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Der Sünder in dieser Erzählung ging seines Namens verlustig, deshalb soll er auch hier nicht verraten werden. Seine Nationalität tut ebensowenig zur Sache; niemand fragte danach. Nur weil er der Orientierung wegen einen Namen haben muß, mag er Richard heißen; die Gesellschaftsklasse, in die er sich verlor, war übrigens auch die fröhliche und gefährliche Unterwelt der Vornamen. Sein Charakter wird in dieser unbeschönigten Alltagsgeschichte, die sich in Singapur zugetragen hat, nackt, wie am Tage des Gerichtes, für sich selbst sprechen.
Wenn man seine Kaste beschreibt, beschreibt man ihn selbst, ohne ihm zu nahe zu treten; er war Steuermann. Er kam in Singapur auf reguläre Weise an Land, und von dort sollte er an Bord eines anderen Schiffes, das nach Übersee ging. Auf dem Kontor der Gesellschaft, wo er sich prunklos und mit barschen Manieren vorstellte, wie es einem Seemann geziemt, teilte man ihm mit, daß sein Schiff nicht vor acht Tagen fällig sei; inzwischen bekam er ein Hotel angewiesen und Kostgeld, und durfte im übrigen Luft sein, bis man ihn nötig hatte. Also stand Richard vor einer Woche Urlaub, der längsten Ferienzeit, die sein Leben ihm gebracht hatte, seit er erwachsen war. Während der ersten zwei Tage ertrug er sie wie ein braver Mann, am dritten grämte er sich vor Langeweile wie ein kranker Hund, und am vierten grub er zähneknirschend den Tomahawk aus, ging auf den Bummel und beschwor den großen Brandsturm in Singapur herauf.
Die Stadt beleidigte ihn. Daß das vornehme Viertel, die Direktoren und Kaufleute, die im Verein mit den britischen Spitzen in der Kolonie society spielten – daß dieser Ring sich keineswegs für eine Person seines dienenden Standes öffnete, wußte Richard; er fand es sogar im Grunde seines Herzens recht natürlich, obgleich er Klassenhochmut mit blutunterlaufener Verachtung erwiderte. Diese beinah hochwohlgeborenen Schiffsequipierungshändler, die sich in angelernter Selbstachtung bei dreißig Grad Wärme zum Mittagessen in ihren Frack warfen, konnten ihm gewogen bleiben, Richard spottete ihrer, er konnte sie als einfacher Seemann entbehren: gehaben Sie sich wohl, meine Herren! Die Nächstbesten aus der weißen Gesellschaft, die jungen Klerks und Kontoristen, nahmen ihn zur Not unter sich auf, aber von diesen zog Richard sich zurück, nachdem er einen Abend mit ein paar von ihnen verbracht hatte. Sie reizten ihn, er konnte sich nicht enthalten, vor Hohn und Mitleid über ihre weichen Hände und ihre ganze Kraftlosigkeit den Kopf zu schütteln – Milchreis! Einige von ihnen kopierten das geldfürstliche Wesen ihrer Chefs: halb Verkäuferzuvorkommenheit und halb alberne Herablassung; andere spielten sich mit gemeinen und schmutzigen Reden als Schwerenöter auf. Keins von beiden behagte Richard. Was ihn aber am meisten quälte, war das endlose und entzückte Gerede der Europäer über die Fremdartigkeit der Stadt: Singapur, Singapur, die Tropen und die farbigen Rassen, alle diese Wunder, von denen niemand etwas hören mochte, die aber jedermann wie herrliche Privateigentümer auftischte, – stundenlang konnten sie dasitzen und sich gegenseitig das Wort aus dem Munde nehmen. Nicht daß Richard ein kultivierter Mensch gewesen wäre, aber er lebte auf Reisen sein eigenes Leben und konnte lokales Gerede bis in den Tod nicht leiden. Wie seine Augen nun einmal veranlagt waren, hatte er sich einen Tag lang im Rickschaw umherfahren lassen und sich davon überzeugt, daß Singapur eine Stadt war, ähnlich wie alle anderen Städte der Welt. Es war hier um ein paar Grade wärmer als daheim, die Bäume waren von anderer Art, die Neger von abweichender Färbung und einige liefen als Pferde vor den Droschken; das war wohl nicht so schwer zu begreifen. Richard war ein junger Mann, der Sinn für alles Gleichartige in der Welt hatte, und so hatte er auch sein Singapur schnell gefunden. Leider langweilte er sich ebenso prompt.
Langeweile greift Leute, die nicht gelernt haben, allein zu sein, wie eine körperliche Krankheit an. Richard langweilte sich, bis sich etwas in seinem Inneren wie zu einem Geschwür zusammenzog. Sein Blut war mit Flüchen zerfetzt, seine Seele war eine große Verwünschung, er bekam vor Verzweiflung fast die Maulsperre. Wenn er nicht wie ein Unseliger im Rickschaw durch die Straßen streifte, die ihm bereits in zwei Tagen so verhaßt geworden waren wie ein Gefängnis, lag er zu Hause im Hotel und gähnte, als wolle er seine Eingeweide erbrechen. Das Zimmer, das man ihm angewiesen hatte, lag im Parterre, zum Hof hinaus – zweiter Güte: gut genug für einen Steuermann –, und Richard pflegte sich draußen auf der Veranda auf einem langen Rohrstuhl zu strecken, mit leeren Händen, ohne Beschäftigung, nur darein vertieft, seinen Gram in sich hinein zu fressen. Zu den Speisezeiten schleppte er sich ins Zimmer und schimpfte über das ausländische Essen, von dem Punka über seinem Kopf in Wut versetzt und fast über seine Kraft dazu gereizt, die chinesischen Kellner, die auf Filzschuhen umherschlichen, mit weibischen Zöpfen im Nacken, kurz und klein zu schlagen. Wenn er nicht weiteressen konnte, schlenderte er wieder zu seinem Lehnstuhl und faulenzte in der schwülen Luft, mit halbgeschlossenen, kranken Augen, während er voll verbissener Wut nach den Moskitos schlug.
Einige Schritte von ihm entfernt, vor der Veranda des Nebenzimmers, lag ein anderer von den Hotelgästen, ein Mischblutkaufmann aus Batavia, halb Holländer und halb Javaner; und diese Nachbarschaft bildete den Gipfel von Richards Qualen. Der Handelsmann lag im Kostüm der Eingeborenen auf seinem Rohrstuhl, in Singel und Baumwollrock, den einen fetten Fuß immer nackt in die Luft gestreckt, während er mit beleidigender Gemütsruhe sein Fett ausruhen ließ und durch das bloße Atmen Wohlbehagen einzusaugen schien. Er war träger als ein Mastschwein und trotzdem immer beschäftigt. Er hob seinen unverschämt üppigen Körper nie auch nur um eines Zolles Breite vom Stuhl, aber trotzdem handelte er mit Leuten, die untertänigst herankamen und sich vor ihn auf den Fußboden hockten, um Geschäfte zu machen. Es waren Leute von allen möglichen halben oder gemischten Farben: Chinesen, Hindus, Tamilen, Armenier, Perser, das ganze bunte Asien; aber wer es auch war, der Holländer mit dem Malaienmerkmal in den Augenwinkeln und auf den Lippen verfiel unweigerlich in eines jeden Landessprache und erlaubte niemand, holländisch zu sprechen; er kannte alle Sprachen, die es östlich vom Roten Meer gibt. Die Kunden verließen ihn oft weinend, so hart war er im Handel, aber sie kamen stets von selbst, vielleicht gab es immer noch welche, die hofften, daß er ihrer Sprache nicht mächtig sein würde.
Wenn der Holländer keinen Besuch hatte, konversierte er mit dem Steuermann – in dessen Sprache natürlich – und war nicht zum Schweigen zu bringen, obgleich Richard ihn wahrhaftig grob genug abfahren ließ. Er schien für Unhöflichkeit kein Gefühl zu haben, seine Haut schien für eine andere Art Stichelei gemacht zu sein. Ebensowenig kam der Handelsgeist in ihm zur Ruhe. Bald zog er, Gott weiß woher, den Balg eines Paradiesvogels hervor und ließ ihn vor Richards Augen schillern, oder ein Edelstein zeigte sich plötzlich in seiner fetten, grauen Hand, während er beständig auf dem Rücken lag: ein schöner Opal, ein wahrer Gelegenheitskauf; und er fand, daß der »Herr Kapitän« ihn für sein Liebchen kaufen solle. Richard forderte ihn mit den kräftigsten Hilfsmitteln seiner Sprache auf, ihn in Ruhe zu lassen; das tat dem Batavier nicht weiter weh, und er schlug ein neues Thema an. Als echter Orientale meinte er den barschen Fremden milder zu stimmen, wenn er ihn in ein Kennergespräch über die Liebe verwickelte, er lachte mit seiner fetten Stimme und erzählte gräßliche Geschichten, er öffnete die stinkenden Mistbeete seiner Erfahrungen; und hier wunderte es ihn wirklich, daß er abgewiesen wurde, da dieses Thema, seiner Meinung nach, außerhalb des Friedens eines jeden Privatlebens lag. Ja, ja, mochte der »Herr Kapitän« seinerseits auch ein Buch mit sieben Siegeln bleiben, so konnte ihm doch nicht verwehrt werden, von sich selbst zu erzählen; und das tat er. Dieses strotzende Schwein von einem Batavier ließ sich jeden Abend in die Freudenhäuser von Singapur tragen; der Kerl wußte Bescheid. Wenn aber der Steuermann durch diese Mitteilsamkeit gar zu sehr angeekelt wurde und ihn durch Drohungen dazu bewog, aufzuhören, dann konnte er auch von anderen Dingen reden, von allerhand Dingen; nur schweigen konnte er nicht. In allem, was er sagte, lag das unermüdliche Verlangen des Mischlings, sich mit dem weißen Mann intim zu machen; das schien das einzige Streben zu sein, das dieser fette Körper beherbergte, und die rohen Beleidigungen, mit denen Richard nicht sparte, konnten ihn nicht zurückstoßen; er wollte den Europäer kennen, wollte sich in seiner Gesellschaft sonnen.
Richard haßte ihn und sein Phlegma, das ihm seine eigene innere Unseligkeit noch fühlbarer machte.
Im diametralen Gegensatz zu dem Batavier war in ihm jegliche Initiative gelähmt, dafür fühlte er sich, fleischig wie er war, mit Impulsen geladen, und die Spannung in ihm war wie ein glimmendes Feuer. Wie ein Meteor, das, in seiner Fahrt unterbrochen, in Brand gerät, so war dieser beschäftigungslose Steuermann im Begriff, vor Selbstvergiftung zu platzen. Man konnte es ihm ansehen, das Blut kochte ihm aus seiner total ungefärbten Haut heraus, er war rot wie ein Krebs, das goldblonde Haar und der feuerrote Bart waren gleichsam von boshaftem Knistern erfüllt, und die zornigen blauen Augen sprengten sich in Todesverachtung aus ihren Höhlen heraus. Unser Seemann war nahe daran, aus Mangel an Anstrengung apoplektisch zu werden.
So kam es, daß Richard durch einen Boy eine Reihe von häßlichen Flaschen vor dem Rohrstuhl aufmarschieren ließ und daß er den Batavier mit einer stummen Handbewegung dazu einlud. Zur Sache, Gentlemen, laßt uns unseren Gram ertränken! Aber der Batavier trank nicht. Er schüttelte den Kopf, äußerte aber kein intolerantes Urteil, schüttelte nur den Kopf. Da schlug Richard eine grimmige Lache auf und begab sich auf den Bummel.
Am ersten Tage war er allein; er fuhr wie ein Misanthrop mit trotzig hochgehobenem Rücken umher und besuchte die Wirtshäuser von Singapur. Aber schon am nächsten Vormittag saß er selbander mit einem alten Freund im Rickschaw, mit Thomas nämlich – mit wem? – mit Thomas, zum Donnerwetter!
Hätte man Richard in nüchternem Zustand einem Verhör unterworfen, er wäre vielleicht dazu zu bringen gewesen, sich zu erinnern, daß er am Abend vorher in einer Billardstube einen Mann kennen gelernt hatte, der ihm acht Dollars abgewann. Das Billard hatte vor Richards Augen wie ein grünes Meer gewogt, der Mann aber, Thomas nämlich, schien nichts von dem Wellengang zu spüren. Richard hatte sich seinem neuen Bekannten nicht angeschlossen, weil ihm dessen Gesicht sonderlich gefallen hatte, und auch sein Tropenanzug machte unleugbar einen etwas schmutzigen Eindruck – stark vertragen und von der Wäsche zerrissen –, aber was kümmerte das Richard! Anfangs war Thomas merkwürdig veränderlich in seinem Wesen, bald kriechend liebenswürdig, und dann sah man seine hohlen Wangen, bald wieder laut und frech, wodurch dann gleichsam ein blutiges Licht in seinen Augen zum Vorschein kam. Seine Hände waren ganz fleischlos, er war bleich wie ein Klabautermann und schien an einer inneren Krankheit zu leiden, Muskelschwund oder so etwas. Seine Zähne waren ganz verfault. Was kümmerte das Richard! Am nächsten Tage, als Thomas kam, Richard zu einem Ausflug abzuholen, war er übrigens besser gekleidet und hatte ein vertrauenerweckenderes Gesicht. Sie waren schon durch eine Welt von Erlebnissen des gestrigen Abends miteinander verknüpft. Zuerst waren sie natürlich in der Malay Street gewesen, und später waren sie bei Arabella gelandet. In der Malay Street hatten sie einen russischen Schiffskapitän getroffen, der unter entzückten Lachsalven im Begriff stand, seinen Rickschawkuli, den er auf Betrug ertappt hatte, windelweich zu prügeln. Es war eine heitere Szene, der Chinese heulte, der Russe lachte und ließ seinen Stock tanzen und alle anderen Passanten sahen belustigt zu. Die Straße lag unter dem flackernden, roten Lichtschein der Papierlampions da, die in offenen Vorzimmern hingen, wo kleine Japanerinnen standen, die mit ihren zarten, lachlustigen Puppenstimmen Sirenenlieder sangen – come inside, come inside – we give you good pleasure – während die pechschwarzen Haargebäude und die rosenrot gemalten Gesichter unaufhörlich zu den Rickschaws hinaus nickten, die aus allen tropendunkeln Straßen angefahren kamen und die einzige Straße aufsuchten, in der es Licht und Leben gab. Es war gerade nach der Mittagzeit der Weißen, und die Herren in den zierlichen Fuhrwerken mit den mongolischen Sklaven davor, kamen im evening-dress direkt aus den ungeheuer korrekten Gesellschaften, wo man sich unbeschränkt langweilt, und wo beileibe keiner die Malay Street kennt, – bis man sich eine halbe Stunde später in der festlich-dampfenden Straße traf.
Hier summte es von allen Sprachen Asiens und von Asiens heißer Musik, hier sang die Sünde ihre unschuldige Weise, hier erklang der Augenblick, das Vergessen und der Anfang, hier klopfte der Puls des Ostens.
Richard debütierte damit, daß er sich auf den Russen stürzte, um der Chinesenmißhandlung, die er noch nicht zu sehen gewohnt war, ein Ende zu machen; und das war wirklich ein Hauptspaß für die Zuschauer, denn der Russe war anderthalbmal so groß wie der Steuermann, ein wahrer Riese, und es focht ihn durchaus nicht an, daß ihn jemand in offenbar mörderischer Absicht an der Brust packte; im Gegenteil, er lachte nur noch huldvoller, er blendete den furchtbaren Steuermann geradezu mit einem Strahl von Humor, und es endete denn auch damit, daß man sich in brüderlicher Versöhnung für den Abend zusammentat und die Straße im Sturm eroberte.
Der Russe amüsierte sich über alle Beschreibung, er glich einem kolossalen Coeur-König, weiß und rot wie ein Kind und mit einem ungeheuren Gebiß, er fiel jedermann um den Hals, unerschöpflich liebenswürdig und ohne das geringste Gedächtnis, er war ein über die Maßen gewinnender Mensch und gestaltete die Nacht zu einem Wirbel von Lebensfreude. Er trank grenzenlos, wie ein Loch im Erdboden! Niemals hatte man eine ausgelassenere Vorstellung gesehen, als da der Russe den Einfall bekam, seinen Riesenkörper auf den mit Matten belegten Fußboden oben in einem der Häuser zu strecken, während ein Dutzend kleine Japanermädchen auf ihm herumkrochen, ein ganzes Gekrabbel von kleinen safrangelben Weibern auf dem weißen Riesen, der einem Nilgott in neuer Ausgabe glich – und der Russe schüttelte sich vor Lachen, und die kleinen Japanerinnen rollten unter freudevollem Gezwitscher von ihm herab und krochen wieder hinauf – ja, das war eine lustige Versinnbildlichung der gelben Gefahr und des Unterganges des russischen Kolosses! Wo war er nur geblieben, der Vladimir, wo hatten sie ihn verloren? War er ihnen bei Arabella abhanden gekommen? Das war alles gestern gewesen, dies und noch vieles andere; Richards Gedächtnis ging nur bis zu einer gewissen verschwommenen Grenze, aber er wußte, daß sich jenseits dieser Grenze noch recht viel zugetragen haben mochte, ja, sich auch zugetragen hatte. Das war aber alles gestern gewesen, und jetzt rollte er mit Thomas in einem Rickschaw davon, um dem Heute zu leben.
An diesem Tage fuhren sie unter anderem nach Johore, mit dem Rickschaw quer über die grünen Höhen von Singapur und mit dem Sampan über die Meerenge, die in dem blauen Tag voll von malaiischen Kanus dalag, Booten, so scharf wie Rasiermesser und mit so mächtigen Segeln, daß ein Mann außerhalb des Bootes an einem Tau hängen und sich je nach der Windstärke lang oder kurz machen mußte, um sie mit dem Kiel im Wasser zu halten. Drüben in Johore lud Richard Thomas zum Mittagessen im Hotel ein, und später gingen sie in der großen chinesischen Spielbank an Bord. Richard aber war nüchtern und kriegerisch gestimmt und vertrug sich ziemlich schlecht mit seinem Gefährten. Er entdeckte bald, daß die Spielbank eine gemeine Falle war, und daß Thomas wahrscheinlich Prozente bekam, wenn er Leute dorthin schleppte. Richard hatte keine Lust, sein Geld zu verlieren, und gab das Kommando zum Aufbruch.
Als sie in Singapur an Land gingen, kam es zwischen ihnen zum Streit. Thomas wollte in seiner Überlegenheit als Europäer den Sampanmann um seine Bezahlung betrügen und versetzte ihm einen Fußtritt in den Unterleib, als dieser sich widersetzte. Schweigend gab Richard dem Farbigen, was ihm zukam, worauf er sich an Thomas wandte. Es gab einen heftigen Wortwechsel, und auf einmal versuchte Thomas den Steuermann durch tigerartige Heftigkeit einzuschüchtern. Da aber begegnete er einem Paar Augen – einem Paar Augen und einer ganz leichten Bewegung mit dem Kopf, die ihn zum Schweigen brachten. Schau, schau, wie der Kerl sich duckte! Natürlich. Bei guter Behandlung hatte er sich gleich aufzuspielen versucht. Richard betrachtete ihn von nun an nicht mehr als seinesgleichen. Er fixierte ihn von oben bis unten, besah ihn und stellte fest, daß es ein Loafer sei, mit dem er Bekanntschaft angeknüpft hatte, ein Faulenzer von der Sorte, die in Hafenstädten auf Raub ausgehen. Was nun? Der Kerl mußte also wie ein Sklave behandelt werden; und während Thomas mit einem schmutzigen Grinsen und flackerndem Blick dastand, schalt Richard ihn wie den elendesten Halunken aus. Es läge wohl in seiner Natur, Farbige zu hunzen; und bitte schön: wenn er es nur nicht sehe ... Wenn er aber zugegen sei, solle er – und hier flammte es Richard wie mit blauen Zacken aus dem Halse – sie in Ruhe lassen – gemeiner Hund! Richard wiederholte das Schimpfwort und fixierte Thomas noch ein paarmal von oben bis unten, prägte sich sein krauses, schwarzes Haar ein, den häßlichen, lackroten Mund, der so schmutzig lachte, und die gelben, metallglänzenden Spitzbubenaugen ... Noch ein anderes verächtliches Schimpfwort schleuderte er ihm ins Gesicht, ohne daß Thomas sich rührte; aus der Unterhaltung gestern abend bei Arabella war hervorgegangen, daß Thomas auch dort Prozente bekam. Zuletzt spuckte Richard vor ihm aus. Thomas versuchte noch immer zu lächeln.
Sie fuhren jeder für sich in einem Rickschaw nach Singapur zurück. Unterwegs saß Richard und kühlte sich ab nach den Erlebnissen der gestrigen Nacht und versuchte Ordnung in seine Erinnerungen zu bringen. Er war, seit der Rausch einigermaßen verdunstet war, von allgemeiner Erbitterung geplagt, vom Groll gegen alles und gegen alle; er bereute sein Leben und hätte es gern an aller Welt gerächt. Aber durch seine düstere Gemütsstimmung dämmerte etwas, dessen er lange vergeblich habhaft zu werden versuchte, etwas, was ihm zu Herzen gegangen war. Als er sich endlich erinnerte, glitt, ihm selbst unbewußt, ein glückliches Lächeln über seine harten Züge, er errötete unter dem Tropenhelm, sah sich hastig und verlegen um, als wolle er sich überzeugen, daß niemand ihn beobachte. Arabella! Ho! In demselben Augenblick trat ihm durch eine Milderung seines ganzen Wesens ins Bewußtsein, daß es ein herrlicher Weg sei, auf dem er fuhr, mit einer Üppigkeit von fruchtbarer Vegetation längs des Saumes und mit paradiesischen Waldhöhen zu beiden Seiten. Ein Stück vor ihm ging ein Hinduweib, das sich beim Schreiten in den schmalen Hüften wiegte; auch sie umfaßte er mit dem seltsamen Gefühl des Dankes, das sein Herz durchströmte. Als sein Rickschaw sie einholte, wendete sie sich um und verneigte sich tief vor dem weißen Manne – nicht ganz bis zur Erde, aber sie deutete mit einer Handbewegung zur Stirn an, daß es eigentlich ihre Pflicht sei. Sie veränderte sich, als sie Richard lächeln sah, sie dankte, wurde wie eine liebliche Blume in ihrem olivenschwarzen Gesicht mit dem Smaragd in der Nase.
Arabella ... wie war es nur gewesen? O, er hatte sich ganz einfach verliebt. Sie waren hingekommen und hatten alle Mädchen oben im Salon der ersten Etage versammelt und sie zu einer Generalfeier eingeladen. Vladimir war zu der Zeit schon ganz toll gewesen, er brüllte vor Entzücken wie ein Idiot und verfiel auf den unglaublichsten Ulk, er befand sich in einer Art Urnebelstimmung, aus der neue Welten von Amüsement hervorgingen, die unerhörtesten Dinge. Wie aber auch gelacht wurde! Typhone von Lachsalven!
Die Mädchen bei Arabella waren für einen Ort, der so weit von Europa liegt, wirklich sehr annehmbar. Die eine oder die andere sah vielleicht etwas leidend aus – es war kein Klima für Frauen –, aber sie klagten nicht. Es wurde Klavier gespielt, und es war in jeder Beziehung wie in einem guten europäischen Hause, in Antwerpen zum Beispiel oder in Marseille. In manchen Beziehungen sogar besser: die Mädchen hatten etwas von der großen Welt an sich, sie waren bereist und kannten fremde Sprachen, sie trugen keinen Provinzstempel im Gesicht. Man konnte sogar sagen, daß das Haus mit den großen Hotels in Amerika auf einer Stufe stand; Arabella war aber auch aus Boston. Dies Haus hier war nur eine Filiale, Arabella besaß ein großes amerikanisches Haus in Schanghai; sie war hier nur zur Inspektion. Ach ja, es war keine düstere und verseuchte Höhle, mit Weibern vom Verbrechertypus und einem draußen auf und ab wandernden Nachtmissionär, wie in gewissen Winkelhafen in Europa: hier war die Welt. Man kannte einander auf den ersten Blick, man war wie zu Hause. Diejenigen der Mädchen, die man zu arg fand, konnte man ja übersehen, ohne sie zu genieren; im übrigen aber waren die meisten sehr niedlich. Richard erinnerte sich einer kleinen Spanierin mit feinen Händen und klugen Augen, sie konnte nicht lärmen, aber sie besaß einen eigentümlichen, etwas wehmütigen Humor, der Menschlichkeit über die ziemlich unsanfte Geselligkeit des Hauses breitete; sie sprach alle Sprachen. Das Haus hatte nur weiße Frauen; wenn auch aus allen Nationen; darüber wurde mit Strenge von Arabella gewacht, die ruhig im Salon präsidierte, in Gesellschaftstoilette und mit schweren Schmuckstücken an den Armen, ein ganzes Vermögen von massiven Goldbarren, sie schien alles, was sie besaß, auf dem Körper zu tragen, ebenso wie der weise Bias. Arabella ... Wie war Richard nur auf die respektlose Idee gekommen, der Wirtin die Cour zu machen? Man denke ... Aber ihm waren plötzlich, nach einem kritischen Rundblick durch den Salon, die Augen für Arabella, als für die einzige, aufgegangen, und er hatte aus seinem Herzen keine Mördergrube gemacht. Zuerst hatte Arabella tief und mächtig gelacht, wie es ihre Art war, nicht ohne einen kleinen Klang von Hohn – wie beliebt, was ihm einfiele, ob er toll sei – sie, die Wirtin! Als aber Richard in sie drang und mit zähneknirschender Wut den Beleidigten spielte, wendete sie ihr Gesicht zur Seite, gerührt, fast beschämt, und da sah Richard, während es ihm wie eine Sturzsee von Schwärmerei überm Kopfe brauste, daß sie ja ganz und gar keine »Wirtin« war, wie man sich eine solche vorstellt, sondern ein großes, herrliches Weib in voller Blüte, eine Zwanzigjährige, die vom Zufall und durch ihre Herrschernatur zur Besitzerin dieses weitläufigen Hauses am Ende der Zivilisation gemacht worden war. Sie war nicht eigentlich korpulent, sondern von einer stolzen Stattlichkeit, mit großen, gesunden Bewegungen, die einem körperlichen und seelischen Gleichgewicht entsprangen; ihr Name erinnerte an eine Rennstute oder an ein Schiff, an die Gallionfigur eines Schiffes unter vollen Segeln, wenn sie in schwindelnden Kurven in die Brandungen taucht oder sich himmelfahrend zu den Wolken erhebt. Daß niemand vor ihm sie gesehen hatte! Jetzt aber sah Richard sie, und er warb wie noch nie in seinem Leben, warb, bis ihr starker Blick dem seinen wich, bis der Mund sein wurde, der vom Befehlen so hochmütig geworden war. Ho-ha!
Richard reckte sich, daß das ganze Fahrzeug knackte und der schwitzende Kuli, der zwischen den Stangen lief, seinen Kopf fragend umdrehte. Und den Rest des Weges saß Richard versunken da, sehr gerührt, während ein flüchtiges Lächeln auf seinem brutalen, wetterharten Gesicht kam und ging.
Er hatte Thomas vergessen, als sie zur Stadt kamen, er sah sich nicht einmal nach dem anderen Rickschaw um. Thomas aber schloß sich ihm wieder an, als wenn nichts geschehen wäre. Das war ja auch eine Art des Entgegenkommens; Richard gestattete ihm, mitzukommen. Sie gingen in ein Wirtshaus und spielten Billard.
Der Rest des Tages verging ohne Zank zwischen den beiden. Der Auftritt in Johore hatte eine gewisse unsichere Balance zwischen ihnen hergestellt, die dadurch gewahrt wurde, daß Thomas gehorchte und Richard über ihn verfügte. Es war nicht zum Guten, daß die beiden zusammenblieben. Richard begann zu ahnen, daß unter der Dienstwilligkeit des anderen Spitzbübereien verborgen lagen; man mußte Thomas eine eiserne Faust fühlen lassen. Sie spielten bis zum Abend Billard. Thomas gewann. Während sie um den Billardtisch herumgingen, kam eine Art feindlicher Unterhaltung zwischen ihnen in Gang: Richard fluchte über das verdammte Schiff, auf das er warten müßte, und kam immer wieder auf dies »Unglück« zurück. Thomas verstand ihn wohl und erzählte bei dieser Gelegenheit, daß er auch Steuermann sei, wenn auch »ohne Heuer«, und daß er sich ungefähr ein Jahr lang in Singapur herumgetrieben habe. Diese Mitteilung ließ Richard kalt. Was ging das ihn an! Thomas wollte gern sprechen, die Unterhaltung war sein Element, Richard aber hatte leider die unfeine Angewohnheit, ihn zu unterbrechen, ihm rein heraus den Mund zu verbieten, wenn er von etwas sprach, was ihn langweilte. Auf diese Weise erhielt Thomas keine Genugtuung. Jedesmal, wenn er sich durch glattes Gerede, durch Zweideutigkeiten, durch freche Philosophie moralisch aufrichten wollte, wurde er sogleich von Richard geduckt. Er erlaubte ihm keine andere Seite seines Wesens zu entfalten als die Unterwürfigkeit. Es amüsierte ihn, den Zuhälter kriechen zu sehen.
Es stand mehr zwischen ihnen auf dem Spiel als die Partie Karambole; sie waren böse. Thomas vermochte seine schmutzigen Raubabsichten, die ihn die Brutalität des Steuermannes ertragen ließen, nur schlecht zu verbergen: der Haß leuchtete ihm aus den Augen; und je mehr er von seiner inneren Niederträchtigkeit verriet, desto stärker schwoll Richard vor Verachtung. Die Bosheit stand im Begriff, beiden aus den Knopflöchern zu platzen. Sie schickten sich gegenseitig Blicke – pfui Teufel – Thomas aus dem Hinterhalt wie eine Katze auf dem Sprunge, Richard mit grausamer Offenheit, die den Feigling verfolgte und steinigte. Es war eine recht behagliche Partie Billard. Das Thermometer zeigte vierunddreißig Grad; außerdem tranken sie fest, und die Bosheit in ihnen nahm zu.
Abends gingen sie auf den Bummel. Richard behandelte Thomas jetzt ganz als Sklaven, er ließ ihn hinterherfahren, befahl ihm, hier aus- und dort einzusteigen, ließ ihn warten, kurz gesagt, hunzte ihn, wo er nur konnte. Und Thomas ließ sich das gefallen.
Richard wütete durch dreimal vierundzwanzig Stunden. Es ist nicht nötig, ihm während der letzten Stadien seines wahnsinnigen Drauflosgehens zu folgen, wobei Singapur und das Dasein sich in einen immer tolleren Wirbelsturm verwandelten, während er sich selbst immer mehr verlor. Zuletzt hatte er sich durch den Trunk jeglicher Individualität begeben und bot jetzt nur den nicht unbekannten Anblick eines Seemannes an Land, der unter dem Druck eines riesenhaften Rausches zwischen Menschen und Dingen umhertaumelt, ohne etwas zu sehen, mit einem Bleilot im Munde, während der ganze blaue, idiotische Weltraum, Meer und Himmel, ihm aus den Augen quellen und er im übrigen selig ist, selig wie die bewußtseinsfreien, rotierenden Himmelskörper.
Als Richard an einem der ersten Tage nüchtern durch die North Bridge Street gefahren war, hatte sich ihm ein Anblick geboten, der ihm durch Mark und Bein gegangen war und ihn noch lange nachher schaudern machte, wenn er sich daran erinnerte. Es war eine Weiße gewesen, die zu den Farbigen hinabgesunken war. Sie saß vor einem pestkrank aussehenden Hause, einer Höhle, deren Mauern von einer Seuche zerfressen zu sein schienen, und deren Fensteröffnungen wie verfaulte Wunden klafften. Hier, mitten in der häßlichen Chinesenstadt, saß sie – wahrscheinlich die einzige weiße Frau in dem ganzen Viertel, die einzige vielleicht im ganzen Osten – und schien ganz in ihrer Umgebung aufgegangen zu sein. Sie war wie die Chinesen in blauen Baumwollstoff gekleidet, mit etwas grellem Seidenputz auf dem Oberleib. Das Haar hing ihr in ungekämmten Strähnen: zu der orientalischen Erniedrigung fügte sich noch die Schlampigkeit, die europäische Proletarierfrauen kennzeichnet. Aber am auffallendsten war, daß sie, die die Züge einer weißen Frau trug, sich die Ruhestellung der Farbigen angeeignet hatte: sie kauerte auf dem Fußsteige vor der Höhle wie die übrigen Wilden, die Kniee zum Kinn hinaufgezogen. In dieser Stellung saß sie offen zur Straße gewendet und kümmerte sich nicht einmal darum, daß ihre Kleider sie nicht bedeckten. – O, und was das Entsetzlichste war: wie sie so saß – aber, ja, nein, das ließ sich nicht aussprechen. Wie war es möglich, daß ein menschliches Wesen so tief sinken konnte? Wie konnte es gestattet werden, daß ein weißes Weib sich den Chinesen verkaufte; war die Grausamkeit und die Schmach so groß in der Welt?
In der Höhle bei diesem elenden Wesen, – bei ihr kam Richard nach einem dreitägigen Rausche wieder zu sich, mit einem alten, schmutzigen Khakianzug bekleidet, und ohne einen Cent in der Tasche.
Ja. Es war, als sei er bei seinem eigenen Begräbnis gewesen und erwache jetzt voller Qual. Langsam, hoffnungslos wie ein Verblutender, kam er wieder zum Bewußtsein und erfaßte seine Lage. Aus dem, was er begriff und was das elende Weib ihm erzählte, entnahm er, daß Thomas, der Aussätzige und Ausgestoßene, ihn in der Höhle abgesetzt und selbst seinen Platz in Abrahams Schoß eingenommen hatte. Ohne Umschreibung war die häßliche Wahrheit so, daß Thomas Richards Stellung weggeschnappt hatte und mit dessen Schiff davongefahren war! Alma war beauftragt, ihm dies zu bestellen und ihn vielmals zu grüßen. Sie hieß Alma! Thomas war abgereist und hatte ihr gesagt, daß sie nun seinen Freund und Kameraden an seiner Statt zu sich nehmen könne.
Richard verhielt sich ganz still und atmete kaum, bis ihm die Tatsache in ihrem ganzen Umfange klar geworden war. Alma unterhielt ihn auf eine eigene, halb furchtsame, halb bissige Weise, wie ein Hund den anderen, sie hielt es für das beste, ihm das nötigste zu erzählen, da sie nun zusammen in den Alltag eingehen sollten. Wie grauenhaft, daß sie ein Mensch war! Es war eine Tatsache, daß sie lebte, man konnte an einzelnen Zügen noch die Europäerin erkennen. Hinter der widerwärtigen Physiognomie, die ihr Fall zu den Farbigen entwickelt hatte, konnte man noch die Züge eines früheren Proletarierdaseins in Europa unterscheiden, das Klebrige im Blick, die rekeligen Bewegungen und das gewöhnliche Miau der Stimme, das Weiber von niedrigem Typus kennzeichnet. Aber sonst war sie nur ein grauenhaftes Bild von dem Laster und dem Elend des Ostens. Das grelle Aufhören jeglichen Lebens. Sünde und Verfall mitten im Gesicht. Und von ihr hatte Thomas gezehrt! Von ihrer Not, von ihrer totunglücklichen Existenz, die durch chinesische Kulis erhalten wurde, hatte er sein Schmarotzerleben gefüttert! Richard sah sich in der traurigen Höhle um – bewegte nur die Augen, als wolle er seinen übrigen Menschen vor der Berührung bewahren – und fand die Zeichen eines Daseins, von dem weiße Männer sich schwer einen Begriff machen können. Da waren Bilder – von jener Sorte, wie man sie einmal im Osten kauft und nie wieder – Photographien mit Auftritten aus dem Garten Eden ... Alma ... Thomas ... War das der Mann, dem er seine Gesellschaft gegönnt hatte, war es so entsetzlich?
Richard verließ Alma, ohne ein einziges Wort gesagt zu haben, ging, ohne sich noch einmal in der Tür umzuwenden, – sie lachte hinter ihm her, ein infames und trauriges Lachen, wie ein großer Aasvogel, der sich vor Hunger belustigt, – und er sah sie nie wieder.
Die Dampfer draußen in dem Sund vor Singapur tuteten reiselustig, als Richard nach seinem Hotel zurückschlich.
Hier fand er sein Zimmer verschlossen.
Wie beliebt? ... Wer ...? Ja, der Steuermann auf Nummer 21 sei abgereist. Sein Schiff sei heute morgen gegangen. Ob er sonst noch etwas wünsche?
Thomas war fort, mit seinen Sachen, mit allem, was er besaß, mit seinen Papieren, seiner Stellung, mit allem! Er war jetzt nichts mehr, buchstäblich nichts, er hatte nicht einmal einen Namen.
Richard stand wie ein Ausgestoßener in den Straßen von Singapur.
Nur wer die soziale Atmosphäre in der Telegraph Street geatmet hat, weiß, was das zu sagen hat. Die Weißen in Singapur haben nicht viel Schatten, die Sonne steht im Zenit; wer aber außerhalb der Gesellschaft geraten ist, hat gar keinen Schatten: er ist allein wie Peter Schlemihl, er ist aus keinem Stoff gemacht, er ist Luft. Man kann sich diese Lage kaum vorstellen; Europäer kommen nur in Geschäften nach Singapur, und es versteht sich von selbst, daß ihnen diese oder jene Mittel zur Verfügung stehen; etwas anderes gibt es nicht. Geschieht es dennoch, daß ein weißer Mann ohne Hilfsmittel ist, dann kann ihm nicht geholfen werden. Arbeit kann er nicht bekommen, die Weißen können nicht einen der ihrigen für sich arbeiten lasten; das würde ihrer Stellung schaden. Sie kennen ihn nicht, er ist ein outcast, ist auf die Farbigen angewiesen. Und hat er nicht wie Thomas genügend schmutziges Blut, sich einen Lebensweg in der Tiefe zu suchen, wird er bald umkommen, von einem Schicksal erlöst sein, das sehr peinlich für die weiße Gesellschaft in Singapur ist und für ihn selber schlimmer als der Tod.
Richard begann seinen Bußgang als Paria voll guten Mutes. Das Ganze wäre ja doch eine Unmöglichkeit, der Betrug müßte sich ja aufklären lassen; nicht wahr, man würde ihn wiedererkennen und könnte ihn doch nicht einfach draufgehen lassen ...
Ein Tag und eine Nacht und noch ein Tag genügten, um den Steuermann dorthin zu führen, wo es kein Bedauern mehr gibt, wo nichts mehr wehtut, sondern wo es sich nur noch um die Bagatelle handelt, ob man sich aufhängen oder vom Bollwerk ins Wasser stürzen solle.
Auf dem Kontor der Gesellschaft schien man sich seiner einen Augenblick zu erinnern, aber nur einen Augenblick. Er hatte sich ihnen ja nur flüchtig gezeigt ... Und es passierten so viele Steuermänner durch Singapur, daß man überhaupt nicht gewohnt war, auf ihr Äußeres zu achten. Über seine Geschichte von dem anderen schüttelten sie den Kopf. Der andere! Es war weitaus das Bequemste und Nächstliegende für sie, zu glauben, er selbst sei der andere, von dem er erzählte. Der Steuermann Richard mit dem dazugehörigen Nachnamen war mit angemusterten Papieren an Bord des Schiffes der Gesellschaft gegangen und war jetzt auf dem Wege nach Schanghai. Im übrigen ...
Man warf sich eigentümlich in die Brust, nicht unbarmherzig, eher mit Sympathie, und sandte einen langen Blick hinter ihm her, als er, ein gebrochener Mann, aus der Tür ging. Hu! Es waren lauter ordentliche Menschen in dem Kontor, propre Europäer, und in dem langen Blick, der Richard folgte, lag ein Bedauern darüber, daß ihm nicht geholfen werden konnte. Richard erfaßte es mit der scharfen Beobachtungsgabe, die Sterbenden eigen ist. Er verstand die Leute. Es ließ sich nichts dagegen sagen. Sie konnten keinen Loafer in ihrer Mitte brauchen. Hier gab es keine Unterklasse wie daheim, in der sie ihn hätten anbringen können. Sie hatten ihn zum letztenmal gesehen.
Er kam auf die Straße und ging wie betäubt in dem kreideweißen Sonnenschein umher. Um seine Füße breitete sich ein kleiner Schatten, nicht größer als ein Hut, in dem sich ein Mensch in völliger Verkürzung seltsam vorwärtsbewegte; der Schatten lag wie ein Loch auf der Erde, in das jemand hinabzusteigen schien. Er erkannte den Jemand: er war es selbst.
Menschen in Verzweiflung müssen zu ihren andern Qualen notgedrungen auch noch wandern, gehen und gehen, bis sie erschöpft sind; als hätten sie noch einen weiten Weg zurückzulegen, bis sie das Ende erreicht haben. Sie können sich nicht niedersetzen und sich ins Unvermeidliche finden und den Tod das letzte Stück Weges herankommen lassen. Richard ging in diesen wenigen Tagen viele Meilen, ziellos, kreuz und quer durch die Stadt.
Vor Raffles Hotel ließ ein riesengroßer Mann im Rickschaw den Kuli halten und brüllte ihn mit entzückten Gebärden an. Richard war zu Fuß und näherte sich dem Fahrzeug, gebückt, und wußte selbst nicht, weshalb er das tat. Es war Vladimir. Er saß weiß und rot im Rickschaw, mit einem Gebiß von blendenden Zähnen; er schrie laut vor Entzücken und streckte die Arme zu einer Umarmung aus ... Und dann wurde er plötzlich still, sein Gesicht bekam einen gleichsam porträtähnlichen Ausdruck, es war, als sähe man ihn zum erstenmal, und seine Stimme senkte sich zu einem niedrigen, vorsichtigen Tonfall, wurde zur Greisenstimme. Sie sprachen von der Sache, aber Richard konnte seine Erzählung nicht beenden: Vladimir berührte wie zufällig den Kuli, es täte ihm leid, das zu hören, es wäre haarsträubend ... Und dann setzte der Kuli sich in Bewegung, und Vladimir wendete sich noch einmal mit einem langen Blick nach Richard um, mit dem Abschiedsblick. Der große Russe hatte trotz allem die Augen eines Kujons.
Richard stieß auf Depreza, den jungen, halbportugiesischen Stauer, der ihm aufgefallen war, als er von Bord des Tenders ging. Er hatte dagestanden und ihn mit artigen Augen betrachtet und sich von einer sanfteren Seite gezeigt, froh darüber, daß er in dem Wesen des weißen Mannes nicht die gewisse Nuance spürte. Jetzt aber wich er mit einem mimosenhaften Instinkt zurück, er hatte gleich gesehen, wie es um Richard bestellt war, und seine Augen waren nicht mehr tief wie Samt, sondern lagen wie zwei harte Knöpfe unter der Stirn, und im nächsten Augenblick war Depreza in einem Rickschaw davongefahren.
Den bittersten Schimpf aber erlitt Richard durch den Batavier. In dem farbigen Kaufmann schien eine besonders stark entwickelte Fähigkeit zur Schadenfreude zu wohnen: kein grober, lärmender Hohn, sondern eine schweigende, durchdringende Gemeinheit. Als Richard sich in seiner traurigen Verfassung im Hotel zeigte und nach seinem Zimmer fragte, schien er geradezu Schadenfreude abzusondern, als sei er eine große, dazu erschaffene Drüse. Wenn der Batavier nachgedacht hätte, würde er das Unrecht wohl erkannt haben, das dem armen Steuermann zugefügt worden war, denn er erinnerte sich seiner sehr gut; aber der Bastard dachte bei so einer Gelegenheit nicht, er freute sich nur, er genoß die Erniedrigung des weißen Mannes und gab sich mit allen seinen inneren Kräften dem Bestreben hin, jenen das so schmerzhaft und unauslöschlich wie möglich fühlen zu lassen. Er wurde in den wenigen Minuten um einige Lot fetter, er sättigte seine Augen an Richards Unglück, es rundete ihn ab, er fühlte sich unendlich wohl dabei. Ein fetter Laut drang aus seiner Kehle, während er, immer noch auf dem Rücken liegend, Richard betrachtete, als wohne er einem schönen Begräbnis bei. Richard ging bis ins Innerste getroffen davon.
Aber nun war es bald vorbei. Richard trieb es bei seinen erschöpfenden Wanderungen immer häufiger in die Nähe des Hafens. Das Wasser, das blaue Meer zog ihn mit unbestimmter, alles umfassender Macht an sich, blind, wie die Sehnsucht nach Gott. Er hatte genug von seinem Ich, von sich selbst als Person, jetzt verlangte ihn nach dem blauen Verlöschen. Er schlief in seinem tiefsten Inneren schon, ein anderer war es, der immer noch rastlos umherirrte; jawohl, er war der andere geworden. So saß er denn auf einer Bank an der Strandpromenade und ruhte sich aus und genoß seine Abschiedstunde. Jetzt war der Weg zurückgelegt, er hatte einen Bestimmungsort erreicht. Er war erschöpft, fertig. Die Tropenhitze und der Mangel an Nahrung hatten das ihre dazu beigetragen. In der Nacht hatte er nicht geschlafen, er war die drei langen Meilen quer durch Singapur gegangen, und wieder zurück.
Jetzt aber empfand er weder Hitze noch Hunger mehr. Es war ungefähr sechs Uhr, eben nach Sonnenuntergang, und es kam eine wirklich kühle Brise vom Meere herüber, die lindernd unter den Kronen der großen, tropischen Bäume an der Strandpromenade dahinstrich. O, die Natur war noch liebevoll. – Weshalb war er heute nacht den weiten Weg über die Insel gegangen? – Ach, er hatte sich plötzlich nach dem Orte gesehnt, wo er sich Arabellas erinnert hatte und wo ihm der Weg und die Landschaft so herrlich erschienen waren; aber er hatte den Ort nicht finden können.
Die Dunkelheit nahm schnell zu. Draußen auf der Reede erlosch der feuergrüne Sonnenuntergangschein über dem Meere. Die hohen, purpurrot blühenden Akazien vor dem Hotel de l'Europe verloren ihre Farbe. Wie die Dämmerung kühlte, ha!
Die Promenade war voller Fahrzeuge mit Europäern, die ihre bleichen, vom Klima gepeinigten Frauen zum Strande fuhren, sie die spärlichen erfrischenden Lüftchen einatmen zu lassen, die die Sonnenuntergangsbrise brachte. Die Wagen machten unter den Palmen Halt, und man sah zarte, schwache Gestalten wie Silhouetten gegen den Abendhimmel stehen, man sah sie sich nach der weißen Meerkimme zwischen den Inseln recken, woher dieser einzige Hauch von Kühlung kam. Dann fuhren die Wagen wieder weiter. Mit zunehmender Dunkelheit legte sich die Brise. In den wenigen Minuten aber fuhr alle Welt vorbei, die Weißen in Equipagen mit malaiischen Lakaien hintendrauf, chinesische Geldfürsten in nachgeahmter Pracht, alle Sorten von Wagen und Gigs. Und dazwischen bewegte sich die farbige Welt von Singapur in Rickschaws oder zu Fuß: Hindus, Malaien, Chinesen. Die kleinen Japanerinnen saßen selbander in einem Rickschaw, das jettschwarze Haar zu reizenden Kringeln aufgesteckt, winzigkleine chinesische Damen stolperten wie Hosenmännchen unter den Bäumen, mit wunderbar feinen Zügen und großen, ererbten Diamantnadeln in dem schwarzen, gefirnißten Haar. Da waren Armenier, Afghanen, Perser, alle Farbenschattierungen Asiens. Tout Singapur. Alle kamen, die kurze Kühlung vom Meer einzuatmen, bevor die Nacht mit ihrer stillstehenden Hitze heraufzöge. Und sie verschwanden fast alle auf einmal, wie sie gekommen waren. Die Promenade unter den großen, brütenden Bäumen begann sich zu leeren.
Noch ein verspätetes Fahrzeug kommt angerollt, ein perlgrauer Landauer mit hohen, australischen Vollblutpferden. Der Saise, eine Bulldogge von einem Malaien in Livree, die nackten, behaarten Beine stramm gegen das Vorderbrett gestemmt, lenkt das Gespann wie eine Statue der Verantwortlichkeit; der rote Staub wirbelt von den funkelnden Rädern. In den Polstern des Wagens sitzt eine Dame ganz allein, weißgekleidet und mit einem Monstrum von einem amerikanischen Modehut auf dem Kopf. Plötzlich beugt sie sich vor und ruft dem Saisen etwas zu, der Wagen schwenkt auf die Bank zu, wo Richard sitzt ... Er hält. Es ist Arabella.
»Guten Abend, Steuermann,« sagt sie mit ihrer tiefen, langsamen Stimme, die so natürlich klingt. »Ich glaubte, Sie wären abgereist ...«
Es klang Verwunderung und eine fast unmerkliche nervöse Unsicherheit in ihrer Stimme. Sie verbarg ihre Freude. Die große Hand, die auf dem Rande des Wagenstuhles lag, hatte einen Ausdruck, als beherrsche sie sie nicht ganz. Ihre Augen ruhten in der Dämmerung milde auf ihm, voll von der reichen Einfalt ihres Herzens. Als der Steuermann nicht antwortete, stieg sie aus dem Wagen. Ein gedämpfter Klagelaut entschlüpfte ihr in der Dunkelheit unter den Palmen.
Sie sprachen miteinander, und zehn Minuten später fuhren sie zusammen nach Arabellas Hause. Als sie unter Dach waren, brach Richard in Tränen aus, er weinte wie der verlorene und wiedergefundene Sohn, der er war, er bellte so entsetzlich, daß alle, die ihn hörten, sich vor Schauer zusammenduckten. Er hätte jeden Menschen umgebracht, der es gewagt hätte, sich ihm zu nähern, während seine Sünde und die Vergebung sich ausweinten, jeden – außer Arabella.
Sie war es denn auch, die ihm half, seine unbedeutenden Widerwärtigkeiten zu klären. »Ach, du lieber Gott, Steuermann, wie kann man nur das Leben so ernst nehmen! Sieht es einem Seemann ähnlich, so den Kopf zu verlieren!« Arabella lachte wie eine große, gurrende Taube, als der Steuermann wieder soviel Fassung gewonnen hatte, daß man ein vernünftiges Wort mit ihm reden konnte. Sie fand, daß Thomas' Einfall ein guter Witz sei, über den man lachen müsse, – aber sie zog bei dem Gedanken an sein Benehmen die Augenbrauen doch ziemlich unheilverkündend zusammen; der Elende solle sich in acht nehmen. An demselben Abend ging ganz einfach ein Telegramm nach Schanghai ab, das dem noch nicht angekommenen Thomas bei Ankunft des Schiffes einen bösen Empfang bereitete. Es zeigte sich, daß Richard sein Schiff noch sehr gut in Schanghai erreichen konnte, wenn er einen Dampfer nähme, der am nächsten Tage von Singapur dorthin abging.
Für das Billett und andere notwendige Dinge brauchte er Geld, und hier kam das dünne Eis. Sie passierten es mit einer gewissen Verbissenheit, Auge in Auge, und machten sich leicht dabei. Sie schlug vor, sie wolle ihm eine Summe leihen, und er nahm sie an. Trotzdem wären sie fast hineingeplumpst. Die Kaste in Richard revoltierte, obgleich er sie eben erst zurückerlangt hatte, sein Blick wurde unsicher, er sah zu Boden, und sein Kopf schwoll von Blut. Als er wieder aufsah, begegnete er Arabellas klugen Augen, die sich langsam mit Tränen gefüllt hatten, – aber sie lächelte trotzdem, damit es ihn nicht schmerze, daß er ihr wehgetan hatte. Es ging ihm durch und durch ... Mußte er sie denn schon gleich ihre Stellung fühlen lassen? Er sah ihr in die Augen; nein, von ihr konnte er Geld annehmen! Nachdem er es aber bekommen hatte, gab sie ihm mit einer eigen behutsamen Kälte Bescheid, wie er es am sichersten zurücksenden könne. Sie wünschte ihn sich nicht anders, als er war.
Am nächsten Tage reiste Richard ab. Sie sagten sich Lebewohl wie wandernde Leute, die keinen Abschied nehmen. Fürs Scheiden hatte keines von ihnen ein Gefühl, sie hatten es schon so oft probiert, oder hatten gelernt, den Schmerz abzubrennen. Und doch gab es einen einzigen Augenblick, während dessen sie zögerten, eine von jenen lautlosen Schicksalspausen, denen man erst später anmerkt, daß sie den Keim zu einem ganz anderen Lebensverlauf enthalten haben als dem, der uns zuteil geworden ist.
Richard sah Arabella nie wieder. Aber er fuhr fort, sich ihren zu erinnern, wie sie in dem Augenblick gewesen war, als sie beide beklommen schwiegen, – das stand in seiner Seele eingebrannt, zugleich mit einer dunkeln Reue, deren eigentlichen Grund zu erkennen er nicht denkgewandt genug war, die ihn aber sein Leben lang nicht verließ.
Sie stand auf der Treppe, die zur ersten Etage führte, einen Arm auf das Geländer gestützt, ihren langen, vollen Arm mit dem weiblich verfeinerten Handgelenk, das von massiven Goldbarren schwer war, und sah zu ihm, der nun gehen mußte, herunter. Sie hatte just eine Kopfbewegung nach oben gemacht, womit sie andeutete, daß sie upstairs beschäftigt sei, und noch lag in ihrer Haltung ein eigener Ausdruck davon, daß sie sich eigentlich immer ein anderes Leben gedacht hätte, als dieses, das sie mit solch majestätischer Fassung trug. Ihre Augen ruhten auf ihm, klar und sehend, und dennoch, als wäre er bereits fern.
Und über diesem Bilde von Arabella lag immer ein sorgenvoller Nachklang ihrer reichen, tiefen Stimme und der Widerhall eines Wortes, das niemand sonst mit einer solchen Welt von Süßigkeit, Großmut und verhaltenem Schmerz zu füllen verstand: darling ... darling!