbarmherziger klar als die Mutter, die selbst weiß war; Sussie stand außerhalb der society. Natürlich, das tat das Haus ja überhaupt, denn Mr. Almeida war Eurasier, aus vielen verschiedenen düsteren Sorten Menschen während mehrerer Generationen durcheinandergemischt, woraus das Portugiesen- und das Hindublut am deutlichsten erkennbar war. Mrs. Almeida aber war weiß und besaß alle schroffen Vorurteile ihrer Rasse, sie war aus London, my dear, sprach ein unverfälschtes cockney, sie war über dreißig Jahre mit Mr. Almeida verheiratet gewesen und die Tropen hatten sie ausgezehrt, einsam war sie, von den Ihren verstoßen, aber sie war weiß, yes Mylord!

Mit diesem flammenden Romantitel liebte Mrs. Almeida den einfachen Holländer zu vergolden, weil ein angenehmer Schein davon auf sie selbst zurückfiel. Sie redete van Leer in korrektestem Englisch an, Londoner Dialekt vom Eastend, streng durchgeführt, besonders wenn Almeida zugegen war, dessen Mr. sie übrigens nie vergaß. Sie liebte es ostentativ mit van Leer »weiße Gesellschaft« zu bilden, schlug höhere Gesprächsthemata an, von denen sie Mr. Almeida mit abgemessenen Handbewegungen ausschloß. Sie war bei solchen Gelegenheiten ein ganzes Lustspiel und es war merkwürdig zu sehen, wie Almeida sich da hineinfand. Wenn der riesengroße, olivenfarbige Mann auch ein Lächeln über die Rücken seiner Frau nicht ganz unterdrücken konnte, so fand er seine Zurücksetzung doch ganz natürlich. I'm a lady, pflegte Mrs. Almeida mit einem Schlag auf ihren mageren Busen und einem herausfordernden Blick auf ihren Mann zu sagen, als könne ihr ganzes Leben noch in den Armen eines Fürsten wieder gut gemacht werden. Das war nun ihr Wurm. Van Leers war, daß er wirklich in aller Heimlichkeit in Sussie verliebt war. Aber das durfte nicht einmal gedacht werden ...

Zu Anfang war van Leer als Arzt in Almeidas Haus gekommen, und Mrs. Almeida hatte ihn mit weiblich siegreicher Flankenlogik als Weißen und Freund des Hauses erobert. Van Leer war damals neu in der Kolonie und es hatte ihn gerührt, daß er wirklich der erste weiße Mann war, den Mrs. Almeida, seit sie verheiratet war, zu Gast gehabt hatte. Er kam wie ein Erlöser für die Ärmste. Nach und nach, als es ihm zur Gewohnheit geworden war, häufige Besuche im Hause zu machen, merkte er wohl eine abnehmende Wärme bei den übrigen Europäern der Kolonie, dies durfte nicht sein, aber er war ja Arzt und konnte als solcher von Berufs wegen, überall wo er wollte, ein- und ausgehen. So blieb er denn zu Mrs. Almeidas lautem und innigem Entzücken ein ständiger Gast in Almeidas Garten, ein Gegenstand der Redseligkeit und glühendsten Vertraulichkeit der alten, verzehrten Frau.

Mit Sussie war es eine andere Sache. Sie beschäftigte den Doktor. Der einsame, nicht mehr ganz junge Holländer, der nach dem Orient gekommen war, von der genugsam bekannten Vorstellung des Nord-Europäers vom »Süden« getrieben, bildete sich ein, daß er das blühende Mädchen psychologisch studiere. Van Leer war vielleicht ein Zyniker, vielleicht ein Schwärmer. Er hatte gewisse gefühlvolle Eigenarten, hielt sich für einen Kenner, war aber kein Sammler. Was Sussie betraf, so meinte er sich damit zu belustigen, indem er sie mit einer gewissen Sorte Tabak verband. Van Leer rauchte alle Kräuter des Ostens, hatte stets ein halbes Dutzend verschiedener Zigarren in seinem Etui. Das Kraut, das er in Sussies Nähe oder wenn er über ihr Wesen grübelte rauchte, war eine kleine, grüne Cheroots, wie sie von den indischen Parias in Singapur bereitet werden, bei denen er sie im geheimen kaufte. Sie hatten ihre Eigentümlichkeiten, ohne daß man sich über ihre Qualität des näheren zu äußern brauchte.

Sussie war das einzige Kind des Ehepaares Almeida, das allein übriggebliebene von einer Schar von sieben. Die anderen waren jung gestorben. Es schien, als ob etwas in der Kreuzung zwischen den Eltern die Kinder widerstandsuntüchtig gegen das Klima machte. Auch Sussie hatte trotz ihrer zeitig entwickelten, prachtvollen Gestalt einen Hauch von Gebrechlichkeit über sich, eine Kitzligkeit, als könne sie jeden Augenblick zu einer mächtigen Flamme emporlodern und im nächsten verlöschen. Sie war inzwischen dreizehn Jahre alt geworden, eine höchst gefährliche Zahl, und die Mutter ging in einer fast unsinnigen Angst umher, daß das Mädchen ihr mitten in ihrer fast betäubenden Üppigkeit zwischen den Händen entschwinden könne.

Sussie war schon längst ein entwickeltes, vollreifes Weib, an allen Ecken und Enden aus dem Kinderhemd herausgewachsen, das noch immer ihr einziges Kleidungsstück bildete. Jede Woche, ja, bisweilen jeden Tag wurde Doktor van Leer gerufen, daß er das schwächliche Kind untersuchen sollte, und jedesmal hatte sie sich wie eine Pflanze verändert, hatte ihren wundervollen Formen neue, herrliche Züge hinzugefügt. Sie trippelte mit nackten Füßen auf den Ziegelböden umher und das schwarze Haar, das nie geflochten worden war, hing ihr den Rücken hinunter. Die langen, vollen Beine wuchsen unten aus dem Hemd hervor; sie wurde immer größer und schwellender. Noch einige Monate, und sie würde den schweren Busen einer Vollreifen Jungfrau unter dem kurzen Hemd wiegen. Nie hatte die Tropennatur ein so herrliches, makelloses Werk geschaffen wie sie. Ihre Haut hatte eine grünliche Olivenfarbe, feinen Zwiebeln gleich, und die Augen waren dunkelbraun mit Indiens tiefem Licht. Nur einen einzigen Fehler hatte sie. Vorn im Mund, etwas zur Seite, fehlte ihr ein Zahn, aber wenn sie lachte, war dieses kleine Loch in der Zahnreihe fast ihr größter Charme. Ihr Wesen war noch ganz kindlich, sorglos und voll abgerundeter Süßigkeit wie eine Frucht.

Das Seltsamste aber an ihr war, daß ihre Haut stets ganz kühl blieb, im Gegensatz zu der des Holländers zum Beispiel, die zu seiner eigenen Qual immer brannte und vor Schweiß kochte. Diese Kühle, die von Sussies Bernsteingliedern ausging, konnte man schon von weitem spüren, sie wurde wie von ihrer eignen frischen Atmosphäre davon umwogt, wenn sie weich und einschmeichelnd und geschmeidig wie ein Leopard, barfüßig auf dem Ziegelboden herumpatschte. Ihr Haar schien, wo immer sie mit seinem Duft hinkam, eine Nacht in sich zu bergen, die das grelle Tageslicht dämpfte; sie bildete auf eine seltsame Weise einen Gegensatz zu allen Qualen des Klimas.

Sussie hatte am meisten Ähnlichkeit mit dem Vater, ihr indischer Typus war sogar noch reiner als seiner – vom portugiesischen hatte sie keine Spur – wenn sie aber lachte oder ihr Wesen äußerte, glich sie der Mutter. Ihr Lächeln war eine mystische Mischung von der nordischen Gewaltsamkeit der Mutter und der schlafenden, dunklen Unschuld der Hindus, mit einem Schimmer von noch kindlich vegetativer Freude durchwoben. Eine eigentliche Seele hatte sie nicht, weil sie ganz im Gleichgewicht war ... aber wehe dem, der sie einst zu einem inneren Leben veranlassen würde. Wie sie war, in ihrem allzu kurzen Hemd, das bei diesem Engel Gottes noch dazu überflüssig erschien, gab sie dem Holländer mitsamt seiner Philosophie nicht wenig zu kämpfen.

Um der Wahrheit die Ehre zu geben, so rauchte van Leer fast keinen anderen Tabak, als die kleine grüne Pariacheroots, deren salziges Aroma er mit Sussies wilder und edler Schönheit verband.

 

Sussie lag oben auf der Veranda vor dem Eingang der Wohnung, die wegen der herabgerollten Jalousien ganz finster war.

Man konnte mit Mühe eine florumhüllte Hängelampe drinnen unterscheiden, eine von Mrs. Almeidas Schätzen, womit sie ihre stolze Herkunft aus London geltend machte. Van Leer kannte die übrigen herrlichen Dinge dort drinnen, Öldrucke von lieblichen kleinen Mädchen am Halse riesengroßer Hunde, »der Abschied des Highlanders«, den Eckspiegel mit der Alabasteruhr unter der Glaskuppel auf der Konsole davor, und so weiter. Dieses Zimmer war Mrs. Almeidas Heiligtum. Es waren auch viele andere Reliquien da, an die van Leer nur mit einem gewissen männlichen und verlegenen Mitleid denken konnte, die Erinnerungen an die toten Kinder, das Spielzeug derselben und sonstige Hinterlassenschaften. Mrs. Almeida hatte alles aufbewahrt und behütete es wie eine neidische Löwin. Der dunkle Raum dort in der Mitte des Hauses brütete über eine Welt von entschwundenen Leiden, teuren und grausamen Erinnerungen. Es war so schwanger dort drinnen und so verlassen. Geckos raschelten an den Wänden und schlüpften unter die Decke der Veranda hinaus, wenn sie dort ein Insekt sahen. Hatte man seine Augen etwas an die Dunkelheit hinter den Jalousien gewöhnt, so konnte man im Hintergrund des Zimmers die Moskitonetze um das große Ehebett erkennen, Mrs. Almeidas Schmerzensbett, von dem die Netze wie von einer Bahre herabhingen und sich wie Spinngewebe in der heißen Luft bewegten. Wie öde, einem offenen Grabe gleich, sah es da drinnen aus!

Vor dieser Höhle, die von dem Nichts sprach, das die Zeit zurückläßt, lag Sussie draußen in dem vollen Licht der Veranda. Sie lag in ihrem Hemd und schwarzen Haar auf einem langen, geflochtenen Stuhl, eine feine Musselindecke über den Beinen. Die langen, bernsteingelben Arme lagen ihr ledig im Schoß und sie sah mit den warmen Sammetaugen, die von selbst lächelten, vor sich hin; als sie aber van Leers ansichtig wurde, lachte sie auch mit dem Mund und bekam dadurch den gierigen Ausdruck der Mutter. Seltsam genug, daß die Züge der Mutter sich bereits wie etwas Tragisches in ihr Mienenspiel mischten, obgleich sie noch ein Kind war.

Van Leer erfüllte seine Pflicht als Arzt und konstatierte, daß Sussie wirklich etwas Fieber habe. Der Puls war gespannt und ihre Wangen, die sonst denselben Ton hatten, wie die unsagbar feine Zwiebelfarbe des übrigen Gesichtes, waren leise gerötet. Die Augen schimmerten ein wenig heiß und hatten dunkle Schatten. Im übrigen schien sie nur müde zu sein, blieb liegen und sagte nicht viel. Dennoch war sie in einer seltsamen Unruhe, die sich darin äußerte, daß sie das eine Bein auf und niederwippte, auf und nieder, ein Zeichen, daß sie krank war. Nun ja, es war also ein ganz leichtes Fieber, van Leer schrieb eine Medizin auf ...

Als er aber vom Rezept aufblickte, bemerkte er, daß Mrs. Almeida ganz erstarrt war. Sie hielt ihren Blick auf die Tochter gerichtet, schweigend, ohne zu jammern, wie es sonst ihre Art war, aber ihr gefurchtes Gesicht stand in dem Ausdruck einer hoffnungslosen Verzweiflung still. So, da haben wir die Geschichte, dachte van Leer.

Als der Ausbruch aber nicht kam, wurde er unruhig. Was nun, wozu würde dies führen, was hatte sie vor? Er kannte ihre schreckliche Heftigkeit, dies aber war schlimmer. Van Leer sah Mrs. Almeida mit einem langen Blick an, indem er ihr das Rezept gab. Ihre Augen aber waren ganz erloschen und als sie wie gebrochen zum Geländer der Veranda ging und auf malayisch in den Garten hinunterrief, erschien sie ganz gefaßt. Ein chinesischer Kuli erschien und wurde mit dem Zettel zur Apotheke geschickt.

Dann wandte Mrs. Almeida sich um, strich sich mit der Hand über Nase und Mund, schnupfte geräuschvoll und blickte sich ganz fremd um, eine Bewegung, die van Leer als eine Eigenart bei Müttern kannte. Ja, sie schnupfte sich aus und blickte leer in alle Himmelsrichtungen, erst in die einen und dann in die anderen, wie jemand, der aufs Trockene gesetzt ist.

Van Leer hielt es für geraten, noch etwas zu verweilen und Mrs. Almeida zu trösten; diese Lähmung gefiel ihm nicht. Er sprach lange überzeugend von Sussies unbedeutendem Fieber, es war ja nichts anderes, er setzte auseinander, was selbst im schlimmsten Fall geschehen könne, er sprach und sprach, damit allein seine Stimme ihre Spannung lösen könne. Sie hatte angefangen auf der Veranda hin und herzugehen, noch immer stumm, die alten, knochigen Hände in die Seiten gestemmt, und van Leer folgte ihr, hin und her und sprach ihr zu. Plötzlich, als sie einmal am weitesten von Sussie entfernt waren, blieb sie stehen und flüsterte dem Doktor, mit Augen, die wie glühende Kohlen in ihren Höhlen lagen, ins Gesicht:

»So fing es mit den anderen auch an ....«

Ihre Worte endigten in einem heiseren Röcheln. Dann wandte sie sich von dem Doktor ab und ging wieder auf und nieder, die verschränkten Arme dicht an den Körper gepreßt.

Van Leer setzte sich und zog sein Zigarrenetui hervor. Er folgte Mrs. Almeida prüfend mit den Augen, wählte sich eine Zigarre, eine kleine, grüne Eheroots, und zündete sie an. Kurz darauf plauderten er und Sussie sehr friedlich miteinander. Er hatte neue Stiefel bekommen, die Sussie zu sehen wünschte, und er mußte seinen Fuß auf die Kante ihres Stuhles legen, damit sie sie recht genau betrachten konnte. Sie sah ihn so lieb mit ihren braunen, etwas heißen Augen an, war zufrieden mit ihm und ermahnte ihn, die feinen neuen Stiefel nicht für alltags zu tragen, sondern erst die alten aufzugebrauchen. Dann plauderte sie von seiner Uhrkette und von ihrem bösen Vater, der sie ganz ohne Grund gescholten hatte, aber nun würde er so schrecklich, so schrecklich weinen müssen, wenn sie stürbe und nie wiederkäme. Ob der Doktor nicht übrigens auch fände, daß sie bald ein langes Kleid haben und ins Theater gehen müsse, wie die anderen jungen Damen in Singapur! Und so plauderte sie bald von diesem, bald von jenem. Inzwischen betrachtete van Leer ihre kleinen dummen Hände, das einzige an ihr, das nicht rassig war, er folgte den Linien ihres jungen, schwellenden Körpers, in dem jetzt irgend ein Feuer den verborgenen Kreislauf des Blutes beschleunigte, er verfolgte wieder das unwillkürliche Wiegen ihres Beines, das von beunruhigten Nerven meldete, und zuletzt versank er in ein kopfschüttelndes Staunen über die Fülle der Natur und über ihre schreckliche Zwecklosigkeit, wobei er das Geplauder mit Sussie nur rein mechanisch fortsetzte.

Einige Schritte von ihnen entfernt war die Mutter stehen geblieben und betrachtete die beiden. Sie hatte ihre eine Hand unter die Wange gelegt, die Finger gruben sich in ihr eisgraues Haar und der Ellenbogen stemmte sich gegen das Herz, so stand sie und betrachtete die beiden voll tiefsten Schmerzes. Eine Woge arbeitete sich in ihrer Kehle empor, sie schluckte trocken, weinen konnte sie nicht. Die blutgeränderten Augen hatten keine Tranen mehr. Sie ging wieder auf und nieder, fing dann an zu sprechen, leise und kläglich wimmernd wie der wilde Wind. Ihre Stimme war unkenntlich. Van Leer sah hastig auf und wollte sich erheben, blieb aber zum Sprung bereit sitzen. Mrs. Almeida näherte sich ihnen, ging in einem Bogen um sie herum, schüttelte klagend den Kopf: »Wenn der graue Mann nun kommt und Sussie nimmt, dann hab' ich keines mehr, dann hat er mir alle meine Kinder genommen, denn sie ist das letzte, dann hab' ich gar keines mehr –«

Van Leer blickte zu Sussie hin und sah, daß sie der Mutter mit der Teilnahme eines Kindes folgte, gleichzeitig aber die Brauen hochzog, als ob sie etwas Langweiliges erwarte. Mrs. Almeida fuhr fort im Bogen um sie herumzugehen und ihre Klage, die sie monoton wiederholte, sank zu einem wehmütigen Geflüster herab. Dann warf sie den grauen Kopf zurück, als wehre sie sich gegen ein Insekt, das ihr ins Ohr kriechen wollte; es kam ein gewisses fremdes Leben in ihr verzerrtes Gesicht, sie faßte sich, aber war nicht wie sonst.

 

Und dann fing sie an zu erzählen. Erst ruhig, nach und nach aber steigerte sie sich und entfaltete eine Schicht von Leidenschaften und wilden Kräften nach der anderen in einem Auftritt, der Himmel und Erde zum Beben brachte.

Sie erzählte singend von vergangenen Jahren, als sie als fröhliche Ladenmamsell in einem gentilen Blumengeschäft in London angestellt und das Märchen in Gestalt des »bildschönen« Südländers, der Gärtnerei studierte und allen Mädchen des Stadtviertels die Köpfe verdrehte, zu ihr gekommen war. Ach, aber er hatte sie, ja, Mylord, einzig und allein sie hatte er auf die Adlerschwingen seiner Liebe Macht gehoben (Mrs. Almeidas eigene Worte) um sie mit sich in seine Heimat unter Palmen in dem ewigen Süden zu führen. Gott ja, sie waren in einer Droschke zum Hafen gefahren, später aber hatte Mrs. Almeida vier Monate totkrank in einem knarrenden, von Ratten heimgesuchten Segelschiff gelegen, bis sie den Osten erreichten. Hier hatte es sich dann gezeigt, daß der Bildschöne von portugiesischem Adel ein half-cast war, der mehrere Meilen unter dem Niveau der weißen Gesellschaft stand, dafür aber ein braver und treuer Gatte war, der seine Frau auf Händen getragen und nie vergessen hatte, daß sie von besserer Herkunft war als er, yes Mylord, und hier hatte die Reihe ihrer Geburten begonnen – hier war sie die ersten Male von einer farbigen Hebamme entbunden worden, merken Sie wohl, sie, eine weiße Frau, eine Engländerin! Später, als sie wohlhabend geworden waren, hatte Mr. Almeida eine weiße Hebamme aus dem englischen Hospital geholt. Sie selbst aber hatte all die Jahre wie eine Ausgestoßene gelebt, ohne Hoffnung jemals wieder nach England zu kommen, ohne eine Freundin, ohne ein einziges Mal bei ihresgleichen Besuch gemacht zu haben, immer allein, nie ein anderes Kleidungsstück auf dem Leibe wie dieses ewige Tropenkostüm, immer in Futterbarchent von oben bis unten wie ein Baby, dreißig Jahre lang, ohne jemals weiße Gesellschaft bei sich gesehen zu haben – das aber hatte sie dem Gesindel von europäischen Madams in Singapur, die sie nicht anerkennen wollten, gezeigt, daß alle ihre Kinder ein anständiges Begräbnis bekommen hatten, hören Sie, alle ihre Kinder lagen auf dem englischen Kirchhof, einerlei was es kostete, William und Mabel, Athelstan, Tankred, Evelyn und der kleine Charles, sie alle lagen zusammen in einem anständigen Familiengrab mit Namen und Grabsprüchen auf Marmor! He?

Mrs. Almeida hatte sich auf dem Gipfelpunkt einer herausfordernden Stimmung befunden, wobei sie sich kriegerisch auf die Brust schlug und van Leer ziemlich unheilverkündend auf den Leib rückte, jetzt aber schwand der rohe Klang aus ihrer Stimme, und sie begann still von den Kindern zu erzählen, sie lächelte, faßte unendlich behutsam mit den Händen durch die Luft, daß sich eine ganze Schar von unsichtbaren Lockenköpfen um sie herum zu bilden schien.

Ach, sie waren alle so süß gewesen, so süß und so klug. Mrs. Almeida wurde selbst wie ein kleines Kinderwesen im Gesicht, von dem frohen Licht des Lebens geblendet, und es kam etwas Törichtes und Kindliches über ihre bedauernswerte Gestalt, während sie mit von Schmerz erstickter Stimme, verwundet, von Gram gebrochen und doch wie ein Spiegel der ersten Süßigkeit des Daseins, in den Erzählungen von den Kleinen aufging. Es war, als ob sie näherrückten, ganz nah seien, ihre Stimmen waren eben noch erklungen; ihre kleinen Kinder, die allesamt schon lange zu Erde in der Erde geworden waren, veränderten sich nie, waren immer gegenwärtig. Sie lachte vor Glück, indem sie sie wieder leibhaftig vor sich sah und ihre kleine Sprache nachahmte, sie spielte eine ganze Komödie, innig und hoffnungslos, war gleichzeitig Kind und Mutter, funkelte vor Leben, Gerührtheit und Schmerz, vergaß alles in der Welt außer die Kleinen, die noch in dem Augenblick ihrer Liebe ein Leben führten. Sie beugte sich nieder und deutete mit der Hand überm Fußboden an, wie groß sie gewesen seien, sie ahmte ihre Bewegungen nach, zauberte sie aus ihrem blutenden Mutterwesen hervor, so daß man sie fast sah. Standen sie nicht alle, Hand in Hand, wie eine stumme Schar in der dunklen Schlafkammer? Raschelte es nicht da drinnen wie von kleinen Füßen auf den Grasmatten?

Sie geriet in Entzücken über einzig dastehende Fähigkeiten, die die Kleinen an den Tag gelegt hatten, und als ihre Redegaben hier nicht ausreichten, eilte sie hinein und holte frische Beweise, Athelstans Tafel, auf der er noch wie vor kurzem mystische Zeichen gemalt hatte, Athelstan, der seit siebzehn Jahren tot war. Sie zeigte voll heiseren Triumphes das Wunderwerk der kleinen Evelyn, einen Stern, aus den Papieren zusammengelegt, woraus sie ihre letzten Pulver bekommen hatte, sie brachte Puppen herbei, deren Gesichter vom sorglosen Umherschleppen auf der Erde, mit dem Kopf nach unten, zerkratzt waren, Tankreds Peitsche, Kleidungsstücke der Kinder, Photographien von ihnen, einige waren Aufnahmen von den kleinen Leichen im Sarg, so schnell war es gegangen, sie spann sich dichter und dichter in die grausamen Erinnerungen ein, bis ihr Herz wild flatterte und hohle Laute ihr aus der Kehle drangen.

Schließlich konnte sie ihr Elend nicht mehr ertragen. Aber sie schrie nicht, stand nur tränenlos da und wurde grau wie Asche im Gesicht, während ein neues, unheimliches Verstehen in ihren eingesunkenen Augen entzündet wurde. Sie sah in Gegenden, wohin kein anderer sehen konnte, sie begann auf eine andere Weise als früher umherzugehen, und die Atemzüge kamen ihr tief und hörbar durch die Nase.

Van Leer sah beklommen zu Sussie hin. Sie aber lag ganz unberührt da, die langen, biegsamen Arme im Schoß, nur den Mund verzog sie etwas geniert. Im übrigen aber betrachtete sie die Mutter mit Kälte, wie es schien, war es ihr nicht neu, sie so außer sich zu sehen. Van Leer wandte dann wieder Mrs. Almeida seine ganze Aufmerksamkeit zu.

Sie hatte ihren Schmerz hinuntergeschluckt und man konnte sehen, wie sie nickte und sich abhärtete, wie der Haß sie stählte, und als sie wieder sprach, war ihr Tonfall simpel und kriegerisch:

»Jawohl, der graue Mann hat mich um das ganze Nest bestohlen. Yes Mylord, und ich hab's Nachsehen!«

Sie blieb vor van Leer stehen und sah ihn fremd an, feindlich, bis ein neuer Erinnerungssturm sie wieder vorwärtstrieb, und schließlich kam die unheimliche Geschichte, die ihre wilde Einbildungskraft sich hatte schaffen müssen, damit sie nicht um ihren Verstand käme. Sie erzählte zu Anfang trocken, mit Beschwer, später aber mit der ganzen barbarischen Hingebung des Entsetzens. Wie der graue Mann zum ersten Mal in dem Jahre zu ihr gekommen sei, als ihr Mann drüben in Borneo gewesen war, um neue Arten Orchideen zu sammeln.

Ob es nicht hart gewesen sei, daß er monatelang fortreiste und sie als einsame Frau mit den Kindern im Hause zurückließ? Sie rang ihre Hände beim Gedanken daran. Ja, es war grausam hart gewesen, mehr als ein Weib ertragen konnte. Aber sie waren damals arm, und Mr. Almeida wollte sich emporarbeiten. Darum machte er diese Expedition und kam mit Orchideen für dreißigtausend Dollars zurück, aber dabei hatten die Dajaken auch so lange Jagd auf seinen armen Kopf gemacht, daß er mit ganz ergrautem Haar nach Hause zurückkehrte. Als er fortreiste, hatte Mrs. Almeida ihm übrigens ein neues Tau mitgegeben und ihn gebeten, es ihretwegen immer zu tragen. Er wollte es zuerst nicht, hätte außerdem schon genug zu schleppen, wenn er in die wilden Urwälder käme, sie aber hatte ihn als Frau und Mutter beschworen, und siehe da, gerade das Tau rettete ihm das Leben. Ja, ja, es war eine Gelegenheit gekommen, wo nichts anderes ihn retten konnte als das Tau, das seine dumme Frau ihm aufgebürdet hatte, jawohl!

Inzwischen saß sie mit ihren zwei kleinen Kindern allein zu Hause. Eines Nachts versuchte eine Bande Eingeborener im Hause einzubrechen, sie sah Messer zwischen den Ritzen der Fensterläden, sie aber feuerte einen Schuß Hagel auf sie ab und fegte am nächsten Morgen das Blut von der Veranda fort. Eines Abends wurde sie von einem der farbigen Arbeitsmänner im Garten in mörderischer Absicht überfallen, sie prügelte ihn mit einer schweren Messingspritze aus dem Felde; damals war sie jung und stark wie eine Eselin, jetzt war nichts anderes von ihr übrig geblieben als das herrliche Eselsgeschrei, das ihr in die Kehle stieg, wenn sie ihrer Großtaten gedachte. Sie fluchte beim Gedanken an die Schlägerei, vergaß sich ganz und stieß einige ziemlich profane Schimpfworte gegen alle Welt hervor, bei Gott, sie hatte die farbigen Weibsbilder im Garten gezüchtigt! Da aber wurden beide Kinder krank. Anfangs war es nur ein wenig Fieber.

Mrs. Almeida sah sich scheu um, schien ihre Augen aber auf nichts Bestimmtes zu heften, sondern spähte nur durch die leere Luft.

In der Nacht zum dritten Tage nachdem William und Mabel krank geworden waren, kam der graue Mann. Er war gekommen, sie wußte nicht woher, und stand über die Kleinen gebeugt, und sie glaubte, es sei ein Bramine oder ein Fakir, der sich Zutritt zum Hause verschafft hatte. Er entwich, als sie sich auf ihn stürzen wollte, entwich wie die Dunkelheit zwischen ihren Händen. Am nächsten Tage starben William und Mabel fast gleichzeitig in ihren Armen. Und als Mr. Almeida nach Hause kam, war sie kinderlos.

Sie hüstelte röchelnd und griff sich in das graue Haar. Der ganze Körper fing an zu zittern, sie schielte mit den blauen, verloschenen Augen, fuhr aber fort zu erzählen:

Das zweite Mal als der Bramine, oder wer es nun war, kam, hatte er es auf Athelstan abgesehen. Einige Jahre später holte er Tankred und Charles. Zuletzt nahm er die kleine Evelyn. Aber damals hatte er einen Kampf mit Mrs. Almeida bestehen müssen!

Sie sammelte sich, um davon zu erzählen, griff sich an die Brust und in die Seiten, und van Leer merkte, daß jetzt das Unwetter und die Befreiung nahe seien. Er bewegte seine feuchten Hände und betrachtete dieselben um sich zu beherrschen, er konnte die Spannung fast nicht länger ertragen. Er suchte mechanisch in seinem Etui nach einer passenden Zigarre, klappte es aber wieder zu und atmete nervös durch die Nase, während er Mrs. Almeida unverwandt betrachtete.

Auch damals als Evelyn krank wurde, war Mr. Almeida auf Reisen gewesen, oben in Burma und Himalaja, um Pflanzen zu suchen, und Mrs. Almeida war allein zu Hause. Da, eines Tages legt das kleine Mädchen ihren Kopf auf das Knie der Mutter und sagt, daß sie müde ist und ins Bettchen will, obgleich es noch viel zu zeitig ist. Am nächsten Morgen hat sie Fieber. Sie bekommt Medizin und liegt mit glühenden Backen da und spielt so herrlich und legt so geschickt Papier zusammen.

Hier beugt Mrs. Almeida sich vornüber und knurrt wie ein Schaf, das geschlachtet werden soll, sie kann keine Luft bekommen. Schließlich hebt sie den Kopf und beginnt zu klagen, sie jammert mit Beschwer, trocken im Halse und die Augen voll blutigen Feuers. Die ganze ausgezehrte Gestalt wird von einem Schluchzen gerüttelt, in dem keine Linderung ist. Denn sie ist ausgeweint, hat keine Tränen mehr. Aber noch macht das Weinen alle Bewegungen in ihrem armen, verheerten Körper, es ist wie ein leerer Krampf, ohne daß ihr die erlösenden Tränen kommen. Schließlich faßt sie sich und erzählt zerschmettert weiter:

Sie hatte ja dann gewacht und gewacht, damit der graue Mann nicht ins Haus kommen konnte. In der Nacht zum vierten Tage sah sie, daß Evelyns Züge schlaff wurden, der kleine Körper war durchgebrannt. Da fühlte sie, daß der graue Mann draußen vor den Fenstern ging.

Mrs. Almeida reckte sich hoch empor und atmete geräuschvoll durch die Nase, das graue Haar stand ihr zu Kopfe. Dann duckte sie sich, lief hierhin und dorthin, und den Rest erzählte sie laut schreiend, sie schüttelte ihre Haare, schäumte, regierte mit Armen und Beinen.

Der graue Mann wollte sich hereinschleichen, und sie zeigte, wie sie da mit einer Eisenstange aufs Fenster losgestürzt sei und ihn zu Schanden geschlagen habe.

Ja!« schrie sie außer sich und hieb mit einer eingebildeten Stange durch die Luft. »Ja! Ich hab' ihm das Fell gegerbt, ich prügelte ihn grün und blau! Ich wollte ihn totschlagen

Sie endigte mit einem Gebrüll und rannte davon, nicht wie ein Weib, sondern wie ein flatterndes Bündel, sie galoppierte ins Schlafzimmer und schrie alles heraus und zeigte alles, als ob sich das Ganze erst jetzt abspielte. Sie zeigt, wie der graue Mann um das Haus herumgeht und an einer andern Stelle durch die Jalousien hereinzukommen versucht, aber auch hier schlägt sie den Angriff mit der Eisenstange zurück. Im nächsten Augenblick fühlt sie, daß er im Begriff ist, sich hinter ihrem Rücken von der entgegengesetzten Seite hereinzuschleichen, und sie stürmt dorthin und läßt fürchterliche Schläge durch die Luft regnen – dann merkt sie ihn draußen auf der Veranda, und wie eine wütende Kuh bricht sie durch die Rohrjalousien, schlägt mit ihrer eingebildeten Stange auf van Leer los, dringt ihm dicht auf den Leib und schreit ihm mit blitzenden Augen ins Gesicht, und dann stürzt sie wieder ins Zimmer und verteidigt den Eingang, wendet sich in alle Richtungen auf einmal, stemmt sich allem entgegen, wehrt sich mit einem Regen von Schlägen, die sie mit beiden Händen führt, sie droht und brüllt, bis die senile Stimme in ein ersticktes, stöhnendes Heulen übergeht und nach und nach hinstirbt.

Schließlich aber, nachdem sie nicht mehr an allen Orten auf einmal sein kann, flüchtet sie in die Mitte des Zimmers und steht da nach Luft schnappend und dreht sich um sich selbst herum und versucht zu schlagen und wehrt sich mit den Handflächen gegen die Tür, gegen die Ecken, gegen Decke und Fußboden und sie bewegt die Lippen, fleht so inständig, ohne Laut ... bis ihre Arme endlich wie zerschmettert herabsinken und sie in einem lauten, schneidenden Schrei Luft bekommt.

 

Mrs Almeida schleppte sich aus dem dunklen, glutheißen Schlafzimmer. Es war vorbei. Sie war entkräftet. Ihr Blick aber war jetzt vernünftig, unendlich kummervoll, aber gefaßt, sie sah ihre Umgebung wieder.

Bei dem letzten Teil des erschütternden Auftrittes war Mr. Almeida nach Hause gekommen und hatte mit einem stummen Gruß für van Leer, ganz ruhig in einem Korbstuhl Platz genommen – bis Mrs. Almeida fertig war. Und van Leer wußte nicht, was ihm mehr durch Mark und Bein ging, die Leiden der unglücklichen Frau oder die Gemütsruhe, mit der Almeida, der keineswegs ein Herz von Stein hatte, die Szene aufnahm. Jetzt erst wurde es van Leer durch Almeidas Schulterbewegung und seine sorgsam gefaßte Miene klar, daß dieses Schauspiel nichts Neues für ihn war, er hatte es schon so oft mit genau denselben Einzelheiten erlebt, daß es nichts anderes als seine Geduld herausforderte.

Sussie war eingeschlafen! Van Leer wählte mit Sorgfalt eine Zigarre aus seinem Etui und zündete sie an.

Später am Nachmittage, kurz bevor die Dämmerung hereinbrach, saßen Almeida, van Leer und de Braganza draußen auf der Veranda und spielten Karten. Mrs. Almeida hatte sich im Schlafzimmer zur Ruh gelegt, nachdem sie dem Doktor das Versprechen abgenommen hatte, daß er bis zum Abend bleiben und Sussies Fieber messen wollte. Man konnte sie drinnen Hinterm Moskitonetz im Schlaf röcheln und hin und wieder jämmerlich bellen hören, aber sich schlief wie Blei und würde gewiß voller Gleichgewicht erwachen.

Drunten im Garten begann die Dunkelheit zwischen den Bäumen emporzusteigen und sich mit dem breiigen Dunst zwischen den Gebüschen zu verweben. Kurz darauf lag der Garten in völliger Dunkelheit da und die Zikaden verstärkten ihre heiße Musik. Aber lange nachdem die Dunkelheit den Garten eingehüllt hatte, fuhr die schwindelnd hohe Krone des Riesenbaumes noch fort, sonnenbeschienen in den tiefen Abendhimmel hineinzuragen. Ein großer, fremder Vogel machte dort oben auf seiner Reise Rast, saß mit dem Kopf gen Westen gewandt, die Federn von dem späten, roten Schein in den Höhen vergoldet. Schließlich flog er davon, und kurz darauf war auch die Krone des Baumes in eine Dämmerung eingehüllt, die sich von fliegenden Hunden bewegte, bis auch sie sich mit der Dunkelheit verband.

In weiter Ferne, über Sumatra, erhellte sich der Horizont von den Blitzen eines Gewitters, das so fern war, daß man nicht den geringsten Laut des Donners zu hören vermochte, nur hin und wieder zeichnete sich in der Ferne eine bleiche Ader am Himmel ab, wie ein mystischer Baum von Feuer, der bis in die feinsten Einzelheiten geformt, aber von unfaßbar kurzer Lebensdauer war; dieses lautlose Spiel machte die Dunkelheit auf Erden noch tiefer. Statt aller nahen Dinge aber, die jetzt untergingen, wurde das Süderkreuz an dem veilchenblauen, nebligen Himmel entzündet.

Die Zikaden im Garten feilten glühender. Der Bullockfrosch rief mit tiefen Lauten aus dem Morast, wo er wie ein Wesen saß, das vor Wärme berstete, es überlebte und wieder berstete.

Und die Tropennacht senkte sich herab, nicht mit Kühle oder Dunkelheit, die Frieden spendeten, sondern als ob noch ein Ofen geöffnet würde, ein schonungsloses Weiterarbeiten von Wärme und Dunkelheit, nachdem die Sonne ihre Schuldigkeit getan hatte.

Wer nun etwas Kühles hätte, gegen das er sein Haupt lehnen könnte! War da nicht ein Mädchen mit einer immer kühlen Haut, das imstande wäre, einem die Vorstellung vom Norden und von der Barmherzigkeit des Todes zu verkörpern!

 

Die Kartenspieler bekamen eine Lampe auf den Tisch und spielten weiter, während sie sich gegen große Motten und Schwärmer wehrten, die vom Licht angezogen wurden. Sie spielten Whist. De Braganza spielte seine Karten mit bebendem Herzen aus, seine Seele schwoll vor Glück bei dem bloßen Gedanken, daß er hier leibhaftig saß und an noblem Kartenspiel teilnahm, er zählte alle Nummerkarten, meldete Pas wie in einer Kirche und war zu keinem Lächeln zu bewegen. Es belustigte Almeida den empfindlichen Mischling zu reizen, indem er ihn unzeremoniell anredete oder behauptete, daß er beschummele, dann erhob Braganza sich gekränkt und verteidigte seine Ehre mit den korrektesten Ausdrücken, sagte, daß seine Ehre verletzt sei und daß dieser Fleck abgewaschen werden müsse ...

»Spiel aus, Dummkopf,« sagte Almeida, und Braganza setzte sich mit verstörten Augen hin und zählte von neuem seine Nummerkarten. Almeida genoß ihn, ohne zu lachen, und dann ging das Spiel weiter.

Sussie lag hinter dem Rücken ihres Vaters auf ihrem Korbstuhl ausgestreckt und sah mit schwarzen, verschleierten Augen zu. Sie hatte geschlafen und war wieder ganz wohl. Van Leer hatte ihr Gesicht gerade vor sich und konnte nicht umhin ab und zu von seinen Karten aufzusehen, um den schönen Kopf zu studieren. Die gleichtönige, schwachfarbige Blässe ihrer Wangen war zurückgekehrt, die Augen blickten klar, die feinen Züge aber halten ein neues, seltsames Schwellen bekommen, was dunkel davon erzählte, daß sie wieder gewachsen und eine andere geworden sei als vor zwei Stunden, reicher, mehr Weib ... und plötzlich geschah etwas, das van Leer fast mit Entsetzen ahnen ließ, daß sie wohl nicht einmal krank gewesen, sondern daß das Leben ihr im Gegenteil gesünder, reifer ins Blut getreten und daß das ganze »Fieber« nichts anderes gewesen sei.

Was geschah war, daß Sussie, als van Leer sie einmal betrachtete, seinen Blick festhielt, indem sie ihre Augen aufriß, so weit, daß das bläuliche Weiß wie ein Ring um die dunkle Iris herum zu sehen war. Und während ein bebendes Lächeln um ihre Lippen spielte, streckte sie ihm langsam die bernsteingelben Arme hinter dem Rücken des Vaters entgegen, preßte die kleinen, dummen Hände fest zusammen und öffnete sie wieder. Noch ein Zug kam hinzu, eine ihr vollkommen unbewußte Gebärde, die den Holländer schwindeln machte.

Es war nur ein Augenblick. Van Leer hatte ihre Zähne gesehen und das Loch in der vorderen Reihe, das einer winzigkleinen Tür glich. Wie oft hatte er schon gemeint, in die Hölle steigen zu können, um es zu küssen! Mit der tiefsten Kraft seiner eigenen Natur stellte er sich den Durchbruch bei einem jungen Weibe vor, wurde davon angesteckt und es schwindelte ihm bei der explosiven Vorstellung, wie es wäre, wenn er seine geblendeten Augen in ihrem schwarzen Haar baden könnte.

Aber dieser heiße Augenblick – während er es unten in der tropischen Dunkelheit des Gartens zwischen den Pflanzen von Wachstum kochen und die Tiere drüben in der Wildnis erstickt in ihren Käfigen singen hörte – der fast übermächtige Impuls des Augenblicks wurde von dem ebenso starken Eindruck unterbrochen, wie sehr das junge Mädchen ihrer Mutter glich! Ihr Lächeln war bereits von dem tragischen Nichts erfüllt, das die Mutter gebrochen hatte, der Ausdruck in den weitaufgerissenen Augen konnte ebensogut Entsetzen, wie ein Entzücken bedeuten, das sie eben erst zu ahnen begann. Die Mutter, dasselbe noch einmal, dieselbe Fruchtbarkeit, dieselbe Qual von neuem geschürt!

Van Leer saß eine halbe Sekunde total abwesend mit seinen Karten in der Hand, ohne etwas zu sehen. Als er aber wieder zu sich kam, hatte sich ihm selbst unbewußt, in seinem Innern das Sonderbare vollzogen, daß der heftige Eindruck von Sussies Schönheit nur das Heimweh verstärkte, das er bereits nach Holland gefühlt hatte. Nun wußte er, daß er nach Hause wollte.

Das Spiel ging weiter, als ob nichts geschehen sei. Der Doktor war in Gedanken versunken gewesen und hatte sich wieder daraus herausgerissen.

Indem sein Blick aber de Braganza streifte, entdeckte er zu seiner Überraschung, daß der sonst so artige Mann mit den törichten Augen ihn mit tiefstem Haß wie eine hungrige Hyäne anstarrte. Er schlug natürlich sofort die Augen nieder, aber van Leer hatte doch Zeit gehabt in die Notdurft des Halbportugiesen hineinzublicken. Hoho, de Braganza hatte ganz im geheimen seine Augen auf die Gärtnerstochter geworfen, und der Ärmste hatte sowohl Sussies Verführungsgesten wie van Leers momentane Betäubung gesehen! Das mochte wohl eine bittere Pille für den Mischling gewesen sein.

Dan Leer fühlte, daß der schwangere Augenblick auch über de Braganzas Schicksal entschieden hatte. Hier war alles für einen »Roman« zurechtgelegt, Almeidas Garten, de Braganza und Sussie ... hoho ... habeat!

Nicht wahr – es wäre eine Schande, sich seine hohe Abstammung, ein reines Privilegium, zunutze zu machen, um den armen Negersklaven auszustechen! Wenn der Holländer auch in mancher Beziehung nur ein schwacher Mensch war, auf Kosten anderer sich bereichern, das tat er nicht.

Der Bullockfrosch berstete drunten im Garten wieder vor Wärme ...

Van Leer wählte sich eine reelle holländische Zigarre in seinem Etui, sah Sussie an – wußte, daß er sie niemals vergessen würde – und zündete sie an.


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