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Die Tränen meines ersten Seelenschmerzes galten einem kleinen reizenden Schoßhunde, den ich mir mit ein paar kräftigen Fußtritten erkämpft hatte, und von dem mich eines Tages ein grausames Schicksal unbarmherzig trennte.
Die Spanne Zeit, die zwischen jenen Tätlichkeiten und der schmerzlichen Trennung lag, umfaßte zwei volle Jahre. Sie endete an einem nebligen, feuchtkalten Herbstmorgen und hatte an einem herrlichen Frühlingsabend begonnen.
Die Großmutter brachte nämlich Wolle in die Spinnerei, und ich begleitete sie. Diese Spinnerei lag auf der andern Seite des Flusses mitten zwischen Bäumen und war mit der Rückseite an eine Felswand gebaut. Es war für mich jedesmal wie das Erleben eines kleinen Festes, wenn ich in diese Spinnerei gehen durfte, denn es war so viel zu sehen, daß es stets Kämpfe kostete, bis man mich wieder auf dem Heimweg hatte.
Da gab es vor allem eine Unmenge Tiere, und zwar gerade Vertreter jener Arten, die in unserm Hause am meisten verpönt waren: Kaninchen, Meerschweinchen und Hunde. Diese Vierfüßler 6 befanden sich in kleinen Hütten unter dem Hause, das gegen den Fluß zu auf hohen Pfählen stand.
An jenem Nachmittag wurde ich von den Kindern, deren es auch eine stattliche Anzahl gab, mit besonderm Jubel empfangen, und während die Großmutter ihre Wolle unterbrachte, liefen wir hinunter ans Wasser. Ich war lange nicht mehr da gewesen und staunte nun nicht wenig, als ich vor einer Hütte sechs Hündchen erblickte, die ich vor einigen Wochen als struppige, kleine Tierchen gesehen hatte, die nun ordentlich gewachsen waren, und eines hübscher als das andere aussahen.
Wir setzten uns zu ihnen auf den Boden und spielten lange. Eines von diesen Hündchen erschien mir so herrlich, daß ich es einfach nicht mehr aus den Armen ließ.
Es sah wie ein kleiner, zottiger Bär aus, hatte goldgelbes Haar, kugelrunde, leuchtende Augen und glänzend schwarze, seidenweiche, hängende Ohren.
Ich preßte also das Tierchen fest an meine Brust und wußte plötzlich, daß ich es nie mehr hergeben, sondern daß ich es nach Hause nehmen und für ewig bei mir behalten würde.
Einem der größern Jungen schien mein Benehmen zu dem Tierchen gleich verdächtig, denn er sagte plötzlich: »Gib den Hund her!«
Ich sah ihn an und wußte sofort, daß mir eine Keilerei bevorstand. Ich antwortete ganz fest: »Nein!« 7
Da trat er vor mich hin und befahl noch einmal: »Gib den Hund her!«
Ich blitzte ihn aus zusammengekniffenen Augen an und trat einen Schritt zurück: »Den Hund behalte ich für immer. Die Großmutter wird ihn euch abkaufen, und ich nehme ihn mit nach Hause.«
Da bückte er sich, hob einen Stein auf und drohte: »Wenn du den Hund nicht gleich hergibst, kriegst du den Stein an den Kopf.«
Ich sah mich um. Weil ich aber nicht genau wußte, wo der Ausgang war, zog ich mich blitzschnell bis zu dem Felsen zurück. Dort preßte ich mich mit dem Tier, von dem Jungen abgekehrt, an die Wand. Dieser sprang hinter mir her, riß mich an den Haaren und schlug wütend auf mich ein. Ich aber wehrte mich wie ein Pferd. Das Hündchen fest im Arm, schlug ich kräftig nach hinten aus ohne zu sehen, wo ich hintraf.
Sofort entstand ein großes Geschrei unter allen Kindern, und es dauerte nicht lange, so kamen die Großmutter und die Frau, der die Spinnerei gehörte, herbei. Die fremden Kinder standen neben ihrer Mutter und erzählten mit großer Wichtigkeit: »Denke nur, Mutter, sie will uns den Hund stehlen.«
Meine Großmutter war auf mich zugekommen und sagte: »Was ist denn eigentlich hier los? Vor allem drehe dich einmal um und sieh mich 8 an! . . . So . . . Und nun sage, was denkst du dir eigentlich? Du willst aus einem fremden Hause einfach einen Hund wegnehmen, der dir gar nicht gehört? . . . Wie kommst du mir überhaupt vor? . . . Laß den Hund sofort auf den Boden!«
Der Jammer in mir war grenzenlos, und ich schrie auf: »Großmutter, nimm mir den Hund nicht weg . . . diesen schönen, schönen Hund. Ich muß ihn haben. Kannst du ihn denn nicht bezahlen?« Die Tränen rannen mir in Bächen über das Gesicht, und das Schluchzen schüttelte mich wie eine wilde Gewalt.
Der andern Frau mußte mein Geheul tief zu Herzen gehen, denn sie sagte sehr freundlich zur Großmutter: »Nehmen Sie den Hund doch ruhig mit! Warum soll man dem Kinde die Freude verderben. Wir haben noch fünf ebenso schöne.«
Die Großmutter wußte im Augenblick wirklich nicht, was sie tun oder lassen sollte. Sie überlegte eine ganze Weile und schüttelte den Kopf. Schließlich aber sagte sie doch: »Es liegt mir eigentlich gar nichts an einem Hunde . . . aber . . . in Gottesnamen . . . Ich will ihn denn vergüten . . . Maja! . . . Hast du gehört? Man schenkt dir den Hund. Verdient hast es nicht, und was die Mutter dazu sagen wird, weiß ich auch nicht, aber nun gib allen die Hand und bedanke dich!«
Ach, in meinem Herzen war es mehr als Frühling. Da sang und klang es von wunderlichen 9 Wonnen. Den kleinen Hund im linken Arm und fest an mein Gesicht gepreßt, gab ich der Frau und den Kindern die Hand und sagte: »Ich danke vielmals . . . Ich danke vielmals . . .« Es war wirklich ein Danken aus den Tiefen des Herzens heraus.
Und dann wanderten wir heimwärts. Das Leben schien mir im Augenblick wunderlieblich. Die Großmutter war allerdings merkwürdig schweigsam. Nur einmal warf sie ein paar Worte hin, und zwar recht vorwurfsvoll: »Wenn ich nicht wüßte, daß du sonst ein ganz gutes und auch vernünftiges Kind bist . . . könnte man sich deiner wirklich manchmal vor den Leuten schämen.«
Diese ziemlich inhaltsreichen Worte aber bedrückten mich keineswegs. Ich schob ganz sachte die eine Hand in die meiner Großmutter, drückte mit der andern das Hündchen an mich, und so endete der Heimweg doch noch in vollkommener Versöhnung mit allen widrigen Schicksalsmächten.
Als wir die Treppe in unserm Hause hinaufstiegen, sagte die Großmutter mahnend: »Es ist noch eine große Frage, ob die Mutter dir den Hund läßt.«
Mein Herz begann ein wenig zu klopfen. Ich machte die Stubentür auf und trat hinein. Die Mutter saß am Fenster und strickte. Ich ging bis in die Mitte der Stube und stellte das Tierchen behutsam auf den Boden. Der Hund sah reizend aus. Er schwänzelte und hüpfte munter umher. 10
Die Mutter blickte auf ihn nieder und fragte: »Was soll dieser Hund hier?«
Ich antwortete: »Den hat man mir geschenkt. Ist er nicht fein, fein, fein?«
Die Mutter machte ein sehr strenges Gesicht, und dann sprang sie auf.
Der kleine, reizende Vierfüßler stand auf dem hübschen Teppich, den die Mutter mit vieler Mühe aus lauter kleinen Stoffrestchen gemacht hatte, und ließ dort, unbekümmert um unsere Gegenwart, eine ganz kleine, runde Pfütze zurück.
Es war das Dümmste, was er zu seiner Empfehlung tun konnte. Die Mutter sagte dann auch sehr böse: »Bring den Köter sofort in die Küche, und morgen kommt er mir wieder aus dem Hause. Das will ich denn nur gesagt haben.«
Ich nahm ihn daraufhin sehr liebevoll in meine Arme, ging mit ihm in die Küche, gab ihm Milch und Brot und bettete ihn sorglich unter dem Herde in eine kleine Kartoffelzaine, die ich mit Wolle gefüttert hatte.
Dabei dachte ich: »Morgen . . . morgen . . . das ist noch lange hin . . ., und die Großmutter ist auch noch da.«
Und es war wirklich so. Wahrscheinlich auf Großmutters Zureden hin blieb der Hund im Hause, und nach ein paar Tagen war sogar die Mutter so weit, daß sie mit uns ernstlich überlegte, wie er heißen sollte. Die Mutter schlug 11 »Mopi« vor, die Großmutter »Prim«. »Denn,« begründete sie, »es ist doch ein Hündchen von prima Schönheit.« Diese Worte gefielen mir so gut, daß ich mich sofort für »Prim« entschied. Es dauerte auch nicht lange, so hörte er anstandslos auf diesen hübschen Namen.
Er war überhaupt ein außergewöhnlich kluges Tierchen, was hier durch ein paar Beispiele aus seinem Leben erhärtet sei.
Nachdem er einmal aus Ungeduld mit den beiden Vorderpfoten auf eine Klinke gedrückt und gegen sie geschlagen hatte und dabei die Türe ganz nach seinem Verlangen aufgegangen war, machte er nach Belieben jede Türe mit Klinken in unserm Hause auf, und wenn wir ihn nicht im Zimmer haben wollten, mußten wir den Riegel vorschieben.
Wir Kinder hatten ihm sogar ein richtiges Kunststück beigebracht. Wenn wir nämlich sagten: »Prim! Sterben!« dann setzte er sich gehorsam hin und ließ sich von uns die Augen verbinden. Darauf schossen wir mit einer Pistole ein Zündblättchen ab, und er fiel beim Knall stocksteif auf den Boden und blieb dort wie ein Toter liegen, bis wir ihm die Binde wieder wegnahmen.
Am Morgen brachte er uns ganz von selbst die Schuhe vom Ständer ans Bett, und der Briefträger konnte ihm ruhig einen Brief oder ein Paketchen am Haustor geben. Er brachte alles sicher und ordentlich in die Stube unter den Tisch. 12
So war Prim nun schon ein Jahr bei uns, und kein Mensch dachte daran, ihn etwa wieder aus dem Hause zu schaffen. Am Morgen begleitete er mich zur Schule, und am Mittag wartete er auf mich. Tagsüber tollte er mit mir umher, kroch abends mit Vorliebe in mein Bett, und tat eben alles, was Hunde tun, die mit Kindern aufwachsen, und deren liebster Spielgefährte sie sind.
Da ereignete sich plötzlich ganz Außergewöhnliches in unserem Hause . . .
Auf dem Küchentisch lag eines Morgens ein frisches Stück Kernseife, das niemand gekauft hatte.
Zwei Tage später fand die Mutter auf einem Stuhl im Flur eine ungeöffnete Schachtel Stärke. Niemand wußte, woher sie kam.
Nach weitern drei Tagen lag auf dem Sofa in der guten Stube ein Schächtelchen Schuhwichse.
Und so ging es immer weiter. Es erschienen Streichhölzer, kleine Rollen schwarzer Tabak, einmal eine Schnur mit ein paar aufgereihten Feigen, dann wieder in langen Zwischenräumen Seife, Stärke und Schuhwichse. Mutter und Großmutter wußten nicht aus noch ein. Diese seltsamen Zuwendungen waren beiden sehr unangenehm, und sie verfielen auf die abenteuerlichsten Vermutungen über deren Ursache und Herkommen. Die Großmutter bewahrte die rätselhaften Dinge in einer besondern Schublade auf und hoffte, daß sich eines Tages die Sache schon aufklären würde. 13
Vorläufig schien dem aber noch nicht so zu sein. Die Dinge mehrten sich zusehends, und der kleine Vorrat füllte bald einen ordentlichen Korb.
Die Großmutter fragte in diesem und jenem Geschäft im Alten Dorfe an, aber niemand wußte Bescheid, niemand hatte auch nur eine blasse Ahnung, wer der freundliche Geber sein könnte.
Eines Tages aber war in unserm Hause im großen Hof vor der untern Treppe ein Heidenspektakel. Ein Schrei aus einer Männerkehle . . . noch einer! Ein Fluchen, ein Jagen und Schnaufen den Flur entlang . . . .
Wir standen erschrocken am obern Treppengeländer und warteten auf das, was da mit so viel Gepolter nahte. Und was war es?
Wie eine aufgedrehte Maschine in ganz gleichmäßigen Sprüngen mit funkelnden Augen und nach hinten anliegenden Ohren jagte der Prim die Treppe herauf . . . im Maul eine lange, dunkelrote Rolle »Kaffeepäckli« . . . und hinter ihm her mit einem dicken Knüppel ein Verkäufer aus einem Geschäft im Neuen Dorfe.
»Du vermaledeites Biest! Dir werde ich das Stehlen austreiben!« schrie er und sprang wie ein Wilder bis zu uns hinauf.
Der Prim hatte bei unserm Anblick das rote Päckchen sofort fallen lassen und fing nun im Gefühle der Sicherheit an, wütend gegen den Mann zu bellen. 14
Der aber sagte zu meiner Großmutter: »Was der Köter uns schon gestohlen hat, geht auf keine Kuhhaut zu schreiben. Und wir werden ganz einfach auf Schadenersatz klagen.«
Die Großmutter fragte: »Warum seid Ihr eigentlich nicht früher mit einer Klage gekommen? Die Sache geht doch schon seit Wochen.«
Da schimpfte der Mann: »Ja, wenn wir es gewußt hätten! Wir haben das Aas heute zum erstenmal auf frischer Tat ertappt.«
Die Großmutter aber erwiderte sehr ruhig: »Kommt mit mir! Ihr braucht gar nicht auf Schadenersatz zu klagen. Die Sachen sind alle da.« Und sie führte ihn in die Küche, händigte ihm den Korb mit den entwendeten Dingen ein und sagte, er möchte seinen Prinzipal von uns um Entschuldigung bitten.
Nach diesem Ereignis, das den Prim in unsern Augen in das beste Licht gesetzt hatte, folgten Monate ohne jegliches Geschehen im Leben dieses kleinen Hundes.
Dann aber brach das Unglück wie ein Blitz aus heiterm Himmel über mich herein.
Als ich eines Tages aus der Schule kam, war der Prim nicht mehr da. Ich lief durch die Zimmer, durch die Ställe, in den Baumgarten, auf die Straße und suchte und rief wie verzweifelt nach meinem Hund. Ich glaubte jeden Augenblick, daß er jetzt um die Ecke geschossen 15 käme . . . Vergebens! Er war wie vom Erdboden verschwunden.
Mutter und Großmutter sahen wohl, daß ich aufgeregt nach dem Tier suchte, aber sie taten, als bemerkten sie es nicht. Endlich riefen sie mich zum Mittagessen.
Sie saßen bereits bei Tisch, als ich ganz erhitzt hereintrat.
»Wo ist der Prim?«
Ich schrie es fast in die Stube hinein und blieb vor meinem Stuhle stehen.
Ein Schweigen folgte . . . Es war ein böses Schweigen. Ahnungen stiegen wie ferne Wetterwolken in mir auf.
»Erst setze dich einmal ordentlich hin!« sagte die Großmutter.
Ich setzte mich und stieß zum zweitenmal unter tausend Aengsten hervor: »Wo ist der Prim?«
Da sagte die Mutter, es klang ganz gleichmütig und selbstverständlich: »Wir haben ihn weggegeben, weil man jetzt für jeden Hund sieben Franken Steuer bezahlen muß, und das können wir nicht.«
Ach, mir fuhr es kalt durch das Herz: »Ihr habt ihn getötet!« brüllte ich auf.
Aber die Großmutter beruhigte: »Nein, nein! Was denkst du denn! Er ist bei Näfs im Töbeligrund. Das sind sehr gute Leute. Die tun ihm nichts zuleide.« 16
»Schwöre« schrie ich, »daß er dort ist!« Aber die Großmutter sagte: »Große Leute sagen immer die Wahrheit, und wegen solcher Sachen schwört man nicht. Das ist eine Sünde.«
O, nun kam es über mich . . . das Verstehen und Begreifen, langsam, aber mit niederschmetternder Gewalt.
Ich hielt den Kopf mit beiden Händen. Trotzdem sank er immer tiefer und tiefer hinab, und zuletzt lag ich mit dem Gesicht auf dem Teller mitten in einem sehr weich gebratenen Spiegelei. Aber was kümmerte das mich! Ich weinte in den Teller hinein, und es war ein Weinen wie nie vorher, ganz leise, und es tat mir furchtbar weh.
Die Großmutter stand nach einer Weile auf und sagte: »Das ist ja entsetzlich. Komm und laß dir wenigstens das Gesicht waschen!«
Ich ließ alles mit mir geschehen. Es war als ob man mir etwas aus dem Leibe herausgeschnitten hätte. Ich weinte nicht mehr. Ich trotzte nicht mehr. Ich war willig wie ein Lamm.
Wohl hörte ich, wie die Großmutter tröstete: »Nun, nun! Du wirst ja nicht gleich sterben. Und dann hast du ja jetzt auch die Schule.«
Aber ich dachte: »Du lieber Gott! Was ist die ganze Schule im Vergleich zum Prim!«
Ach, war das ein Elend! Ich aß an diesem Mittag nichts und verzog mich bald in den Baumgarten unter die Sträucher in die Einsamkeit. 17
Dort sann und sann ich über das Geschehene nach, und ich kam zu seltsamen Folgerungen und Schlüssen. Der Hund war weg. Das war Tatsache. Dieser Hund, den ich so geliebt hatte! Und die beiden einzigen Menschen, die zu mir gehörten, hatten mir das angetan. Auch sie . . . die gute Großmutter! Sie hatten also alle beide keine Liebe zu mir. Das war klar, aber unendlich traurig, und ich hätte darüber weinen mögen, aber der Prim, in dessen wolliges Fell ich sonst immer meine Tränen fließen ließ, war ja auch nicht mehr da. Verlassen! Todallein!
Die Welt kam mir groß und unheimlich vor. Es drängte mich unter Menschen zu kommen, und still und beschwert ging ich in die Schule, obwohl es noch sehr früh war.
Der Nachmittag verlief traurig, der Abend noch trauriger. Ich lag im Bett und sann immer weiter nach, und als ich merkte, daß alles um mich herum schlief, stand ich leise auf und ging in die Stube ans Fenster. Ganz sachte öffnete ich es und starrte in die Nacht hinaus. Noch größer, noch unheimlicher erschien mir jetzt die Welt. Kein Mensch auf den Straßen! Die Häuser eigen still und dunkel! Die Berge hoch und schwarz! Der Himmel voll funkelnder Sterne und das Rauschen des Flusses in den Schluchten wie Donnerstimme aus Geisterland!
Die ganze Gewalt der Unendlichkeit und 18 Ewigkeit, so weit die Seele eines Kindes sie spüren kann, kam über mich und dazu das schmerzende Bewußtsein, daß irgendwo da draußen in der Ferne, in den Dunkelheiten hinter den Wäldern . . . irgendwo . . . mein armer Prim ebenso verlassen wie ich sich nach mir sehnte, wie ich mich nach ihm.
Ich faßte nach meinem Herzen und nach meiner Kehle, denn das Herz tat mir weh, und im Halse würgte es mich, aber ich weinte kaum. Ich fühlte nur, daß meine Augen naß waren, denn die Sterne und die Berge und das Dorf . . . alles erschien mir plötzlich als ein formloses Durcheinander.
Ueber diesen unglückseligen Abend ging aber auch die Zeit dahin, und meine Seele war längst wieder ruhig geworden. Zwar eine kleine wunde Stelle war wohl irgendwo davon geblieben, denn manchmal kam es ganz plötzlich wie Sehnsucht und Heimweh nach dem kleinen, goldenen Prim über mich, aber die Erlebnisse mit diesem Tierchen hätten hier ruhig zu Ende sein können, denn was Seelenschmerzen bedeuteten, war mir nun klar und auch, daß sie durch die Zeit gelindert werden, aber das Schicksal hatte mit mir und diesem Hunde scheinbar noch Wunderliches vor.
Im Oktober an einem selten schönen Spätherbstsonntag war mein Geburtstag, und obwohl kein Mensch sonst diesem Tag eine Bedeutung beimaß, sagte die Großmutter doch am Morgen: 19 »Wenn du Lust hast, kannst du heute nachmittag mit dem Stineli Heß in den Töbeligrund gehen und den Prim besuchen.«
Das war vielleicht unüberlegt von meiner lieben Großmutter, aber es kam aus einer Regung ihres grenzenlos gütigen Herzens heraus und erfüllte mich mit wonniger Freude.
Und so wanderten meine Freundin und ich am Nachmittag in sehr guter Stimmung durch den Wald auf den Berg hinauf.
Der Töbeligrund lag hinter einem Felsen neben einem wild rauschenden Bergbach. Wir schritten über eine Wiese, dann durch einen Blumengarten und klopften an einer ganz verrauchten, niedern Holztür.
Ein Bauernweibchen mit einem verhutzelten, aber freundlichen Gesicht kam heraus. Es war die alte Frau Näf. Als sie hörte, daß wir den Prim besuchen wollten, lachte sie und sagte, wir sollten nur hereinkommen, er habe sich wohl wieder irgendwo in einem Zimmer verkrochen.
Wir traten in eine Bauernstube mit einem weißen, gemauerten Ofen und vielen Blumen vor den Fenstern. Längs der Wände waren Bänke, und in der einen Ecke stand ein großer, viereckiger Tisch.
An diesem Tisch saßen Männer. Sie rauchten Pfeifen, spielten Karten und sprachen sehr laut. Diese derben Gestalten im Rauchqualm und in Hemdsärmeln schüchterten mich ein. Sie kamen 20 mir wie Henkersknechte vor, und ich dachte bange: »O Gott, bei diesen schrecklichen Menschen lebt nun der arme Prim!«
Wir gingen durch die Stube in ein Schlafzimmer, und Frau Näf rief ein paarmal nach dem Hunde, aber es rührte und regte sich nichts. Sie sagte: »Das ist aber komisch. Er muß hier sein.«
Da kniete ich auf den Boden und rief aufs Geratewohl unter ein Bett . . . ganz leise tat ich es: »Prim!«
Und siehe! Wie eine abgefeuerte Kugel schoß er aus einer Ecke auf mich zu, sprang an mir hoch, leckte mich und überkugelte sich vor grenzenloser Freude. Ich aber saß auf dem Boden und nahm das Tierchen in die Arme, genau wie damals in der Spinnerei, und weinte, denn alle Schmerzen und alle Freuden, die meine Kinderseele um dieses Hündchen erlitten und empfunden hatte, sprangen mit einem Male wieder auf.
Nach einer glückseligen Stunde mußten wir aber wieder an den Heimweg denken. Es war traurig. Der Prim merkte, daß wir aufbrachen. Er wedelte mit dem Schwanze, sprang wie närrisch um uns herum und glaubte, wir nähmen ihn mit.
Was soll ich sagen, wie ich litt! Die Frau Näf nahm den Prim und sperrte ihn in eine kleine, dunkle Kammer hinter der Küche. Ich hörte ihn winseln und kläglich schreien . . . es half nichts, ich mußte weg. 21
Zwei Tage nach diesem denkwürdigen Besuch im Töbeligrund saßen Mutter, Großmutter und ich beim Abendbrot. Da hören wir plötzlich ein leises Scharren. Verwundert horchen wir auf. Die Klinke bewegt sich. Die Tür geht auf . . . und herein kommt der Prim!
Ueberraschung und Freude waren groß, besonders von meiner Seite, und an der Seligkeit meines Herzens fehlte nichts. Doch das Glück war nur von kurzer Dauer. Am andern Morgen brachte die Mutter das Tier wieder dorthin, von wo es hergekommen war, und ich konnte nach Belieben Trübsal blasen.
Ich will die Begebenheiten des neuen Stadiums dieser Hundegeschichte nicht durch unnötige Worte verlängern, sondern nur noch beifügen, daß sich von da ab dieses plötzliche Erscheinen und ebenso plötzliche Verschwinden meines kleinen Freundes noch viermal wiederholte.
Dann aber nahm das Schicksal eine ungeahnte Wendung. Als die Großmutter den Hund zum fünften Male weggebracht hatte und wieder heimkam, war sie nicht allein, sondern der Prim begleitete sie. Die Leute hatten kurzerhand erklärt, sie wollten ihn nicht mehr haben, er sei kein Wächter und gewöhne sich doch nicht an sie.
Ich war im siebenten Himmel und dachte nicht daran, daß es auch dort Schauer und Sturm und Jammer geben kann. Wer hätte auch geahnt, 22 daß mir jetzt nach all den Aufregungen, und nachdem der Prim seine Liebe und Treue zu uns so rührend bekundet hatte, noch das Allerschrecklichste bevorstand? Und doch war es so.
Am Abend des gleichen Tages sagte die Mutter . . . und es klang bitterböse: »Ich habe es satt mit diesem Köter! Sieben Franken und vielleicht gar noch Strafe dazu bezahle ich nicht. Also . . . der Hund kommt zum Schinder!«
Die Szenen, die diesen Worten folgten, will ich heute nach fünfunddreißig Jahren nicht mehr auffrischen. Es ist gut, daß sie vorbei und niemand bekannt geworden sind. Ich will nur zugeben, daß ich damals richtige Prügel verdient hätte, aber keine bekam, weil man um meinen Verstand und um meine Gesundheit bange war. –
Also . . . der Prim war beim Schinder. Der Schinder war ein scheußlicher alter Kerl mit einem Kropf und einem zahnlosen Munde. Er stotterte und roch schon von weitem nach toten Tieren.
Der erste Abend des furchtbaren Tages, an dem der Prim an jene Greuelstätte gebracht worden war, senkte sich auf die Erde.
Wir saßen beim traulichen Lampenscheine in der Stube. Mutter und Großmutter schälten Aepfel, höhlten sie aus und zogen sie auf Schnüre.
Ich hockte in einer Ecke und brütete dumpf vor mich hin. Der eklige Schinder . . . sein scheußliches 23 Messer . . . mein wonniger Prim mit dem goldgelben Fellchen und den seidenglänzenden schwarzen Ohren . . . tote Pferdeleiber . . . blutige Häute . . . alles zog in schrecklichen Bildern an meinem Geiste vorüber.
Mein Atem ging schwer. Die Decke schien sich auf mich heruntersenken zu wollen. Alle Dinge in der Stube beklemmten und verängstigten mich.
Mutter und Großmutter sprachen kein Wort. Es war eine bleierne Schwere und Stille um uns und über uns.
O Gott! Hatte der Schinder ihm wohl schon das Messer ins Herz gestoßen? Lag er wohl schon tot auf der feuchten Erde in dieser kalten Nacht..?
Da . . . ein leises Scharren . . . die Klinke bewegt sich . . . die Türe geht auf . . . und herein tänzelt und springt der Prim . . . gesund und munter und reizend wie immer!
Wir war die Welt plötzlich wieder licht und schön und warm geworden, und zwar nicht nur für mich, sondern scheinbar auch für die Mutter und die Großmutter. Sie lachten und streichelten auf einmal das Tier, dessen Anhänglichkeit sie endlich rühren mochte, wie nie vorher.
Die Mutter eilte in die Küche und kam mit einem Teller voll Fleischreste zurück und stellte ihn vor den Prim hin, der sofort mit dem allerbesten Appetit fraß und von seinem bedrohten Leben keine Ahnung hatte. 24
Und dann sagte die Mutter noch etwas, das ich ihr bis an mein Lebensende damals tausendmal hätte segnen mögen.
Wißt ihr wohl, was sie sagte? . . . Hört und staunt! . . . »Jetzt bleibt der Hund aber für alle Zeit bei uns, und wenn ich die Steuer für ihn stehlen müßte!«
Ja, das hat sie gesagt, und ich danke ihr noch heute für das Wort.
Gestohlen hat sie zwar das Geld für die Hundesteuer nicht, aber ein Opfer hat es sie doch gekostet. Niemand sprach zu mir davon, aber ich war ein Kind mit scharfen Augen.
Deutlich sah ich, wie sie die große Schublade des Büfetts herauszog und dort lange unter ihrem Silberzeug herumkramte. Endlich nahm sie eine längliche Schachtel heraus. Ich wußte, daß in dieser Schachtel ein dicker silberner Löffel in Seidenpapier gewickelt lag.
Mit dieser Schachtel samt Inhalt verschwand sie und kam erst spät ohne dieselbe wieder zurück.
Am andern Morgen aber bezahlte sie die Hundesteuer. Der Prim bekam ein himmelblaues Halsband mit einer silberglänzenden Marke, was seine goldene Schönheit noch bedeutend hob, und blieb bei uns bis an das Ende seiner Tage. 25