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Ein herrlicher Oktobertag ging zur Neige. Himmel und Meer wetteiferten miteinander in Glanz und Bläue, und in einer Flut von flammend roten, goldumsäumten Wolken versank am Horizont der leuchtende Sonnenball.
Auch in der Yerberia der Señora Rosa im Pasaje Nr. 4 hatte sich ein Schimmer von der Schönheit dieses Frühlingstages verfangen, wenigstens schien das, was sich darin ereignete, dem verträumten Jungen Manuelito López so zu sein.
Im Rahmen der schmalen Eingangstür stand nämlich mit einem Male wie hergezaubert ein großer, hübscher Bursche und rief mit strahlendem Gesichte: »Hallo, Tante Rosa! Da bin ich wieder!« Diese umschlang den Fremden mit beiden Armen und grüßte hocherfreut: »Antonio! Mein Söhnchen! Willkommen! Welche Freude! Wie geht es dir?«
Sie nahm ihm ein Paket ab und führte ihn unter einer Menge von Fragen in das Zimmer, in welchem Manuelitos Bett stand. Dort hing er seine Mütze auf, wusch sich Gesicht und Hände, kehrte wieder in den Laden zurück, sah sich um und gewahrte den Jungen, der regungslos hinter dem Tisch verharrte.
»Nanu! Wer ist denn diese ›Fliege‹ dahinten?« fragte er lachend, und die Madrina erklärte ihm wichtig: »Das ist der Manuelito López. Du warst doch mit seinem Vater so befreundet. Erinnerst du dich nicht mehr? Nun hat der arme Junge auch noch die Mutter verloren. Darum wohnt er bei mir . . . Komm, Manuelito! Das ist mein Neffe, der Antonio Neira, ein Fischer von der Insel Juan Fernandez. Wie gefällt er dir?« Sie sah den Burschen stolz und strahlend an, genau so, als ob er ihr eigener Sohn wäre.
Über das Antlitz des Fremden huschte augenblicklich ein 89 Schatten, und aufmerksam betrachtete er den Knaben. Dann hielt er ihm die Hand hin, in welche Manuelito ein wenig schüchtern die seine legte, und sagte: »So, so! . . . Du bist also der Sohn vom Juan López . . . Sieh' mal an!« Plötzlich zog er ihn an sich, fuhr ihm mit den gespreizten Fingern durch das lockige Haar und meinte: »Wir zwei werden ganz bestimmt Freunde werden. Meinst du nicht auch?«
Manuelito nickte und wußte vor Freude über so viel Herzlichkeit gar nicht zu antworten; aber einen Augenblick lang hielt er die große, rauhe Hand des andern fest und fand diesen unerwarteten Besuch geradezu beglückend.
Es dauerte nicht lange, so saßen die drei bei einem fast üppigen Abendbrot in der Küche beisammen, und Manuelito stellte innerlich fest, daß er noch nie auf diesem Tisch so viele gute Sachen beisammen gesehen hatte. Weit mehr als das Essen interessierte ihn aber dieser fröhliche, von Kraft und Gesundheit strotzende Fremde. Kaum, daß er den Blick von ihm zu wenden vermochte, so einnehmend fand er ihn: das wettergebräunte Gesicht, die weißen Zähne, die mächtigen schwarzen Brauen und darunter die großen, leuchtenden, lachenden Augen.
Rasch und freundlich antwortete dieser Antonio auf die vielen Fragen seiner Tante, und bald war Manuelito, der scharf zuhörte, über allerlei unterrichtet.
Etwa sechshundert Kilometer von Valparaiso entfernt lagen die drei Inseln von Juan Fernandez. Auf einer dieser Inseln befand sich ein kleines Fischerdorf mit drei- oder vierhundert Einwohnern. Die Männer beschäftigten sich ausschließlich mit Fischfang; denn um diese Inseln herum gab es etwas im ganzen Lande überaus Hochgeschätztes, nämlich herrliche, fast meterlange Krebse, sogenannte Langusten, 90 wovon jährlich gegen hunderttausend zum Verkaufe nach Valparaiso gebracht wurden.
Auf dieser Insel lebte auch eine ältere Schwester der Señora Rosa. Sie war mit dem Fischer Neira verheiratet und hatte vier erwachsene Söhne. Antonio war der jüngste. Jedes Jahr kam er ein paarmal mit einer Ladung Langusten nach Valparaiso und wohnte dann bei seiner Tante, die auch seine Madrina war und ihn wie einen Sohn liebte.
»Wie geht es den Eltern?« erkundigte sie sich.
»Danke! Gut. Der Vater fährt immer noch jeden Tag aufs Meer hinaus, und die Mutter besorgt die Hausarbeit.«
»Es ist ein Glück, daß beide so gesund sind,« sagte sie und fügte nachdenklich hinzu: »Ihr verdient jetzt wohl wieder ein schönes Stück Geld?« 91
Er hob ein wenig die Schultern. »Wir können uns nicht beklagen. So an die tausendfünfhundert Pesos im Monat . . . Manchmal auch mehr.«
»Ihr könntet wohlhabend sein und in Valparaiso wohnen statt auf dieser verlassenen Insel.«
»Wohlhabend?« Er machte eine abwehrende Handbewegung. »Erstens verdienen wir nur vom Oktober bis zum Juni. Nachher liegen wir auf der faulen Haut, und zweitens,« er sah sie ein klein wenig verlegen an, »du weißt doch, wie wir da draußen leben.«
Das wußte sie allerdings, und sie erwiderte tadelnd: »Ihr seid leichtsinnige Menschen. Alles, was ihr während der Fangzeit verdient, vertut ihr mit Spielen und Trinken und denkt nicht einen Augenblick daran, daß ihr krank werden könntet.«
»Bah! Was haben wir denn sonst vom Leben, wenn wir uns nicht ein wenig vergnügen? Und krank werden?« Er lachte übermütig. »Das Wort ›krank‹ kennt unsere Familie nicht.«
Die Señora Rosa runzelte die Stirn. Solche Lebensansichten waren ihr fremd und erschienen ihr sündhaft. So lange sie lebte, hatte sie immer versucht, etwas zu ersparen, damit es wenigstens zu einem »Schirme« reichte, wenn es »regnete«, wie sie sich auszudrücken beliebte. Da sie aber wußte, daß sie damit tauben Ohren predigte, fragte sie ablenkend: »Mit wem fährst du denn jetzt?«
»Immer mit den gleichen Kameraden. Du kennst sie ja. Unser Bootsmann ist der ›Tuerto‹.«
Sie kniff die Augen ein. »Daß du von dem nicht loskommst!«
»Loskommen? Warum soll ich denn von ihm loskommen? Wir haben uns aneinander gewöhnt. Ich suche keine Händel, 92 und er wird nur dann bösartig, wenn ihm jemand in die Quere kommt.«
»Er ist ein gefährlicher Mensch und hat noch mit keinem lang Freundschaft gehalten. Erinnerst du dich wirklich nicht mehr an die Geschichte mit dem Juan López?«
Jetzt war es an Manuelito, die Ohren zu spitzen. Meinte die Madrina damit etwa seinen Vater? Sein Herz klopfte rasch und laut.
Der Antonio streifte den Jungen mit einem kurzen Blick und erwiderte: »Die Geschichte mit dem Juan López ist doch längst begraben. War ja eine Kleinigkeit! Kein Mensch denkt mehr daran, der Tuerto am wenigsten.«
Er schwieg, aber da fielen plötzlich in die sekundenlange Stille wie erstickt die Worte des Knaben: »War dieser Juan López mein Vater?«
Überrascht sah Antonio auf. Dann antwortete er ruhig: »Freilich, das war dein Vater. Er und der Tuerto und ich und noch ein paar andere waren einmal gute Freunde. Eine Zeitlang fuhr dein Vater ja auch mit uns nach Juan Fernandez. Nachher bekam er dann die gute Stelle auf dem Cautín.«
»Wer ist der Tuerto?«
Die Gedanken des Knaben klammerten sich an etwas anderes. Antonio merkte es, aber er hatte keine Lust, von diesen Dingen zu sprechen.
»Der Tuerto? Das ist der beste Fischer auf der Insel. Den solltest du sehen! Ein mutiger Kerl! Stelle dir vor, einmal hat ihn ein schrecklicher Sturm von den andern abgetrieben, und da ist er einfach statt auf die Insel nach Valparaiso gefahren. Das war damals keine Kleinigkeit! Donnerwetter! Sechshundertdreißig Kilometer!«
Manuelito sann diesen Worten nach. Sie bewegten ihn 93 mächtig. Wenn er doch auch einmal so im brausenden Sturm auf hoher See hätte fahren können! Stumm und ganz in Gedanken versunken aß er seinen Teller leer.
Nachdem sie fertig gegessen hatten, meinte der Antonio: »So, Madrina! Jetzt gehen wir zusammen ins Theater. Ich lade dich ein.«
Sie lehnte ab. »Danke, mein Söhnchen! Ich muß zu Hause bleiben, sonst finde ich nachher meine Bude geplündert.«
»Ist das so schlimm hier bei euch?« Er lachte.
»Manchmal,« gestand sie. »Einmal habe ich es schon erlebt.«
»Na, dann gehen eben wir zwei allein!« Er sah den Manuelito auffordernd an. In den Augen des Jungen stand helle Freude, und so gingen die beiden zusammen ins Kino.
Im Theater mußten sie bis unter die Decke steigen. So viele Menschen saßen darin! Trotzdem sahen sie alles ausgezeichnet. Manuelito war von der ersten Minute an hingerissen vom Zauber des Stückes. Es hieß »Die Schatzinsel« und handelte von einem Schiff, dessen Besatzung hinausfuhr, um von einer unbekannten Insel versteckte Schätze zu holen. Bald aber entstand auf diesem Schiffe eine Verschwörung gegen den Kapitän und seine Freunde. Doch durch die Tapferkeit und Geistesgegenwart eines Jungen gelang es diesen, sich noch rechtzeitig ihrer Feinde zu bemächtigen. Sie kehrten zurück und überlieferten die Übeltäter dem Richter. Das Stück war voll großartiger Ereignisse, schauerlich schön und aufregend. Mutige Männer zeichneten sich durch Heldentaten aus und wurden belohnt. Meuterer und Banditen dagegen nahmen ein schreckliches Ende. Manuelito erlebte alles, als stünde er mitten unter den handelnden Personen, und wie in einem seligen Taumel verließ er das Theater. 94
Draußen standen die langen Reihen von Autos und Kutschen. Händler boten mit lautem Geschrei geröstete Erdnüsse und warme Brötchen feil, und Antonio kaufte ohne zu knausern. Er reichte dem Manuelito eine Handvoll Nüsse und zwei Brötchen, und damit schlenderten sie gemächlich über die Plaza.
Überall brannten die Straßenlampen und erhellten mit zauberhaftem Scheine den schönen Park. Aus den blühenden Beeten stieg berauschender Blumenduft und erfüllte die nächtliche Frühlingsluft. Allerlei unverstandene Gefühle und Wünsche wurden in der Seele des Knaben wach.
Zutraulich schob er seinen Arm unter den Antonios und fragte verhalten: »Antonio, hast du meinen Vater gekannt?«
»Natürlich! Wir waren Freunde.«
»Hat mein Vater sich damals mit dem Tuerto geschlagen?«
Verflixt und zugenäht! Von jener Sache mochte der Antonio nicht sprechen, jedenfalls nicht mit diesem seltsamen Knaben, der so ganz anders als die gewöhnlichen Straßenjungen war. Aber was sagte er denn nun gleich?
»Geschlagen?« Er tat fast entrüstet. »Wo denkst du hin! Dein Vater hat sich mit keinem Menschen geschlagen. Das war ein anständiger und ruhiger Mensch.«
Manuelito nahm die Worte tief in sich auf. Sie entsprachen der Wahrheit. Auch bei ihnen zu Hause war es immer still und ruhig gewesen, nicht so wie in ein paar andern Familien, die er kannte, wo die Väter tranken, die Mütter ewig jammerten, und die Kinder auf die Straße liefen und bettelten.
»Ja«, bestätigte er darum warm, »mein Vater war gut . . ., aber warum hat er sich denn mit dem Tuerto gezankt?«
»Das weiß ich nicht mehr genau,« behauptete der Antonio. »Du weißt, Männer zanken sich leicht einmal, besonders 95 Seeleute . . . Bah! Da solltest du uns Fischer auf der Insel kennen!« Ihm wurde es ordentlich leicht, daß er auf diese Ausrede verfallen war, und er erzählte lustig und mit ein wenig Übertreibung; »Manchmal in der Nacht, wenn wir so zusammen sitzen und trinken und spielen, liefern wir richtige Schlachten, weißt du, sogar mit Messern.«
Manuelitos Phantasie stand in hellen Flammen. Er drückte sich ein wenig fester an den Arm seines Begleiters und, ganz abgelenkt von der Geschichte des Tuerto mit seinem Vater, sagte er plötzlich: »Ich will auch zur See.«
Antonio stimmte ihm lebhaft bei: »Da hast du recht. Es gibt kein schöneres Leben als auf dem Wasser.«
»Antonio,« die Stimme des Jungen zitterte ein wenig, denn nun kam das, was ihm den ganzen Abend schon auf den Lippen gebrannt hatte. »Ich möchte dir etwas sagen . . . Ja? . . . Sieh, ich bin jetzt schon ziemlich lange bei der Madrina. Ich weiß, sie verdient nicht so viel, daß sie zwei erhalten kann, und ich finde keine Arbeit. Sie will ja nicht, daß ich Zeitungen verkaufe oder Schuhe putze . . . Warum nimmst du mich nicht mit auf die Insel? Ich würde dir helfen, wo ich nur kann.«
Sie traten aus dem Schatten der Bäume auf die helle Straße. Ein paar Schritte weit herrschte Schweigen. Antonio überlegte die Bitte des Jungen und fand sie gar nicht so ungelegen. Der Knabe gefiel ihm, und der Juan López war wirklich ein guter Freund von ihm gewesen. Warum sollte er da nicht etwas für seinen Jungen tun? Außerdem war seine Mutter fast immer allein, und sie mochte Kinder gern um sich haben.
»Arbeiten würdest du aber schon müssen,« sagte er. »Vielleicht bist du auch nicht kräftig genug dazu, denn da 96 draußen braucht es starke Kerle, weißt du! Da pfeift der Wind. Da heult das Meer. Da fallen auch schreckliche Regen, und niemand fragt nach einer schwachen Lunge.«
»Ich scheue mich vor keiner Arbeit«, versicherte Manuelito. »Frage nur die Madrina! Sie weiß genau, wie ich bin.«
Der Antonio schien wirklich für den Gedanken gewonnen zu sein. »Mir soll es recht sein,« sagte er. Du könntest bei meinen Eltern wohnen; aber wahrscheinlich will es die Tante Rosa nicht.«
Da meinte Manuelito zuversichtlich: »Wenn du es ihr richtig sagst, erlaubt sie es sicher.« .
Sie bogen in den Pasaje Nr. 4 ein und traten in die Yerberia. Die Señora Rosa war noch wach, und Antonio brachte gleich das Anliegen seines neu gewonnenen Freundes vor.
»Tante, du weißt, ich muß schon morgen mittag wieder zurück, und dieser ›Mocoso‹,« er wies lachend auf den Manuelito, der erwartungsvoll zu ihm aufblickte, »der möchte mit mir auf die Insel fahren. Er meint, es sei wunderbar, jeden Tag in Wind und Wetter auf dem Meere zu fahren. Nun, das würde ihm schon noch vergehen; aber ich glaube, er hat wirklich wie sein Vater Seeluft im Blute. Also, wie denkst du darüber?«
Die Señora Rosa stutzte. Sie hatte als Madrina die Verantwortung für den Knaben übernommen. »Wo willst du ihn denn unterbringen?« fragte sie. »Er kann doch nicht den ganzen Tag in Wind und Wetter, wie du sagst, auf dem Meere fahren, und was soll dieses schwache Kind überhaupt da draußen arbeiten?«
»Wohnen kann er bei meinen Eltern, und wir können bei der Arbeit einen solchen Jungen immer gebrauchen. Da gibt 97 es allerlei Dienstleistungen zu verrichten, die uns dieses und jenes erleichtern.«
Der Señora Rosa schien der Vorschlag auf einmal gar nicht so unvorteilhaft zu sein. »Schön! Wenn du wirklich auf diese Insel hinaus willst, Manuelito, so geh in Gottesnamen! Wenn es dir nicht gefällt, kommst du das nächste Mal mit dem Antonio eben wieder zurück.«
Manuelito war überglücklich. »Vielen Dank, Madrina! Ich mag halt schrecklich gern ein Fischer werden, und zurückkommen werde ich ganz bestimmt nicht wieder.«
Die Madrina staunte über so viel Begeisterung und meinte trocken: »Na, das wollen wir erst einmal abwarten, und auch auf das Nichtwiederzurückkommen möchte ich nicht so ohne weiteres schwören.«
Da es sehr spät war, gingen sie zu Bett. Antonio schlief in Manuelitos Stube, und dieser lag auf einer Matratze auf dem Boden in der Yerberia. Durch ein kleines Fenster über der Tür sah er groß und hell die silberne Mondscheibe leuchten und konnte lange nicht einschlafen. Seine Eltern, das schreckliche Unglück mit dem Cautín, die Jahre des Elends, der Tod seiner Mutter, das stürmische Meer, jener Tuerto, der irgendetwas Furchtbares mit seinem Vater gehabt haben mußte, das Theaterstück, die eigene bevorstehende Reise auf die ferne Insel, alles rollte und wälzte sich an seinem geistigen Auge vorüber.
Am nächsten Morgen aber fuhren die beiden frohgemut nach Valparaiso. Das weite Meer breitete sich tiefblau und sonnenbeschienen vor ihnen aus. Der ganze Hafen leuchtete und glänzte und war voller Schiffe und Boote.
Auf der Mole trafen sie drei andere Fischer von Juan Fernandez. Antonio stellte ihnen den Manuelito vor. Das sei 98 ein Junge, der zu seiner Familie gehöre und den er seiner Mutter bringen wolle. Der eine der Männer schlug ihm mit der flachen Hand auf die Schulter und meinte scherzend: »Wenn du etwa ein Fischer werden möchtest wie wir, mußt du dir aber andere Knochen anschaffen.«
Manuelito lächelte. Doch dieses Lächeln erstarb plötzlich in einer Grimasse. Er war dem Blick eines Auges begegnet, eines einzigen, schrecklichen Auges, das alles in ihm erstarren ließ . . . Das war ja der Einäugige, der Tuerto! . . . Eine kalte Angst kroch ihm ins Herz . . . Doch dieser Tuerto würdigte ihn nicht einmal eines Grußes, und Manuelitos Erregung verebbte ebenso rasch, wie sie gekommen war.
Bald saßen sie in einem schönen Motorboot, einem großen Langustenfänger, und fuhren bei vollständiger Windstille aus dem Hafen hinaus auf das Meer.
Staunend blickte Manuelito zurück. Wie ein gewaltiges Amphitheater baute sich Valparaiso vor seinen Blicken auf. So hatte er die Stadt noch nie gesehen, so weitausgedehnt über die vielen Hügel und Schluchten, mit den Riesenhäusern in der Ebene und den grünen Bergen dahinter. Mit einem Male aber senkte sich eine unendliche Traurigkeit in sein Herz. Dort oben, wo sich eine Reihe hoher Eukalyptusbäume vom blauen Himmel abzeichnete, erkannte er das Häuschen, in welchem er mit seiner Mutter zuletzt gewohnt hatte, und alles aus jener kummervollen Zeit fiel ihm ein; aber der helle Punkt wurde immer winziger und verschwand zuletzt ganz. Auch die Kuppen der Berge waren bald nicht mehr sichtbar. Ringsum, fernhin und fernher, dehnte sich nur noch eine blaue, schimmernde Wasserfläche.
Schon am Nachmittag des nächsten Tages stieg in der Ferne die Insel als ein dunkler Streifen aus der blauen Flut 99 empor. Je näher sie kamen, um so deutlicher unterschied Manuelito das fremde Eiland.
Märchenhaft türmten sich über den Meeresfluten gewaltige Felsenburgen auf. An manchen Stellen stiegen sie gleich senkrechten Mauern steil und kahl empor. Bald fuhren sie in eine Bucht von ernster Schönheit ein. Antonio erklärte ihm alles ein wenig. Das sei der einzige Ort, wo die Schiffe ohne Schwierigkeit landen könnten, die Cumberlandbucht. Die hohen Berge im Hintergrund seien der »Amboß« und die »Pyramide«. Im Vordergrunde sehe er die einzige Siedlung der Insel, das Fischerdorf, und weiterhin die Häuser, welche den Unternehmern des Langustenfanges gehörten.
Nahe beim Strande lagen viele Fischerboote hinter- und nebeneinander. Die Sonne warf ihre letzten Strahlen über die schöne Landschaft und ließ alles in einem wunderbaren rotgoldenen Glanze aufflammen.
Das Haus von Antonios Eltern befand sich ein wenig hinten in den Bergen. Manuelito wurde dort herzlich empfangen. Die Señora Maria, Antonios Mutter, war eine ältere, freundliche Frau, und er fühlte sich vom ersten Augenblick an bei ihr heimisch; er bekam ein gutes Bett und verbrachte die erste Nacht auf der Insel friedlich und traumlos.
Sein Leben gestaltete sich denn auch in der Zukunft nicht 100 schlecht. Häufig wurde er von den Fischern mitgenommen, und die Arbeit der Männer gefiel ihm. Er war nicht faul, griff zu, wo sich etwas bot und war bald bei allen wohlgelitten.
Der einzige, der ihm unheimlich vorkam, war der Tuerto, aber der beobachtete ihn überhaupt nicht, ja er schien nicht einmal seinen Namen zu kennen; denn wenn er ihm etwas befahl, so hieß es nur: »Holla, Junge! Zieh an der Kette! Öffne die Fallen! Reich mir den Strick.«
Wenn ein kalter Wind über das Meer wehte und Nebel auf den Bergen lagerten, erlaubte ihm die Señora Maria nicht hinauszufahren. Dann trieb er sich auf der Insel herum. Er hatte bereits ein paar Freunde gefunden, die zwar vormittags in die Schule gingen, am Nachmittag aber mit ihm in den Bergen umherstreiften und ihn mit der Insel vertraut machten. Da gab es gewaltige Schluchten mit richtigem 101 Urwald und undurchdringlichem Dickicht von mannshohen Farnkräutern. Einmal gerieten sie in die Nähe einer Herde wilden Viehes. Da machten sie sich schleunigst davon; denn sie behaupteten, diese Horntiere seien das Gefährlichste, was es auf der Insel gebe. Ein anderes Mal zeigten sie ihm eine Reihe schauerlicher Höhlen, die in die Felsen über der Siedlung führten, und sie erzählten ihm, hier habe man in früheren Zeiten Verbrecher vom Lande untergebracht, bis sie darin elend verdarben und starben. Auch allerlei andere furchtbare Geschichten wußten die Knaben von dieser Insel, von grausigen Schlachten zwischen Seeräubern und von Geistern, die nachts heulend von der Küste weg über das Meer stoben.
An einem Vormittag geschah es auch, daß er plötzlich mit den Kindern der Insel in der Schulstube saß. Die Lehrerin hatte ihn aufgefordert, hereinzukommen, und er rechnete, las und schrieb mit den andern. Als er in einem Satz schauerlich viele Fehler machte, sah ihn die Lehrerin ernst an und gab ihm den guten Rat, öfter in die Schule zu kommen, denn es sei traurig, wenn ein Knabe in seinem Alter noch nicht einmal ein V von einem B und ein S von einem C unterscheiden könne. Diese Rüge traf ihn mehr, als er zeigen wollte, und während der übrigen Unterrichtsstunden suchte er dauernd Deckung hinter dem Rücken eines Freundes.
Dann aber ereignete sich etwas, das ganz unerwartet alles, was er vorher verdorben hatte, wieder gut machte. In der letzten Stunde war nämlich Singen. Die Lehrerin übte mit den Schülern die Nationalhymne ein, aber dieser und jener sang falsch, denn das Lied war schwer. Doch plötzlich klang über alle weg Manuelitos Stimme, hell, sicher und schön, fast wie ein Glöckchen in frischer Morgenluft. Einer nach 102 dem andern sah sich nach ihm um. Manche wurden sogar rot vor Verlegenheit und fingen an zu kichern. So etwas hatten sie von einem Schüler denn doch noch nie gehört, und auf einmal schwiegen alle und lachten furchtbar. Da klopfte die Lehrerin ärgerlich mit dem Stock auf den Tisch und sagte, sie habe noch nie eine so ungezogene Klasse gesehen, und es sei sehr dumm, wenn sich Kinder über das Können eines Mitschülers lustig machten. Der Knabe singe einfach ausgezeichnet und er solle doch vortreten und das Lied den andern vorsingen, damit sie es auch endlich lernten.
Sofort stand Manuelito auf, stellte sich neben die Lehrerin 103 und sang ohne jegliche Verlegenheit die ganze Hymne noch einmal vor. Die Lehrerin lobte: »Du bist ein famoser Sänger, und es würde mich freuen, wenn du immer in unsere Gesangstunden kämest.« Aber auch den Kindern schien es gefallen zu haben; denn sie klatschten laut und fröhlich, und als sie aus der Schule gingen, umringten sie ihn und nannten ihn »el pajarito de Valparaiso«, das heißt »das Vögelchen von Valparaiso.«
Doch dieses »Vögelchen von Valparaiso« kam nicht mehr dazu, noch einmal in dieser netten, kleinen Schule zu singen, denn unversehens ereignete sich etwas, das ihm ein für allemal jeden Ton in der Kehle zu ersticken drohte.
Es war am Tage nach diesem unterhaltenden Schulbesuch. Da fuhr er mit acht Männern zum Langustenfang auf das Meer hinaus. An der Fangstelle wurden die Fallen bereitgestellt, festgebunden und ins Wasser hinuntergelassen. Diese Fallen sahen genau wie riesige Rattenfallen aus, waren mit Köder versehen und wurden so lange unbewegt in der Tiefe gelassen, bis man an ihrer Schwere erkannte, daß sich Langusten darin verfangen hatten.
Beim Hinunterlassen einer solchen Falle stand Manuelito neben dem Tuerto, und während sie dasaßen und warteten, fühlte er plötzlich den Blick des Mannes auf sich gerichtet. Zuerst tat er, als merke er es nicht; aber als ihn der andere immer länger anstarrte, blickte er auf und sah direkt in jenes dunkle, bohrende Auge, und der Tuerto fragte mit heiserer Stimme: »Wie heißt du?« Ohne Zögern antwortete er: »Manuel López.« Da wandte der andere sein Gesicht gleichgültig wieder dem Meere zu; aber nach einer Weile ging er hinüber zum Antonio und fragte: »Ist dieser Lausbub da vorn etwa der Junge vom Juan López?« 104
Der Antonio tat überrascht: »Und das merkst du erst heute?«
»Canalla!« stieß der Tuerto zwischen den Zähnen hervor. Der Antonio wußte nicht, galt das ihm, dem Jungen oder gar dem toten Freunde, und ärgerlich mahnte er: »Sei kein Narr! . . . Und den Jungen laß mir in Ruh!«
»Canalla!« knirschte der Tuerto noch einmal und wandte sich ab. Antonio aber beschloß, auf den Jungen aufzupassen. Doch ehe er sich's versah, nahm das Schicksal unabwendbar seinen Lauf.
In der Hütte der Familie Neira herrschte noch am gleichen Abend große Aufregung, und Manuelito entging nichts von dem, was die Großen miteinander besprachen.
Der Tuerto habe mit seinen Arbeitgebern einen heftigen Streit gehabt. Ihm und ein paar andern Männern sei zu wenig ausbezahlt worden, und der Tuerto solle schrecklich getobt und sogar zum Messer gegriffen haben. Der Antonio meinte, es gebe bestimmt Streik, denn fast alle Fischer seien auf der Seite des Tuerto.
Trotzdem geschah nichts Außergewöhnliches. Die Männer, und mit ihnen auch der Tuerto, gingen ihrer gewohnten Arbeit nach. Die Uneinigkeiten schienen beigelegt zu sein. Nur der Antonio traute der Stille nicht und behauptete, es sei, wie wenn es unter einem Strohhaufen glimme.
Eines Abends saß Manuelito bei der Señora Neira in ihrer Wohnung. Sie flickte Kleidungsstücke und sagte, der Antonio schlafe heute abend unten im Dorf bei seinem Bruder, weil sie morgen früher als sonst ausfahren wollten. Sie habe ihm da ein Paar Strümpfe und eine wollene Jacke zurechtgemacht, die er notwendig brauche. Manuelito solle die Sachen noch rasch hinunterbringen.
Er nahm das Paket und machte sich auf den Weg. Es war 105 eine stockdunkle Nacht, und ringsum herrschte Totenstille. Nur das Meer rauschte und brauste um die Felsen. Durch die Finsternis sah er ein einziges Licht im Hafen leuchten, und etwas von der Schauerlichkeit dieser Nacht wollte sich in sein Herz schleichen. Wenn jetzt die Toten ohne Kopf und mit blutigen Händen aus jenen Höhlen herauskamen und ihm über den Weg liefen! Er beeilte sich, aus der Einsamkeit und Dunkelheit in den Bereich der Siedlung zu gelangen.
Im Hause des Fischers Neira schliefen schon alle; aber nach langem Klopfen machte ihm die Frau auf, nahm das Paket in Empfang und sagte, der Antonio sei noch in der Schenke. Er solle doch hinübergehen und ihm sagen, er möchte nach Hause kommen, sonst würden sie ihm nicht mehr aufschließen.
Manuelito tat, wie ihm geheißen. Der Weg führte dicht am Wasser vorbei, denn die Schenke lag nicht weit vom Strande. Unheimlich kam ihm alles vor: die Stille, die Finsternis, die gurgelnden Wellen, die Bucht, die wie ein riesiges schwarzes Loch aussah, die dunklen Boote, eines neben dem andern, unbeweglich und schattenhaft wie Särge . . . Aber jetzt . . .? Was kam denn da aus dem Dunkel herausgeschlichen? . . . Mit wildklopfendem Herzen stand er still . . . Ein Schatten bewegte sich . . . Es war ein Mann . . . ein einziger Mann in dieser Finsternis und Einsamkeit . . . Vom Wasser her . . . Ein Geist? . . . Ein Toter? . . . Ohne Kopf? . . . Manuelitos Augen brannten . . . Ihm hämmerte es in den Schläfen . . . Der Schatten kam auf ihn zu . . . Der Schein der einzigen Lampe fiel auf ein Gesicht . . . Es war ein Gesicht mit einem einzigen Auge . . . Der Tuerto! . . . Manuelito lief wie ein Wilder davon. Keuchend, stolpernd 106 erreichte er die Schenke, jagte hinein, erblickte den Antonio und stürzte auf ihn zu.
»Nanu! Was ist denn geschehen? Warum kommst du zu dieser Stunde noch hier herunter? Solltest längst im Bette liegen, Junge!«
Manuelito stotterte: »Deine Mutter hat mich mit Wäsche hinunter geschickt. Ich gab sie bei deinem Bruder ab. Seine Frau läßt dir sagen, du solltest nach Hause kommen.«
Die Männer lachten, aber der Antonio erwiderte rasch: »Ja, wirklich, es ist spät. Setz dich ein Weilchen her! Ich mache nur noch dieses Spiel zu Ende.«
Manuelito setzte sich hin und sah zu, wie die Karten auf den Tisch flogen. Der Schrecken über die Begegnung draußen hatte sich gelegt, aber auf einmal war es ihm, als stünden ihm die Haare zu Berge . . . Die Tür wurde aufgerissen, 107 und der Tuerto trat herein, stampfte hinüber zum Schanktisch und verlangte einen Schnaps, goß ihn hinunter und dann noch einen und noch einen . . . Manuelito verwandte kein Auge von der schrecklichen Gestalt, die dort an der Wand lehnte . . . Plötzlich torkelte der Tuerto an den Tisch zu den andern, setzte sich, stützte den Kopf in beide Hände und starrte vor sich hin . . . Dann fiel sein Blick auf den Knaben . . . Ein wilder Ausdruck trat in seine Züge. Er schlug mit der Faust auf den Tisch und schrie: »Hinaus mit diesem Dreckjungen! Hinaus . . .! sage ich!« und mit einer weitausholenden Armbewegung schlug er sämtliche Gläser vom Tisch, sprang auf, wollte sich auf den Jungen stürzen, wurde aber im gleichen Augenblick von ein paar kräftigen Fäusten zurückgehalten.
»Tuerto!« schrien sie. »Was hast du denn! Sei doch vernünftig!«
Der aber schrie und tobte: »Ich erwürge ihn! Ich mache ihn kalt! Dieser Schleicher! Dieser falsche Hund!«
»Mensch! Tuerto! Das ist doch der Junge, der bei Neiras wohnt.«
Der Antonio aber hatte den Knaben gepackt, ins Freie hinausgerissen und eilte nun mit ihm auf dem Wege zum Hause seiner Eltern davon.
Nachdem sie so weit gelaufen waren, daß sie von dem Lärm in der Schenke nichts mehr hören konnten, begann der Antonio zu sprechen: »Ich verstehe nicht, warum der Tuerto gerade heute abend so wild auf dich wurde; aber daß du ihm ein Dorn im Auge bist, weiß ich seit neulich, und es ist besser, du gehst ihm so viel wie möglich aus dem Wege. Das ist nämlich einer von denen, die den Haß gegen einen andern ihr ganzes Leben lang mit sich herumtragen und nicht 108 eher Ruhe geben, als bis sie sich irgendwie gerächt haben. Weißt du, diese ganze Wut des Tuerto kommt nur aus seinem schlechten Gewissen, und dieses schlechte Gewissen hat er noch von jener Zeit her, da er ein Freund deines Vaters war.«
Antonio schwieg; aber dann, ohne daß Manuelito auch nur eine Frage tat, erzählte er ihm plötzlich das, was einmal zwischen dem Tuerto und seinem Vater vorgefallen war: »Eine Kleinigkeit, aber der Tuerto hätte deinen Vater damals am liebsten umgebracht. Das war in Valparaiso in einer Schenke im Hafen. Der Tuerto spielte mit drei andern. Dein Vater saß daneben und sah zu. Dein Vater hat weder gespielt noch getrunken. Das mußt du wissen, Junge. Also dein Vater sah den andern zu. Merkwürdigerweise gewann der Tuerto, ohne selbst auch nur einen Centavo zu verlieren, gewann und gewann und hatte schon eine ordentliche Geldsumme vor sich liegen, aber das genügte ihm nicht. Er trank und spielte weiter, bis die andern keinen Fünfer mehr in der Tasche hatten . . . Auf einmal aber griff dein Vater nach seiner Hand, hielt sie wie zwischen Klammern fest und sagte ruhig: »Tuerto, du spielst ja mit falschen Karten. Jetzt sei vernünftig und gib das Geld wieder heraus!« Da aber hättest du den Tuerto sehen sollen! Wie ein wildes Tier stürzte er sich auf deinen Vater, riß das Messer aus dem Gürtel und Gott weiß, was geschehen wäre, wenn nicht plötzlich die Polizei eingegriffen hätte. Sie fesselten den Tobenden und führten ihn ab. Es gab lange Verhandlungen; aber keiner der Fischer trat als Kläger gegen ihn auf, und weil alle sagten, er sei betrunken gewesen, wurde er wieder frei. Statt daß er nun alles dankbar anerkannt und Ruhe gegeben hätte, sann er 109 unausgesetzt auf Rache. Zum Glück bekam dein Vater die Stelle auf dem Cautín; aber der Tuerto hat den Vorfall nie vergessen, und an dem Tag, als der Cautín unterging, hat er sein ganzes Geld und noch ein kleines Heimwesen dazu mit Freunden verspielt und vertrunken.«
Sie waren bei dem Häuschen angelangt, und der Antonio sagte, bevor sie sich trennten: »So, nun weißt du alles. Nun geh zu Bett und verschlafe den Schrecken. Der Tuerto wird ja auch wieder zu sich kommen.«
Manuelito dachte an diesem Abend noch lange über alles nach. Was ihn aber gar nicht zur Ruhe kommen ließ, war die Frage: Was hatte der Tuerto, während alles schlief, dort unten bei den Fischweihern getan? Und warum hatte er sich auf ihn gestürzt und ihn einen Schleicher genannt? Er meinte, das alles müsse doch einen ganz bestimmten Grund haben.
Und wirklich! Schon am nächsten Morgen wurde ihm allerlei klar. Unter der ganzen Inselbevölkerung und vor allem in der Oficina der Fischereigesellschaft herrschte eine große Aufregung. In einem der gewaltigen Weiher, in denen die Krebse lebendig aufbewahrt wurden, waren sämtliche Tiere zugrunde gegangen. Ein paar hundert der schönsten Langusten! Wie hatte so etwas geschehen können? Zwar wußten alle, daß, wenn sich unter Tausenden nur ein totes Tier befand, in wenigen Stunden alle übrigen verendeten, aber das war doch noch nie vorgekommen.
Man sprach und mutmaßte hin und her. Einige berichteten, die Verwaltung verdächtige ein paar Fischer wegen des kürzlich vorgefallenen Streites, aber niemand hatte etwas Bestimmtes gesehen, und so schlief die Sache langsam wieder ein; denn der einzige, der wirklich etwas hätte aussagen können, schwieg wie das Grab. Das war Manuelito. Ihm ging 110 aber mit einem Male ein Licht über jene nächtliche Begegnung auf, und er glaubte nun auch zu verstehen, was der Tuerto am Abend vorher mit dem Worte »Schleicher« gemeint hatte; aber beweisen hätte er nichts können, und darum hütete er sich, auch nur ein Wort zu verraten.
Doch weder sein Stillschweigen noch sein Bemühen, dem Tuerto aus dem Wege zu gehen, vermochten das zu verhindern, was das Schicksal ihm auf der Insel zu erleben bestimmt hatte.
Etwa acht Tage nach dem Vorfall in der Schenke sollte Manuelito wieder einmal mit den Fischern ausfahren. Antonio versicherte, der Tuerto komme nicht mit, und sorglos eilte der Junge am frühen Morgen hinunter zum Strande. Der Langustenfänger Pelikan lag fertig in der Bucht. Vier Männer, die er kannte, waren bereits mit den Fallen auf dem Schiff und warteten nur noch auf den Antonio und einen andern, den sie den »langen Peter« nannten; aber ehe sich's Manuelito versah, kamen der lange Peter und der Tuerto daher, und gleich danach flitzte der Pelikan davon.
Eine würgende Angst kroch dem Jungen ins Herz. Was war geschehen? Er machte sich an den langen Peter heran und fragte leise: »Warum seid ihr ohne den Antonio abgefahren?«
»Irgend etwas war auf einem andern Fänger nicht in Ordnung, und Antonio sollte den Schaden ausbessern. So blieb er zurück.«
In sich versunken saß Manuelito da, wagte sich kaum zu rühren und dachte nur immer: »Es geschieht etwas . . . Es geschieht etwas . . .«
Und wirklich! Es geschah etwas. Die Fischer suchten, wie sie vorgaben, an diesem Morgen ihre Fangstellen an der Küste einer zweiten Insel auf. Sie hieß Santa Clara und lag 111 1300 Meter von der Hauptinsel entfernt. Als die Männer dort anlangten, sagten sie, sie wollten ihr Frühstück auf der Insel bereiten. Die furchtbare Brandung machte die Landung fast unmöglich, aber schließlich schleuderte sie eine gewaltige Welle so hoch, daß sie springend das Felseneiland erreichten. Sie hatten Kaffee, Brot und Käse mitgebracht und suchten Holz, um Feuer zu machen. Manuelito stand müßig herum.
Auf einmal sagte der Tuerto zu ihm, es klang ruhig und gar nicht unfreundlich: »Siehst du dahinten den Colecillo? Gleich daneben gibt es trockenes Holz in Fülle. Lauf hin und bringe uns welches!«
Manuelito eilte davon und konnte sich unterwegs nicht genug über die freundliche Art des Tuerto wundern. Vielleicht war das Grauen auf der ganzen Fahrt grundlos gewesen.
Der Colecillo, ein kleiner Baum mit riesigen Blättern, war viel weiter entfernt, als er es sich vorgestellt hatte, und als er nach einem langen Weg über steinigen Boden und über Flächen mit verbranntem Gras gelaufen war, sah er in weiter Runde auch nicht ein einziges Stückchen trockenes Holz. Lange suchte und suchte er. Schließlich trat er leer den Rückweg an. Die Sonne brannte, und die kahlen Felsen und der rissige Boden strömten ihre Glut zurück. Schweißbedeckt erreichte er die Landungsstelle, aber . . . aber . . . er glaubte, seine Augen seien umnebelt, könnten nicht mehr richtig sehen . . .
Die Fischer waren abgefahren, waren so weit draußen auf dem Meere, daß kein Ruf sie mehr erreichen konnte. Trotzdem sprang er auf einen Felsen, schrie verzweifelt und winkte mit beiden Armen; aber das Schiff entfernte sich immer mehr und mehr, erschien immer kleiner und kleiner und war bald 112 vor den entsetzten Augen des Knaben verschwunden. Da ließ er die erhobenen Arme sinken, sah sich wie verloren um und begriff: absichtlich hatte ihn der Tuerto auf diese Insel gebracht, absichtlich hatte er ihn zu jenem Baume geschickt, absichtlich hatten sie ihn verlassen.
Was um alles in der Welt fing er an? Ob es Menschen auf dieser Insel gab? Ringsum sah er nichts als Ebenen, Gestrüpp, aufsteigende Felsen, die schroff zum Meere abfielen, sonst nichts, nichts! Kein Wald! Kein Haus! Kein Mensch! Aber vielleicht hinter jenen Bergen? Langsam stieg er von dem Felsen hinunter, und mit einer Angst, die ihm schier das Herz abdrückte, ging er über den heißen Boden. Doch wohin er blickte, wohin er kam, sah er nichts als Felsen, Steine, Wüste und nirgends auch nur die Spur menschlichen Daseins.
Verzweiflung packte ihn. Was geschah mit ihm? Was begann er? Nicht einmal zu rufen wagte er, so totenstill und schauerlich war es überall. Wie betäubt von dem entsetzlichen Gedanken, ausgesetzt zu sein, kehrte er wieder an die Landungsstelle zurück. Dort stand und stand er, blickte in der Richtung nach der Hauptinsel hinüber, ob nicht doch vielleicht jemand zurückkomme, um ihn zu holen, aber auf dem weiten Meere zeigte sich nichts.
Stunden vergingen. Eine dumpfe Müdigkeit überfiel ihn. Sein Kopf begann zu schmerzen. Seine Augen brannten von dem stundenlangen Hinausstarren. Es begann zu dunkeln. Wo verbrachte er die Nacht? Erschöpft und von grenzenloser Traurigkeit erfüllt kroch er unter einen überhängenden Felsen, legte sich auf den Rücken und begann zu beten, immer dasselbe, immer das gleiche: »Lieber Gott, hilf mir aus dieser grausigen Not! Lieber Gott, hilf! Hilf!« Dazwischen weinte er bitterlich, weinte, bis er einschlief. – 113
Unterdessen saßen drüben auf der Hauptinsel die Fischer wie gewöhnlich noch in später Nacht in der verrauchten Schenke, tranken, spielten und johlten. Am ungebärdigsten von allen benahm sich der Tuerto. »Heute spiele ich den letzten Centavo aus. Wißt ihr, das war ein Tag! Ein Tag, den ich versaufen muß . . .« Weiter kam er nicht, denn mitten in diese sinnlosen Reden hinein stürzte der Antonio.
»Wo ist der Junge?« schrie er den Tuerto an. Der lachte und lehnte sich weit über den Tisch. »Was für einen Jungen meinst du?«
»Komm zu dir, Mensch!« brüllte der andere. »Wo hast du den Manuel López gelassen? Sprich! Heute morgen ist er 114 mit dir aufs Meer hinausgefahren und bis jetzt nicht wiedergekommen.«
Der Tuerto schlug mit der Faust auf den Tisch: »Mach, daß du weiter kommst! Was geht mich der Manuel López an!«
»Was er dich angeht? Dich? Nichts! Gar nichts! Darum eben solltest du deine schmutzigen Finger von ihm lassen; aber mich geht er viel an, ganz viel, denn er ist der Sohn meines besten Freundes . . ., weißt du . . .,« er trat dicht vor ihn hin und knirschte . . . »weißt du, vom Juan López . . .«
Da sprang der Tuerto auf, griff blitzschnell nach seinem Messer, der Antonio desgleichen, und wenn die übrigen nicht dazwischengesprungen wären, hätte es an diesem Abend ein großes Unglück gegeben. Den Tuerto konnten sie nur mit dem Aufwand ihrer ganzen Kräfte bändigen. Der Antonio dagegen war sofort beruhigt. Der lange Peter hatte ihm zugeflüstert: »Komm! Es ist alles nicht so schlimm, wie du denkst. Ich weiß, wo der Junge ist.«
Da war er mit ihm in die Nacht hinausgegangen, und der lange Peter hatte ihm die ganze Geschichte erzählt: »Erst als wir schon abgefahren waren, merkten wir andern, daß der Junge fehlte und wollten zurück, aber der Tuerto fuhr mit doppelter Geschwindigkeit. ›Laßt den Bengel, wo er ist! Ich will ihm einen Denkzettel geben, den er nicht wieder vergißt.‹ Und als er unsere erstaunten Gesichter sah, meinte er: ›Was kümmert euch dieser Lausbub? Ich will ihn ja nicht umbringen. Nur eine Lehre soll er von mir bekommen.‹ Wir wußten nicht wofür; aber, wie gesagt, wir mochten keinen Streit und dachten, daß wir ja morgen früh wieder hinausfahren und den Knaben holen könnten.«
Und während die beiden so miteinander über die Insel schlenderten und noch allerlei aus früheren Zeiten in die 115 Erinnerung zurückriefen, war drüben auf dem andern Eiland Manuelito plötzlich wach geworden. Ein Geräusch hatte ihn geweckt. Es war nicht das eintönige Rauschen des Meeres . . . Nein, nein . . . Es waren Schritte, die er hörte . . . Schritte über ihm . . . Die kamen den Felsen herunter, . . . rutschten, . . . und jetzt . . . Eiseskälte rann ihm über den Rücken . . . jetzt gingen schwarze Schatten langsam am Eingang der Höhle vorüber . . . Aus weit geöffneten Augen starrte er hinaus . . . Oh Grausen! . . . Diese Gestalten mit den langen Beinen wollten kein Ende nehmen, schritten hintereinander, entfernten sich, verschwanden lautlos, und dann war wieder nichts als die Stille der Nacht und das Donnern des Meeres.
Manuelito faltete die Hände. Alles, was ihm die Knaben auf der Insel an Spukgeschichten erzählt hatten, fiel ihm ein, 116 besonders aber jene, die er eben erlebt hatte: »Um Mitternacht stehen die Toten auf, kommen aus ihren Felsverließen heraus, nehmen ihren Kopf in die Hände und schweben über das Meer auf die kleine Insel hinüber. Dort wartet ein Priester, der sie segnet, damit sie zur Ruhe kommen und schlafen können. Dann setzen sie sich ihre Köpfe auf, fliegen dreimal um die Insel herum und kommen wieder zurück in die Höhlen.« Manuelito glaubte nicht anders, als nun auch gleich sterben zu müssen, und wagte kein Glied zu rühren.
Als aber der erste Dämmerschein der Sonne den Tag verkündete, trat er hinaus. Arme und Beine waren ihm wie gelähmt. In seinem Kopfe sauste und brauste es. Ihn fror jämmerlich in dem kühlen Morgenwinde. Verstört blickte er sich um und dachte nach. Was war dieser gespensterhafte Zug in der Nacht gewesen? Waren das wirklich die Toten von der Insel drüben, oder hatte er nur geträumt?
Auf einmal sah er aufmerksam zum jenseitigen Hang hinüber, denn dort bewegte sich etwas. Oder täuschte er sich? . . . Nein, wirklich, dort drüben erschienen jetzt lebende Wesen . . . Tiere . . . Es waren Ziegen, drei, vier, sie sahen sich um, stiegen vorsichtig an der steilen Halde hinunter und verschwanden rasch wieder hinter einem Felsen. Manuelito begann zu verstehen, und der Druck wegen des Geistervolkes ließ nach. Die Schatten in der Nacht waren Ziegen gewesen, und er erinnerte sich jetzt auch, daß er einmal einen Fischer hatte sagen hören: »Santa Clara ist eine tote Insel. Ein paar Vögel, ein paar Ziegen! Das ist alles.«
Er setzte sich auf einen Stein und starrte in dumpfer Verzweiflung dorthin, wo es immer heller und heller wurde. Der Wind legte sich. Die Luft wurde milder. Vögel flogen über ihm weg. Die weite Wasserfläche begann zu leuchten und 117 zu glänzen, und mit einem Male wurden seine Augen größer und größer.
In der Ferne unterschied er einen dunklen Punkt, der sich bewegte, näher kam, deutlicher wurde. Ein Fischerboot! Dem Jungen liefen die hellen Tränen über die Backen. Menschen kamen. Rettung nahte! Es war ein Fahrzeug mit nur zwei Männern. Beide ruderten. Jetzt winkten sie sogar, und er erkannte sie. Der Antonio! Der lange Peter! Selig lief er hinunter zu der Landungsstelle, wartete fiebernd, bis es den beiden gelang, auf den Strand zu springen. Dann fiel er wie betäubt vor Freude dem Antonio in die Arme.
Auf der Rückfahrt saß er still und in sich versunken wie ein 118 Häufchen Elend da, hatte die Hände ineinander verkrampft, zitterte vor Kälte, vor Erschöpfung und vor Glück; aber als sie auf der Insel ankamen, war er kaum imstande, sich bis hinauf zum Häuschen der Neiras zu schleppen. Da nahm ihn der Antonio auf den Rücken und brachte ihn zu seiner Mutter.
Drei Tage und drei Nächte lang lag er von einem heftigen Fieber befallen im Bett, aber dann ging es ihm besser. Bald darauf mußte der Antonio mit einer Ladung Langusten nach Valparaiso fahren, und da kehrte er mit ihm zurück.
Als nach wenigen Tagen die beiden miteinander in der Yerberia im Pasaje Nr. 4 erschienen, tat die Señora Rosa nicht ein bißchen erstaunt; aber als sie dann nachher beisammen in der kleinen Küche beim Abendbrot saßen und sie ihr alles erzählt hatten, sagte sie fast ein wenig triumphierend: »Siehst du, Antonio, ich habe doch recht gehabt; aber du wolltest es ja nie glauben. Der Tuerto ist ein ganz gefährlicher Mensch, und diese Reise des Jungen auf die Insel war eine große Unvorsichtigkeit.«
Dabei blieb sie, und niemand widersprach ihr. – 119