Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Eines jener stillen Täler, die zwischen den grünen Hängen der Küstenkordillera liegen und deren uralte Baumriesen sich in den Wassern einsamer Seen spiegeln, hieß Metrenke. Der Name war araukanischen Ursprungs, und der Ort trug ihn seit jenen Zeiten, da ihn noch Indianer bewohnt hatten.
Später waren Kolonisten mit ihren Familien dorthin gekommen und hatten sich nicht weit vom See niedergelassen. Es waren Chilenen und Ausländer gewesen. Die Regierung hatte jedem von ihnen dreißig Hektar Land und Geld gegeben, um Geräte, Aussaat und Vieh zu kaufen, und dafür nur die Bedingung gestellt, daß die Ansiedler innerhalb einer bestimmten Anzahl von Jahren das Land umzäunten, ein Haus errichteten, rodeten und den Boden bebauten. Alle hatten sich bereitwillig dazu verpflichtet, und jeder war zuversichtlich in den Kampf mit dem Wald gegangen.
Immer und überall ist es aber so, daß dort, wo nur zehn Menschen die gleiche Arbeit beginnen, dieselbe einem oder zweien besser gelingt 59 als den andern. Diese Wahrheit bestätigte sich auch bei den Siedlern in Metrenke.
Da war einer, der scheinbar jedes Ding richtiger anzufassen verstand, denn es dauerte nicht lange, so war er den übrigen in allem weit voraus. Sichtlicher Erfolg lag auf seiner Arbeit, und der Grund dieser Tatsache war nicht allein in seinem bessern Können, sondern in erster Linie in seinem Charakter zu suchen.
Hermann Kreft war ein bedürfnisloser, ausdauernder und umsichtiger Mensch. Mißernten oder Seuchen unter dem Vieh entmutigten ihn nicht. Schlechte Erfahrungen mit den Arbeitern nahmen ihm noch lange nicht die Freude am Weiterschaffen. Den Mangel an geeigneten Geräten ertrug er mit Geduld und suchte unermüdlich Mittel und Wege, um die Widerwärtigkeiten zu überwinden.
Krefts Haus stand am Ende des Dorfes. Jedem Fremden fiel es wegen seiner Sauberkeit und seiner Eigenart auf, und wenn jemand nach dem Besitzer fragte, wurde hinter dessen Namen fast immer noch die Erklärung gesetzt: »Der Reichste im Dorfe.«
Vielleicht war dem auch wirklich so, obwohl er nicht zu jenen gehörte, die nie genug ihr eigen nennen konnten, wie es deren so viele gab, und die sich häufig sogar widerrechtlich Ländereie aneigneten, weil weit und breit niemand war, 60 der das verhinderte. Wohl war es Kreft gelungen, die dreißig Hektar, die ihm die Regierung bei seiner Ankunft zugeteilt, zu verzehnfachen, aber damit hatte er sich zufrieden gegeben. Er wollte nicht mehr besitzen, als was er allein bewirtschaften und beaufsichtigen konnte.
Und doch besaß er noch etwas, um das aber seltsamerweise nur wenige Menschen wußten. Wenn er so am Sonntagmorgen seinen gewohnten Spaziergang auf den nahen Hügel machte und von dort in das jenseitige einsame Tal hinunterblickte, überkam ihn immer die Freude über die Erfüllung eines heimlichen Wunsches. Dann lehnte er sich an einen Zaun und sah lange mit glücklichen Augen in die Tiefe. Stets stieg dabei in ihm die Erinnerung an ein winziges Ereignis aus seiner Schulzeit in der fernen Heimat auf, und jedesmal huschte ein Lächeln über seine Züge.
Vor vielen Jahren hatte ein Lehrer die Knaben in seiner Klasse gefragt, was jeder sich für die Zukunft wünsche und was er werden möchte. Da hatte er laut und ernst behauptet, er wünsche sich nichts weiter als einen Quadratkilometer Land. Darüber war schrecklich gelacht worden, und der Lehrer hatte gemeint, er würde sich vielleicht auch mit einem Zehntel begnügen. Aber seine Gedanken und Pläne waren damals ein wenig höher geflogen als die seiner Kameraden. Ihm hatte Amerika vorgeschwebt, das Land mit den großen 61 Urwäldern und den weiten Ebenen, und er hatte sich fest vorgenommen auszuwandern. Was in jener fernen Zeit als knabenhafter Wunsch vor seinem geistigen Auge gestanden, war nun fast buchstäblich in Erfüllung gegangen.
Er besaß dort unten in dem weltfernen, kaum bewohnten Tale beinah einen ganzen Quadratkilometer schönes, ebenes Land. Vor vielen Jahren hatte er diese Wildnis auf einer Versteigerung billig gekauft und später urbar gemacht, und nun lag sie als eine schier unabsehbare grüne Wiesenfläche zwischen den bewaldeten Hängen und schien nur darauf zu warten, Samen zu empfangen und Frucht zu treiben. Hier und dort stand auf ihr noch ein alter Urwaldriese mit dickem Stamm und mächtiger Krone, aber bebaut hatte er den Boden noch nie. Es stand auch kein Haus darauf, und selten sprach er von diesem erträumten Stückchen Land. Die Gewißheit, daß es später einmal dort unten schon anders sein würde, genügte ihm, und so freute er sich ohne eigennützige Gedanken an dem schönen Erdenfleck, und manchmal, so am Sonntagmorgen, wenn alles ruhte und die Arbeit schlief, kam es ihm vor, als binde ihn dieser verborgene Winkel gar vertraut an Heimat und Jugendzeit und als sei ihm kaum noch etwas zum Wünschen übriggeblieben.
Aber hinter Menschen von dieser Art schleicht 62 nur zu gern das Leid, und Hermann Kreft sollte es nach einer langen Reihe von Jahren reichen Segens plötzlich in seiner ganzen Tiefe erfahren.
Zuerst warfen die Stürme ihre vernichtenden Gewalten von außen her auf seinen Lebensweg, und dann erwuchsen ihm Kummer und Sorgen aus dem eigenen Herzen heraus.
Krefts hatten drei Knaben, alle geistig und körperlich wohlgeraten, und wenn sie am Morgen mit dem Vater zu Pferd aus dem Dorfe auf die Felder ritten oder am Abend mit den Eltern auf der Bank vor dem Hause saßen, konnte man sich kaum ein schöneres und einträchtigeres Familienbild denken, und niemand hätte geglaubt, daß das Unglück auf dem Sprunge war, sich sein Opfer gerade unter diesen Menschen zu wählen.
Jedes Jahr wurden im Sommer auf den umliegenden Höhen, bald hier, bald dort, die Wälder in Brand gesteckt, um neuen Boden zum Bebauen zu gewinnen. Weil das Feuer leicht eine Gefahr für die Ernte werden konnte, wählten die Bauern für diese Arbeit windstille Zeiten.
So lohten denn auch wieder einmal auf den Bergen über Metrenke die verheerenden Flammen. Die Luft war davon drückend und schwül, und in den schauerlich erhellten Nächten schwamm der Mond wie eine blutrote Scheibe in Dunst und Rauch.
An einem solchen Abend der Waldbrände 63 wurde Krefts Aeltester, der fünfzehnjährige Peter Hinrich, vermißt, aber weder Vater noch Mutter beunruhigten sich deswegen, denn ihre Kinder, in Metrenke geboren und als Kolonistenkinder aufgewachsen, kannten sich bei Tag und bei Nacht zu Fuß und zu Pferd auf allen Wegen des Tales aus.
Als es aber Nacht wurde und der Junge noch immer nicht erschien, wurden sie plötzlich von einer unbekannten Angst erfaßt. Knechte mußten nach allen Himmelsrichtungen auf die Suche laufen. Auch Freunde und Bekannte gingen trotz der vorgerückten Stunde auf die nahen Felder, in den Wald und um den See herum, riefen und fragten in den Hütten der Arbeiter nach dem Knaben, aber alles war umsonst.
Am folgenden Tage begann das Suchen von neuem. Die ganze Kolonie nahm daran teil. Jeder Winkel, jede Halde wurde durchstöbert. Der Knabe blieb verschwunden.
Acht Tage später begann es plötzlich in Strömen zu regnen, und die Waldbrände hörten auf. Da geschah es, daß Arbeiter, die mit einer Ochsenkarrete durch den zerstörten Wald fuhren, die verkohlte Leiche des Knaben und etwa hundert Meter weiter Ueberreste eines Pferdekörpers fanden. Es gab nur eine Erklärung für das furchtbare Ereignis: die Flammen hatten sich rasend schnell verbreitet und den Jungen erfaßt. 64
Krefts waren durch dieses entsetzliche Unglück so niedergeschmettert, daß sie lange ihre beiden andern Kinder, den zehnjährigen Erich und den dreizehnjährigen Helmut, vernachlässigten, aber nach und nach verlor der bittere Schmerz von seiner ursprünglichen Tiefe und Gewalt. Die beiden Menschen, denen Schaffen und Werken Lebensbedürfnis war, besannen sich wieder auf ihre Arbeit und auch auf ihre beiden Knaben.
Als Helmut die Schule im Dorfe beendigt hatte, arbeitete er mit dem Vater auf dem Gute. Er war unermüdlich tätig, dabei überlegend und immer bestrebt, Neues zu ersinnen. Kreft entgingen diese Vorzüge nicht, und hin und wieder dachte er bereits darüber nach, wo er dem Jungen einmal ein Stück Land zu eigener Bewirtschaftung übergeben könnte. Doch hatte er damit keine Eile, sondern freute sich, den Sohn noch an seiner Seite zu haben.
Da trat etwas an Kreft heran, das ihm nicht einmal in seinen kühnsten Ueberlegungen eingefallen wäre. Helmut bat ihn, in der Hauptstadt des Landes studieren zu dürfen. Er sagte, er möchte die Landwirtschaft nicht nur praktisch, sondern auch wissenschaftlich lernen und sich das Diplom als Ingenieur erwerben.
Vor diesem Wunsche stand Kreft unsicher und unentschlossen. Was brauchte der Junge denn noch zu lernen, um das Land in Metrenke zu 65 bebauen? Wozu den Kopf mit Wissenschaften füllen, die hier nie zur Anwendung kamen? War der Helmut nicht klug? Hatte er nicht offene Augen und wache Sinne? Nie ließ er sich übervorteilen und verstand alles, was mit der Landwirtschaft zusammenhing.
Schließlich aber lenkte er doch ein, meinte, schaden könne ein solches Studium ja nicht, im Gegenteil, vielleicht diene es ihm sogar, später einmal Verbesserungen auf dem Gute zu machen, und so kam es, daß er seinen Sohn wirklich auf die landwirtschaftliche Hochschule nach Santiago schickte.
Sechs Jahre reihten sich ohne besondere Ereignisse aneinander. Da kehrte Helmut Kreft mit großen Auszeichnungen versehen als landwirtschaftlicher Ingenieur nach Metrenke zurück. Seine Heimkehr wurde im Elternhause mit Stolz und Freude gefeiert. In der ganzen Kolonie sprach man davon, und mancher fragte sich neugierig, was er nun beginnen werde. Die einfachen Bauern konnten es sich nicht gut vorstellen, daß ein so feiner und studierter Mann gleich ihnen Kartoffeln und Weizen pflanzen würde. Es dauerte aber gar nicht lange, so wußten oder errieten es alle, was der junge Kreft für Pläne hatte.
Es war an einem Sonntagmorgen im Januar. Da schlenderten Vater und Sohn den Hügel 66 hinter Metrenke hinauf. Oben angekommen, standen sie lange in die Betrachtung des Landes versunken still. An sanftabsteigender Halde grasten Kühe und Pferde, und in der Tiefe lag einsam und lieblich das Tal mit der herrlichen weiten Rasenfläche. Sie leuchtete dunkelgrün und breitete sich wie ein Sammetteppich vor ihnen aus.
Kreft lehnte sich an den Zaun am Wege, sah tiefbewegt hinunter auf das, was einst der Traum seiner fernen Knabenzeit gewesen und nun die Erfüllung seines Herzenswunsches geworden war, und dann begann er, und eine warme Freude lag in seinen Worten. »Helmut«, er wies mit der Hand in die Tiefe, »sieh, diese ganze, weite grüne Ebene, die sich da vom Bach bis hinaus zum Bergeshange hinzieht, gehört mir. Ich weiß nicht einmal, ob ich es dir je gesagt habe, aber wenn ich auch nicht davon sprach, mein Herz hing doch immer an diesem schönen Erdenwinkel. Der Boden ist gut, noch niemals ausgenützt. Er wird reiche Ernte tragen. Ich möchte dir dieses Land zu eigener Bewirtschaftung überlassen. Ich glaube, du wirst etwas Feines daraus machen.«
Die Worte verklangen im sommerlichen Land. Ein Geier schwang sich flügelschlagend vom Gipfel eines alten Coihuebaumes in die blaue Morgenluft empor. Kreft verharrte ein paar 67 Augenblicke still und erwartungsvoll, aber das Wort, dem er entgegenlauschte, drang nicht zu ihm.
Da sah er seinen Sohn an und begegnete einem merkwürdig entschlossenen Ausdruck in dessen Gesicht.
»Nun?« munterte er ihn auf.
»Vater, ich danke dir für deine Güte, aber ich habe andere Pläne.«
»Andere Pläne?« Der Alte glaubte nicht recht zu hören.
»Ja. Ich brauche ein anderes Arbeitsfeld.«
»So . . .?« Kreft zögerte sekundenlang. Dann meinte er: »Ich denke, du, als gelernter Landwirt, brauchst Grund und Boden.«
»Ja, Vater«, erwiderte der Sohn ruhig, »ich brauche Land, aber nicht solches, wie es hier herum ist. Ich habe keine Lust, auf einem Boden zu arbeiten, wo die Ernte nur das Sechsfache der Aussaat gibt. Ich möchte Erde bebauen, die dreißigfache Ernte trägt, und die ist nur in Mittelchile zu finden. Ich habe auch bereits eine Stelle als Verwalter auf einem Landgut in der Nähe von Santiago gefunden. Ich bin jung. Ich habe das Leben noch vor mir. Ich möchte etwas Ordentliches werden und nicht meine Kräfte in dieser kärglichen Gegend vertun.«
In Kreft schlossen sich mit einem Male alle Herzenstüren. Ein helles Licht erlosch. Eine 68 schöne Hoffnung fiel in sich zusammen. Er verstand. Dem Sohne war das, was er sich während eines langen, harten Lebens erworben hatte, nicht gut genug. Die Vergangenheit stieg jäh vor ihm auf. Gute und böse Zeiten fielen ihm ein. Der brennende Wald, der ihm mitten in Schaffens- und Lebensfreude seinen Aeltesten geraubt hatte. Die Verzweiflung jener Tage verband sich mit der Enttäuschung des Augenblicks. Diese war zwar nicht so grausam, nicht so herb wie jener Schmerz, aber sie erfüllte ihn trotzdem mit grenzenloser Bitterkeit. »Wenn du wirklich so einer bist«, er betonte jedes Wort, »der mehr Gefallen daran findet, auf fremdem Boden Dreißigfaches zu ernten als auf der eigenen Scholle Sechsfaches . . . dann geh! Dann habe ich mich in dir getäuscht und halte dich nicht.«
Langsam schritten sie den Berg wieder hinab. Die ganze Breite des Weges lag zwischen ihnen, und manches Wort ging noch von einem zum andern, aber keines führte zu einer Verständigung, im Gegenteil, je mehr jeder von seinem Innern preisgab, um so deutlicher trat der Gegensatz zwischen ihren Ansichten hervor, und als sie im Tale angelangt waren, trennten sie sich grußlos.
Müde und schwer schritt Kreft durch sein Haus, setzte sich im Garten an einen Tisch, stützte die Ellbogen auf und vergrub das Gesicht in den 69 Händen. Lange verharrte er so, sann und sann vor sich hin und konnte das Erlebte nicht begreifen. Zwecklos wollte ihm in dieser Stunde all sein Mühen und Sorgen erscheinen, nachdem er erkannt hatte, daß sein Sohn es verachtete. Verachtete! Ja, es war so und nicht anders. Der Sohn wollte höher hinaus. Das, was er ihm bot, war ihm nicht gut genug.
Da legte sich ihm plötzlich eine Hand auf die Schulter. Seine Frau stand neben ihm.
»Hermann, was ist dir?« Er rührte sich nicht.
»Ist es etwa wegen Helmut?«
Er sah sie an. »Wenn du es wußtest, warum sagtest du es mir nicht? Du hättest uns bittere Worte erspart.«
»Ich dachte, ihr zwei würdet euch doch noch irgendwie einigen«, erwiderte sie ruhig.
Er schüttelte den Kopf. »Kannst du so etwas verstehen? Hier aufgewachsen . . . und verachtet die Erde, die seine Heimat ist! Ach, was für eine überhebende Jugend!«
Sie versuchte ihn zu besänftigen. »Die Stadt und die Größe der Landgüter im Norden haben den Jungen betört. Laß ihn gehen! Wenn er sich die Hörner abgelaufen hat, kommt die bessere Einsicht von selbst. Und wegen unseres Landes mach dir keine Sorgen! Der Erich ist doch heute schon deine rechte Hand.« 70
Er sagte nichts, und sie tröstete weiter. »Es könnte ja alles viel schlimmer sein. Wir könnten auch einen Sohn haben, der weder für sich noch für seine Mitmenschen etwas taugt. Schließlich ist der Helmut zielbewußt und tüchtig und wird seinen Weg schon machen. Daß er unsere Arbeit für ein Nichts achtet, ist traurig, aber unser tiefster Kummer ändert daran nichts.« – –
Ueber diesen Tag waren wieder Jahre dahingegangen, und es kam die Zeit, da Kreft seinem jüngsten Sohne denselben Vorschlag zu machen gedachte wie einst dem andern. Zwar ging er diesmal nicht hinauf an jenen stillen Ort am Waldesrande. Sein Herz schlug auch nicht mehr so hoffnungsfroh wie damals, aber alles, was ihm noch an Liebe und Wärme geblieben war, strömte dem Erich entgegen.
Vater und Sohn saßen auf der Bank vor dem Hause, und um sie breitete sich die friedliche Stimmung der Abendstunde. Da begann Kreft: »Wie wäre es, Erich, wenn du jetzt auf eigene Rechnung arbeitetest?«
Der Junge blickte auf, und während ein Freudenschimmer sein Gesicht erhellte, erwiderte er: »Mit diesem Gedanken trage ich mich schon lange, und ich hätte immer gern mit dir darüber gesprochen.«
Die Antwort gefiel Kreft. »Ich überlasse dir das Land auf der andern Seite. Es ist guter 71 Boden und bringt dir schon im ersten Jahre ein Vermögen ein.«
Zögernd entgegnete darauf der Sohn: »Es ist nicht wenig, was du mir bietest, Vater . . . aber ich kann es nur unter einer Bedingung annehmen.«
In Kreft regte sich augenblicklich der Aerger. Sollte er etwa eine zweite Niederlage erleben? Was ließ bloß den Jungen nicht vorbehaltlos mit beiden Händen zugreifen? Was konnte es überhaupt für Bedingungen geben, wenn einem jungen Menschen ein Quadratkilometer schönes Land als Geschenk angeboten wurde?
»Laß hören!« forderte er ihn auf.
»Ich bin verlobt und möchte zuerst heiraten.«
Der heimliche Groll verebbte sofort. Ein flüchtiges Lächeln flog über Krefts Züge. »Da kann ich dir nur beipflichten.« Er blickte den Sohn an, und in seinen Augen stand erwartungsvoll die Frage, die sein Mund nicht tat.
Doch dann war es plötzlich, als sitze ihm die kalte Kralle des Schicksals wie einst im Nacken. Warmes Entgegenkommen und freundliche Bereitwilligkeit waren wie weggefegt.
Carmen Nera . . . Ein eingesargter, aber nie erloschener Haß stieg gleich einer heißen Flamme in ihm hoch. Wie war es möglich! Die Tochter des einzigen Mannes, der ihn durch Lügen und Betrügereien um rechtschaffen Erworbenes 72 gebracht hatte. Mit gerunzelter Stirn und zornig funkelnden Augen sah er seinen Sohn an.
»Eine Nera? . . . Sag, daß ich mich verhörte!« knirschte er mit grenzenloser Verachtung. »Jedes andere Mädchen soll mir willkommen sein, aber nicht dieses! Pfui, daß du nicht mehr Achtung vor unserem guten Namen hast!«
»Was zwischen dir und dem alten Nera vor vielen Jahren einmal war, geht uns Junge heute nichts an«, erwiderte der Sohn ruhig, »und daß du einem Toten Streitigkeiten nachträgst, die längst erledigt sind, finde ich kleinlich.«
»Das ist meine Sache«, schnaubte Kreft, »und das andere auch, ob ich die Brut von jenem Dieb und Fälscher in meine Familie aufnehme.«
Der Sohn stand auf. »Wie du willst, Vater, aber auch wie ich will. Auf dein Land verzichte ich leicht und schmerzlos, aber auf die Carmen nicht . . . nie! Nun weißt du es.«
Auch der Alte hatte sich erhoben. Sie standen sich gegenüber, und ihre Blicke kreuzten sich hart und scharf.
»Tu, was dir beliebt, aber schreibe es dir tief ins Gehirn, eine Nera kommt nicht in unser Haus, solange deine Mutter und ich leben.«
»Schön . . .« Der Sohn wandte sich ab. »Dein sinnloser Haß geht uns nichts an. Wir heiraten auch ohne dich.« Er ließ den Vater stehen und entfernte sich rasch. 73
Kreft war es, als würde er immer kleiner und kleiner, ja als sei er plötzlich vom Schicksal ganz in den Staub geworfen. Drei Kinder hatte er gehabt. Hoffnungsvolle Jungen! Alle drei hatte er nun verloren. Den Peter Hinrich hatte ihm der Wald geraubt. Vom Helmut war er achtlos und gleichgültig beiseite geschoben worden, und der Erich, sein Jüngster, mit dem er jahrelang einträchtig gearbeitet und auf den er seine letzte Hoffnung gesetzt hatte, der schritt über ihn weg, als seien sie Fremde und nicht gleichen Blutes, rücksichtslos und undankbar.
Kreft fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht, als wolle er etwas Schmerzliches verwischen. Sein Blick glitt über den Weg, der durch den Wald auf die Höhe ging. Sekundenlang überkam ihn die Sehnsucht nach der Ruhe und Stille des Berges und nach dem Anblick seines erträumten Jugendlandes, dieses prachtvollen Erdenwinkels, den seine Söhne verachteten und verschmähten, und um was? Unsägliche Wehmut erfaßte ihn. Der eine um schnöde Habgier, der andere um die Tochter seines größten Widersachers. Langsam und in tieftrauriges Sinnen versunken schritt er hügelauf.
Die wunderbare Stille des Urwaldes, das dämmerige Abendlicht und die menschenleere Einsamkeit taten ihm wohl. Die Hände auf dem Rücken, stieg er aus dem Dunkel der alten Bäume 74 in das freie Licht der Höhe. Da erhoben sich am Wegrande die riesigen Coihuebäume. Da fiel an sanftem Abhang die grüne Halde in die Tiefe, und drüben, wo die Sonne unterging, lag der Friedhof mit seinen vielen weißen Holzkreuzen, von einem hohen Bretterzaun umfriedet und von den Kronen mächtiger Bäume überschattet.
Er blickte ins Tal. Jener Tag stand klar vor seinem Auge, da er seinem zweiten Sohne die blühende Pracht dort unten angeboten hatte. Jener Schmerz und jene Bitterkeit um sein fast geheiligtes Stück Boden, das sein eigener Sohn nicht lohnend genug fand, erweckten auch in dieser Stunde wieder traurige Gedanken, aber sie waren nichts im Vergleich zum Groll über das, was sein Jüngster ihm durch eine Heirat mit einer Nera antat.
Vergangene, aber nicht ausgelöschte Bilder stiegen in ihm auf. Vor Jahren war es gewesen. Da hatte er sich mühsam so viel erworben gehabt, um zwanzig Hektar zuzukaufen. Zwanzig Hektar unten am See. Fruchtbarer, schöner Boden! Alles war abgeschlossen und bezahlt. Der alte Nera, der sich immer als Freund und Helfer der Kolonisten aufspielte und der damals zuständiger Richter war, hatte ihm alles besorgt: Kauf, Verkauf, Kontrakt, er hatte auch das Geld empfangen. Die Papiere mußten nur noch nach Santiago an die Regierung geschickt werden, um sie rechtsgültig 75 zu machen, aber dann waren diese Dokumente auf einmal verschwunden gewesen. Niemand wußte wie und wo, und Nera, der allmächtige Richter, hatte behauptet, nie in seinem Leben Geld von Kreft erhalten zu haben. Dabei war es geblieben. Für eine Klage fehlten die Zeugen, und jeder Prozeß kostete ein Vermögen. Die zwanzig Hektar Land am See aber glitten stillschweigend in den Besitz des gewissenlosen Richters Nera.
Nera war tot. Freilich! Und Toten soll man nichts nachtragen, aber für Kreft war und blieb der Name gleichbedeutend mit Diebstahl und Unterschlagung. Flüchtig huschte ihm der Gedanke an die Witwe und die Tochter des Verstorbenen durch den Sinn. Die beiden hatten ihm nichts zuleide getan, aber in sein Haus kam das Mädchen nicht. Mit Diebsgesindel hatte er nichts gemein, und sein Sohn mochte sehen, wo er blieb.
Als er an diesem Abend allein mit seiner Frau beim Essen saß, fragte er: »Weißt du, was der Erich im Sinne hat?«
»Nein . . .?«
»Er ist mit der Carmen Nera verlobt.«
Sie starrte ihn an. »Das ist doch nicht möglich . . . Der Erich? . . . Mann, sage, daß es nicht wahr ist!« Ihre Stimme zitterte. »Nicht wahr, das darf er uns nicht antun?« 76
»Er sagt, er wird sie auch ohne unsern Willen heiraten.«
Am andern Morgen hörte Frau Kreft ihren Sohn ungewöhnlich laut in seinem Zimmer herumhantieren. Sie ging zu ihm hinein und sah sofort, daß er im Begriffe war zu packen. Er blickte sich nicht nach ihr um, und sie erriet augenblicklich, wie es um ihn stand.
»Erich«, bat sie, »ich möchte mit dir reden.«
Ohne sich umzuwenden, erwiderte er: »Wenn du etwas gegen die Carmen sagen willst, brauchst du gar nicht erst damit anzufangen.«
Sie ließ sich nicht abweisen. »Ich will gar nichts gegen das Mädchen sagen, denn ich kenne sie nicht. Ich weiß nur, aus was für einer Familie sie stammt und was wir durch den Vater erlitten haben.«
Jetzt sah der Sohn sie an. »Ich habe schon dem Vater gesagt, daß ich es engherzig finde, den Haß gegen einen Toten an einem unschuldigen Menschen seiner Familie auszulassen. Ich heirate das Mädchen auf jeden Fall, und du kannst dem Vater sagen, ich brauche ihn nicht dazu. Ich habe eine Stelle in Concepción in Aussicht und bin somit vollkommen unabhängig.«
Frau Kreft erschrak. Wie sprach ihr Sohn mit ihr! Fremd, lieblos, als gehöre er bereits den andern und nicht mehr zu seiner Familie. 77
»Erich«, flehte sie, »ist es möglich, daß du so aus dem Elternhause scheidest?«
»Mir tut es wahrhaftig leid genug, daß ihr so nachtragend seid, aber daß ich mir deswegen meinen Lebensweg verderben lassen soll, paßt mir nicht. Für mich gibt es nur eine Frage: wollt ihr in meine Heirat einwilligen oder wollt ihr nicht.« Trotz der scharfen Worte lag etwas wie eine Bitte in seinen Augen.
Frau Kreft schüttelte den Kopf und verließ das Zimmer. Am gleichen Tage aber fuhr Erich Kreft, ohne Abschied von den Eltern zu nehmen, von Metrenke weg.
Auf der andern Seite der Straße, in der Krefts Haus stand, wohnte Werner Klinke, ein Verwandter, ein alter Junggeselle, der nach einem langen, arbeitsvollen Leben seine letzten Jahre ganz nach seinen Wünschen zubrachte.
Im Winter verkroch er sich wie ein Murmeltier in dem kleinen Holzhaus, wartete täglich ungeduldig auf die Zeitung, las, drehte den Lautsprecher an, hörte, was im alten Vaterlande vor sich ging, und wollte immer nur die Hälfte davon glauben, weil in ihm die Heimat noch so lebte, wie er sie vor fünfzig Jahren verlassen hatte.
Im Sommer aber packte er seine Koffer und fuhr ein wenig in der Welt herum, besuchte hier und dort alte Bekannte und kam zu Beginn der 78 Regenzeit mit einem ganzen Sack voll Neuigkeiten wieder nach Metrenke zurück.
Von ihm erfuhren denn auch Krefts hin und wieder etwas von ihren Söhnen. Der Helmut war Verwalter eines großen Gutes in der Nähe von Santiago, und es ging ihm gut. Der Erich hatte geheiratet und lebte in Concepción, einer Stadt, die ungefähr eine Tagereise von Metrenke entfernt lag. Auch daß sie Großeltern von einem kleinen Jungen und später von einem Mädelchen geworden waren, hörten sie zu ihrem großen Schmerze von dieser Seite. Aber die Kluft zwischen den Eltern und den Söhnen schloß sich nicht, sondern vertiefte sich nur im Laufe der Jahre. Keines schickte dem andern einen Gruß, und Krefts waren mittlerweile alte und einsame Leute geworden, er weit über sechzig und sie hoch in den Fünfzigern.
Bis dahin hatte Kreft die Arbeiten auf seinem Lande immer noch selbst angeordnet und beaufsichtigt und sich nie geschont, aber nach und nach waren ihm doch Lust und Spannkraft verlorengegangen, und eines Tages erklärte er seiner Frau: »Ich habe die Absicht, das Gut zu verkaufen. Dann richten wir uns unser Leben ein wenig bequemer ein, denn dieses Abrackern hat in unserer Lage und in unserm Alter keinen Sinn mehr.«
Sie war anderer Meinung. »Behalte das 79 Land doch noch ein paar Jährchen! So alt sind wir nicht, um die Hände müßig in den Schoß zu legen, und, wer weiß, Gottes Wege sind oft wunderbar, vielleicht ist der eine oder der andere unserer Jungen froh, wenn er wieder bei uns arbeiten kann.«
Kreft warf ihr einen überraschten Blick zu. »Hast du Nachricht von den Kindern? Geht es ihnen schlecht?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, aber dergleichen, wie es unsere Söhne uns angetan haben, diese rücksichtslose Art des Beiseiteschiebens straft sich ganz von selbst.«
Kreft stimmte ihr innerlich bei, und da er in Wirklichkeit sich auch nur schweren Herzens von seiner Arbeit getrennt hätte, gab er den Gedanken, sein Gut zu verkaufen, vorläufig auf.
* * *
Es war eine schöne Sommernacht in der letzten Woche des Monats Januar. Kreft machte mit seiner Frau den gewohnten abendlichen Spaziergang durch den Garten in der Mitte des Dorfes.
Dieser Garten gehörte zu den schönsten Anlagen des Landes. Er war Krefts eigenes Werk, und die Kolonie hatte ihn treulich gepflegt und gehütet. Bäume aus der alten Heimat: 80 Silberpappeln, Birken, Eichen und Tannen grünten hier wetteifernd im Vereine mit den gewaltigen Vertretern des chilenischen Urwaldes, mit Coihues, Peumos, Maitenes und Muermos. Am Rande der Wege blühten die herrlichsten blauen Hortensienbüsche, und auf dem kleinen Teich in der Mitte des Parkes schwammen auf riesengroßen Blättern wunderbare Seerosensterne.
Kreft schlenderte mit verschränkten Armen neben seiner Frau durch die abendliche Pracht und freute sich wie immer über jeden blühenden Strauch und nicht zum wenigsten über die Sauberkeit der Wege. Silbern lag das Mondlicht auf der Erde, blickte durch die schimmernden Kronen und warf hier und dort helle Streifen auf die dunklen Rasenflächen.
So im Dahingehen erzählte er: »Ich habe heute etwas ganz Sonderbares auf dem Felde hinter dem See erlebt. Du weißt doch, daß wir das Vieh jeden Abend zwischen sechs und sieben von den Hängen hinunter in die Umzäunungen treiben. Heute sind mit einem Male sämtliche Tiere, Kühe, Pferde, Schafe, sogar die Esel, ohne jeden Grund schon um drei Uhr hinuntergelaufen und ganz allein in den Korral gegangen. Allen Arbeitern ist das aufgefallen.«
»Wer weiß«, meinte Frau Kreft, »vielleicht bebte es, und die Tiere haben es gespürt.«
Er widersprach. »Ausgeschlossen! Das Beben 81 hätte doch einer von den Leuten auch merken müssen.«
Plötzlich blieb sie stehen. »Sieh dir einmal den Mond an! Was für ein seltsamer blutroter Schein liegt über ihm und rings herum!«
Er betrachtete das merkwürdig aussehende Himmelsgestirn. »Sicher sind irgendwo große Waldbrände.«
»Ich glaube nicht. Dann sieht der Mond anders aus, und die Luft ist nicht wie heute abend so mild und klar. Was mag das nur bedeuten?«
Als sie ins Haus zurückkehrten, war es elf Uhr. Sie schlossen Fenster und Türen, löschten das Licht im Garten und auf dem Flur und gingen zu Bett.
Doch kaum war eine Viertelstunde vergangen, so fuhren sie von einem wahnsinnigen Schrecken geschüttelt aus dem Schlafe auf. Unter der Erde rollte und dröhnte es wie beim grausigsten Kanonendonner. Der Boden hob sich. Das ganze Haus ächzte und zitterte. Die Fenster klirrten und splitterten. Die Möbel fielen um, und das unterirdische Donnern steigerte sich ins Grauenhafte.
Kreft wollte das Licht andrehen. Es versagte. Die Leitung war zerrissen. Kopflos suchten sie den Ausgang, jagten auf die Straße. Finsternis umfing sie. Kein Stern war mehr am Himmel. 82 Die ganze Erde bewegte sich wie eine Schaukel. Sie hielten sich an einem Stamme fest. Der Baum schwankte wie ein Rohr im Winde. Erdbeben! Erdbeben!
Aus allen Häusern drangen Schreie. Menschen stürzten auf die Straßen. Türen und Fenster wurden aufgerissen. Hier und dort flackerte das Licht einer Kerze auf, und dann, nur nach Sekunden, war plötzlich wieder Stille, Totenstille, als sei die ganze Welt gestorben.
Kreft sah auf die Uhr. Sie zeigte fünfunddreißig Minuten nach elf. Er ging mit seiner Frau durch die Finsternis hinüber zum alten Klinke. Der lag im Bett, neben sich die Lampe und vor sich die Zeitung.
»Klinke!« stieß Frau Kreft mit fast versagender Stimme heraus. »Hast du nichts gespürt? Was war denn das? Wie kannst du nur so ruhig daliegen!«
Der Alte verzog sein Gesicht zu einer verächtlichen Grimasse. »Ein bißchen Erdbeben!« meinte er. »Das ist doch hierzulande nichts Neues. Warum soll ich mich aufregen? Der Tod kommt, wann er will. Da können wir nichts dagegen und nichts dazu tun. Da hilft weder Aufstehen noch Liegenbleiben, aber ich glaube«, er wurde ernst, »wir haben nur einen Ausläufer des Bebens gespürt. Irgendwo hat es 83 sicher eine Katastrophe gegeben. Dreht doch einmal den Lautsprecher an!«
Sie gingen in seine Wohnstube und probierten an dem Apparat herum. Es war vergebens. Kein Laut ließ sich hören, sie mochten drehen, wohin sie wollten. Da eilten sie ins Dorf. Ueberall brannten Lampen oder Kerzen. Wer sich zeigte, hatte ein schreckensbleiches Gesicht, aber ein Unglück war nirgends geschehen.
Sie kehrten wieder in ihr Haus zurück und erschraken nicht wenig. Wie sah es darin aus! Alle Fensterscheiben zersprungen! Das Geschirr zerschlagen! Fast sämtliche Möbel umgestürzt! Die Tische mit der Platte auf dem Boden! Die halbe Nacht verging mit Ordnen und Aufräumen der Scherben.
Gegen Mittag des nächsten Tages gab der Lautsprecher mit einem Male die ersten Nachrichten kund, zwar nur spärlich, aber aufregend genug. Concepción liege in Trümmern. Vom nahen Hafen aus habe man während der ganzen Nacht einen grausigen Feuerschein über der Stadt gesehen. Bulnes sei zerstört. Chillán in Ruinen. In San Carlos sei kein Stein mehr auf dem andern. Parral ein Schutthaufen. Cauquenes in Trümmern. Dann kamen die ersten Nachrichten von Toten . . . In Concepción zweitausend, wahrscheinlich mehr. In Chillán fünftausend, sicher mehr. In Cauquenes seien die 84 Berge eingestürzt und hätten die ganze Einwohnerschaft unter sich begraben.
Mit Grauen in der Seele hörten die Menschen die unbeteiligte, metallene Stimme, die von der Höhe eines Hauses aus die entsetzlichen Tatsachen in den Frieden der Natur hinausschleuderte. Niemand konnte es fassen, niemand wagte es zu glauben. Hin und wieder sagte einer ein mahnendes Wort. Die Verbindungen mit dem Norden seien unterbrochen, und niemand könne Bestimmtes angeben. Man solle doch ruhig abwarten!
Schreckensbleich und stumm vor Entsetzen harrten alle bis am Nachmittag. Hunderte von Menschen, darunter auch viele Indianer, waren aus den Wäldern gekommen. Sie saßen auf den Bänken der Plaza, auf dem Rasen, am Wegrand, ja mitten auf der Straße und hörten zu, was der Lautsprecher nun ununterbrochen von der Katastrophe berichtete.
Fünf der herrlichsten Provinzen in Mittelchile seien verwüstet, der Boden gespalten, die Brücken eingestürzt, die Eisenbahnlinien zerrissen, die Wege verschüttet, Flüsse über die Ufer geschleudert, viele Städte und Ortschaften, wohl an die hundert, in Schutt und Trümmern und Verwundete und Tote zu Tausenden. Die Orte wurden angegeben, wo das Beben besonders 85 gewütet hatte, die Straßen genannt, die ganz verschüttet waren.
Frau Kreft schien es, als ob ihr mit einem Male die Sinne schwänden. Der Lautsprecher hatte verkündet: »Neun Zehntel aller Häuser in Concepción liegen auf dem Boden. Die Straße Maipú ist ein einziger Trümmerhaufen . . .«
Mehr hörte sie nicht. Vom alten Klinke wußte sie, daß in der Maipú der Erich mit seiner Familie wohnte.
Jemand schrie hinter ihr auf. Eine junge Frau war in Ohnmacht gefallen. Ihre Eltern, ihre Geschwister, ihr Haus, das Geschäft ihres Mannes, alles befand sich in der Straße Maipú . . . Viele Menschen bemühten sich um die Unglückliche, während Kreft seine Frau nach Hause führte.
Dort ermannte sie sich augenblicklich. »Wir müssen nach Concepción.« Aus angsterfüllten Augen sah sie ihren Mann an. »Bestelle ein Auto! Der Erich wohnt in der Maipú. Nicht wahr, wir fahren?«
Er war sofort einverstanden. »Ja, halte alles bereit! Laß einen Koffer mit Eßwaren füllen! Rauchfleisch, Konserven, Kognak! Ich gehe rasch ins Dorf und besorge alles wegen der Fahrt.«
Als er zurückkam, berichtete er: »Die Frau, die auf der Plaza ohnmächtig wurde, und ihr 86 Mann fahren mit uns. Sie heißen Medina und sind erst seit gestern hier.«
Während Kreft noch dieses und jenes anordnete, ließ sich ein Fremder melden. Er war ganz verstört und konnte kaum sprechen. »Ich bin Reisender, heute morgen erst angekommen. Ich habe meine Frau und vier kleine Kinder in Concepción. Bitte, nehmen Sie mich mit! Es gibt sonst keine Gelegenheit fortzukommen, und hier verliere ich den Verstand.«
Kreft reichte ihm die Hand. »Selbstverständlich kommen Sie mit uns. Verzagen Sie nicht! Auch wir haben einen Sohn und seine Familie in Concepción, aber wenn wir nicht hoffen, überstehen wir die Reise nicht. Ich stelle mir vor, daß unser Weg nicht so einfach sein wird, und daß wir körperlicher und seelischer Kraft bedürfen.«
Im Morgengrauen des nächsten Tages fuhren sie im Auto eines jungen Mannes, der Zeitungsreporter war, nach dem Norden. Ohne größere Hindernisse gelangten sie gegen fünf Uhr nachmittags an eine Station, die als Kreuzungspunkt der Eisenbahn mit Menschen überfüllt war. Alle hatten Angehörige in Concepción und warteten auf irgendein Beförderungsmittel. Doch alle Wege waren gesperrt, und in dem Augenblick, als Krefts einfuhren, rückte Militär an, nahm sämtliche Autos und Wagen in Beschlag 87 und gab Befehl, sofort wieder nach der nächsten südlichen Station zurückzukehren und dort zu warten, bis es vielleicht Zugsverbindungen gäbe.
Eine lange Reihe von verzweifelten und jammernden Menschen setzte sich in Bewegung. Die Strecke betrug zwanzig Kilometer. Es war acht Uhr abends, als sie die Station erreichten.
Endlos, riesig wie das Meer, breitete sich vor ihnen ein Fluß im Grau der sinkenden Nacht. In vielen tauchte derselbe Gedanke auf. War das nicht der Bio-Bio, dessen Fluten sich geradewegs auf Concepción zuwälzten? Boten denn diese Wasser keine Möglichkeit, ans Ziel zu kommen? Gab es hier kein Fahrzeug? . . . Doch! . . . Ein Mann kam vom Flußufer her und bot eine Lancha an. Viele umringten ihn. Was er dafür verlange? Fünfhundert Pesos . . . Es war eine grenzenlose Ueberforderung, aber der Mann gab zu bedenken, daß die Fahrt auf diesem Flusse mit großen Gefahren verbunden sei. Jeder wußte, daß er recht hatte.
Kreft näherte sich rasch entschlossen dem Bootsmanne. »Ich zahle, was Sie fordern«, sagte er. »Wir sind fünf Personen.« Er zeigte auf Medinas, den Reisenden, seine Frau und sich. Der Zeitungsreporter erklärte, er verzichte auf das nächtliche Abenteuer.
Es dauerte nur Minuten, so fuhren sie auf dem gefährlichen Strome dahin. Ringsum 88 herrschte Totenstille. Kein Boot, keine Menschenseele weit und breit! Nur das leise Gurgeln der kleinen Wellen! Keiner sprach. Das Bewußtsein der schrecklichen Gefahr, in der sie schwebten, und des Unglücks, dem sie entgegeneilten, preßte allen das Herz zusammen.
Es war eine stockdunkle Nacht, aber rasch und sicher schienen sie sich ihrem Ziele zu nähern. Doch mit einem Male war das Unglück da. Sie saßen mitten im Strome auf einer Sandbank fest, unter dem Fahrzeug nicht mehr als eine halbe Armlänge Wasser.
Entschlossen stiegen sie aus und fingen an, das Boot zu ziehen und zu stoßen. Von Zeit zu Zeit wagte sich einer hinaus, um nach tieferen Stellen zu suchen. Vergebens! Ueberall schien es nur Rinnsale und Tümpel zu geben und weit und breit nichts als Sand . . . Sand. Wo war der Fluß? Wohin das Fahrzeug zerren?
Drei Stunden lang mühten und hetzten sie sich ab, kamen oft nur meterweit vorwärts, aber endlich waren sie doch auf fahrbarem Wasser. Kreft steckte ein Streichholz an und sah auf die Uhr. Es war weit nach Mitternacht.
Nun glitten sie wieder stromab. Stundenlang! Dann aber rannten sie gegen ein zweites Hindernis an . . . Eine Düne! . . . Jetzt wollte keiner mehr weiter. Mühsam kletterten sie den sandigen 89 Abhang hinauf, standen auf freiem Feld und erblickten in der Ferne ein Licht.
Nicht einmal der Bootsmann wußte, wo sie sich befanden, aber er machte sich sofort auf, um zu sehen, was das Licht bedeute. Unterdessen legten sich die andern todmüde auf den Boden und warteten. Als der Mann zurückkam, berichtete er, sie befänden sich in Santa Juana, nicht allzu weit von Concepción, und am Morgen fahre ein Zug nach der Stadt.
Eine halbe Stunde später erreichten sie die kleine Station. Auch hier saßen und standen viele Menschen herum, alle mit dem gleichen Ziel und derselben Angst im Herzen. Kreft machte einen Schuppen ausfindig, wo sie den Rest der Nacht auf einem Strohhaufen zubrachten. Am Morgen mußten sie wieder stundenlang warten, bis endlich ein Zug einlief, der sie nach Concepción brachte.
Der Anblick der zerstörten Stadt war unbeschreiblich. Die beiden Frauen ließen ihren Tränen freien Lauf. Welche übermächtigen, grausamen Gewalten hatten hier gewütet!
Wohin das Auge blickte, nichts als Tod und Verwüstung! Verschwunden waren die sauberen Straßen! Verschwunden die stolzen Bauten, die Zierde der einstigen schönen Stadt!
Ganze Häuserzeilen lagen wie niedergemäht auf dem Boden. Hier Mauerreste mit klaffenden 90 Spalten, dort Balken, Telephon- und Telegraphenstangen über Schutt und Trümmer hingeschleudert! Und Menschen und wieder Menschen mit seltsamem Tun und Gebaren. Alle schaufelten und wühlten zwischen den Steinhaufen, suchten nach ihren Toten oder hockten verwundet oder irren Geistes auf dem Boden, und überall Weinen, Schreie und Befehle des Militärs, und alles in Rauch und Staub gehüllt.
Die fünf Menschen waren wie betäubt, aber sie konnten nicht stehen bleiben, mußten versuchen, irgendwie in diesen Wirrwarr hineinzudringen. Wo mochte der Erich gewohnt haben?
Es war ein schier aussichtsloses Unternehmen, vom Bahnhof durch die Hauptstraße bis zur Plaza vordringen zu wollen. Sie kletterten über Schuttberge, mußten wieder umkehren, weil geborstene Mauern einstürzten, und kamen nur schrittweise vorwärts. Der Fremde, der mit ihnen gereist war, trennte sich von ihnen. Medinas hörten auf halbem Wege, daß ihr Eigentum ganz zerstört sei, aber daß alle Angehörigen lebten.
Nach einer Stunde hatten Krefts einen Weg gemacht, der sonst in zehn Minuten zurückgelegt wurde. Auf der Plaza wandte Kreft sich an einen Offizier, der zwar nichts von Krefts Sohn wußte, ihm aber bereitwillig zeigen wollte, wo er gewohnt hatte. Darum sagte er zu seiner Frau: »Es ist ausgeschlossen, daß du bis in die Maipú 91 vordringen kannst. So bleibe auf dieser Plaza, bis ich Sicheres weiß. Dann bin ich sofort wieder hier.«
Frau Kreft stellte ihren Koffer auf den Boden, setzte sich zu Tode erschöpft darauf und sah mit verstörten Augen um sich, aber es war nicht ihre Art, müßig zuzuschauen, wo tausend Hände sich als zu wenig erwiesen. Bald war auch sie mitten im Gewühle, tat hier eine Handreichung und gab dort ein gutes Wort und war glücklich, ihren Koffer auspacken zu können, um diesem und jenem einen stärkenden Schluck oder einen kräftigen Bissen zu reichen.
Wie in einem schrecklichen Traume ging sie umher, erfüllte, was der Augenblick gerade erforderte, und stand oft wie erstarrt vor den vielen schrecklichen Szenen.
Hunderte von Leichen wurden auf Karreten weggeschafft. Ganze Hügel von Toten türmten sich auf den Wegen. Verstümmelte Körper lagen umher. Frauen und Männer mit ihren toten Kindern auf den Armen irrten durch das Gewühl. Menschen rissen sich die Hände blutig, um ihre Lieben, die lebendig unter den Trümmern begraben waren, herauszuscharren. Und in der ganzen Stadt gab es kaum Wasser, kaum Brot, und über allem schwelte eine schwere Luft und der Geruch von Moder und Fäulnis.
Aber auch etwas unendlich Großes und 92 Schönes boten diese Bilder des Unglücks und der Not. Alle Unterschiede waren ausgelöscht. Einer half dem andern. Einer richtete den andern auf, teilte mit ihm sein Stückchen Brot, reichte ihm einen Trunk, gab ihm eine Decke, räumte ihm einen Platz auf seiner Matratze oder unter seinem Zelte ein. Einer verband den andern, einer sprach dem andern Trost zu, ob er ihn auch nie im Leben gesehen hatte. Das Militär, die Aerzte, die Krankenschwestern, die Mannschaften der Schiffe, die Polizei, alle waren auf ihrem Posten, bereit zu lindern, zu helfen. Es lag etwas Erhebendes in dieser wundervollen gegenseitigen Aufopferung und Hingabe. Es war die milde Hand des Himmels selbst, die versöhnend über das zerrissene und blutende Antlitz seiner Kinder fuhr.
Unterdessen hatte auch Kreft den Ort erreicht, der ihm als die Wohnung seines Sohnes bezeichnet wurde. Das Haus war zu einem unkenntlichen Trümmerhaufen zusammengefallen, und auf dem Schutte war ein Mann, dessen Gestalt ihm bekannt vorkam, und der verzweifelt an einem Pfosten zerrte, um ihn zu heben. Kreft trat näher.
Der andere blickte auf. »Vater . . .!« – ». . . Helmut . . .!« Kreft hielt die Hand seines zweiten Sohnes in der seinen. »Wie kommst du hieher?« 93
»Wegen Erich . . . Das war sein Haus.« Er wies auf die Unglücksstätte. »Er ist dem Wahnsinn nahe. Die Frau und die beiden Kinder liegen unter den Balken . . . Lebendig begraben! . . . Bis vor einer halben Stunde haben wir sie noch rufen hören. Komm!«
Er führte ihn ein paar Schritte weiter. Dort arbeitete ein Mensch in zerrissenem Anzug, von oben bis unten beschmutzt, das Haar wirr über dem Gesicht und mit den verlorenen Gebärden eines Irrsinnigen.
Kreft legte ihm die Hand auf die Schulter. »Erich . . .« Schier brach ihm die Stimme. »Junge . . .«
Der Unglückliche drehte sich um, sah den Vater, und es war, als erlahme sein ganzer Körper. Er ließ die Arme sinken, sah zu Boden und stammelte: »Vater . . . es ist alles vergebens . . . Ich schaffe es nicht . . . Lebendig begraben . . .« Er fuhr sich mit dem Handrücken über das schweißtriefende Gesicht.
Da straffte sich der alte Kreft noch einmal wie in jungen Jahren. Nein, nein, noch war nicht alles verloren. Seine beiden Söhne lebten . . . Schatten wichen. Liebe und Zusammengehörigkeit tauchten wie eine versunkene Sonne wieder auf. Neue Kraft strömte durch seine Adern. Hier brauchte es nur Hände, die halfen, Hände, die rasch zugriffen. 94
Mit einer zärtlichen Bewegung fuhr er dem Sohn über die Schulter: »Mut, mein Junge! Ich bringe Leute. Wir werden es schon schaffen.« Und weg war er.
Es dauerte auch keine Viertelstunde, so kam er mit drei großen, blonden Männern auf die Unglücksstätte zurück. Es waren Matrosen von einem englischen Schiff, die sich vom ersten Augenblicke an selbstlos in den Dienst des Rettungswerkes gestellt hatten.
Sie begannen denn auch sofort mit der Arbeit, und nach verhältnismäßig kurzer Zeit brachten sie die Frau und die beiden Kinder unter einer schräg eingefallenen Wand hervor. Alle waren bewußtlos, aber sie lebten und wurden auf Tragbahren weggeschafft.
Da kehrte Kreft endlich auf die Plaza zurück. Auf seinem Antlitz lag eine stille Heiterkeit, und mit bewegten Worten erzählte er seiner Frau, der Helmut sei da, der Erich lebe, die Kinder und die Frau seien bereits geborgen. Auch sie möge jetzt getrost mitkommen. Sie fänden alle im Hause eines Freundes Unterkunft.
So ging sie denn mit ihrem Manne, doch als sie ein wenig später mit einem Male nach so vielen Jahren der Trennung plötzlich vor ihren Söhnen stand, schien sie beinah zusammenzubrechen. Die Anstrengungen der schrecklichen Nachtfahrt auf dem Fluß, die entsetzlichen Bilder 95 in der Stadt, die Angst um ihre Lieben, und nun dieses unerwartete, kaum geahnte Glück, die Kinder wieder zu sehen! Sie war von den Eindrücken und Geschehnissen des Augenblicks ganz überwältigt.
An einem der nächsten Tage fand Kreft eine Stunde, in der er allein und ungestört mit seinem jüngsten Sohne sprechen konnte. »Was gedenkst du nun anzufangen?«
Erich schüttelte den Kopf. »Ich weiß es noch nicht. Vorläufig ist nichts in mir als Dankbarkeit, daß meine Frau und meine Kinder leben. Alles andere wird sich später finden.«
»Wie wäre es, wenn ihr jetzt fürs erste einmal alle zu uns nach Metrenke kämet? Die Mutter und ich sind alte Leute geworden, und wir würden uns freuen. Vielleicht gefällt es dir auch wieder, nachdem das Leben uns alle so durchgeschüttelt hat . . . Und der Quadratkilometer Land«, er lächelte, »der liegt auch noch brach und wartet auf einen Besitzer.«
Erich griff nach der Hand des Vaters. »Wenn du mich haben willst, mich und meine Familie, so sollst du mit uns zufrieden sein.«
Nur wenige Tage darauf wurden die Kinder und Erichs Frau ebenfalls in dem befreundeten Hause untergebracht, und da kam es denn auch zu einer Aussprache zwischen Frau Kreft und 96 ihrer Schwiegertochter, die ihres Mannes wegen ganz verzweifelt war.
»Er tut mir ja so leid! Alles, was wir gespart hatten, ist nun zerstört, und seine Arbeit . . .« Sie weinte bitterlich.
Frau Kreft tröstete: »Mein Mann sagt, daß ihr alle zusammen bei uns wohnen werdet.«
Verzagt erwiderte die junge Frau: »Wer weiß, ob das gut ist nach allem, was hinter uns liegt.«
Aber Frau Kreft widersprach: »Wir alle haben in diesen Tagen der Trauer gelernt uns umzustellen, und du darfst versichert sein, daß du genau wie der Erich und die Kinder zu uns gehörst.«
Und so fuhren sie denn wirklich, nachdem auch der Helmut wieder nach Santiago zurückgekehrt war, zusammen nach Metrenke, in die alte Heimat.
Was für einen traurigen Anblick aber bot unterwegs das zerstörte Land längs der Bahnlinie in den heimgesuchten Provinzen! Ueberall Verheerung und Verderben! Wo ein paar Menschen auftauchten, hatten sie verhärmte, versorgte, leidvolle Gesichter.
Kreft aber saß selbstvergessen mit dem sechsjährigen Hermann am Fenster und erklärte ihm die Dinge, die draußen vorüberflogen.
»Sieh die vielen Kühe und Pferde, 97 Großvater!« rief der Kleine, als sie an einer Weide voll grasender Herden vorbeifuhren.
»Magst du die Tiere?«
»O ja! Ich möchte auch Kühe und Pferde haben.«
»Zu Hause haben wir noch viel mehr, als du hier siehst.«
»Und alle gehören dir?« Die Augen des Kindes wurden groß und nachdenklich.
Kreft nickte lächelnd.
»Ich werde immer bei dir bleiben, Großvater, wenn du noch mehr Kühe und Pferde hast, als da draußen sind . . . Sind deine Kühe auch so schwarz und weiß?«
»Nein, unsere sind rot.«
»Fein! Ich mag rote Kühe und rote Pferde. Gibt es auch rote Schafe?«
»Nein, Schafe sind nie rot. Unsere Schafe sind schwarz und weiß.«
So plauderte Kreft mit seinem Enkel, und die Stunden eilten ihm wie im Fluge dahin.
Als in später Nachtstunde Erich, seine Frau und die Kinder schliefen, saßen die beiden Alten immer noch in ihrem Abteil am Tisch und unterhielten sich.
Die schreckliche Fahrt ließ sie nicht zur Ruhe kommen. Alle Viertelstunden hielt der Zug, weil irgend etwas auf dem Wege nicht in Ordnung war. Ueberall wurde fieberhaft an den Schienen 98 und an den Brücken gearbeitet, die nur provisorisch aufgestellt und vielfach nur gestützt wurden, wenn die Wagen darüberfuhren.
Mitten in der Nacht blieben sie auf einer Station besonders lange stehen. Sie sahen zum Fenster hinaus und erschraken bis ins Herz hinein. Grauen und Verwesung wehte ihnen aus der Dunkelheit entgegen. Hier eingestürzte Mauern, dort Abgründe mit dunklem Wasser und Erdhaufen. Schwarze Hügel schienen sich bis in die Unendlichkeit aneinanderzureihen. Dazwischen hing hier und dort an einem Pfosten eine flackernde Laterne. Männer schafften auf Tragbahren Leichen weg, und irgendwo erscholl das Bellen eines Hundes. Sonst war alles still und stumm.
Wo waren sie? Das sah ja noch entsetzlicher aus als in Concepción! Vor ihrem Fenster stand ein Mann mit einer kleinen Laterne im Arm. Er schrieb in ein Büchlein die Zeit der Ankunft des Zuges, leuchtete einmal hierhin und einmal dorthin und stand wartend still. Kreft fragte ihn leise: »Wo sind wir?« Der Mann blieb stumm. Da fragte er noch einmal: »Was ist das hier für eine Station?«
»Chillán, Señor!« . . . Die Stimme klang, als stiege sie aus einer Totengruft.
Kreft erschrak . . . »Verzeihung!« bat er und ließ das Fenster sachte heruntergleiten. 99
Chillán! Das einladende, liebliche Chillán mit seiner schönen Plaza, seinen freundlichen Straßen und Häusern, das Städtchen voller Leben, voll geistiger Interessen, der Mittelpunkt der aufblühenden Landwirtschaft . . .! Ein schwarzer Schutthaufen, ein paar armselige Laternen, ein bellender Hund und unter den Trümmern Tausende von Toten! Die Blüte der chilenischen Jugend! Alles, alles dahin!
Kreft stützte den Kopf in die Hand und sann diesem unfaßlichen Geschehen nach. Was es auch im Leben an Werten, an Erfindungen und Fortschritt gab, schien ihm ein Nichts angesichts dieser Tragödie. Eine Bodenfläche von zweiundsechzigtausend Quadratkilometer war wie ein Spielzeug sekundenlang meterhoch gehoben worden, und beim Zurücksinken hatten fünfundsiebzigtausend Häuser auf dem Boden gelegen, unter sich fünfzigtausend Menschen begrabend! Was für eine Lehre für die Menschheit! Was für ein erschütternder Mahnruf zu innerer Einkehr!
Frau Kreft sah in die Ferne. Weit hinten leuchtete die weiße Silhouette eines gewaltigen Vulkans. Sie näherten sich der Heimat. Viele Dinge gingen ihr durch den Sinn: die beiden Enkelkinder, die Frau ihres Sohnes, der Helmut, mit dem sich alles wie von selbst eingerenkt hatte, und der Erich, der nun wieder mit dem Vater auf die Felder gehen würde wie 100 einst . . . Warm wurde es ihr ums Herz. Was für Wunder schuf doch das Leben!
Die Not, die sie gesehen hatte, die Leiden, die kein menschliches Herz zu fassen vermochte, daneben jene unendliche Liebe, die alle durchströmte vom ärmsten Bettler bis hinauf zu den Reichsten und Vornehmen des Landes! Gefühle und Eindrücke fluteten wie Sturzwellen über sie hin.
»Ich glaube«, sagte sie erschauernd, »diese entsetzlichen Katastrophen müssen sein, müssen von Zeit zu Zeit die Menschen heimsuchen, um sie aufzurütteln . . .«
Kreft erwiderte darauf: »Den tiefern Sinn dieser Tragödie können wir heute selbstverständlich nicht ermessen, aber ich sage auch: gesegnet sei das Leid, weil es so viel Göttliches im Memschenherzen aufblühen ließ!« – –
Vierzehn Tage später standen Kreft und sein Sohn nebeneinander auf der Höhe über Metrenke. Beide sahen auf das herrliche Stück Land hinunter, das nun doch noch seinen Zweck erfüllen sollte. Sie besprachen die Grenzen der Felder und bestimmten den Platz, wo sie ein Wohnhaus bauen wollten.
Auf einmal gestand Erich: »Ich bin so glücklich, daß ich wieder hier arbeiten kann, und wer weiß, vielleicht kehrt auch der Helmut noch einmal nach Metrenke zurück.« 101
In Kreft wollten plötzlich versunkene Glocken läuten. Eine jähe Freude stieg in ihm hoch, aber er sagte gehalten: »Das hast du dir wohl so ausgedacht, Erich?«
»Nein, Vater, der Helmut hat es mir selbst gesagt. Er sehnt sich nach unserm Tal zurück. Du kannst es mir glauben.«
Krefts Blick schweifte hinüber, wo im letzten Abendstrahle der Friedhof lag. Die weißen Kreuze leuchteten golden überhaucht vom scheidenden Sonnenglanze, und ein unendlicher Friede strömte von dem stillen Ort in die Brust des sinnenden Mannes.
Wenn er diese Freude noch erleben sollte, daß auch der Helmut heimkehrte und sein Lebenswerk, sein Gut, übernahm, dann wollte er gern sein Haupt dereinst dort drüben zur letzten Ruhe legen.
Im Talwärtssteigen erblickte Erich am Stamme eines alten Coihuebaumes die blühenden Ranken des Coguil und sah weiterhin die roten Blütenglocken der Copihue leuchten. Er kletterte am Hang empor und pflückte einen ganzen Strauß.
Kreft schritt unterdessen allein voraus. Als der Sohn wieder an seine Seite trat, meinte er unvermittelt: »Es ist doch seltsam, Vater, wie der Mensch durch die großen Katastrophen still, bescheiden und dankbar wird.« 102
Kreft streifte ihn mit einem warmen, verständnisvollen Blick. Ganz gegen seine Gewohnheit schob er seinen Arm unter den des Sohnes und erwiderte: »Das Unglück war von jeher die größte Lehrmeisterin des menschlichen Herzens.«
Am Fuße des Hügels kam ihnen Erichs kleiner Junge entgegen. Er hielt ein winziges Sträußchen Feldblumen in der Hand. Das reichte er dem Großvater.
»Für dich«, sagte er strahlend. »Ich habe die Blumen selbst gepflückt.«
Kreft hob ihn auf den Arm. »So?« sagte er. »Bist du auf dem Felde gewesen?«
»Ja«, erzählte der Kleine, »ich habe auch die Kühe in den Korral getrieben, und ich bin auf einer Karrete nach Hause gefahren.«
»Da«, sagte sein Vater, »nimm diesen Strauß und bring ihn der Großmutter!«
Selig lief der Junge mit der Blumenpracht des chilenischen Waldes davon, und die beiden Männer sahen ihm lächelnd nach, jeder mit eigenen Gedanken im Herzen. – – 103