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Die Wintersonne stand hoch am Himmel, und in dem großen Stadtgarten war alles in ihren goldenen Glanz getaucht: die dunkelgrünen Rasenflächen, die hohen Farne, die japanischen Kirschbäumchen, die gewaltigen Kordillerenzypressen und der schöne, wie von Feuerflammen leuchtende Hibiskusstrauch am Ufer des kleinen Teiches.
Mitten durch diese frühlingsgleiche Winterpracht schlenderte der heimatlose Knabe Manuel López. Die Nacht, die er auf der feuchten Erde unter der Araukarie fast schlaflos verbracht hatte, lag ihm noch fröstelnd im Körper.
Er war jetzt das verwaiste Kind, von dem es in einem Märchen heißt: » . . . und es hatte nichts weiter als die Kleider, die es auf dem Leibe trug, und ein Stückchen Brot in der Hand.« Nur war er noch ärmer, denn er besaß nicht einmal ein Stückchen Brot.
Am Rande des Parkes stand er still und blickte sich um. Sieben Straßen führten in verschiedenen Richtungen in die Stadt hinein. Er wählte diejenige, auf der er die meisten Menschen sah.
Es war die Hauptstraße mit ihren vielen kleinen und großen Geschäften zu beiden Seiten. Hinter mächtigen Scheiben saßen Herren und Damen und tranken Tee. Gegenüber befand sich eine Frucht- und Blumenhandlung. Weiterhin war ein Pfandhaus.
Neugierig betrachtete er das Schaufenster. Was da alles beisammen lag! Ein Tennisschläger und eine alte Geige, ein Spucknapf und eine Wasserflasche, ein silberbeschlagenes Gebetbuch, Uhren, Ringe und haufenweise Indianerschmuck.
Er schlenderte weiter. Wo Nebenstraßen die Hauptstraße 33 kreuzten, saßen Schuhputzer auf dem Fußgängerweg und fragten jeden Vorübergehenden: »Lustrealo?« Zeitungsverkäufer liefen durch die Straßen und schrien genau wie in Valparaiso: »Mercurioo-o!« oder »La Unióó-ón!«
Endlich hatte er das Ende der Straße erreicht und bog aufs Geratewohl nach rechts ab. Vor ihm breitete sich die blaue Meeresfläche aus.
Eine schöne, mit Palmen bepflanzte Promenade zog sich längs des Strandes hin. Eine Brücke spannte sich über ein ausgetrocknetes Flußbett, und jenseits erhob sich ein prachtvolles Gebäude: das Kasino von Viña del Mar.
Er hatte diesen stolzen Bau mit den herrlichen Gartenanlagen ringsherum noch nie gesehen, aber er wußte trotzdem, daß sich hier im Sommer die elegante Welt von ganz Chile zusammenfand.
Unschlüssig setzte er sich auf das Mäuerchen, welches das Flußbett von der Straße trennte, und begann nachzudenken.
Was sollte er anfangen? Er konnte doch unmöglich vierzehn Tage lang so herumlungern und nichts essen! Die vielen Straßenjungen, welche in Valparaiso ohne Familie obdachlos wie Zigeuner umherstreiften, fielen ihm ein. Die kümmerten sich um nichts und lebten sorglos dahin. Einige verdienten ein wenig, andere stahlen, und alle bettelten.
Stehlen und betteln hatte ihm aber seine Mutter, so weit er zurückdenken konnte, immer verboten, und er hatte auch keines von beidem je getan, würde es auch niemals tun.
Er überlegte. Das Verkaufen von Zeitungen bot ein großes Hindernis, mußten diese doch im voraus bezahlt werden. Auch zum Schuheputzen brauchte er Geld. Kasten, Lappen, Bürsten und Wichse kosteten mindestens fünfzehn Pesos. In früheren Jahren hatte er Blumen verkauft. Aromo! Große 34 Sträuße! Und er war immer der erste gewesen, der sie in die Stadt hinunter brachte, denn er kannte einen mächtigen Baum in einer Schlucht weit hinten in den Bergen. Der stand so schön in der Sonne und blühte manchmal schon in der Mitte des Monats Juli. Er rechnete nach. Es fehlten noch acht Tage bis dahin, sonst wäre er bestimmt zu Fuß nach Valparaiso gegangen.
Langsam wurde es Mittag. Verdrossen machte er sich auf den Weg zum Stadtpark zurück. Er kam an einer Bäckerei vorbei und blieb ein Weilchen am Eingang stehen. Hinter dem Ladentisch waren Mädchen in blauen Schürzen und bedienten. Drei zerlumpte Straßenjungen drängten sich an sie 35 heran und bettelten leise mit unaussprechlich demütigen Gebärden. Eine von den Verkäuferinnen schimpfte, gab aber jedem ein Brötchen und jagte sie dann hinaus.
Regungslos verharrte Manuelito an der Tür. »Was willst du?« fragte sie ihn.
»Nichts,« antwortete er erschrocken, aber seine Augen waren so verlangend auf das viele Brot gerichtet, daß sie ihm auch ein »Hörnchen« hinhielt.
In seinem Gesicht leuchtete es auf. »Vielen Dank, Señorita!« Rasch ging er davon.
Vor einer Fruchthandlung wurden Kisten abgeladen. Männer trugen sie auf ihren Schultern in das Geschäft. Da riß einer ein wenig derb an einer Leiste, und eine Menge Äpfel fiel vom Wagen auf die Straße. Ohne Zögern suchte Manuelito die Früchte zusammen und legte sie dem Händler in die Schürze. Als er damit fertig war, reichte ihm der Mann zwei Bananen, zwar ein wenig angefaulte, aber er war selig. Das Essen flog ihm ja, ohne zu betteln, wie von selbst in die Taschen! Vergnügt ging er auf die Plaza und setzte sich auf die Steinbank neben dem Teich.
Ringsum war es wunderbar still. Nur leise rieselte das Wasser des Springbrunnens auf die grüngoldene Wasserfläche. Die roten Trichterblüten des Hibiskusstrauches spiegelten sich wie Flammenzungen in dem unbewegten Wasser. Zwei schwarze Schwäne kreisten vor der blühenden Pracht. Traumhaft schön und fast menschenleer war der weite Park. Nur draußen am Rande des Gartens spazierte der Mann mit dem großen, schwarzen Hute, den dunklen Brillengläsern und dem Knüppel in der Hand langsam auf und ab.
Manuelito schälte eine Banane, hielt aber plötzlich damit inne; denn zwischen den Bäumen kam durch das Geflimmer 36 des Sonnenlichtes ein Junge daher, streifte ihn mit einem kurzen Blick und setzte sich neben ihn. Ein Schuhputzer! Vielleicht fünfzehn Jahre alt.
Er betrachtete ihn verwundert. Der Fremde tat so, als ob außer ihm kein Mensch auf der Welt wäre und als ob die Bank ihm allein gehörte. Er stellte den Putzkasten nebst dem kleinen Hocker darauf, gähnte laut, schlug ein Bein über das andere, breitete beide Arme über die Banklehne und sah geradeaus.
Manuelito erschien dieser Junge ein wenig anders als die übrigen seiner Art. Er trug ein dunkelbraunes, offenes Hemd, eine lange, überall geflickte, schwarze Hose und Schuhe. Das Gesicht war dunkel, merkwürdig ernst, und über der Stirn bauschte sich struppiges, schwarzes Haargelock.
Manuelito biß in die Banane und begegnete dabei dem Blick des andern. Wie es kam, wußte er selber nicht; aber ohne auch nur eine Sekunde zu überlegen, hielt er ihm den Rest der Frucht hin. Der andere lächelte, nahm an und aß. Dann holte er eine zerrissene Papierhülse aus der Tasche seines Hemdes. Darin waren zwei Zigaretten. Er bot sie Manuelito an, und dieser nahm sich hocherfreut eine heraus. Bald rauchten beide, und langsam entspann sich zwischen ihnen ein tastendes Gespräch.
»Bist du von hier?« begann der Große.
»Nein, von Valparaiso.«
»Und . . . was tust du?«
»Meine Mutter ist gestorben, und ich sollte zu meiner Madrina nach Viña, aber sie ist in Santiago und kommt erst in vierzehn Tagen wieder.«
Der andere stutzte einen Augenblick. Dieser Kleine trug ordentliche Kleider. Was war mit dem? 37
»Wo wohnst du?« wollte er wissen und sah ihn prüfend an.
Manuelito zögerte. Dann wies er mit dem Kopf nach der Araukarie, unter welcher er in der Nacht geschlafen hatte. Im Gesicht des Großen blitzte es verständnisvoll auf.
Ein Herr kam daher, um sich die Schuhe putzen zu lassen. Der Große sprang auf, warf einen raschen Blick nach allen Seiten und begann mit affenartiger Schnelligkeit zu putzen. Manuelito sah interessiert zu. Im Nu war die Arbeit erledigt. Der Herr gab dem Jungen vierzig Centavos und entfernte sich. Manuelito staunte.
»Geben hier alle vierzig Centavos?« fragte er.
»Nein. Du findest genug Geizhälse, die nur einen Zwanziger bezahlen.« 38
Er warf das Geld in eine Schachtel im Putzkasten. Ein anderer Schuhputzer ging vorbei.
»Hallo, Lagarto! Kommst du mit zum Essen?«
Der Angeredete packte seine Sachen zusammen. Ohne sich nach dem Sprecher umzusehen, antwortete er kurz: »Nein.« Pfeifend ging der andere weiter.
»Heißt du Lagarto?« fragte Manuelito neugierig.
Der Große nickte und setzte sich wieder auf die Bank. »Ist das dein richtiger Name?«
Der Lagarto spuckte aus. »Ich heiße Luis Ovillo, aber alle nennen mich Lagarto.« Es klang selbstgefällig und eigen betont. Manuelito hörte es.
»Warum nennen sie dich Lagarto? . . . Bist du etwa so flink wie eine Eidechse?«
Der Lagarto sah ihn mit grenzenlosem Hohne von oben bis unten an. Was für einen Dummerian hatte er da getroffen!
»Ja, ja . . ,« machte er leichthin und zwinkerte mit den Augen. »Ich bin furchtbar flink . . . weißt du!« Er erhob sich.
»Ich gehe essen,« sagte er und griff nach seinen Sachen. Nach ein paar Schritten wandte er sich halb um: »Hast du schon gegessen?«
Manuelito verneinte. »Aber ich habe noch ein Stück Brot.«
»Komm mit!« forderte er ihn auf, und Manuelito folgte ihm willig.
Sie gingen nebeneinander durch eine weniger belebte Seitenstraße. Vor einem kleinen, unscheinbaren Hause blieben sie stehen. Über dem Eingang stand auf einem weißgestrichenen Holzschild »Restaurant Eldorado«.
Sie traten in eine dunkle Stube. Von der Decke hingen lange Streifen Fliegenpapier und an den Wänden ein paar verblichene Bilder in schmutzigen Rahmen. An beiden 39 Seiten standen je zwei kleine Tische mit unsauberen Tüchern bedeckt, und auf jedem befanden sich eine Wasserflasche und Gefäße mit Salz, Pfeffer, Essig und Öl.
Der Lagarto setzte sich ans Fenster und forderte den Manuelito auf, ihm gegenüber Platz zu nehmen. Ein Mädchen kam und fragte, was sie wünschten.
»Eine Suppe für jeden und Brot,« bestellte er kurz. Dem Manuelito wurde es ungemütlich.
»Ich habe kein Geld,« wagte er schüchtern zu bemerken.
»Schadet nichts! Ich bezahle,« machte der Lagarto großartig.
Die Suppe wurde aufgetragen, und jeder bekam genügend 40 Brot dazu. Sie aßen und waren anfangs nicht allzu gesprächig.
Manuelito fand die Welt übrigens mit einem Male nett, gar nicht mehr so traurig wie am Morgen. Wie viele freundliche Menschen gab es doch! Der ihm am besten gefiel, war aber entschieden dieser Lagarto. So etwas Sicheres, Bestimmtes! Und wie flink er arbeiten konnte! Und Geld schien er auch zu haben.
Nach und nach wurden beide mitteilsam.
»Bist du allein, oder hast du Familie?« fragte Manuelito.
»Ich?« Der Lagarto warf ihm wieder einen seiner höhnischen Blicke zu.
»Familie? . . . Tsch! . . .«
Nach einem kleinen Stillschweigen aber änderte er plötzlich den Ton, und etwas wie heimliche Bewegung kam hinein: »Einmal hatten wir ein eigenes Haus. Damals lebten noch die Eltern. Mein Vater war ein guter Arbeiter und hat ordentlich gespart. Dann machten sie den großen Weg nach Casablanca, und an einem Sonnabend, als sie den Wochenlohn erhielten, wurde er erstochen und beraubt. Stelle dir vor! –« grenzenlose Verachtung spiegelte sich in seinen Zügen –, »wegen lumpigen sechzig Pesos, die er in der Tasche hatte! . . . Nachher heiratete meine Mutter wieder. Das war eine Dummheit. Der Mann trank und vertat alles, was wir noch hatten. Dann starb die Mutter, und der Stiefvater hat uns alle, wir waren vier, aus dem Hause geworfen. Meine Geschwister sind bei Fremden. Sie arbeiten, und ich bin hier.« Er schwieg.
Manuelito ging diese Geschichte ein wenig zu Herzen; denn ihm schien es, als sei da eine entfernte Ähnlichkeit mit seiner eigenen, und seine Zuneigung zum Lagarto wuchs. 41
»Hast du hier in Viña Bekannte?« fragte er.
»Ich? . . . Bekannte? . . . Ich habe nirgends einen Anhang . . . Ich tue mich mit keinem Menschen zusammen,« behauptete er verbissen. »In Valparaiso war ich einmal der Anführer einer Bande, weißt du! . . . Aber da war einer, der hat mich verraten. Darum bin ich jetzt immer allein.«
Manuelito traten bei diesen Worten allerlei beängstigende Bilder vor die Seele. Er kannte die Banden der Straßenjungen. Es gab darunter Kerle, die waren schrecklich und gefürchtet, aber auch mutig und ohne Furcht.
»In Valparaiso war einer,« erzählte er, »der hieß die ›Rote Nelke‹. Der saß tagsüber wie die andern auf der Plaza Echauren, und niemand ahnte, daß er in der Nacht eine Verbrecherbande führte, aber nachher,« Manuelito sah sein Gegenüber triumphierend an, »nachher haben sie ihn doch gefaßt.«
Der Lagarto streifte seinen neuen Freund mit einem eigentümlichen Blick und behauptete selbstbewußt: »Mich faßt keiner.« Er warf sich in die Brust und lächelte verschlagen: »Nicht umsonst heiße ich Lagarto.«
Dem Manuelito gefiel diese Rede nur halb, und um eine innere, warnende Stimme zu unterdrücken, meinte er: »Du bist doch auch nicht der Anführer von solchen Diebsbanden.«
»Nein, bewahre!« beschwichtigte der andere mit einem eigenen Licht in den Augen.
So sprachen sie noch eine ganze Weile, und als sie endlich aufbrachen und der Lagarto für jeden sechzig Centavos bezahlt hatte, war zwischen ihnen ein Abkommen getroffen.
Der Lagarto versprach dem Manuelito jeden Tag ein warmes Essen, entweder einen Teller Suppe oder eine Tasse Tee mit Zucker und Brot. Dafür mußte dieser am Nachmittag 42 für ihn Schuhe putzen, während er die Abendausgabe einer großen Tageszeitung verkaufte. Manchmal wollten sie es auch umgekehrt machen.
»Und schlafen kannst du auch mit mir,« bestimmte der Lagarto. »Ich habe einen feinen Schlafkasten.« Er gab ihm einen freundschaftlichen Stoß mit dem Ellbogen. »Jedenfalls besser als die Erde unter einem Baum . . . Hm?«
Am Abend, als die Lichter längst brannten, gingen sie in der Richtung nach dem Meere zu und gelangten an die große Brücke, neben welcher Manuelito den ganzen Morgen gesessen hatte.
Der Lagarto machte ihn auf etwas Merkwürdiges aufmerksam. Im Flußbett stand auf dem trockenen Sande ein verrosteter, eiserner Zylinder von etwa vier Meter Höhe und einem riesigen Umfang, den eine Art Gerüst umschloß. Auf dieser festen Unterlage ruhte eine Hütte mit einer einzigen Tür, von der eine schmale Brücke auf die Straße hinüberführte. Dieses Häuschen gehörte ein paar Männern, die darin ihre Ruder und Taue aufbewahrten und im Sommer die Fremden in kleinen Booten auf dem Flusse oder auf dem Meere herumfuhren. Im Winter war die Hütte abgeschlossen, denn ihre Besitzer arbeiteten dann in einem entfernten Fischerdorfe.
Vorsichtig sah sich der Lagarto um, schritt dann, gefolgt von seinem Begleiter, über den Steg, öffnete behutsam die Tür und zog den Schlüssel wieder ab.
Ein dunkler Raum umfing sie. Durch die Spalten der Bretterwände drang das Licht der Straßenlampen, und in dessen spärlichem Scheine erklärte der Lagarto dem andern die Umgebung.
»Ich schlafe hier seit einem Monat. Noch nie hat mich 43 jemand gestört. Und wenn einmal einer kommen sollte, entwische ich hier.« Er zeigte ihm im Boden zwei Bretter, die sich leicht verschieben ließen. »Von da kann man mit Leichtigkeit an dem Gerüst hinuntergleiten, durch ein Loch in der Eisenwand hinausschlüpfen und über das Flußbett weg das Weite suchen.«
Der Raum war mit allerlei Geräten angefüllt. In einer Ecke lagen eine Menge Säcke übereinander.
»Hier schlafen wir,« bestimmte der Lagarto. Ein zusammengelegter Sack war ihr Kissen, ein anderer ihre Decke. Während sie so dalagen, donnerte das Meer in gleichmäßigen Zwischenräumen mit furchtbarer Brandung gegen die nahen Klippen, und jedesmal erzitterte die kleine Bretterbude wie bei einem Erdbeben.
Nach einer Weile sagte der Lagarto: »Wie du siehst, meine 44 ich es gut mit dir, Manolo, aber ich hoffe, daß du kein Verräter bist.«
»Warum sollte ich dich verraten! Du bist mein Freund, und du tust auch nichts, was unrecht ist.« Ein wenig zweifelnd fügte er noch hinzu: »Daß wir hier schlafen, ist vielleicht nicht erlaubt, aber wir tun es doch auch nur solange, als die Männer diese Hütte nicht brauchen, nicht wahr?«
»Selbstverständlich,« erwiderte der Lagarto, zündete sich eine Zigarette an, rauchte und schlief dann ein.
Auch Manuelito war müde, aber so rasch wie sein Freund fand er den Schlaf doch nicht. Vieles kam und ging durch seine Seele. Die Mutter stand im Geiste vor ihm. Wie hatte sie ihn doch immer gebeten, nicht mit den Straßenjungen zu gehen!
»Das ist wie ein süßes Gift,« hatte sie gesagt. »Man gewöhnt sich an das freie Leben. Man mag nicht mehr arbeiten. Man bettelt, man stiehlt und geht auf der Straße oder im Gefängnis zugrunde.«
Und nun lag er da neben einem richtigen Roto auf einem Haufen Säcke an einem unerlaubten Ort! Aber in vierzehn Tagen, wenn seine Madrina kam, würde alles anders sein.
Am nächsten Morgen wurde er in aller Frühe geweckt. Nur zu dieser Stunde sei es möglich, die Hütte unbeobachtet zu verlassen, erklärte ihm der Lagarto.
So schlenderten sie denn durch die morgendlichen Straßen dahin und begannen das, was der Lagarto »Geschäfte machen« nannte, und was nichts anderes als Schuheputzen und Zeitungenverkaufen bedeutete.
Die Tage verliefen rasch und nicht reizlos. Abends zählten sie das verdiente Geld, und je nachdem kauften sie sich noch warme Brötchen oder etwas Schmalzgebackenes. 45
Manuelito fand, daß der Lagarto viel verdiente, und oft sagte er es ihm.
»Sicher wirst du noch einmal reich werden, wenn du so weiter sparst. Wenn man bedenkt, wie die andern alle das Geld verspielen und vertrinken!«
Solche Reden hörte der Lagarto nicht ungern, denn er war ein Kerl, der ausnahmsweise ein Ziel hatte. Er war ja auch nicht dumm, konnte lesen, schreiben und rechnen. Und wie! Jeden Morgen las er den »Mercurio« aufmerksam durch. Am meisten interessierten ihn die Politik und die Rennen. Aber spielen tat er nicht. Dazu sei ihm das Geld zu schade, behauptete er.
»Überhaupt, ich mag das Unsichere nicht. Ich spare und mache mich selbständig.«
Unter dem Selbständigmachen verstand er den Besitz eines Lustrins. Das war eine Art Möbel mit drei oder vier hohen Stühlen, auf welche sich die Herren setzten, wenn sie sich die Schuhe putzen ließen. Solche Lustrines standen häufig vor den Barbierstuben oder vor den Kneipen. Da gab es Publikum und infolgedessen Geld.
So hatten die beiden nun schon eine Zeit lang friedlich und vergnüglich miteinander verbracht; aber dann geschah mit einem Male etwas, das sie unliebsam aus ihrer bisherigen Sorglosigkeit aufschreckte.
Wie gewöhnlich lagen sie in später Nachtstunde in der kleinen Hütte. Die Wirtin, bei der sie oft einen Teller Suppe aßen, hatte Namenstag gehabt und jedem ein Gläschen Wein vorgesetzt. Das hatte sie in fröhliche Stimmung gebracht, und mit einem Male fing der Manuelito an, eines seiner lustigen Lieder zu singen.
»Schweig!« Der Lagarto fuhr auf, denn draußen war es laut geworden. 46
Sie sprangen entsetzt hoch und horchten. Auf der Brücke galoppierte jemand, blieb stehen und pfiff. Von weitem antworteten andere Pfiffe. Ein Zweiter galoppierte daher, und eine herrische Stimme rief: »In der Hütte treibt sich Gesindel herum!«
Der Lagarto schob die Bretter beiseite. »Die Polizei! Rasch! Hier hinunter!« Er verschwand, und Manuelito folgte ihm in die Tiefe.
Die ersten Schläge dröhnten an die kleine Tür. »Aufmachen, oder wir schlagen die Tür ein!«
Unhörbar glitten die Knaben auf den Boden, krochen durch das Loch in der Eisenwand, jagten längs der Flußmauer dahin, immer weiter, immer tiefer in die Dunkelheit hinaus.
Endlich hatten sie die nächste Brücke erreicht. »Hier hinein!« befahl der Lagarto.
Sie verschwanden in einer der großen Maueröffnungen, in welchen die Ableitungsröhren des Regenwassers aus der Stadt mündeten. Es war darin stockfinster, aber der Lagarto tröstete: »Du brauchst dich nicht zu fürchten. Hier geschieht uns nichts. Kein Mensch hat uns gesehen, und da . . .« Er tastete im Dunkeln umher. »Da sind sogar ein paar Säcke. Bevor ich die Hütte fand, habe ich lange hier geschlafen.«
Nachdem sie noch eine Weile hinausgespäht und gehorcht hatten, schlief der Lagarto sorglos ein. Manuelito aber befand sich in einer solchen Aufregung, daß er gar nicht zur Ruhe kam. Mit grausamer Deutlichkeit wurde er sich des schrecklichen Elends seines Lebens bewußt. Was war aus ihm geworden! Wie ein Tier lag er hier in einem Abzugskanal, und kein Mensch auf der weiten Welt kümmerte sich um ihn. Sein Herz tat ihm so namenlos weh, daß ihm die heißen Tränen in die Augen stiegen, genau wie in jener 47 Nacht, als er unter dem Baum auf der Plaza gelegen hatte.
Als der Morgen dämmerte, krochen sie aus dem Loch hinaus und wuschen sich in einem der vielen Tümpel im Flußbett. Es war ein herrlicher Wintertag, voll Sonne und ohne Kälte. Veilchen, Narzissen und andere erste Frühlingsblumen blühten. Mandel- und Pfirsichbäume standen im Blust, und auf den Straßen boten Kinder die goldenen Büsche des Aromo feil.
Der Lagarto lief auf den Bahnhof, um Zeitungen zu verkaufen, und Manuelito saß auf einer Bank im Stadtgarten. Er wollte nachher hinüber auf den Fußgängerweg, blieb aber noch ein wenig in Nachdenken versunken sitzen.
Gestern war er in der Gasse gewesen, wo seine Madrina wohnte. Diese Gasse hatte jetzt einen Namen bekommen. Links am Eingang stand mit weißen Buchstaben auf blauem Grunde »Pasaje Nr. 4«. Er hatte dort gefragt, ob die Señora Rosa schon zurückgekommen sei. »Noch nicht, aber in acht Tagen bestimmt,« wurde ihm geantwortet.
So wollte er denn diese acht Tage noch ausharren. Es war ja auch nicht so furchtbar schlimm. Der Lagarto war zwar unheimlich, aber war er nicht doch sein Freund? Nur die Nächte in dem Loch unter der Brücke waren schrecklich. So etwas hatte er noch nie durchgemacht. Wirklich, er kannte Hunde, denen es tausendmal besser ging als ihm.
Ein Herr kam auf ihn zu.
»Lustrealo?« Der Herr nickte, und Manuelito packte rasch Bürsten und Lappen aus, kniete nieder und vertiefte sich in seine Arbeit. Aber plötzlich schreckte er auf.
Der alte Mann, der immer mit einem Knüppel in der Hand auf der Plaza auf- und abging, stand vor ihm, und gleich 48 hinter ihm tauchte ein Polizist auf, der zwei Schuhputzer vor sich her trieb.
Ehe Manuelito sich's versah, schrie der Polizist ihn an, er solle sofort seine Sachen zusammenpacken und mitkommen.
Mit vor Schrecken weit geöffneten Augen rief er: »Aber warum denn? Ich habe doch nichts getan!« 49
»Du weißt ganz genau, daß es verboten ist, auf der Plaza Schuhe zu putzen. Marsch! Vorwärts!«
Er hätte schreien, weglaufen, sich auf die Erde werfen mögen. Wie war es möglich, daß er auf die Wache geführt wurde! Hinter ihm kam jetzt noch ein Polizist mit den beiden andern Knaben. O Gott! Wie richtige Verbrecher wurden sie abgeführt! Was der Lagarto sagte, wenn er es hörte! Und was geschah mit seinem Putzkasten? Ob man ihm den wegnahm? Und die Schande! Jetzt geschah, was seine Mutter immer gesagt hatte. Wer sich mit Straßenjungen zusammentut, verkommt auf der Straße oder im Gefängnis.
Der Weg von der Brücke bis zur Wache wurde rasch und stumm zurückgelegt. Dann traten sie in ein düsteres Haus und wurden in ein unfreundliches, dunkles Zimmer gestoßen. Darin war nichts weiter als ein alter Schreibtisch und ein paar Bänke, und alles sah unordentlich und schmutzig aus.
Ein dicker Mann kam herein, streifte die drei Burschen mit einem schrecklichen Blick und setzte sich an den Schreibtisch. Der eine der Polizisten meldete, was vorgefallen war. »Trotz des strengen Verbotes haben diese drei Pillos wieder auf der Plaza Schuhe geputzt.«
Der dicke Mann befahl, die Knaben abzuführen, morgen wolle man weiter verhandeln.
So wurden sie denn in einen engen, gemauerten Raum ohne jede Sitzgelegenheit eingesperrt. Das bißchen Licht, das ihn erhellte, drang durch eine kleine, offene Luke hoch oben unter der Decke.
Manuelito waren Herz und Brust wie zugeschnürt, nicht so den beiden andern. Die fluchten schrecklich über den Aufseher der Plaza, und Manuelito hörte bei dieser Gelegenheit, daß er den merkwürdigen Namen »Tschautschau« trug. 50
Auf einmal erblickte einer der beiden Knaben die Luke in der Höhe und stieß den andern an, aber der meinte achselzuckend: »Wenn wir auch da hinaufklettern könnten . . ., auf der andern Seite ist es doppelt so hoch.«
»Warum ist es verboten, auf der Plaza Schuhe zu putzen?« fragte Manuelito.
»Einer von unserer Bande hat einer Dame die Handtasche gestohlen, während ein anderer ihr die Schuhe putzte, und jetzt müssen wir als Unschuldige dafür büßen.«
Der Nachmittag ging dahin. Kein Mensch kümmerte sich um die drei Gefangenen, und in dem düstern Raum wurde es völlig dunkel. Da legten sie sich auf den Boden und schliefen ein.
Mit einem Male aber schnellte Manuelito in die Höhe. Irgendjemand rief leise, leise von oben her seinen Namen. Gott im Himmel! Es war der Lagarto. Oder hatte er nur geträumt? Nein! Ganz deutlich hörte er dessen Stimme: »Da ist ein Strick. Klettert daran hinauf! Draußen habe ich eine Stange angelehnt. Da könnt ihr hinunterrutschen.«
Manuelito wollte die beiden andern wecken, aber die waren längst wie Gummibälle aufgesprungen. Sie hatten augenblicklich verstanden, um was es sich handelte. Also rasch! Es war keine leichte Sache, weder das Hinaufklimmen noch das Hinunterrutschen. Aber schließlich standen doch alle drei auf dem Boden hinter der Comisaria.
Ringsum war es dunkel und totenstill. Nur fernher blitzten ein paar Straßenlampen auf. Da machten sie sich davon, zuerst längs einer riesigen Fabrik dahin, dann zwischen aufgestapelten Brettern und Zementhaufen hindurch, bis sie in der Nähe des Meeres innehielten.
»So,« sagte der Lagarto aufatmend. »Jetzt ist keine 51 Gefahr mehr, aber morgen müßt ihr euch zeitig aus dem Staube machen.
»Bah,« entschied der eine kurz, »wir fahren noch in dieser Nacht nach Valparaiso, und morgen arbeiten wir außerhalb.« Es waren zwei Knaben im Alter von zwölf und vierzehn Jahren.
»Woher wußtest du, daß wir eingesperrt waren?« fragte Manuelito seinen Freund.
»Tsch! . . . Die ganze Bande spricht ja von nichts anderem.«
Die Nacht war kalt und am Himmel ein funkelnder Sternenglanz. Ein eisiger Windhauch wehte von Zeit zu Zeit über das Meer, und die Jungen zitterten vor Kälte und Hunger. Schließlich legten sie sich hinter eine schützende Klippe und kauerten sich eng aneinander.
Als gegen Morgen die Sterne erblichen, und ein fahles Dämmern über dem Meer und über den fernen Bergen lag, fuhren die beiden Knaben nach Valparaiso.
Manuelito aber war krank. Er hatte ein fiebergerötetes Gesicht und sagte, er sei ganz schwindlig, so weh tue ihm der Kopf. Der Lagarto überlegte: »Hier bleiben kannst du nicht, denn es ist nicht ausgeschlossen, daß sie euch suchen. Also komm mit zu der Señora Carmela. Wir trinken dort eine Tasse heißen Tee. Dann wird dir besser.«
Mühsam schleppte Manuelito sich bis zum Eldorado. Dort wurde er über Erwarten gut aufgenommen. Die Señora Carmela pflegte ihn einen ganzen Tag lang wie eine Mutter. Er lag auf einem Sofa, bekam Lindenblütentee, und am Abend fühlte er sich schon wohler. Trotzdem behielt sie ihn auch noch in der Nacht im Hause. Das Kind gefiel ihr. Sie ahnte, daß es keines von den verkommenen Rotos war, denen alle Welt mißtraute. Sie verlangte auch nichts für die Pflege, 52 sondern sagte nur dem Lagarto, er solle auf seinen Freund ein wenig aufpassen, und wenn ihm etwas fehle, ruhig wieder kommen.
So gingen denn beide fort, aber nicht mehr auf die Plaza, sondern außerhalb vom Zentrum. Man konnte ja nicht wissen, ob der Tschautschau den Manuelito vielleicht doch wieder erkannte und der Polizei übergab.
An einem der folgenden Tage erzählte der Lagarto, daß am Abend in einem Hotel neben dem Bahnhof ein großes Fest stattfinde und daß es da Gelegenheit gebe, ordentlich Geld zu verdienen.
»Wie denn?« fragte Manuelito.
»Wir stellen uns neben irgendein Auto, in dem kein Schofför ist, und fragen den Besitzer, ob wir auf den Kasten aufpassen sollen. Wenn einer so bis zwei oder drei Uhr morgens ein Auto hütet, braucht er am andern Tage keine Stiefel zu putzen.«
Manuelito war gleich damit einverstanden, und gegen elf Uhr begaben sie sich in jene Gegend.
Das Hotel erstrahlte in einem Meer von Lichtern. Zwei feine Wagen in Grau und Blau kamen angefahren. Der Lagarto stellte sich dicht an den Schlag des einen und Manuelito an den des andern Autos. Ein elegantes Paar und zwei Herren stiegen aus, und die beiden Knaben machten sich an sie heran. Es gelang über Erwarten leicht. Die Autos wurden abgeschlossen, und sie nahmen daneben Aufstellung.
Zuerst erschien Manuelito alles recht unterhaltend. So viele feine Herrschaften fuhren an! So viele elegante Toiletten gab es zu sehen! Da blitzte es nur so von Seide und Perlenketten, von Armbändern und Ringen! Aus dem Hotel 53 erklang Musik. Man sah, wie getanzt wurde. Aber dann, während es drinnen immer lustiger zuging, wurde es draußen immer stiller und einsamer.
Wie Särge standen die vielen, vielen Autos in einer endlos langen Reihe da. Die Schofföre saßen darin und schliefen oder rauchten gelangweilt. Manche gingen weg und kamen später wieder. Die Luft wurde kühl, und es fröstelte die beiden. Sie hatten ja auch seit Mittag nichts mehr gegessen.
Die Hände in den Hosentaschen vergraben, schlich der Lagarto stumm um die beiden Autos herum und bewunderte bald dies und bald das.
»Sie mal die herrlichen Adornos!« Das eine war ein vernickelter Kondor mit ausgebreiteten Flügeln, das andere eine Frauenfigur mit einer Fackel in der Hand.
Schließlich setzten sie sich auf die Trittbretter, und es dauerte nicht lange, so schlief Manuelito tief und fest an die Wagentür gelehnt ein.
Als er aufwachte, wußte er anfangs gar nicht, wie ihm geschah. Der Herr des Autos stand vor ihm und schrie ihn an: »Wo ist das Stück, das da vorn auf dem Wagen war?«
Er erschrak zu Tode. Auch er bemerkte sofort, daß das Schmuckstück, das er vorhin bestaunt hatte, fehlte.
»Ich weiß nicht, Señor,« stotterte er fassungslos.
»So, du weißt es nicht? Auf der Comisaria aber wirst du schon wissen, wo es geblieben ist!«
»Ich habe geschlafen.«
»Ja, ja! Du bist ein netter Wächter! . . .Hallo! . . .« Ein Polizist kam angelaufen.
Unterdessen hatten die beiden Herren des andern Wagens sich ebenfalls überzeugen müssen, daß das Prunkstück ihres Autos abgeschraubt war. Verschiedene andere 54 Polizisten erschienen, auch zwei zu Pferd, und jeder hielt den Manuelito für den Dieb.
»Wo ist der andere Roto hingelaufen?« herrschte ein Polizist ihn an.
»Ich weiß es nicht.«
»Na, schön! Auf jeden Fall nehmen wir diesen Spitzbuben mit.« Er schlug ihm mit einem Knüppel auf die Schulter. »Vorwärts!«
Aber Manuelito wehrte sich wie ein Wilder. Er beteuerte bei allen Heiligen und bei seiner toten Mutter, daß er unschuldig sei und flehte jämmerlich, daß man ihn um Gotteswillen nicht ins Gefängnis nehme. Er sei kein Straßenjunge, und man solle nur nach ihm fragen! Die Señora Rosa im Pasaje Nr. 4 wisse Bescheid. Er habe noch nie in seinem Leben auch nur ein Fünferchen gestohlen.
»Ja, ja . . .« schrie der Polizist ungeduldig. »Hör schon auf! Das kennen wir alles.«
Er packte ihn im Genick und schob ihn vorwärts, aber da geschah etwas ganz Unerwartetes. Eine junge Dame, welche die Beteuerungen des Knaben gehört hatte und vielleicht dadurch bewegt worden war, trat zu den Herren und sprach mit ihnen und dann auch mit den Polizisten. Lange wurde hin- und hergeredet.
Dann trat der schreckliche Carabinero, der den Manuelito abführen wollte, auf ihn zu und herrschte ihn an: »Mach, daß du nach Hause kommst, und laß dich nicht wieder hier blicken!«
Die Autos fuhren weg. Die Hüter des Gesetzes entfernten sich, und Manuelito torkelte wie betäubt davon, erst über die Bahnlinie und dann durch die beiden Stadtgärten. Er konnte kaum gehen, so zitterten seine Beine. Endlich hatte 55 er den Brückenpfeiler erreicht, kletterte an der Mauer hinunter, lief über den Sand und kroch in die Maueröffnung hinein. Wo mochte der Lagarto sein? . . .
Da vernahm er dessen Stimme in der Dunkelheit. »Na, hast du ein ordentliches Trinkgeld bekommen?«
»Nein . . . nichts. Es war alles schrecklich, schrecklich!« Er konnte vor Aufregung kaum sprechen. »Warum bist du weggegangen, ohne mir etwas zu sagen?«
»Bah! Du hast so fest geschlafen, und mir wurde es zu langweilig. Ist denn etwas geschehen?«
Manuelito erzählte ihm alles und schwur, daß er in seinem ganzen Leben nie mehr in der Nacht auf der Straße bleiben würde.
Der Lagarto wurde still, aber dann meinte er: »Nimm dir den Quatsch doch nicht so zu Herzen! Die Hauptsache ist, daß sie dich laufen ließen. Alles andere ist gleichgültig.«
Manuelito zog den Sack über die Schultern und lag mit klopfendem Herzen da. Wohin war er geraten? Keinem Menschen tat er etwas zuleide. Er bettelte nicht. Er stahl nicht. Er versuchte zu arbeiten, und doch wurde es mit ihm immer schlimmer.
Das Erste, das ihm am andern Morgen ins Bewußtsein trat, war die Erinnerung an das Erlebnis in der vergangenen Nacht. Er richtete sich auf. Gottlob saß er nicht im Gefängnis!
Er fuhr sich durch das Haar, rieb sich das Gesicht und sah zu seinem Freunde hinüber. Der schlief fest und ruhig, aber . . . aber . . . Manuelitos Augen weiteten sich in grenzenlosem Entsetzen . . . Was sah er denn da? Ein Gruseln kroch ihm über den Rücken, setzte sich auf seine Brust, schnürte ihm die Kehle zusammen. 56
Der Lagarto hielt die beiden Schmuckstücke der Autos ganz dicht an sich gepreßt im Arm . . .
Da erhob Manuelito sich leise, leise, tappte lautlos aus dem Mauerloch hinaus . . . Nur den andern nicht aufwecken! Nur jetzt ihn nicht ansehen, nicht mit ihm sprechen müssen! . . . Wie furchtbar! . . . Der Lagarto war ein Dieb, ein richtiger Dieb!
Er war aus dem Loch hinaus . . . Gott im Himmel! Nur weg! Nur fort, weit fort! Irgendwohin! . . . Er kletterte an der Mauer hoch auf die Straße und begann zu laufen, zu laufen, was ihn die Beine trugen. 57
Bei der Plaza bog er ab. Wenn Gott ihm jetzt beistand, war die Madrina aus Santiago zurückgekehrt, und dann, ja dann würde alles anders werden. 58