Ina Jens
Rosmarin
Ina Jens

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Geburtstag.

Bei uns daheim wurden die Geburtstage der Kinder weder mit einem großen noch mit einem kleinen Feste begangen. Die Mütter mögen sich ihrer wohl im stillen erinnert haben, aber für uns Kinder verlief der Tag ohne jede Bedeutung.

Nun hatte ich aber einmal eine Geschichte gelesen, in welcher der Geburtstag eines Mädchens mit den lieblichsten Farben gezeichnet war. Es wurde da von einem geschmückten Tisch, von Kuchen und Lichtern, von Geschenken, Einladungen, Schokolade, Spielen und andern schönen Dingen erzählt, und da ich damals alles, was ich las, auf mein eigenes Leben zu übertragen pflegte, entstand in mir plötzlich der innige Wunsch, auch mein Geburtstag möchte einmal so gefeiert werden.

Nicht daß ich alle jene herrlichen Sachen wünschte, aber ich hätte mich maßlos gefreut, wenn jemand mir am Morgen, sobald meine kleine Person auf der Bildfläche erschien, die Hand gereicht und gesagt hätte: »Ich gratuliere dir zu deinem Geburtstage.« Wenn mir dann vielleicht noch ein Fränklein oder ein Stück Schokolade überreicht worden wäre, hätte an der Seligkeit meines Herzens für den einen Tag nichts mehr gefehlt. 96

Aber nie geschah etwas Aehnliches. Ich weiß, daß ich viele Geburtstage hintereinander mit derselben Erwartung unter die Menschen trat und mit derselben Enttäuschung das vollständige Uebersehen des bedeutungsvollen Tages quittierte.

Es war zu traurig. Keinen Menschen auf der weiten Welt schien es zu kümmern, daß ich geboren war.

Und doch gab es einmal einen Geburtstag, der sogar sehr eindrucksvoll verlief. Es war mein dreizehnter.

Am Morgen trat ich mit der üblichen festlichen Erwartung, jemand möchte wenigstens mit einem Worte des hohen Tages gedenken, an den Frühstückstisch. Aber alles war wie sonst. Niemand erwähnte das Ereignis meiner einstigen Menschwerdung.

Nur so zwischendurch sagte die Mutter: »Ich will dann nachher sehen, ob die beiden Schubladen deiner Kommode auch in Ordnung sind.«

Mit anklagender Deutlichkeit stand das grausige Durcheinander in den erwähnten Behältern vor meinem geistigen Auge, aber was kümmerten mich heute häusliche Angelegenheiten! An einem Geburtstag konnte doch einem Menschen nichts geschehen.

Ich räumte aber seelenruhig den Tisch ab, trug die Tassen in die Küche und begann abzuwaschen, eine mir verhaßte Arbeit, die ich aber immer tun mußte, wenn wir an diesem Tage schulfrei waren. 97

Auf einmal erscholl die Stimme meiner Mutter: »Maja, komm sofort hieher!«

Der Ton und seine Bedeutung waren mir nicht fremd, aber wozu Angst haben? Heute war doch mein Geburtstag!

Ich trat möglichst harmlos in mein Schlafzimmer, aber da krampfte sich mir innerlich doch etwas zusammen.

Hemden, Schürzen, Strümpfe, Schachteln, Kästchen, Taschentücher, Wollknäuel . . . alles lag in einem wüsten Wirrwarr auf dem Boden, und daneben gähnten mir die zwei ausgezogenen, leeren Schubladen schauerlich entgegen.

Hinter ihnen aber stand meine Mutter mit bösem Gesicht und sagte: »Du großes, unordentliches Mädchen! Schämen muß ich mich deiner! Räume sofort hier auf!«

Und ich begann die für mich gar nicht leichte Arbeit, und die Gedanken kreisten schwer in meiner unvernünftigen Vorstellung.

Verschimpft, verstoßen, verlassen von allen Menschen, sogar von der eigenen Mutter! Mein Kummer artete in einen richtigen Weltschmerz aus. Wozu war man denn eigentlich geboren, wenn einen niemand, keine Seele, gratulierte, wenn man einen nur ungerecht behandelte, wenn man überhaupt so gar, gar keine Freude mehr hatte!

Das Aufräumen dauerte Stunden. Das Mittagessen verlief schweigend und ungemütlich. Am 98 Nachmittag entschloß ich mich das zu tun, was ich immer tat, wenn ich traurig war.

Ich wollte nichts von der Welt sehen, noch hören und mich an einen ganz einsamen Ort verkriechen. Gewöhnlich dienten mir die stillen Winkel in unserm Baumgarten dazu, aber heute hätte mich da sogar das friedliche Geläute der Kuhglocken gestört.

Ich stieg darum auf den Estrich und kroch bis zu einer Bodenluke, von wo aus man wie aus einer fremden Welt auf die Straße hinuntersehen konnte.

Plötzlich stieß ich auf einen Haufen mit Spinnweben und Staub bedeckte Bücher. Ein freudiger Schrecken durchfuhr mich. Hoffentlich war das etwas zum Lesen!

Ich muß hier beifügen, daß ich bis dahin nur selten ein Buch in die Hand bekam, weil ich leicht an entzündeten Augen litt. Mein persönliches Eigentum war damals ein einziges Buch, und das hieß: Heidis Lehr- und Wanderjahre. Aber ich ahnte schon, daß es noch unbegrenzte Herrlichkeiten an Büchern auf der Welt gab und ich sehnte mich danach wie ein Verdurstender nach Wasser.

Und nun diese Menge Bücher! Und ich so mutterseelenallein! Geburtstag, Gefühl der Verlassenheit, Weltschmerz . . . alles versank vor der Gegenwart.

Ich nahm die Schätze der Reihe nach in die 99 Hand. Es waren mehr als zwanzig Bände. Erst las ich alle Titel, und die allein schon bezauberten mich. Da hieß es: »Das Loch im Aermel«, »Die Bohne«, »Der tote Gast«, »Walpurgisnacht«, »Der Freihof von Aarau«, »Addrich im Moos«, »Alamontade oder der Galeerensträfling« usw.

Herrlich! Wo sollte ich anfangen? Welches mochte das Schönste sein? Rund um mich verstreut lagen wartend die alten Bände. Ich schloß die Augen und griff, es dem Zufall überlassend, nach einem Buch O, ich hatte sicher das Köstlichste erfaßt. Da stand verheißungsvoll: Florette oder die erste Liebe Heinrichs IV.

Also begann ich zu lesen und las an meinem dreizehnten Geburtstage die erste Liebesgeschichte in meinem Leben.

Der Eindruck, den sie auf mich machte, stellt dem Dichter das glänzendste Zeugnis aus, insofern es in seiner Absicht lag, auf solche Fratzen überhaupt Eindruck zu machen.

Ich war berauscht von dem, was ich da las. Alles sah ich, als ob es sich leibhaftig vor mir abspielte, alles empfand und fühlte ich mit.

Diese zarte Liebe zwischen dem jungen Prinzen Heinrich und der schönen Gärtnerstochter Florette! Die Blumen, die er ihr jeden Morgen vor das Fenster legte. Das ganze heimliche Glück der beiden! Der Abschied! Florette in Sehnsucht und voll Wehmut nur an ihn denkend! Die 100 Wiederkehr des jungen Prinzen. Die erste Begegnung im Garten, wo sie ihn inmitten einer prächtigen Hofgesellschaft wiedersieht. Verloren für sie! Ihr vergebliches Warten am Abend im Park. Grenzenloses Liebesleid und Ende im dunklen Schloßweiher. Und dann das Traurigste! Daß er doch noch kommt, aber zu spät, zu spät! O namenloser Schmerz!

Lang ausgestreckt, mit dem Gesicht auf dem herrlichen Buche, weinte ich wie eine Verzweifelte in einer wunderlichen, selbstgeschaffenen Not.

Vom Kirchturm her klangen die Abendglocken, und mein Klagegeheul verschmolz ganz harmonisch mit den tiefen Tönen, bis plötzlich zu meinem größten Schrecken jemand vor mir stand. Durch eine dicke Tränenwand hindurch erkannte ich sie. Es war meine Mutter, die mich mit einer großen Stallaterne beleuchtete.

»Ja, sage mal, was treibst du denn da oben? . . . Herr im Himmel!« Sie schrie laut auf und griff nach einem der Bücher, die verstreut um mich herum lagen.

»Du . . . wirst doch nicht . . . Du hast doch nicht . . . Zschokke gelesen . . .? Ja oder nein? . . . Sage die Wahrheit!«

Diese Aufforderung war die denkbar überflüssigste von der Welt, denn ich hätte mich in jener Stunde zu dem Manne, der diese Florette geschrieben hatte, noch auf dem Scheiterhaufen bekannt. 101

Ich stand also mühsam auf, denn meine Glieder waren von dem langen Liegen auf dem harten Boden ganz steif geworden.

»Ja . . . Mutter . . . ich habe eine Geschichte gelesen . . . o eine Geschichte . . .«

»So?« schimpfte sie. »Die Flausen werde ich dir schon austreiben, du grünes, dummes Ding! Mach, daß du hinunter und an die Arbeit kommst!«

Was? Ein ganz elementarer Trotz stieg in mir auf. Wollte sie mir etwa verbieten, die andern Bücher zu lesen, die Bücher, die vielleicht noch schöner oder doch mindestens ebenso schön waren wie diese Florette!

Ich rührte mich nicht vom Fleck und erwiderte ganz ruhig und fest: »Ich werde alle diese Bücher lesen, ob du willst oder nicht.«

Schwupp! . . . Ich hatte die erste Maulschelle in meinem Leben weg, und zwar so plötzlich und so kräftig, daß ich ganz stumm meine Beine in Bewegung setzte und die lange Hühnerleiter vom Estrich hinunterstieg, die Mutter hinter mir her.

In der Küche suchte ich schleunigst nach irgendeiner Arbeit.

Da stand in einer Ecke ein mächtiges Faß, in welches jeden Abend auf Vorrat gekochte Kartoffeln für die Schweinemast festgestampft wurden.

Ich ergriff den großen Holzkloben, beugte mich tief in den aufsteigenden Dampf und fing an wie rasend darauflos zu plütschen. 102

O Florette! O Heinrich! Küsse! Blumen! Verrat! Leiche! Alles wirbelte durch meine Gedanken. Alles stampfte ich in die Kartoffeln hinein.

Aber plötzlich ging es doch wie ein spitzes Eisen durch mein Herz. Die Mutter war nebenan bei der Großmutter und schimpfte wild über mich: »So ein Gof . . .!« Gof nannte sie mich, wie die gewöhnlichsten Straßenkinder . . . o . . . Schmach!

»Ja, so ein Gof . . . und liest Liebesgeschichten! Mit dreizehn Jahren!! Und das . . .« ach, sie konnte sich gar nicht fassen . . . »das an ihrem Geburtstag . . . schandbar!«

Ich ließ sofort mit Plütschen nach. Geburtstag hatte sie gesagt? Also . . . sie . . . wußte . . ., daß ich . . . Geburtstag hatte . . . und . . . o . . . Eine Flut von schmerzlichen Gefühlen stürmte auf mich ein.

Ich ging aus der Küche und in mein Zimmer. »Ja, geh nur in dich!« hörte ich noch die Mutter mir nachrufen, . . . »und bessere dich im neuen Lebensjahr!«

Als ich schon eine Weile im Bette lag und den traurigen Tag überdachte, diesen Tag mit so viel Leid und so herrlichem Erleben, kam plötzlich noch die Großmutter hereingehuscht.

Sie setzte sich an mein Bett und sagte sehr ernst: »Was machst du denn für Geschichten? Die Mutter ist ja empört wie nie. Du mußt ihr nicht so viel Kummer machen.«

Da wurde mir seltsamerweise mit einem Male 103 wieder wohl, und ich fragte: »Großmutter, kennst du die Geschichte von der ersten Liebe Heinrichs IV.?«

»Ja, sagte sie, »und ob!«

»Nicht wahr, sie ist wunderbar?«

Da lachte sie ein klein wenig und bestätigte: »Schön ist die Geschichte.«

Und dann sprach sie mit mir ganz ernsthaft darüber, aber zum Schluß sagte sie: »Eigentlich sind diese Bücher nicht für Kinder geschrieben, sondern nur für Große, und die Mutter weiß wohl, warum sie nicht will, daß du sie liesest. Sie haben auch einen so schlechten Druck, daß du dir die Augen daran verdirbst. Darum warte lieber noch ein paar Jahre. Dann schenken wir dir alle, denn sie sind von deinem Großvater.«

Und dann schob sie mir ein funkelnagelneues Buch, das sie unter der Schürze versteckt gehabt hatte, in die Hand. »Weil du doch Geburtstag hast. Ich habe es fast vergessen und eben noch schnell gekauft«, sagte sie und strich mir übers Haar. Es war »Heidi kann brauchen, was es gelernt hat.«

Ich war an dem Abend sehr glücklich und stellte mit dankbarem Herzen fest, daß meine Großmutter doch die beste aller Großmütter und viel besser als »sämtliche« Mütter war . . .

Heute aber weiß ich, daß meine liebe Mutter damals wirklich ganz recht hatte. 104

 


 


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