Wilhelm Jensen
Dietwald Wernerkin
Wilhelm Jensen

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Zweites Kapitel

Da liegt in der flachen Elbniederung zwischen den Städten Hamburg und Lüneburg auf der linken Seite des breiten Stromes ein weitgestreckter Ort. Er nimmt sich von fern für die Zeit hochbedeutsam aus, denn fünf Kirchen und das hohe Dach eines Domstiftes ragen in beträchtlichen Zwischenräumen auf und Giebelhäuser scheinen die letzteren zu füllen. Aber mit jedem Schritt erkennt der näher Kommende, daß der Anblick von weitem ihn getäuscht. Die Abstände zwischen den Kirchen erweisen sich meistenteils als große, leere, höchstens zu Gärten angebaute Lücken. Nur einzelne Häuser tauchen da und dort daraus empor, wüste, unkrautverwucherte Plätze dehnen sich umher, über denen die Lerchen in der Luft trillern. Doch das Ganze redet noch von einer anderen und stolzen Vergangenheit. Es ist ringsum von Trümmerresten einer gebrochenen Ringmauer umgürtet, ab und zu sieht ein erhaltenes unverschlossenes Tor wie ein ausgehöhltes Auge aus dem zerfallenen, verwitterten Steinkranz. Dahinter herrscht beinahe die ländliche Stille eines langgestreckten Dorfes, nur hin und wieder hat sich ein an städtische Gassen gemahnender Zusammenschluß von Gebäuden erhalten. Traumhaft blicken diese um sich, alles besitzt kaum etwas der Gegenwart Angehöriges, liegt nur wie eine weltabgeschiedene Erinnerung einstiger Tage. Es ist Bardowiek, die älteste Stadt des Sachsenlandes, ehemals die mächtigste, reichste und volkbelebteste des gesamten Nordens. Die Longobarden haben sie in urvordenklicher Zeit gegründet, doch vor zwei Jahrhunderten hat der von dem Hochmut ihrer Insassen wildergrimmte Zorn Heinrichs des Löwen sie erstürmt, zerstört, bis auf die Kirchen in Asche gelegt. Seitdem ist Bardowiek als befestigte Stadt nicht wieder erstanden und die ›Lange Barde‹, der Fluß, dem sie einst die Blüte ihres Handels verdankt gehabt, verschlammt. Sie ist in Wirklichkeit nichts als ein großes, mit alten Türmen und seltsamen Ruinen untermischtes Dorf, dessen verarmte Bewohner der Mehrzahl nach mit dem Anbau von Gemüsen und Obst ihr Dasein fristen und mit ihnen zur Ernährung von Lüneburg und Hamburg beitragen, das ein ärmliches Fischerhüttendorf war, als die Kauffahrteiflotten Bardowieks stolz an ihm vorüber durch die Elbe in die Nordsee hinauszogen.

Aus diesem absonderlichen Überbleibsel der Zeit aber zog nun an einem Maienfrühmorgen gegen das Ende des sechsten Jahrzehnts des vierzehnten Jahrhunderts ein junger Reitersmann in dem Sonnenschein hinaus. Er mochte noch kaum an sein zwanzigstes Jahr streifen, doch war mannhaft-stattlich an Gliedern und großer, schlanker Gestalt. Lebenskraft und Lust und frischer Jugendmut sprachen aus den Zügen, die jemanden, der von jenseit der Alpen heraufgekommen wäre, mit überraschender Ähnlichkeit an manches Gesicht der lombardischen Ebene erinnert haben möchten. Nur lag in den schieferblauen Augen keine von südlicher Sonne erzeugte, behend umlaufende welsche Hast, sondern eine ruhige deutsche Treuherzigkeit, und manchmal überglänzte diese ein eigenartiger, sonstigen Augen der Zeit fremder Schimmer, der an das träumerische Himmelslicht über den alten Trümmerresten Bardowieks gemahnte. Es war etwas in dem Blau zwischen den Lidern, als hätten diese sich viel zu den trillernden Lerchen in der Luft aufgeschlagen und ihr Steigen und Fallen ein rinnendes Widerbild darin hinterlassen.

Ausgerüstet war der junge Geselle nach Ritterbrauch der Tage mit derbem, von Arm- und Beinschienen bestepptem Koller, dunkeln Stahlbuckeln auf Brust und Schultern. Doch mit der schlichten Eisenkappe und dem zieratlosen Schild deutete alles nicht auf reiche Abkunft, eher das Gegenteil. Sein breitnackiger Grauschimmel war gleichfalls schmucklos und ungepanzert, am Sattelgurt aus rohem Hanfgewirk hing das lange Schwert, nur mit einer Kreuzstange als Gefäß, noch neu und ungebraucht, wie der kurze Faustspieß an seiner Rechten. Er erregte den Eindruck eines fahrenden Abenteurers, halb eines Ritters, halb eines Dienstmannes, der nach dem Glück in die Welt ritt.

Und so war's. Er hieß Dietwald Wernerkin, von altem longobardischen Blut. Seine Vorväter waren stolz und angesehen zu Bardowiek gewesen, aber mit dem Untergang der Stadt verarmt und allmählich dem edlen Stand ihres Ursprungs mehr und mehr entfremdet. Doch hatte er von seinem Vater noch ein kleines Besitztum zu erben vermocht und war darin aufgewachsen, er selbst wußte kaum wie, fast ohne seine früh verstorbenen Eltern noch zu kennen. Er hatte als Knabe einsam auf den weiten Trümmerfeldern seiner Vaterstadt gespielt, dann später sich in das hochwuchernde Gras der alten Schutthaufen gestreckt und oft den Wind über sich murren gehört. Da war's ihm von früh auf manchmal mit Gedanken gekommen, die von den anderen um ihn niemand verstand, auch der alte Stiftsdominus nicht, der seinem Vater wohlgesinnt gewesen und im Gedächtnis an diesen den Sohn in der zu Bardowiek seltenen Kunst des Lesens und Schreibens unterrichtet hatte. In der Brust des Jünglings aber war immer stärker ein Widerspruch großgewachsen, eine träumerische Anhänglichkeit an seine stille, schlafversunkene Heimat und ein pochender Drang in die fremde, lebensvolle Welt draußen, von der ihm nur dann und wann eine Wunderkunde ans Ohr traf. Das aufwachende alte Ritterblut kämpfte in ihm mit der späteren trägen Gewohnheit seines Geschlechts, trieb ihn fort und hielt ihn zurück. Er stand allein, gleich einem aus der zerfallenen Mauer vor ihm aufgesprossenen jungen Kieferbaum, besaß keinen Freund und keinen Berater, wußte nicht, was er wollte, noch wohin, nur daß ein guter Arm und ein freudiger Mut da draußen vielfach begehrt sei. Und beides, die Kraft an Leib und Zuversicht, fühlte er in sich schwellen.

Da hatte er sein bißchen Gut an Haus und Boden in ritterliche Waffen und Wehr verwandelt. Es reichte gerade aus für seine Rüstung und für das Pferd, ihn davon zu tragen. Sonst nahm er nichts mit sich und hinterließ nichts, und niemand gab ihm das Geleit. Die Bewohner Bardowieks lagen noch im Schlaf, oder wo sie da und dort schon beim kärglichen Feldbau beschäftigt standen, sahen sie ihm kaum mit gleichgültigem Aufblick nach. Sein Trachten war ihnen unverstanden fremd, wie er selbst, er hatte nie etwas mit ihnen gemeinsam gehabt. Nur ein Mädchen schaute mit Augen hinter ihm drein, in denen sich deutlich lesen ließ, es bereitete ihr Herzeleid, daß sie ihn vermutlich niemals wieder gewahren sollte. Aber obwohl es unfraglich die Hübscheste unter allen jungen Dirnen Bardowieks war, warf Dietwald Wernerkin keinen Blick zu ihr hinüber. Er hatte sie nie angesehen, so wenig wie eine andere, wußte nicht, was der Glanz zwischen ihren Lidern, wenn sie auf ihn gerichtet waren, bedeutete. Kraftvolle Männlichkeit der Glieder umschloß seine karge, fast ärmliche Rüstung, doch darüber leuchtete, am Rande der Eisenkappe, von langem, hellem Gelock umrahmt, ein sorglos schönes, fast wie jungfräuliches Knabenantlitz.

Nun hielt er in einiger Entfernung hinter dem alten leeren Tor, aus dem er hervorgekommen, seinen Schimmel noch einmal an und warf einen Blick auf seine stille Vaterstadt zurück. Über ihm sangen zahllose Lerchen in der blauen Luft, kurz ging eine leichte Trübung durch seine gewendeten Augen. Dann hob er sie zu den unsichtbaren Sängern über sich empor und sagte nickend: »Ihr begleitet mich,« und ritt fürder.

Seine Richtung durch das niedrige, bruchige Land hielt sich geradaus gegen Norden. Er war bisher nie weiter als bis zur Stadt Lüneburg über den Umkreis seines Geburtsortes hinausgelangt und seinen leiblichen Augen bald alles wildfremd. Noch vor seinen geistigen Sinnen stand ein nie gesehenes Bild und klang ihm mit einem Zauberwort ans Ohr: Lübeck! Er hatte schon als Knabe in einer alten Schrift gelesen, daß derselbe Heinrich der Löwe, der Bardowiek zerstört, die niedergebrannte Holzstadt Buku mit steinernen Häusern und Mauern wieder aufgebaut habe. Daraus war eine heimliche Verbindung zwischen seinen Gedanken und der Löwenstadt entstanden, ein Wunsch von Kindertagen her, einmal nach Lübeck zu kommen, und jetzt befand er sich auf dem Wege dorthin. Was er in der großen, unbekannten Handelsstadt wolle, suchen und finden könne, wußte er nicht, aber es gab keinen Ort in deutschen Landen, wo er irgend einen Anhang und Förderung besessen hätte.

Übrigens erwies sein Gehaben, daß er trotz der Fremde, durch die er dahinritt, seines Weges und der Verhältnisse desselben nicht unkundig war. Zwar ließ sich das, woraus er forttrabte, kaum ein Weg, geschweige eine Straße benennen, doch unbeirrt und scharfsichtigen Blicks hielt er seine Richtung gegen die Stadt Lauenburg inne, um bei dieser auf einer Fähre über die dort verhältnismäßig noch schmale und noch nicht in viele Arme verbreiterte Elbe zu gelangen. Dann indes wandte er sich nicht geradaus weiter gegen Lübeck, sondern unter dem öden, gelben Sanduferhang von Lauenburg hart am Strombett flußabwärts, um mit mancher Meile Umweg die Heerstraße zwischen den Städten Hamburg und Lübeck zu gewinnen. Er wußte, daß es für einen einzelnen nicht ratsam war, durch die Lande des Herzogs Erich von Sachsen zu reiten, wenn ein gewalttätiger Überfall ihm auch nicht viel anderes nehmen konnte als den Gaul, auf dem er saß, und die Kleider, in denen er steckte. Doch wenn ein ungünstiger Zufall ihn in die Hand des Herzogs Erich selber geraten ließ, mochte dieser sich leichthin den jugendkräftigen Mann obendrein als guten Fang für seine Soldhaufen zueignen, deren er bei seinen unablässigen Fehden mit den Nachbarn stets vielfältig benötigt war. So zog der junge Geselle klugbedacht pfadlos durch das menschenleere Gestrüpp und sumpfigen Grund hart am Elbgestade entlang, und es war später Nachmittag, ehe er bei ›Bergendorp‹ aufwärtsbiegend und den schmalen Billefluß an einer Furt durchreitend nach Stormarn in die holsteinischen Lande einbog. Dann erreichte er im Halbdunkel der nordisch dämmerhellen Maiennacht die von ihm erstrebte Verbindungsstraße zwischen Hamburg und Lübeck, welche beide Städte, um dieses gewichtigsten Landhandelszuges willen nach Kräften gegen räuberischen Anfall zu schirmen besorgt waren, an besonderen Gefahrstellen von riesigen Leuten bewachen ließen. Nach einer Weile traf er auch auf eine einsam an der Straße belegene Wegherberge, die ihm, obwohl schmutzig und verkommen, doch zur Ausrast und Unterkunft für die Nacht erwünscht fiel. Hungrig verzehrte er in der dumpfen Gaststube die ihm von dem schon halb verschlafenen Wirt beschaffte wenig schmackhafte Nahrung, streckte sich danach alsbald, vom ungewohnt langen Ritt todmüde, auf die harte Holzbank zurück und versank sogleich in festen Schlaf. Nur undeutlich vernahm er, daß etwa um eine Stunde später die Tür sich noch einmal öffnete und zwei andere Gäste sich im Dunkel an der Wand gegenüber zur Ruhe auf den Boden hinbetteten. Die nur halbbewußt flüchtig aufgeschlagenen Lider fielen ihm rasch wieder zu, und ein Traum kam über ihn, in dem er zwischen den mit Strauchwerk verwachsenen Vorzeitresten seiner Vaterstadt lag und die Stimmen zweier Vogelsteller hörte, die sich über einen guten Fang miteinander verabredeten. Er gewahrte sie nicht, aber durch Windesgesumm, das die Halme um ihn bewegte, scholl's ihm ans Ohr, daß der eine sprach: »Wenn der Tag gut ist, hält sie sich jeden Morgen draußen auf der Heide, wohl eine halbe Stunde vom Nest,« und der andere erwiderte: »Laß uns, eh' das Licht kommt, beizeiten achten, daß wir die Dohne richtig stellen, es ist ein Goldvogel, der guten Erlös abwirft.« Dann strich der Wind, stärker murrend, über Dietwald Wernerkins Gesicht, hob ihn wie eine kreiselnde Vogelfeder von der Erde und trug ihn über Länder und Meere fort, immer in eine neue, fremdartige Welt. Zuletzt in eine Gegend, in der alles aus flammendem Golde gebildet schien, und er fuhr vom Schlaf in die Höhe, und die frühe Maienmorgensonne goß ihre Strahlen über ihn.

Er lag allein in der beim Tageslicht noch wüster aussehenden Schenkstube, die beiden nach ihm gekommenen Gäste waren bereits aufgebrochen. Eilig sattelte er sein Pferd, entrichtete von seiner geringen Geldesbarschaft die Zehrung und ritt nordwärts gegen die Stadt Oldesloe von dannen. Doch ließ er diese mit ihrem braunen Dächerhaufen ziemlich zur Linken, der Weg ging geraume Zeit durch junggrünenden Buchenwald, dessen Randgezweig von fröhlichem Finkengeschmetter widerhallte. Der vielstimmige helle Klang war dem Reiter von seiner entwaldeten Heimat her fremdartig neu, und er lauschte freudig darauf, es schien ihm wie ein beglückendes Vorzeichen des Tages. Dann aber wichen die Stämme vor ihm zur Seite, und leicht gewellte weite Heide breitete sich aus. Wie bunte Sternchen sahen Frühlingsblumen zwischen den noch braun schimmernden Heidekrautbüscheln hervor, die Morgensonne schillerte ringsum feine Goldnetze über den Boden. Da und dort glitzerte in der Weite ein aufragender Bau, am nächsten hob sich, etwa eine halbe Wegstunde entfernt, der graue Turm und das Zinnengemäuer einer stattlichen Schloßburg aus dem niedrigen Grund. Doch nur kurz verweilte der Blick des jungen Mannes darauf, seine Augen gingen geradaus, und nun lief's ihm mit einem sonderbaren Schauer über den Rücken. Dort stiegen, noch meilenfern und duftverschleiert, machtvolle Türme in die Luft, schienen auf ihren kühnen Spitzen das Blau des Himmels zu tragen. Das mußte Lübeck sein, der Traum seiner Knabengedanken, die stolze Löwenstadt.

Dietwald Wernerkin sah mit großen Augen hinüber, zu Häupten klang ihm ein Trillern und Schwirren, er schlug die Lider zu den über ihm schwebenden Lerchen empor und nickte lächelnd: »Seid ihr da? Seid gegrüßt –«

Da schnitt ein anderer Ton durch das Vogelgezwitscher und riß den Kopf des Reiters linkshin herum. Es klang wie ein Hülfsschrei, und als sein Blick der Richtung zuflog, sah er ziemlich weit vor sich auf der Heide ein hastiges Hin- und Herflimmern in der Sonne. Dann unterschied sein scharfes Gesicht ein flatterndes weibliches Gewand, von dem Arme sich gegen zwei dunklere Mannsgestalten sträubten und rangen. Aber diese hoben die vergeblich Kämpfende auf und schleppten sie dem nahen Waldrande zu.

Unverkennbar war es eine Gewalttat, die an ihr geübt ward, und plötzlich kam dem Zuschauer das Gedächtnis an seinen nächtigen Traum, der ihm die Stimmen zweier Vogelsteller zu Gehör gebracht, die einen Goldvogel auf der Heide zu fangen planten. Augenscheinlich hatte er nicht davon geträumt, sondern die wirklichen Reden der beiden nach ihm im Dunkel der nächtigen Herberge eingetroffenen Gäste vernommen, zweier lichtscheuen Wegelagerer und Strauchräuber, die eine gefahrlose, reiches Lösegeld verheißende Beute ausgekundet. Und zugleich stieß Dietwald seinem Roß den Stachel ein und stob am Saum des Waldes entlang, um den Übeltätern den Rückweg nach ihrem Schlupfwinkel zu verlegen. Es gelang ihm, noch ehe jene die bergenden Stämme erreichten; verdutzt herumfahrend, riß einer der Räuber mit wildem Fluchwort ein kurzes Schwert von der Hüfte, doch bevor er von seiner Wehr Gebrauch zu machen vermocht, traf ihn die Faustlanze des jungen Reiters mitten wider die Brust und schleuderte ihn zu Boden. Sein Genosse ließ sogleich die umfaßt gehaltene Beute frei und suchte als feiger Buschstrolch sein Heil in hurtiger Flucht; auch der Gestürzte sprang blutbeströmt auf und schoß ohne ferneren Widerstand wie ein gescheuchter Sperber jählings in den Wald. Was Gesträuch knackte und knatterte, und sie waren verschwunden.

Zum erstenmal im Leben hatte Dietwald Wernerkin eine Waffe gegen einen Menschen gehoben, und alles war zudem so plötzlich und unvorgesehen aus natürlicher Eingebung geschehen, daß er noch kaum einen Gedanken damit verknüpfen gekonnt und halb bestürzt über sein eigenes Tun dreinschaute. So gewahrte er auch jetzt zuerst diejenige deutlich vor sich, die er von ihren Drängern frei gemacht. Sie lag noch erschreckt auf den Knien, wie sie zuletzt hingefallen, und glich in Wirklichkeit so einem großen goldenen Vogel, denn sonnenblondes Haar fiel ihr, nur im Nacken von einer Spange zusammengefaßt, frei bis weit über den Rücken herab und gitterte, bei der Anstrengung ihres Ringens aufgewirrt, seine Glanzfäden verstreut rundum über ihr lang niederfließendes schilfgrünes Gewand. Zwischen dem Gelock aber sah das Antlitz eines Mädchens auf der Grenze der Kindheit und Jungfräulichkeit mit so überaus holdseliger Lieblichkeit hervor, wie der junge Reiter noch niemals etwas Ähnliches mit Augen gewahrt hatte. Es bedünkte ihn kaum möglich, daß sie ein menschlich-irdisches Geschöpf sei, so zartfarbig und sanft leuchtend zugleich waren ihre Stirn und Wangen, und er sprang vom Pferde, trat auf sie zu und fragte schüchtern:

»Was wollten die Ruchlosen von dir? haben sie dir wehe getan?«

»Nein,« versetzte sie jetzt mit einer helltönigen, weichen Stimme und schüttelte sich das Goldhaar von den Augen, »sie waren plötzlich da und trugen mich fort; mein Bruder sollte wohl viel dafür geben, mich zu lösen.«

»So hast du einen Bruder und bist wie andere – keine Heidefee –?«

Sie lachte: »Warum sollt' ich's? Davon erzählt nur die alte Hildemund in der Kinderstube. Seid Ihr ein Ritter?«

Er antwortete: »Die Goldsporen habe ich noch nicht, doch ich hoffe darauf, meine Väter hatten sie,« und das Mädchen fiel ein: »Das ist hübsch, Ihr verdient sie auch.«

Aber wie sie sich dabei nun aufrichtete und ungeahnt hoch und schlank in vornehmer Tracht vor ihm stand, kam's mit einem Schreck über ihn, daß er stotternd sprach:

»Verübelt's mir nicht – ich erschau's erst jetzt – Ihr seid kein Mägdlein, sondern ein Edelfräulein –«

Sie nickte, doch schüttelte gleich darauf den Kopf. »Eure Anrede zuvor gefiel mir besser, heißt mich so, wie Ihr's zuerst getan. Ich hab' Euch noch nicht Dank gesagt, daß Ihr mich vor den argen Leuten behütet. Ist's Euch nicht drum, und habt Ihr's nicht um meinetwillen getan?«

Sie streckte ihm mit einem kindlichen Lächeln ihre schmale blütenfarbige Hand hin und sah ihm so freundlich, wie es ihm noch nie von einem Menschen geschehen, gerade ins Gesicht. Dabei gewahrte er zum erstenmal klar ihre Augen und entgegnete, zaghaft ihre Hand fassend: »Wenn Ihr« – er stockte und hub unsicher nochmals an: »Wenn du's lieber hörst –« Hinterdrein jedoch kam's ihm leicht und froh über die Lippen: »Was für Augen hast du, als trügst du ein Stück vom Himmel oder zwei edle blaue Steine zwischen den Lidern. Gewiß tat ich's für dich, obwohl ich dich nie gesehen, doch nun ich dich kenne, wollt' ich, es wären hundert Räuber und ich allein gegen sie, dich zu befreien.«

»Da würd' Eure Kraft wohl nicht ausreichen,« erwiderte das Mädchen, »wenn Ihr auch den Mut hättet, ich glaub's Euch, es zu wagen,« und sie nickte ihm vertrauensvoll und zutraulich in die Augen.

Er hielt noch ihre Hand. »Dann rede mich zum Lohn auch so an, wie es dein Wunsch ist, daß ich zu dir spreche. Ich habe ja gleiches Recht, darum zu bitten.«

Sie zauderte ein wenig, ehe sie sagte: »Wir sind doch ungleich« – und sie setzte schnell hinzu: »Ihr seid kein Kind mehr.«

»Wenn du dich heute so heißt, dünkt's mich, bin ich auch noch nicht viel Gewaltigeres.«

Da lachte sie heiter: »Du hast recht, ich fürchte mich gar nicht vor dir. Wie ist denn dein Name?«

Er nannte ihn ihr, und sie wiederholte: »Dietwald – der klingt gut; so heißt ein Herzog drüben im Wendland.«

»Und wie heißt du?«

»Elisabeth.«

»Und dein Vater?«

Sie zögerte abermals ein kurzes Weilchen, bevor sie antwortete: »Der ist gestorben, von Mördern erschlagen worden, ehe ich noch auf die Welt kam.«

Dietwald wollte seine Frage nach dem Geschlechtsnamen ihres Vaters wiederholen, doch fiel sie ihm jetzt unruhig in den Beginn: »Ich muß wohl zur Burg zurück, gib mir noch eine Strecke Geleit, wenn du Zeit dafür hast.«

Ihre Hand deutete nach dem Turm und Gemäuer, die zur Linken über die Heide herragten; sie gingen nebeneinander, Dietwald Wernerkin führte sein Roß am Zügel. In der Art seiner Begleiterin lag etwas, das ihn verstummen gemacht und abhielt, seine Frage zu erneuern. Sie war vertraulich wie ein Kind und hielt ihn dankerfüllt noch an der Hand, sah ihm oft lächelnd mit den zaubervollen Augen ins Gesicht. Aber manchmal kam etwas Fremdes, Unsicheres dazwischen, wie ein Wolkenschatten, der hastig über ein besonntes Feld hinfliegt. Nun getraute er sich wieder zu fragen:

»Ist das deines Bruders Burg?«

»Nein, die liegt – mein Bruder, der älteste, ist weit fort, im Süden – ich bin dort nur zum Besuch.«

Sie erzählte rasch anknüpfend, daß sie seit Wochen an jedem Morgen wie heute auf die Heide hinausgegangen, da sei sie am liebsten. Das mußten die Wegelagerer erkundschaftet und danach den Plan gefaßt haben, sich ihrer mit Gewalt zu bemächtigen. »Nun kann ich nicht mehr hinaus,« erwiderte sie mit betrübtem Ton, »denn du bist nicht wieder zu meinem Beistand da, und es war so schön, ich hörte die Lerchen so gern singen.«

»Du auch?« antwortete Dietwald, ihr hastig großblickend die Augen zuwendend, und sie sah ihn ebenfalls an und sagte: »Hörst du sie auch gern?« und ein freudiges Verständnis ging zwischen den vier jungen blauen Augen hin und wieder. Nun erzählte er ihr von seinem wenig inhaltsvollen Leben bis heute, von den weiten Trümmerplätzen seiner Heimat, auf denen es sonnenstill und einsam sei, wie hier auf der Heide, und daß er gen Lübeck reite, um etwas in der Welt zu wollen und zu werden. Das Mädchen sah, ihm zuhörend, schweigsam drein, bis er schwieg. Dann versetzte sie: »Wer deinen Mut hat, kann viel werden; laß uns nicht zu rasch gehen, du kommst noch lange, ehe der Tag vorüber ist, nach Lübeck.«

So gingen sie langsamer und redeten, und oftmals standen sie still. Aber allgemach kam die Burg doch näher heran, daß man den breiten Wassergraben um sie her und die Zugbrücke unterschied, und jetzt hielt Elisabeth nochmals ihren Schritt und sagte, nach den hohen Türmen am Horizont weisend: »Nun mußt du reiten.«

Überrascht und halb verwundert sagte ihr Gefährte: »Darf ich dich nicht begleiten, bis du völlig in Sicherheit bist?«

»Nein,« gab sie rasch zur Antwort. »Du kommst zu weit von deinem Weg ab, und mir droht hier keine Gefahr mehr.« Ihre Miene sprach, es sei ihr Wunsch und Wille, er solle nicht weiter mit ihr gehen, aber ein unverkennbares Bedauern redete zugleich aus ihrem Antlitz. Sie stand und tastete mit der Hand am Nacken und fügte hinterdrein: »Ich möchte dir etwas zum Dank geben, daß du mir wohl das Leben gerettet, doch ich habe nichts als dies« – und sie nahm ein kleines Goldkreuz an seidener Schnur vom Hals – »wenn du's willst, erinnert's dich einmal, daß es heute morgen schön auf der Heide war.« Sie reichte ihm das Kreuzchen, faßte seine Hand und sagte lächelnd, doch nicht fröhlich: »Es bringt uns vielleicht noch wieder einmal zusammen, das will ich ihm mitgeben. Leb' wohl, Dietwald, und werde ein Ritter von Ruhm und Ehren!«

Er saß im Sattel und sein Pferd hatte ihn schon einige Schritte davongetragen, über ihm in der blauen Luft stiegen und trillerten die Lerchen. Da rief sie noch einmal: »Und vergiß die Lerchen nicht! Wenn wir sie hören, wollen wir aneinander gedenken!«

Als er sich wieder umwandte, stand sie schon fern, doch noch auf demselben Platz und sah ihm nach. Ihr liebliches Gesicht zerrann, bereits nicht mehr erkennbar, in den Sonnenstrahlen, nur der Goldglanz ihres Haares und der grüne Schimmer ihres Gewandes leuchteten und flimmerten noch über der stillen Heide. Aber in den Augen des jungen Reiters stand dennoch ihr Bild, als sähe er es noch unmittelbar vor sich, und keine Entfernung habe Macht, einen Zug daran auszulöschen. Ein namenlosfremdes, wunderseliges Gefühl pochte und zitterte in seiner Brust, es zog ihm das kleine Kreuz, das er noch in der Hand hielt, an die Lippen, um es halb scheu mit ihnen zu berühren. In der Mitte desselben stand, von einem Blätterkranz umfaßt, ein E eingegraben, und Dietwald Wernerkin sprach laut in die Sonne hinaus: »Ich komme zurück, Elisabeth!«

Wie er nochmals den Blick drehte, erschien sie gleich einem Kinde. Sie war's noch und war's auch nicht; wie zwei Kinder hatten sie miteinander geredet und sich in die Augen geblickt, und wieder auch nicht. Sein Herz besaß noch keinen Namen dafür, was es gewesen, er fühlte nur, daß bis heute die Welt um ihn arm und leer dagelegen habe und erst in dieser Stunde sein Leben einen Inhalt gewonnen. So reich, daß er's nicht stumm in sich bergen konnte, die Lippen es aufjauchzen mußten: »Elisabeth!«

Warum hatte sie ihm den Namen ihres Vaters nicht genannt und er sie nicht nochmals drum befragt? Und warum sollte er sie nicht in die Burg begleiten? Im letzten Augenblick, beim Abschied hatte er alles vergessen, nur wie im Traum ihr Antlitz gesehen und ihre Stimme gehört. Jetzt fiel's ihm mit zu spätem Bedenken in den Sinn, daß er nichts von ihr wußte als den Namen Elisabeth.

Er hatte über die Heide die Landstraße wieder erreicht, seitab auf einem Sandbodenfeld stand ein Bauer mit einer Hacke tätig, Dietwald ritt auf ihn zu. Beim Näherkommen des fremden Reiters wollte der Landmann davonlaufen, doch der erstere holte ihn, vorsprengend und winkend, rasch ein und fragte den ängstlich Zitternden nach den Namen des Herrn der Burg drüben. Das Gesicht Dietwalds flößte offenbar dem Bauern Beruhigung ein, er blickte, ein Kreuz schlagend, hinüber und gab Antwort: »Dem Junker Iring Malchen, Burg Arensfeld, Herr; haltet Euren Weg von ihr ab.«–»Kennst du die Schwester des Ritters?« fiel der Reiter ein. Der Befragte schüttelte den Kopf. »Ich habe keine gesehen, es bringt nicht viel Gutes, wem von drüben vor Augen zu kommen.« Dietwald vermochte nichts Weiteres zu erfahren und setzte seinen Weg fort. Zum mindesten war ihm verständlich geworden, weshalb Elisabeth ihn verhindert hatte, sie weiter zu begleiten; sie fürchtete für seine Freiheit von ihrem eigenen Verwandten, dem Insassen einer übelberüchtigten Raubburg. Dann kam ihm jedoch tröstlich ihre Äußerung ins Gedächtnis, daß sie sich dort nur zum Besuch aufhalte und ihr Bruder fern im Süden sei. Ihr sanftes Himmelsantlitz konnte auch nicht das der Schwester eines rohen Faustritters sein – aber wer sie sein und wie er sie wiederfinden mochte, er wußte, sie gedachte an ihn, wie er an sie, und es komme ein Tag, so schön wie heute, an dem die Lerchen ihm den Weg zu ihr zurückdeuten würden. Weit hinter ihm schon, fast wie etwas Fremdes, lag seit diesem Morgen seine stille Knabenheimat versunken, traumhaft aufsteigend lächelte und funkelte ihm ein neues Leben entgegen, gleich den himmelan ragenden Türmen der Löwenstadt, deren Goldkugeln wie das blonde Gelock Elisabeths zu flimmern begannen und über sich das Edelsteinblau ihrer Augen trugen.

Es war in der zweiten Hälfte des Nachmittags, als er durch das mächtige Holstentor und dahinter über die steilgewölbte Travebrücke in die Stadt Lübeck einritt. Ein größerer Gegensatz zu der Wegstille, die er zwei Tage lang durchmessen, war für die Zeit wenigstens in der nordischen Welt nicht erdenklich, als wie's ihn hier mit menschenbelebten Gassen und Plätzen empfing. Er kehrte in einer bescheiden aussehenden Herberge der zunächst vor ihm sich ins Innere der Stadt emporziehenden Holstengasse ein, brachte sein Pferd dort unter und begab sich eilig wieder ins Freie hinaus. Umherwandernd bestaunte er zwischen den Holzhäusern früherer Zeit die gewaltigen Kirchen, die neuen Steinprachtbauten am Markt mit schlanken Türmchen, Schwibbogen und durchbrochenen Giebelwänden, wie sie noch nirgendwo im Sachsenlande ihresgleichen fanden. Er ging durch die langen, zumeist mit Steinen bepflasterten Straßen, auf welche hohe Treppengiebel mit buntglasierten Ziegeln in wechselnder Gestaltung heruntersahen, durch die engen Zeilen, Hüxen, Gruben und Sackgassen, in denen überall in den offenen Türen und Toren die emsige Tätigkeit kaufmännischer oder gewerblicher Geschäftsarbeit herrschte. Die Kupferschmiede und Faßbinder pochten und hämmerten unter dem freien Himmel auf leichtgezimmerten Gerüsten, daneben arbeiteten die Schuster und Gewandschneider, ringshin verengten Laubengänge, Buden, Kellerluken, Scharen, Wangensteine und Vorsprünge sonstiger Art den Weg, und vielfältige Hantierung drängte Getümmel drumherum. Noch allmählich begann Dietwald sich inmitten dieses regsamen Tuns und Treibens fast noch einsamer und fremder zu fühlen, als gestern im Wildnisbusch des Elbufers. Niemand achtete auf ihn, höchstens sah eine junge Dirne ihm flüchtig nach. Weshalb eigentlich war er hierher gekommen und was sollte er hier suchen? Er besaß keinen Zusammenhang mit irgend einem der Tausende, die um ihn schafften, gingen und redeten, und ebensowenig einen wohlgefüllten Leibgurt, um abwarten zu können, ob das Glück ihm irgendwo in den Weg laufe. Wer begehrte hier seinen Dienst, und in welcher Art vermochte er überhaupt in diesem festgeordneten Bau des Lebens zu nutzen?

So kam er kleinmütigern Sinns, als er ausgegangen, auf den Marktplatz zurück, wo die Goldschmiede unter den Laubenbogen des Rathauses jetzt ihre von Metall und Gestein blinkenden Buden schlossen und mit schweren Holzläden sicher für die Nacht verwahrten, die öffentlich aussitzenden Wechsler ihre Silber- und Kupfermünzen, die Schreiber Tintenfaß und Federköcher zusammenräumten und ihren Behausungen zuwanderten. Der Abend brach schon mit einem mattern Zwitterlicht herein, nur auf den Spitzen der beiden hohen, schlanken Marienkirchtürme lag noch ein beinahe brennendes Rot der untergehenden Sonne. Seltsam flammend, zwei lodernden Fackeln ähnlich, standen die hohen Zwillinge in der dämmernden Luft, und unwillkürlich hielt der junge Wanderer den Schritt an und blickte nach ihnen empor. Dasselbe tat unfern von ihm im Fortschreiten auch ein stattlicher Mann in vornehmer Kleidung, zu achtlos, denn er sah nicht auf die Dinge am Wege vor sich, sondern stieß, in die Höhe schauend, gegen etwas, das vom Boden des Marktes aufragte, strauchelte und stürzte auf die Knie. Dietwald sprang mechanisch hinzu und sprach, hülfreich seine Hand vorstreckend: »Mög' Euch nicht Übles befahren!« Doch der Gefallene richtete sich selbst schnell und kräftig empor und versetzte: »Ein guter Heilgruß, den jeder allzeit brauchen kann!« Er warf einen kurzen Blick auf den Anlaß seines Niedersturzes, es war eine vorspringende Schwelle des Kaaks, der Schand- und Richtstatt Lübecks, dann fügte er hinzu: »Sahet Ihr auch nach den Fackeln und seid Ihr ein Daniel, ihre Flammenschrift zu deuten?«

»Euch kündet's Gutes nach der Deutung, die mir deucht,« erwiderte der Angesprochene schnell, »denn Ihr fielet dem Lichte entgegen.«

Die Augen des andern verweilten mit scharfer Prüfung, doch mit Wohlgefallen auf der Gestalt und dem Gesicht des Jünglings. Er erwiderte: »Habt Dank! Mögt Ihr wahr sprechen! Ihr seid fremd in unserer Stadt. Was sucht Ihr bei uns?«

»Ehre und Glück!«

Ein kurzes, schneidigtönendes Lachen, das an Schwertklang gemahnte, antwortete darauf. »Die sind nicht allemal zusammen! Seid Ihr frei oder ein Dienstmann?«

Dietwald nannte seinen Namen und fügte hinzu: »Von freier und edler Geburt –«

»Das heißt,« fiel der Fremde halb spöttisch ein, »Ihr vermögt nicht zu lesen und zu schreiben.«

Bescheiden erwiderte der junge Mann, daß er beides erlernt habe; sein Gegenüber versetzte rasch:

»Das laßt Ihr uns Krämern sonst. Ich wollte Euch nicht kränken: wenn ich Euch nützen mag, sagt's.« Er sann einen Augenblick und fuhr fort: »Der Zufall ist Vorbedeutung. Eure Hand wollte mir helfen, vielleicht kann ich's Euch. Das ist Handel wider Handel. Ich bin Johann Wittenborg, Ratsherr der Stadt. Kommt heute abend dorthin in die Trinkstube, dort findet Ihr mich, wenn's Euch bedacht ist, einen Dienst bei uns zu suchen. Fahrt wohl bis zur Nacht!«

Er deutete auf einen nahegelegenen Kellereingang unter den Bogenwölbungen des Rathauses und ging, kurz mit der Hand winkend, davon; doch aus seinen Zügen sprach, daß sich sein Wohlgefallen an dem jungen reisigen Gesellen noch vermehrt habe. Dieser war frohen Muts geworden, ersichtlich hatte das Waldgeschmetter der Finken am Morgen ihm mehr als eine gute Botschaft für den Tag verkündet. Die Stadt kreiste plötzlich nicht mehr mit dem unverstandenen und interesselosen Gewimmel eines Ameisenhaufens um ihn herum, er nahm teil an dem, was er um sich gewahrte und hörte, als sei er in wenigen Augenblicken verwandelt und ein Glied der großen lebendigen Gemeinschaft unter den jetzt erloschenen Türmen der Marienkirche geworden. Heitern Sinnes schlenderte er abermals durch die dunkelnden, stiller werdenden Gassen, doch ihm war's, als gehe er nicht allein, sondern eine schöne warme Hand halte ihn an der seinigen und führe ihn. In der linden Spätabendluft saßen die Bewohner mancher Häuser noch ohne den Holzverschluß ihrer Fensteröffnungen, und wenn der Vorüberschreitende hinschaute, war's ihm oftmals, als nicke ihm aus einem Gemach beim Flackerschein des ölgetränkten Lampendochtes das goldblonde Haar Elisabeths entgegen. Dann mochte die ihm von Herrn Johann Wittenborg anberaumte Zeit herangekommen sein, er kehrte zum Marktplatz zurück und stieg auf einer steilen dunkeln Treppe in den Rathauskeller hinunter. Doch drunten empfing ihn Helle; zwischen mächtigen, hohe Deckengewölbe tragenden Steinpfeilern flimmerte da und dort ein Lämpchen, unter dem Männer um eichene Tische saßen und aus großen Zinnkrügen tranken. Sie redeten zumeist nicht laut, sondern in bedächtiger Weise, aber das Zusammenklingen vieler Stimmen füllte doch die Luft mit einem allgemeinen Gesumme.

Der Ankömmling fragte nach dem Ratsherrn und ein Schenke wies ihn nach einer heller als der übrige Raum erleuchteten Ecke. Mehrere ältere ernst ausschauende Herren in Schauben von kostbarem flandrischen Tuch, mit ›Buntwerk‹, feinen Pelzarten vom Zobel, Marder, russischem Graufuchs ausgefüttert, zum Teil mit barettartigen Kopfbedeckungen, einige auch noch in der althergebrachten ›Gogel‹, der vom Gewand sich über den Scheitel aufschlagenden Kapuze, saßen dort um den Tisch, auf dem nicht zinnerne, sondern silberne Pokale standen. Johann Wittenborg war weitaus der jüngste unter ihnen und in Wirklichkeit noch von jugendlicher Frische des Antlitzes; Anmut und Kraft paarten sich drin, und ein enganliegender, dunkelgrüner Wamsrock mit bestickten Unterärmeln, den ein breiter goldener Schwertgürtel umschloß, hob seine schlanke, geschmeidige Körpergestalt. Doch erschienen hier in den einfallenden Schatten des Lichtes seine Züge schärfer als am Abend auf dem Markt, seine über den Augen aufgewölbte Stirn wie von rastlos arbeitstätigen innern Gedanken hervorgetrieben, und man sah, daß trotz seinem geringeren Alter die Umsitzenden mit aufmerksamer Acht auf seine Worte hörten.

Nun ward er des herankommenden jungen Mannes gewahr, doch anfänglich offenbar mit einem Blick, der sich erst auf ihn besinnen mußte. Dann indes kam ihm das Gedächtnis, er hob sich vom Sitz, trat dem ungewiß etwas in der Ferne stehen Gebliebenen entgegen und sprach:

»Ihr seid's und kommt pünktlich, so halte ich Euch auch pünktlich meine Zusage. Wir schicken morgen ein Schiff nach Wisby auf Gotland und von dort ums hispanische Land bis nach Venedig: rüstige Arme, Mut und ehrlichen Sinn braucht's zum Geleit. Eure Art und Augen haben mir gutes Vertrauen eingeflößt, unsere Stadt nimmt Euch als Geleitsmann in ihren Dienst. Haltet Euch im Frühlicht im Flußhafen zur Abfahrt gerüstet.«

Über Dietwald Wernerkins Angesicht war ein plötzliches Rot heraufgeflogen, seine Augen wichen verlegen vor denen des Ratsherrn aus und er stotterte ungelenk zur Antwort:

»Habt Dank, Herr Wittenborg – aber ich möchte nicht so weit von hier –«

»So lasset's,« entgegnete der Ratsherr kurz, »wenn Ihr Besseres im Auge haltet!« und er trat ohne weitern Gruß an den Tisch zu seinen Genossen zurück. Unverkennbar war er mit Gewichtigerem beschäftigt, als des jungen Gesellen noch weiter zu gedenken.

Dieser schritt, jählings aus seinen Hoffnungen gestürzt, mit glühenden Schläfen zur Seite. Die Füße, die ihn bisher freudig getragen, lahmten ihm schwer am Boden, und halb unbewußt setzte er sich in einem kaum überdämmerten, verlassenen Winkel an einen Tisch. Er war wieder so freundlos und fremd in der weiten Stadt, wie zuvor, und durch seine eigene Verschuldung. Warum hatte er gesäumt, das ehrenvolle und verheißende Angebot des Ratsherrn dankbar zu erfassen und festzuhalten? Er wußte nur, daß es ihm mit Übermacht gekommen war, er wolle nicht so weit in unbekannte Meere und Lande von der stillen, sonnigen Heide fort, über der das grüne Gewand und das blonde Haar wie eine Frühlingsblume mit goldenem Kelch ihm zunickten. Deshalb hatte er so töricht erwidert.

Ein Schenke war vorübergekommen, hatte eine Frage an ihn gerichtet, auf die er kaum bedacht entgegnet, und bald danach einen großen, randgefüllten Becher vor ihn gestellt. Mechanisch setzte Dietwald diesen an die trocken dorrenden Lippen, es war ein ihm unbekanntes, doch köstlich mundendes Getränk, so daß er öfter einen Zug davon wiederholte. Und seltsamerweise fiel dabei die Unschlüssigkeit und Bekümmernis mehr und mehr von seiner Seele ab, der fremde, feurige Südwein durchklopfte sein Herz und seine Gedanken mit immer höher wachsender Zuversicht und festigte ihm allmählich einen Entschluß im Kopfe. Er wollte der Stadt Lübeck mit dem nächsten Morgen wieder den Rücken wenden und geradeswegs zur Burg Arensfeld reiten, dem Junker Iring Malchen seinen Dienst zu bieten; denn er konnte sich wohl darauf berufen, daß er Elisabeth aus den Händen der Straßenräuber befreit habe und sicherlich ihrer Fürsprache bei dem Ritter gewärtig sein. Als Dienstmann des letzteren aber stand es bei ihm, Ruhm und Ehre zu gewinnen – und wie der heiße Wein Siziliens ihm das Blut stärker durchflutete, sah Dietwald Wernerkin einen Tag vor sich leuchten, an dem das Schwert eines Fürsten über seinem Nacken blitzte, um ihn selbst als Ritter vom Boden aufstehen zu lassen. Und mit stolzem Gefühl ebenbürtigen Ranges trat er herzpochend vor den Bruder Elisabeths und sprach –

Es ward mittlerweile still und leer unter den Steingewölben des weithingedehnten unterirdischen Gelasses. Die Bürger hatten gemach nacheinander ihre Plätze ringsum verlassen, auch die vornehmen Herren in der helleren Ecke waren mit respektvollem Nachtgruß von dannen geschritten, und nur Herr Johann Wittenborg saß noch allein auf dem kunstreich ausgeschnitzten Eichenholzstuhl am Tische. Ein schweigsam ernsthaftes Sinnen verschattete seine Stirn, manchmal sah er geraume Weile in die Höhlung seines silbernen Pokals, ehe er diesen zum Mund führte, als spiegle sich ihm vom Boden des Erzgefäßes etwas entgegen, das er nachdenklich betrachte. Zuletzt indes leerte er mit einem Zuge den Rest seines Trunkes, stand dann gleichfalls auf und wandte sich hallenden Fußes zum Ausgang. Doch wie er dabei dicht an dem Sitze Dietwalds vorbeikam, fiel sein Blick auf diesen, und den Schritt haltend, sagte er mit einem kurz um die Lippen aufzuckenden Lachen:

»Seid Ihr's noch, der nach Glück und Ehre jagt, und habt Ihr vom Wein nicht klügere Antwort gelernt?«

»Gewiß, Herr Wittenborg,« versetzte der Befragte, ohne Scheu und anders als vorhin, kühn geradaus in das Gesicht des Ratsherrn schauend, daß dieser, ihn erstaunt übermusternd, entgegnete:

»Trügt's mich nicht, hat er auch Euch den Kopf aufgehellt, daß Ihr mein Angebot nicht mehr abweist. Warum gebrach's Euch zuvor an Mut?«

»Das tat's nicht, Herr Wittenborg, und ich danke Euch auch jetzt für Eure Hülfsbereitschaft, doch Ihr sagt's, der gute Trunk hat mir bereits vor Euch geholfen,« erwiderte der Jüngling zuversichtlich. Er war nicht trunken; aber seine Augen glänzten vom fremdartigen Weingenuß und seine Zunge flog; ihn trieb's unwiderstehlich, einem Menschen die junge Hoffnung in seiner Brust mit freudig hervorbrechenden Worten zu offenbaren, und er berichtete, warum er nicht in die weite Fremde davonziehen wolle und welcherlei Begegnung ihm am Morgen auf der Heide widerfahren. Doch Johann Wittenborg sah unwirsch drein und fiel ihm in die Rede:

»Hat Euch das Weib den Kopf verrückt und macht Euch zum Dirnenknecht? Da seid Ihr kein Mann für unsern Dienst. Und wonach trachtet Ihr?«

Aber ungeschreckt gab Dietwald den Entschluß kund, der ihm gekommen. »Ich will morgen nach Burg Arensfeld zurückreiten zum Ritter Iring Malchen –«

Durch das Gesicht des Ratsherrn ging's mit Überraschung.

»Burg Arensfeld,« wiederholte er – »ist dort Eure Schöne? Wie heißt sie?«

»Elisabeth.«

»Und ihres Geschlechts Name?«

»Den hat sie mir nicht genannt. Sie verweilt nur als Gast auf der Burg.«

»Und trägt Haar wie Gold und Augen wie blaue Edelsteine?«

Der Jüngling nickte stolzfreudig. »Schönere gibt's wohl nicht unter dem Himmel.«

»Nein, obzwar sie noch ein Kind ist, geht der Ruf ihrer Schönheit schon weit über die Lande. Wir wissen's auch wohl, daß sie seit dem Winter von ihrem Bruder unter den Schutz des Ritters Malchen auf seine feste Burg gegeben worden.«

»So wisset Ihr, wer sie ist?« rief Dietwald Wernerkin, beglückt aufspringend. »O, sagt's mir!«

Der Ratsherr hatte zuvor halb in Nachdenken versenkt erwidert, jetzt antwortete er mit einem leicht spöttischen Lachen:

»Nach dem Goldpirol spannst du deinen Bogen nicht, Knabe. Es ist Elisabeth von Holstein, des großen Geerdt nachgeborene Tochter, die Schwester Grafen Heinrichs des Eisernen, der ein Tor ist, den Sarazenen im Morgenlande sein Schwertlied um die Köpfe zu pfeifen, statt sich wider den Sultan im Norden zu wappnen, dessen Schwert die Pfosten seines Hauses zersägt.«

Er hatte es achtlos gesprochen, doch alles Blut war plötzlich aus dem Antlitz des jungen Gesellen vor ihm zurückgeschossen. Totenbleich, mit gelähmt dreinstarrenden Augen stand er noch und sagte mit schwerer Zunge: »Elisabeth von Holstein« – Dann wußte er selbst, daß es Wahrheit sei, er setzte sich haltlos wieder auf die Bank, und ein bitterlich schluchzender Krampf schnürte ihm die Brust zusammen. Es war ein so jäh verwandeltes Bild des glückseligen Jugendmutes, der eben noch seine Züge belebt, daß ein Schimmer des Mitleids in Johann Wittenborgs gedankenernsten Augen aufflog. Er legte die Hand auf die Schulter des wortlos Verstummten und sagte freundlich:

»Tröste dich, Knabe! Es gibt noch anderes in der Welt, darum zu wetten, als ein hübsches Mädchengesicht. Mich haben keine Weiberaugen jemals berückt und werden's nimmer. Aber wenn dein Herz nach dem Goldhaar steht, es ist wohl geschehen, daß ein fahrender Geselle von edlem Blut ohne Hoffen in die Fremde hinausgezogen und reich an Gut und Ehren heimgekommen, auch um ein Fürstenkind werben zu dürfen. Der Zufall hat uns heute zum andern Mal gesellt – holla, Schenke! – es ist Geisterstunde, Dietwald Wernerkin, du hast ein ehrliches deutsches Herz, wir wollen noch einen Becher miteinander trinken auf das, was die Zukunft uns vorbehält!«

Er setzte sich dem Jüngling gegenüber auf die Bank, zwei gefüllte Becher kamen und Johann Wittenborg stieß den seinigen gegen den seines Tischgenossen. Sonderbar lief der Widerhall des Anpralles an den mitternächtlich leeren Gewölben des fast dunkel gewordenen Kellers um, und es ward still danach. Schweigend blickten beide vor sich hin, als suchten sie in die Zukunft hinüberzusehen, der ihr Zusammenklang gegolten. Dann streckte Dietwald Wernerkin plötzlich entschlossen seine rechte Hand nach der des Ratsherrn und sprach:

»Habt bessern Dank als zuvor – ich will Euer Angebot halten, Herr Wittenborg!«


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