Wilhelm Jensen
Dietwald Werneken
Wilhelm Jensen

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Zweites Kapitel.

Dietwald Werneken hatte von Vätern her kein Erbteil voreilig-unbedachtsamen Handelns empfangen, doch einen Entschluß, den er reiflich überwogen, führte er, ohne eines Beirates anderer zu bedürfen, mit unbeirrter Sicherheit aus. Es verging eine Woche, bevor er die Gehülfen seines Geschäftes mit der Nachricht überraschte, daß er eine längere Reise anzutreten gedenke, und für die Dauer seiner Abwesenheit dem Buchhalter aufgezeichnete Weisungen einhändigte. Darin stand alles sorglich aufs genaueste vorgesehen, selbst der Fall, daß er nicht wieder heimkehre, sondern irgendwo in der Fremde vom Tode betroffen werde. Dann vermache sein Sterbewille, da er keinen Erben hinterlasse, noch Sippe mehr besitze, seine Habe der Stadt Hamburg, daß sie eine neue protestantische Kirche und Pfarrwohnung dafür erbaue und einen lutherischen Prediger darin unterhalte, wie das im Geheimschrank niedergelegte Testament nähere Bestimmung darüber ausführe. Wohin seine Reise ihn bringen und wann er zurückkommen werde, könne er heut noch nicht bemessen, doch sobald er an einem Ort seßhaften Aufenthalt nehme, werde er schriftlich Nachricht davon erteilen und Rückerwiderung dorthin über den Stand des Geschäftes gewärtigen. So hatte er alles ins kleinste hinein geordnet und in gleicher Weise jeden Gegenstand, den er zur Mitnahme ausgewählt, behutsam eigenhändig gegen Schädigung zu Land und Wasser wohlverwahrt. Sein Gepäck war gering an Umfang, nicht mehr, als er selbst auf dem Pferde mit sich zu führen vermochte; es enthielt außer nötigen Bekleidungsstücken nur die Bugenhagensche Heilige Schrift und ein Kästchen mit Angedenken an seine Eltern und Geschwister, von denen seine schwermütige Erinnerung sich für längere Zeit nicht trennen konnte. Um so beträchtlicher dagegen war der Geldeswert, den sein ansehnlicher Reichtum ihm als Begleitschaft verstattete. Er hatte den Leibgurt so voll mit Gold ausgerüstet, als ob er gewinnreichsten Handelsvorteil im Auge halte und sich zur Ausbeutung desselben auf den Weg mache.

So nahm er Abschied von seinem Hause und ritt in erster Morgenfrühe durch das Seitentor der mächtigen, aus den Felsquadern der einstigen Stadt Bardowiek erbauten Ringmauer den wenigen Häusern zu, die sich erst seit kurzem als eine ›Wandsbeck‹ benannte Dorfschaft um die alte ›Wendeburg‹ zu lagern begonnen. So wenig er in kriegerischer Absicht davonzog, nötigte die Zeit ihm doch den äußeren Anschein einer solchen, Panzerhemd, Helm und Schwert, auf: in den Taschen seines Sattels steckten zwei kurze Handfeuerrohre, wie sie erst im letzten Jahre von der italischen Stadt Pistoja aus verbreitet und nach ihr benannt worden, mit dem in Spanien erfundenen Schnapphahnschloß versehen, das einen Feuerstein gegen die gerippte Fläche des mit Pulver bestreuten Pfannendeckels aufschlagen ließ. Derart war die bisher äußerst schwerfällige und umständlich zeitraubende Waffe fast zur augenblicklichen Benutzung umgeändert und bildete eine völlig neue und unfraglich die beste Schutzwehr gegen plötzlichen, gewalttätigen Überfall. Doch stand sie noch so hoch im Werte, daß selbst in den reichsten Städten der Hanse kaum da und dort erst einer sich in ihrem Besitz befand.

Dietwald Werneken hatte, seiner schweigsamen Art gemäß, gegen niemanden eine Äußerung über das Ziel seiner Reise getan; als er die Häuser Wandsbecks erreicht, ward es unverkennbar, daß sie Lübeck zutrachtete, denn er schlug die große Verbindungsstraße zwischen diesem und Hamburg ein. Der Gang von Jahrhunderten hatte an ihr viel gebessert, als verknüpfendes Band zwischen den beiden benachbarten, gewichtigsten Hansestädten stand sie an Bedeutung zum mindesten keinem zweiten Weg im Deutschen Reiche nach und übertraf durch Beseitigung aller störenden Naturhindernisse, wie gute Ebnung des Bodens, an sumpfbrüchigen Stellen sogar durch Auspflasterung mit Holzklötzen und Schottergestein die große Mehrzahl der Landhandelstraßen aller Länder Europas. So gelangte der junge, reiterfahrene Kaufmann auf kräftigem Pferde in gleichmäßiger Trabung rasch vorwärts, ließ bereits geraume Weile, ehe die Sonne in den Mittagsscheitelpunkt gestiegen, den braunen Dächerhaufen der Stadt Oldesloe zur Linken und machte zum erstenmal halt, als er, aus einem junggrünenden, altstämmigen Buchenwald ins Freie hinausbiegend, unerwartet, duftverschleiert, hoch und machtvoll die Türme Lübecks vor sich in die Luft ragen sah. Da vergönnte er sich selbst und seinem Pferde längere Ausrast, stieg ab und lagerte sich unter den Schatten eines überhängenden Zweiges an den Waldrand. Vor ihm lag weite, leicht gewellte Heide, aus der Frühlingsblumen wie bunte Sternchen zwischen den noch braunschimmernden Heidekrautbüscheln hervorsahen, die mittägige Sonne gitterte ringsum seine Goldnetze über den Boden. Bienen summten und kleine blaue Schmetterlinge flatterten, sonst war alles still und lautlos, nur dann und wann kam verklingend ein Lerchenton aus der blauen Luft. So hatte Dietwald Werneken noch niemals zuvor allein in weiter Feld- und Waldeinsamkeit gelegen, ihm war's, als vernähme er zum erstenmal die Stimme der Natur und als lege diese sich ihm, wohl auch leise schwermütigen Klanges, doch mit einem warmen, heimelnden Anhauch ans Herz. Es war etwas Heimatliches, das ihn daraus überkam und seit Monaten zuerst für Minuten das Gefühl seines bittern Verlustes und seiner Lebenseinsamkeit in ihm überschleierte. Doch auch als dieses bald zurückkehrte, trat es ihm mit einem veränderten Gesicht entgegen. Es hatte von seinem tiefen Schmerze nichts verloren, aber seine Züge lagen milder ausgeglättet. Unablässig schwand das Leben im Herbst dahin, und unablässig schuf der Frühling es neu. Gleich den Schmetterlingen, die dort über der Heide flatterten, kamen auch die Menschen, gingen eine Weile drüber hin und ließen nichts von sich zurück, als ihr Gedächtnis noch für eine Spanne Zeit, solange die Liebe in einer Brust es bewahrte. Dann erst, wenn auch diese in Vergessenheit ausgeloschen, waren sie tot; doch der Lebende trug sie noch selber als Mitlebende in sich, konnte ihnen so Ehre wie Schimpf bereiten, Freudigkeit und Bekümmernis. Das war noch ein Ziel, Zweck und Inhalt des Seins, wohl wert, danach zu streben: daß sich Haupt und Herz mit Befriedigung Zeugnis ausstellen dürften, sie hätten des teuren Angedenkens in ihnen würdig gehandelt, und die Geleitbilder der Abgeschiedenen nickten noch immer wie ehedem liebevoll anerkennend und zustimmend darein. Eine linde Trostbeschwichtigung, ein neubelebter Mut durchzog zum erstenmal wieder aus der holden Frühlingslieblichkeit umher die Brust des Verlassenen, laut sprach er vor sich in die Sonnenstille hinein: »Als komme es mit einer geheimen Kraft hier aus dem Boden herauf.« Er blieb noch eine Weile hingestreckt und ließ träumerisch den Blick über die Heide schweifen, aus der sich zur Linken, etwa eine halbe Wegstunde entfernt, der graue Turm und das Zinnengemäuer einer alten, stattlichen Schloßburg aufhoben. Auch hier, wie überall, waren Menschen gekommen und gegangen. Glück und Leid, von dem niemand mehr wußte, nur die Sonne hatte sie gesehen wie heut, und das windsummende Heidekraut flüsterte vielleicht ihr Gedächtnis noch fort.

Die ziehenden Gedanken Dietwald Wernekens hatten die herbe Trostlosigkeit, welche er noch bis hierher mit sich gebracht, in ein süßes Schwermutsgefühl über die Vergänglichkeit alles dem Leben Angehörenden umgemildert; es war doch noch schön, nicht mit bei den Toten zu liegen, den weichen Anhauch der Luft noch zu atmen. Weiße Wölkchen warfen da und dort kleine Schatten herab, die manchmal gleich leichten Nebelgestalten über die besonnte Fläche hinschwebten und auseinanderrannen. »Wie zurückverbliebene Schatten von Menschen, die einstmals hier gegangen,« sagte der Hinüberschauende mit lächelndem Ernst. Nun stand er auf, bestieg sein Pferd, das sich am frischsprießenden Grase des Waldrandes gütlich getan, und ritt weiter, den Türmen Lübecks entgegen. Doch bald hielt er nochmals einen Augenblick an, ein Bauer stand unfern vom Wege, mit einer Hacke ärmliches Sandbodenfeld auflockernd, und dem jungen Reiter kam das Verlangen, sich mit einem Namen im Gedächtnis zu bewahren, wo ihm fast plötzlich und unbereitet gleich dem Frühlingslaub über ihm Mut und Lebenshoffnung neu aus der Seele heraufgekeimt seien. Mit der Hand deutend, fragte er nach dem Namen des alten Schloßgemäuers zur Linken; kurz aufschauend, erwiderte der Bauer: »Burg Arensfeld, Herr,« und Dietwald setzte seinen Weg fort. Nur einmal noch wandte er unwillkürlich die Augen zurück; mit einem eignen, geheimnisvollen Glanz spielte das mittägige Sonnenlicht drüben am Waldrand, wo er gerastet, als ob goldene Fäden über dem braunen Heidegrund zerschwebten.

Auch die Stadt Lübeck übte im Verlauf des Nachmittags einen starken Eindruck auf den Ankömmling, denn obwohl Hamburg im letzten Menschenalter außerordentlich blühend und bedeutsam heraufgewachsen war, konnte es sich doch an Mächtigkeit äußern wie innern Ansehens mit dem Vorort der Hanse noch weitaus nicht messen. Umherwandernd nahm er alle Sehenswürdigkeiten auf den Gassen mit einer Anteilnahme im Augenschein, deren er sich noch am Morgen nicht mehr fähig gehalten hätte; hohes Trachten, Kraft und Stolz lang vergangener Geschlechter sprachen ihm, wenn auch aus schweigsamen Steinen, überall beredt ans Herz. Ein rotes Abendlicht begann die Doppeltürme der Marienkirche, zwei leuchtenden Säulen gleich, über den verschütteten Giebeln und Dächern aufglühen zu lassen, als er in der Königsstraße vor einem Hause anhielt, dessen Außenwand einige Schuh hoch über dem Boden durch ein kleines absonderliches Bildwerk verziert war. Halb erhaben aus Stein gemeißelt und in die Mauer eingefügt, stellte es einen Reiter dar, der auf weitausgreifendem, fast erschöpft zusammenstürzendem Roß fortjagte. Betrachtend war Dietwald vor dem unverständlichen Hauszierat stehen geblieben, nun drehte er den Kopf, denn ein ungefähr ihm gleichaltriger Mann hatte ebenfalls seinen Schritt gehemmt und sprach mit artiger Zuvorkommenheit:

»Ihr seid wohl fremd bei uns, Herr, wie Eure Umschau kundgibt?«

Der Angesprochene bejahte, höflich den Gruß erwidernd, und fügte hinzu:

»Wisset Ihr, was dieser absonderliche Schmuck des Hauses bezwecken mag?«

»Er erhält ein Angedenken,« versetzte der andere, »an eine Errettung unserer Stadt aus großer Fährlichkeit. Der Reiter kam bei Nacht weither gesprengt, an dieser Stelle stürzte sein Pferd tot zu Boden, doch er selber eilte weiter bis an das Haus des Burgemeisters, welcher derzeit hier in der Nähe gewohnt haben muß, und überbrachte demselben Botschaft eines geplanten Verrates und Überfalles, von dem er Kunde gewonnen. Des zum Gedächtnis hat man sein Bildnis hier aus Stein gehauen, so redet zum mindesten eine Erzählung im Volksmund.«

»Und weiß man nicht, wer es gewesen, der sich solches Verdienst erworben?«

Der Lübecker Bürger schüttelte den Kopf. »Es wird wohl gesagt, er habe nicht unserer Stadt angehört, so mag sein Name, als der eines Fremden, bald vergessen sein. Auch wann, bei welcherlei Anlaß und ob es wirklich so geschehen, gibt keine Schrift Auskunft. Unsere Vorväter haben viel solch wilder und wirrer Kriegsläufte befahren, und ob wir beide noch nicht allzu lang in die Welt dreinschauen, wissen wir's doch wohl auch schon aus eigener Lebenszeit, wie gar hurtig im Handel und Wandel der Tage das Gedenken an Gutes und Übles unter den Menschen auslischt. Euch aber lasset mich Gutes wünschen, Herr, und so Ihr länger zu Lübeck verweilt und eines Rates oder Auskunft bedürfen solltet, fraget unfern der Domkirche in der Dankwardsgrube nach dem Kaufmann Jordan Warendorp. Ich werde mich gern in Bereitschaft halten, einem Fremden nach meinen geringen Kräften behülflich zu fallen,«

Der Sprecher grüßte artig zum Abschied, Dietwald Weineken versetzte:

»Ihr machet dem Ruf der Bürger Eurer Stadt, freundwillig gegen fahrende Leute zu handeln, Ehre, Herr Warendorp. Ich weiß noch nicht, wie lange ich zum Aufenthalt hier genötigt bleiben werde, und es mag füglich eintreten, daß ich Euer wohlmeinendes Anerbieten nutzen könnte, da ich zum erstenmal als ein völlig Fremder und Sippenloser von Hamburg hierher gekommen.«

Er fügte seinen Namen hinzu und grüßte ebenfalls, um seinen Weg fortzusetzen, doch Herr Jordan Warendorp hielt jetzt den schon gehobenen Fuß und wiederholte:

»Werneken? Sagtet Ihr Herr Dietwald Werneken?«

Der Befragte entgegnete: »So heiße ich mich; warum vermeint Ihr?«

»So klingt mir Euer Name doch nicht völlig fremd,« versetzte der Lübecker Kaufmann nachdenklich. »Lasset mich einen Augenblick übersinnen – ein wenig anders verlautete der Jungfrauenname meiner Ältermutter, die sich Barbara Wernekeng benannte.«

»Wohl eines Zufalles Ähnlichkeit, obwohl ich sonst bisher von niemandem vernommen, der gleichen Namen mit mir geführt,« antwortete Dietwald; doch Jordan Warendorp schaute ihm jetzt mit einem achtsam prüfenden Blick gesteigerter Anteilnahme ins Gesicht und fiel rasch ein:

»Man kennet sich selber minder gut von Antlitz und Zügen, als andere uns gewahren, aber wenn ich Euch betrachte, will mich fast bedünken – wisset Ihr zu sagen, wie Eures Ältervaters Rufname gewesen und aus welcher Stadt er seinen Ursprung genommen?«

Dietwald lächelte leicht: »Grad so weit reichet meine Kenntnis von unserer Herkunft, daß er Adalmar geheißen und von Rostock als ein jugendlicher Mann nach Hamburg gekommen.«

Doch nun streckte Jordan Warendorp ihm plötzlich beide Hände entgegen. »So seid mir von Herzen willkommen zu Lübeck, lieber Vetter, denn wisset, meine Ältermutter Barbara entstammte gleichfalls von Rostock her und besaß einen Bruder Adalmar, der in jungen Jahren als Kaufgeselle in die Fremde gegangen. So gedenke ich's wohl, es als Knabe aus meines verstorbenen Vaters Munde vernommen zu haben, aber es ist, wie ich zuvor sprach, daß gar rasch alles Gedächtnis in der Welt verloren geht, und meinen Eltern ist keinerlei Kunde und Zusammenhang mehr mit Sippe meiner Ältermutter verblieben. Doch hier, deucht mich, hat gute Fügung des Himmels gewaltet, oder ein Zug Eures Gesichts hat mich unwissentlich bewegt, Euch fremd auf der Gasse anzusprechen, denn wie ich Euch jetzt schaue, redet mir gar manches unverhehlt, daß wir von gleichem Blute hergekommen.«

Die beiden hochgewachsenen, dunkelblonden und blauäugigen jungen Männer im selben Alter des Endes der zwanziger Jahre boten in der Tat mancherlei äußere Übereinstimmung und auch Ähnlichkeit der Züge dar, nur trugen diejenigen Dietwald Wernerkens mehr die Kennzeichen einer Ausbildung durch früh begonnene innerliche geistige Tätigkeit. Doch die Zweifellosigkeit ihrer nahen Verwandtschaft ergab sich immer gewisser auch aus der Fortsetzung ihres Gesprächs, in welchem Jordan Warendorp sogleich darauf bestand, das Pferd seines Vetters aus der Herberge zu holen und ihn als Gast in seine Wohnung zu überführen. So wandten sie sich der Holstengasse zu, wo Dietwald sein Roß untergebracht hatte, der letztere gernwillig bereit, der Ladung seines so unvermutet aufgefundenen Blutsverwandten Folge zu leisten. Die Königsstraße hinaufschreitend, bogen sie durch die obere Johannisstraße in die Breitestraße ein: zwischen der auf- und abflutenden Volksmenge dort kamen ihnen zwei männliche Gestalten entgegen, von denen eine besonders unwillkürlich den Blick auf sich zog. Es war ein höfisch gekleideter Herr, dessen Haupthaar und Bart leicht zu ergrauen anhub, in seinen Bewegungen lag eine vornehme Lässigkeit, in seiner Miene sicheres patrizisches Bewußtsein, doch ohne hochfahrenden, beleidigenden Stolz. Wenn der Bart ihm nicht männlichen Ausdruck verliehen, hätte sein Gesicht fast als das einer in mittleren Jahren stehenden, noch anmutig liebenswürdigen Frau erscheinen können; mit heiterer Milde sahen die Augen aus weichem, lächelndem Antlitz, ein feiner, schalkhafter Zug umspielte den Mund, und weiblich schmale, weiße Hände ergänzten das Zarte seines überaus einnehmenden Wesens. Er unterhielt sich im langsamen Dahinschreiten launig mit seinem Begleiter, der hager und finster blickend völligsten Gegensatz zu ihm darbot; einzelne der Vorübergehenden begrüßten ihn mit tiefster Ehrerbietung, die meisten ließen ihn völlig außer acht. Auch Jordan Warendorp tat das letztere, Dietwald Werneken indes drehte mechanisch, den beiden nachblickend, den Kopf und fragte, wer die eigenartig ungewöhnliche Erscheinung gewesen. Er erhielt die Antwort: »Herr Nikolaus Brömse, der gewesene Burgemeister unserer Stadt vor Herrn Wullenweber, der Päpstlichen und der Junker oberstes Haupt zu Lübeck.«

»Sein Gesicht schauet frauenhaft sanft,« versetzte Dietwald, »man sollte nicht vermeinen, daß er in seinen Händen solch gewichtiges Regiment halten gekonnt.«

»Gewahrtet Ihr dieselben mit unseren Augen, so würden sie Euch minder weiß bedünken, vielmehr von der Farbe des Saftes unter ihrer sorglich behüteten Haut,« erwiderte der Lübecker Kaufmann leiseren Tones. »Ein Wort von Vätern her redet dem Anschein Trug nach, und ich weiß Einen, den der lächelnde Mund lebendig mit seinen Zähnen zerreißen würde, wenn er dessen mächtig wäre. Seien wir des froh, daß er's nicht mehr ist und verhoffentlich niemals wieder sein wird.«

»Und wer war sein Begleiter?« fragte Dietwald; »obzwar er mir füglich fremd sein muß, war's mir doch, als spreche mich Bekanntes aus ihm an.«

»Das mag wohl mit Grund geschehen, denn er stammt von Euch her aus Hamburg, wo er mancherlei Sippen an Eltern und Gebrüdern besitzt. Es ist Herr Johannes Krevet, gleichfalls außer Würden gesetzter Ratsherr unserer Stadt, der Päpstlichen und der alten Geschlechterherrschaft eifrigster Freund. Vor etlichen Jahren noch hätte sich wohl keiner leichten Sinns getraut, wem Hab und Gut lieb gewesen, ohne große Ehrerbietung auf der Gasse an den beiden vorüberzuschreiten. Es ist bessere Zeit geworden – kommt, Herr Vetter, Ihr scheinet nicht sonderlich in den Läuften erfahren, die sich bei uns zugetragen, lasset uns darüber beim Willkommstrunk in meinem Hause weiterreden!«

Bald fand sich Dietwalds Pferd und Gepäck in dem geräumigen Hausgewese der Dankwardsgrube wohl untergebracht, und Frau Erdmute Warendorp, ein junges, frohsinnig-sittiges Weib, hatte den unerwarteten Gast und unbekannten Anverwandten mit freudiger Zuvorkommenheit empfangen. Sie begrüßte ihn, als sie hochüberrascht erfahren, wer er sei, in unbefangener, natürlicher Traulichkeit mit einem Kusse ihrer frischen blühenden Lippen, daß es den Ankömmling einen Augenblick mit einem wunderlich-fremdartigen Gefühl überlief, wie er in so herzlicher Weise aufgenommen und zum erstenmal in seinem Leben von der Hand eines anderen Weibes als seiner Mutter und Schwester vertraulich gehalten wurde. Dann begab sie sich eilfertig, sorglich-geschäftig zur Bereitung der Abendmahlzeit davon, ihre helle Stimme klang rufend bald hier, bald dort im Hause auf. Jordan Warendorp hatte seinen Gast auf einen bequemen Armsessel vor dem schweren Eichentisch des Speisegemaches niedergeladen und füllte die schmuckreichsten Erbbecher des Gerätschrankes mit dem Willkommstrunk; Dietwald Werneken saß zugleich seltsam angeheimelt und gegen eine bitterlich in ihm erneuerte schwermütige Empfindung ankämpfend. Aus seiner einsamen Verlassenheit in der Welt war er so rasch und unvermutet in eine freundliche, ihn wie zugehörig empfangende Häuslichkeit versetzt worden, daß ihn das Bewußtsein der eigenen Heimatlosigkeit mit verdoppelter Schwere befiel. Alles um ihn atmete lieblich heiteres Leben, behagliche Schönheit des Daseins und gemeinsames friedliches Glück; nur halben Ohres vermochte er Achtsamkeit auf die Mitteilung seines Wirtes zu verwenden, der nun, auf das unterwegs

abgebrochene Gespräch zurückkommend, mit lebhaftem Eifer über die seit kurzem umgewandelten öffentlichen Zustände seiner Vaterstadt redete.


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