Ina Jens
Unter chilenischem Himmel
Ina Jens

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Der Pingo.

Ein sonniger Sommertag lag über dem Landgute »Los Alamos«. Stewen, der Besitzer, saß mit seiner Frau und seinen beiden Jungen, dem zwölfjährigen Herbert und dem zehnjährigen Erich, am Frühstückstisch im Garten.

Er war am vorhergehenden Tage in der Stadt gewesen und erzählte von erledigten Geschäften und von Bekannten, die er dort getroffen hatte.

». . . Da lag auch gerade ein großer finnischer Segler im Hafen, und im Strome der Menschen, die das Schiff besichtigen wollten«, er wandte sich an seine Frau, »wem, glaubst du wohl, bin ich da unvermutet begegnet?«

Sie schüttelte den Kopf. »Na . . .?«

»Christian Lennert! Nach fünfzehn Jahren zum ersten Male wieder! Du erinnerst dich doch? Er kam ja mit uns zusammen von drüben.«

Frau Stewen wurde lebhaft. »Und ob ich mich an Lennert erinnere! Wie geht es ihm denn? Arbeitete er nicht in einer Salpeterfabrik in der Pampa?«

»Doch, aber unterdessen war er schon 6 verschiedene Male wieder in der Heimat, hat geheiratet und ist seit etwa acht Tagen hieher gezogen. Er sagte, sie hätten es da oben in der Wüste einfach nicht mehr ausgehalten. Die Kinder seien immer krank gewesen und er und seine Frau abgearbeitet und erholungsbedürftig.«

»Wie viele Kinder hat er?«

»Zwei Knaben. Der Aelteste war mit ihm auf dem Schiff. Ein strohblonder Junge im Alter von Herbert, aber mindestens einen Kopf größer. Lennert scheint mächtig stolz auf seinen Sprößling zu sein. Als ich hörte, daß er für ihn ein Reitpferd suche, sagte ich, er solle doch einmal mit seiner Familie zu uns aufs Land kommen. Da finde er bestimmt, was er wünsche.«

Die beiden Knaben freuten sich sofort auf den in Aussicht gestellten Besuch und wollten wissen, ob der Junge denn auch mitkomme und wie er heiße.

»Ich habe alle für Samstag und Sonntag eingeladen, doch der Kleine, der vierjährige Alex, ist krank, und darum wird Lennert uns mit seinem Aeltesten allein besuchen. Der Junge heißt Benedikt, aber sie nennen ihn Beno.«

»Welches Pferd wirst du ihm geben, Vater?« fragte Herbert nachdenklich.

»Das überlasse ich euch. Ihr wißt doch am besten, welches Tier für einen solchen Jungen taugt.« 7

»Kann der Beno reiten?«

»Keine Ahnung! Aber das werdet ihr am Samstag sicher bald heraushaben.«

Nun sprachen die Knaben miteinander über verschiedene Pferde, erwogen dieses und jenes und einigten sich schließlich auf einen Braunen, den der Herbert früher geritten hatte, und den sie den »Peludo« nannten, weil er im Winter immer ein ganz merkwürdig dichtes Haarkleid bekam.

Der Samstag war da. Herbert und Erich hatten gleich nach dem Mittagessen ihre Pferde samt dem Peludo eingefangen, gesattelt und auf dem Wege, der sich längs der Wiese neben dem Hause hinzog, an den Zaun gebunden.

Der Nachmittagszug brachte die erwarteten Gäste. Die Knaben nahmen den Beno sofort in die Mitte und gingen mit ihm zu den Pferden. Sie zeigten ihm den Braunen und lobten ihn ordentlich, merkten aber bald, daß der fremde Junge nur halb zuhörte und den beiden andern Pferden viel mehr Aufmerksamkeit schenkte als dem ihm zugedachten. Er strich um die Gäule herum, besah sie sich von allen Seiten und tat wie ein alter Pferdekenner.

Eine Weile sah Erich diesem Gehaben wortlos zu. Dann fragte er. »Kannst du reiten?«

Beno maß ihn mit einem merkwürdig überlegenen Ausdruck im Gesicht, und ohne ihn einer 8 Antwort zu würdigen, tat er etwas, das die andern einen Augenblick nicht wenig überraschte.

Er lief ein paar Meter weit hinter das Tier, sprang auf eine Bank und flog von dieser direkt auf den Sattel des Pferdes, faßte die Zügel und fragte: »Reiten wir los?«

Da schwangen sich auch Herbert und Erich auf die Pferde, und dann ritten sie eine Strecke weit langsam nebeneinander dahin und erzählten sich allerlei.

Am Ende der ersten Weidekoppel bog der Feldweg ab und dehnte sich schier unabsehbar vor ihnen in die Ferne.

Da rief der Beno aufmunternd: »Reiten wir um die Wette? . . . Ja?«

Augenblicklich ritten die drei wie der Wind davon, aber es dauerte nicht lange, so war der Beno ihnen weit voraus. Sie hielten an und blickten dem davonjagenden Jungen nach. In beiden stieg derselbe Gedanke hoch: Was für eine gemeine Art zu reiten!

Ohne Unterlaß schlug der Knabe mit der flachen Lederpeitsche von rechts und von links auf das Tier ein, hieb ihm mit den Sporen in die Seiten und trieb es zu einem wilden Galopp an. Immer kleiner wurde seine Gestalt, ja es schien, als verschwänden Roß und Reiter hinter einer Staubwolke im fernen Walde.

Herbert und Erich ließen ihre Pferde 9 gemächlich dahintrotten. Keiner sprach. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt dem fremden Knaben.

Jetzt kam dieser wie ein Pfeil wieder dahergeschossen. Knapp vor den Jungen hielt er an und meinte: »Der Gaul ist nicht übel.« Dann aber jagte er mit derselben Ausgelassenheit wieder davon, ohne sich im geringsten um die andern zu kümmern.

Nun blieben sie endgültig stehen. In beiden stieg der Aerger hoch, und Erich knirschte: »Widerlich . . .«

Der Beno aber sauste wieder daher. Dieses Mal riß er das Pferd so heftig am Zügel herum daß es sich hoch aufbäumte. »Warum reitet ihr nicht auch?«

Erich runzelte die Stirn und meinte: »So wie du reitest, reiten wir nicht.«

»Wie reitet denn ihr?« fragte der andere spöttisch.

»Warum schlägst du so wild auf das Tier ein? Der Peludo rennt auch ohne Schläge.«

Und Herbert mahnte: »Du mußt achtgeben, sonst wirft dich das Tier ab.«

Da erwiderte der Beno verkniffen: »Das wollte ich dem Schinder nicht raten.« Und gleich jagte er, mit Armen und Beinen den Peludo anfeuernd, wieder davon.

Da kehrten die Knaben zurück, aber es dauerte nicht lange, so hatte der Beno sie eingeholt. Ein 10 paar Pferdelängen ritt er neben ihnen hin. Dann fragte er kurz: »Tauschen wir die Pferde?«

Ebenso kurz antwortete Erich: »Ich nicht.«

»Bah!« machte der Beno. »Deinen Klepper meine ich ja auch nicht. Ich möchte den Pingo.«

Herbert tat, als höre er nicht, und galoppierte eine kleine Strecke voraus, aber schon war der Beno neben ihm und bat: »Laß mich doch einmal dein Pferd probieren!«

In Herbert sträubte sich alles dagegen, aber ein warmes Gefühl überwog in ihm: der Peludo tat ihm leid. Er hätte ihn gern eine Weile von diesem Rüpel befreit, und darum sagte er: »Gut, aber mit der Bedingung, daß du den Pingo nicht so behandelst wie den Peludo.«

Beno lachte hell auf: »Was werde ich deinem Pferde groß zuleide tun!«

Sie tauschten die Tiere, doch kaum saß der Beno im Sattel, so begann dasselbe sinnlose Treiben.

Einen Augenblick sahen die Brüder ihm noch zu. Dann ritt Herbert allein nach Hause, sattelte den Peludo ab und ließ ihn auf die Weide laufen. Später kamen dann auch Erich und Beno daher und taten mit ihren Pferden dasselbe.

Als sie nachher am Kaffeetisch unter den schattigen Bäumen saßen, fragte Stewen den Beno: »Wie hat dir denn das Reiten gefallen?«

Der Knabe nickte: »Es war fein.« 11

»Hast du dir nun ein Pferd ausgesucht?«

»Jawohl!«

Stewen wandte sich an seine Jungen: »Welches von euren Tieren habt ihr ihm denn zugedacht?«

»Den Peludo. Wir sagten es dir doch schon gestern«, erwiderte Erich.

Da fuhr der Beno auf: »Den Peludo mag ich nicht. Ich will den Pingo.«

Ein flüchtiges Lächeln erhellte Stewens Züge. Potz tausend! Der Junge hatte keinen schlechten Geschmack. Der Pingo war ein rassiger Grauschimmel, fein gewachsen und prächtig anzusehen. Das wußten alle, aber wie sein Blick sekundenlang das Gesicht seines Aeltesten streifte, meinte er: »Der Pingo gehört dem Herbert, und kein Junge trennt sich gern von seinem Pferd.«

Der Beno ließ sich nicht beirren. »Er kann ja den Peludo reiten.«

Da wurde Stewen verlegen. Er hätte dem Jungen seines Freundes gern eine Freude gemacht, aber dem Herbert den Pingo wegnehmen, dieses Tier, an dem er mit so viel Liebe hing, das lag ihm fern.

Nun versuchte Lennert zu beschwichtigen. »Aber Beno, du kannst doch nicht deinem Freunde sein eigenes Pferd wegnehmen!«

Der Beno trotzte: »Ich will aber den Pingo 12 haben.« Er blickte Herbert an: »Nicht wahr, du gibst mir dein Pferd?«

Herberts Augen waren erschrocken auf ihn gerichtet, und verneinend schüttelte er den Kopf. Da geschah mit einem Male so etwas Unerwartetes, daß die ganze Familie Stewen vor Schrecken für Augenblicke fast die Sprache verlor.

Der Beno sprang auf, gab seinem Stuhl einen Tritt, daß er gegen einen Baum flog, stampfte mit den Füßen und schrie: »Aber ich will, ich will, und ich will den Pingo haben!«

Lennert beruhigte: »Beno, so sei doch vernünftig!«

»Doch, doch, doch!« tobte der außer sich geratene Junge, warf sich auf den Boden, schlug um sich und schrie, bis er bewußtlos dalag.

Lennert hob ihn auf. Frau Stewen reichte ihm zitternd ein Glas Wasser, aber er wehrte ab: »Er braucht nichts als Ruhe . . .«, und schon trug er den Jungen ins Haus.

Totenblaß wandte sich Frau Stewen an ihren Mann: »Was ist denn das für ein Kind?«

Stewen hob die Schultern. »Ich kenne den Jungen ebensowenig wie du, aber vielleicht . . . ich vermute, der Knabe hat bis heute zu wenig Schläge bekommen.«

»Nein, nein!« widersprach sie. »Das ist nicht schlechte Erziehung. Das ist mehr. So etwas ist krankhaft.« 13

»Vielleicht beides«, meinte ihr Mann trocken.

Auch die Knaben waren bestürzt, aber der Erich faßte sich rasch. »Herbert!« Finster sah er seinen Bruder an. »Daß du diesem Lümmel nicht etwa dein Pferd gibst!«

Herbert sagte nichts. Er blickte auf den Tisch und rührte in seiner Tasse herum.

Nach einer Weile kam Lennert wieder in den Garten, und die Knaben wurden weggeschickt. Er war niedergeschlagen und entschuldigte sich: »Es tut mir leid, daß das gerade hier und an diesem schönen Tag geschehen mußte. Der Junge ist maßlos nervös und leidet immer noch an den Folgen seiner jahrelangen Krankheit in der Pampa, aber in einer halben Stunde ist alles wieder gut, und dann wird er auch vernünftig sein.«

Während die Erwachsenen noch lange über den Vorfall sprachen, schlenderten die Knaben im Garten umher. Die Szene am Tisch hatte sich ganz verschieden in ihnen ausgewirkt. Herbert grübelte still und bedrückt vor sich hin. Erich aber war empört. »Warum hat der Vater nur diesen Bengel eingeladen!«

Ohne Zusammenhang erwiderte Herbert: »Er ist ein Tierquäler.«

»Und was für einer!« pflichtete ihm der Erich bei. »Jedes Pferd ist für den zu schade, und ich werde das auch dem Vater sagen. Er soll ihm keines von unsern Tieren geben.« 14

An diesem Tage sahen sie den Beno nicht mehr. Die Aufregung hatte ihn doch stärker mitgenommen, als Lennert glaubte. Am folgenden Vormittag aber stand er wieder frisch und munter bei den andern auf dem Hofe.

Stewen fragte, was sie nun unternehmen möchten. »Ich will ausreiten«, entschied Beno ganz so, als ob nichts vorgefallen wäre.

»Gut«, sagte Stewen. »Dann fangt die Pferde ein!« Sie holten sich Lassos, liefen damit auf die Weidekoppel, und es dauerte nicht lange, so waren die Tiere gesattelt.

Aber da geschah wieder etwas, das dem Herbert würgend in die Kehle stieg, so daß er mit weitaufgerissenen, flackernden Augen stehen blieb.

Mit der größten Selbstverständlichkeit hatte sich der Beno auf den Pingo geschwungen, ihm die Sporen gegeben und war davongaloppiert. Langsam ritt Erich hinter ihm her. Herbert aber ließ den Peludo angebunden am Zaune stehen und kehrte ins Haus zurück.

An der Tür traf er die Mutter. Sie stutzte und fragte: »Reitest du nicht mit?«

»Nein, es ist mir zu heiß. Ich will ein wenig lesen.« Ahnungslos ließ sie ihn gehen.

Herbert setzte sich in seinem Zimmer an den kleinen Schreibtisch und schlug gedankenlos ein Buch auf. Ein beklemmender Druck lag ihm auf 15 dem Herzen, und eine fremde Angst erfüllte seine Seele. Das, was sich gestern und heute zugetragen hatte, war nicht das Ende. Es würde sich noch etwas ereignen, und zwar etwas, das er sich kaum auszudenken wagte, und das ihm doch fast Gewißheit war. Dieser Knabe ging doch nicht ohne Pferd nach Hause . . . und den Peludo wollte er nicht, also . . . Folgerichtig zog er den Schluß. Doch da konnte geschehen, was wollte, da mochte dieser Junge sich noch zehnmal im Staube wälzen und noch viel schrecklicher brüllen als gestern . . . den Pingo gab er ihm nicht.

Mechanisch blätterte Herbert im Buche, aber er las nicht eine einzige Zeile. Immer mußte er sich vorstellen, wie dieser fremde Knabe jetzt draußen auf den Feldern den Pingo in seiner schändlichen Art ritt, und wie er das treiben würde, bis der Abend kam . . . Und dann? . . . Ach, es war einfach entsetzlich! . . . Er empfand genau wie Erich. Warum hatte der Vater nur diesen Jungen eingeladen!

Plötzlich fuhr er zusammen, denn jemand hatte geklopft. Er rief »Herein!« und starrte entgeistert auf den Eintretenden. Es war Lennert.

Umständlich und leise machte dieser die Tür hinter sich zu, und augenblicklich wußte Herbert, es ging um den Pingo . . . Sein Herz klopfte, als ob es zerspringen wollte, und er hatte das sichere 16 Gefühl, daß er jetzt in eine Falle gerate, aus der es kein Entweichen mehr gab.

Lennert trat auf ihn zu, legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte freundlich: »Willst du mich einen Augenblick anhören, Herbert? Nicht wie ein Knabe, sondern wie ein Freund, wie ein Mann . . . Mir ist es, als könntest du das . . .?«

Herbert sah hilflos zu ihm auf. Die Angst vor etwas Unabwendbarem preßte ihm die Brust zusammen, und er brachte kein Wort hervor.

Lennert setzte sich, und dann sprach er zu dem Jungen, der mit niedergeschlagenen Augen vor ihm stand: »Du hast gestern etwas gesehen, für das dir sicher jedes Verständnis fehlt. Vielleicht hat es dich auch erschreckt, und ich möchte dir gern erklären, was es war. Ich möchte dir sagen, daß der Beno ein armes Kind ist, das Mitleid verdient und viel Liebe braucht. Er ist an einem Ort geboren und aufgewachsen, wie du ihn dir gar nicht vorstellen kannst. Da gibt es nichts als steinigen, trockenen Boden, tagsüber Sonnenglut und nachts eisige Kälte und nie richtige Ernährung. Zehn Jahre lang war der Beno fast immer krank und hat seine Kinderzeit mehr im Bett als im Freien zugebracht. Erst jetzt ist er so weit, daß er wie andere Jungen seines Alters leben und spielen kann, aber seine Nerven sind immer noch krank. Die kleinste Aufregung bringt ihm Zustände, wie du einen gestern 17 erlebt hast, und die Aerzte sagen, daß er einmal bei einem solchen Anfall sogar sterben kann, denn auch sein Herz ist schwach . . . Und jetzt . . .« es wurde Lennert sichtlich schwer, das auszusprechen, was ihm auf der Seele lag . . . »um was ich dich bitten wollte . . . Herbert, willst du dem Beno den Wunsch erfüllen, von dem er augenblicklich ganz betört ist? Willst du ihm den Pingo überlassen? Nur für eine kurze Zeit! Der Beno hängt sich nie lange an etwas, sei es ein Tier oder ein Spielzeug. Er begehrt es, freut sich eine Weile daran und schiebt es dann gelangweilt wieder beiseite. Er ist so. Sein Sinn ist unbeständig. Er wird auch den Pingo nach kurzer Zeit gleichgültig stehen lassen, und dann bringen wir dir das Pferd wieder . . . Was meinst du? Könntest du mir dieses Opfer bringen? Ich würde dir so dankbar sein.«

Wie lose Blätter im Winde, so wirbelten in Herbert die Gedanken und Gefühle durcheinander. Lennert, Beno, der Pingo . . . Alle taten ihm leid. Er liebte sein Pferd, er verabscheute die Art des Knaben, er erlag aber auch den bittenden Worten des Mannes . . . Sicher hatten die Aerzte recht . . . Dieser Junge konnte bei einem Anfall wie gestern wirklich sterben . . . Schrecklich! . . . Schließlich, was bedeutete ein Tier gegenüber dem Leben eines Menschen!

Aus großen, dunklen Augen sah er zu 18 Lennert auf, und aus den widerstreitendsten Empfindungen heraus sagte er leise: »Gut . . . ich gebe ihm den Pingo.«

Eine unheimliche Stille erfüllte sekundenlang den Raum . . . Dann drangen die krächzenden Schreie vorüberfliegender Möwen in das dumpfe Schweigen . . . Lennert ergriff die herabhängende Hand des Knaben und sagte bewegt: »Dank, mein Junge! Ich werde dir das nie vergessen.« Und dann verließ er rasch das Zimmer.

Herbert aber trat wie unter einem fremden Zwange ans Fenster. In der Ferne sah er den Erich und den Beno durch die Felder reiten. Gequält wandte er sich ab und ging ans andere Fenster. Von dort blickte er wie verloren in den Garten hinunter.

Da grünte und blühte es vielfarbig und sonnendurchglüht, doch er sah es nicht. In ihm brannte ein Schmerz, der ihm schier das Herz abdrückte. Tränen schossen ihm jäh in die Augen, aber er preßte die Lippen zusammen und versuchte, sich zu beherrschen.

Als er seine Stube verließ, stieß er im Flur mit dem Vater zusammen. Der mißdeutete den Ausdruck seines Gesichtes, legte ihm freundlich die Hand auf die Schulter und tröstete: »Mach dir nur keine Gedanken wegen dieses Knaben! Lennerts fahren heute abend schon weg.«

Da hielt Herbert einen Augenblick die Hand 19 seines Vaters fest, sah ihn an und erklärte: »Ich habe dem Beno den Pingo gegeben.« Ein heißes Weh durchfuhr ihn, als er sich selbst diese Worte sagen hörte, aber er hielt sich tapfer, und aus irgendeinem unklaren Gefühl heraus verschwieg er auch, daß Lennert mit ihm gesprochen hatte.

»Wozu denn?« fragte Stewen. »Der Beno soll sich freuen, einen Gaul wie den Peludo zu bekommen.«

»Nein, Vater, so ist das nicht . . . Ich habe ihm den Pingo schon fest versprochen.«

Er sah zu Boden. Ein leichter Unwille trat in Stewens Züge. Dann meinte er gleichgültig: »Schön . . . wenn dir der Pingo nicht mehr wert ist . . . Mir soll es recht sein.« Mit diesen Worten ließ er den Knaben stehen.

Herbert ging in den Garten hinaus, schlenderte hierhin und dorthin und war unbefriedigt und niedergeschlagen. Schmerzlich empfand er, daß zwischen ihn und den Vater etwas Ungeklärtes getreten war, aber noch viel schmerzlicher drückte ihn der Verlust des Pferdes.

Im Hause wußten es bald alle, daß der Beno den Pingo und nicht den Peludo mit in die Stadt nehmen würde. Frau Stewen sagte kein Wort, als sie es hörte, aber sie ahnte, daß Herbert deswegen litt.

Der Erich jedoch maulte offen herum. »Ich hätte nie geglaubt, daß du so bist. So dumm und 20 so gleichgültig! Wie kann man einem solchen Wüterich sein Pferd überlassen! Ich habe gar keine Worte dafür, wie ich das von dir finde. Wäre mir so etwas eingefallen, ich hätte das Pferd irgendwo auf dem Fundo versteckt, bis dieses Scheusal wieder weggewesen wäre.«

Herbert schwieg. Es war etwas Fremdes, Uebermächtiges gewesen, das ihn gezwungen hatte, so und nicht anders zu handeln, und er hätte vergebens nach Worten gesucht, um es zu erklären.

Am Abend gab es dann noch eine Szene mit dem Beno. Lennert wollte den Pingo nicht sofort mitnehmen, denn es war Sonntag und die Ueberführung eines Pferdes mit allerlei Schwierigkeiten verbunden, aber der Beno beharrte so eigensinnig auf seinem Willen, daß Stewen schließlich einen Angestellten beauftragte, ein Pferd für Lennert zu satteln, und selbst bis zur nächsten Station ritt, um den Pingo in der Eisenbahn unterzubringen.

Lennerts wohnten nicht im Zentrum der Stadt, sondern dort, wo es noch Wiesen und Felder gab, genau wie auf dem Lande. Der Pingo wurde bei einem Manne untergebracht, der ein großes, unbebautes Grundstück zu überwachen hatte und das Tier in der Nacht frei herumlaufen ließ. Tagsüber aber war es fast andauernd von Beno in Anspruch genommen. 21

Dann kam der Herbst, und mit ihm der Beginn der Schulzeit. Die Schule, die der Beno besuchen sollte, lag weitab von Lennerts Haus auf einem Berge, und der Knabe hatte sofort die Absicht, diesen Weg reitend zurückzulegen.

Hinter dem Schulgebäude gab es ein paar alte, unbenutzte Ställe, und Lennert holte sich für seinen Jungen die Erlaubnis, das Pferd während der Unterrichtsstunden in einem der Räume unterzubringen.

So geschah es denn, daß der Beno jeden Morgen auf dem Pingo in die Schule ritt. Dort, wo der Weg zu steigen begann, begegnete er immer einer Menge Mitschüler, die ihn umringten und begleiteten. Als Gegenstand ihrer Bewunderung und ihres Neides fühlte er sich mächtig gehoben, und stolz ritt er Tag für Tag durch das Schultor über den Spielplatz zu den Ställen, wo er das Pferd absattelte.

In jener Zeit waren der Beno und sein Pingo der Mittelpunkt vieler Gespräche in den verschiedenen Familien, die ihre Kinder in dieselbe Schule schickten. Mancher Knabe wünschte sich auch ein solches Pferd, aber weder die Mütter noch die Väter zeigten dafür Verständnis. Sie schüttelten nur die Köpfe über Lennerts, die, wie sie glaubten, keine Ahnung von den Gefahren hatten, welchen ein Kind zu Pferd inmitten des städtischen Verkehrs ausgesetzt ist. 22

Der Beno jedoch genoß den Besitz des Pingos monatelang ohne jegliche Trübung. Dann aber verdunkelte sich mit einem Male der Himmel über dem sonst so sonnigen Lebensweg des Knaben.

Im Schulgarten waren in jener Zeit längs der Wege Zierbäumchen gepflanzt worden, die trotz der noch winterlichen Jahreszeit bereits im schönsten rosa Blütenschmucke prangten und ein herrliches Frühlingsbild boten.

Da war es geschehen, daß Beno und noch ein paar andere Jungen in mutwilliger Ungezogenheit die jungen Stämmchen mit ihren Messern beschädigt hatten. Vor der ganzen Klasse sprach der Lehrer über die Missetat und hielt mit bewegenden Worten den Schülern den begangenen Frevel vor.

Den Beno aber und zwei andere Knaben, die die Anstifter gewesen waren, befahl er für eine besondere Stunde am Nachmittag in die Schule. Er wollte ihnen allein und noch eindringlicher ins Gewissen reden.

Beno schob beim Mittagessen den vom Lehrer erhaltenen Strafschein dem Vater in die Hand. Lennerts Gesicht verdüsterte sich, während er las, aber er schwieg, unterschrieb und reichte den Zettel seiner Frau. Diese verfärbte sich und meinte vorwurfsvoll: »Aber, Beno, wie konntest du so etwas tun!« 23

Der Junge aß ruhig weiter. Nach einem drückenden Schweigen sagte Frau Lennert: »Ich möchte nicht, daß der Beno den Weg am Nachmittag zu Pferd in die Schule macht. Der Verkehr auf jener Straße ist unvergleichlich größer als am Vormittag. Er soll die Elektrische benutzen.«

»Dann gehe ich nicht zur Strafstunde«, erklärte der Junge.

»Du wirst das tun, was deine Eltern bestimmen«, sagte Lennert, fügte aber sofort hinzu: »Wenn dem Jungen wirklich etwas geschehen soll, kann es ihm ebensogut in der Elektrischen oder zu Hause passieren.«

Sie schwieg, aber ihr war es, als liege eine Bergeslast auf ihrem Herzen, und nicht erst jetzt, sondern immer schon, seit der Knabe das Pferd besaß. Jeden Morgen, jeden Mittag bangte sie um ihn und war doch zu schwach, um ihm das Reiten zu verbieten.

Nach dem Mittagessen fuhr Lennert wie gewöhnlich in die Stadt an die Arbeit. Frau Lennert ging im Hause herum, begann bald dieses, bald jenes, konnte aber nirgends ruhig verharren, denn ihre Gedanken kreisten immer wieder um den Vorfall in der Schule und um den Jungen. Wie hatte er nur diese Ungezogenheit begehen können! Der Lehrer hatte ja recht, wenn er ihn bestrafte, aber gerade am 24 Nachmittag mit Nachsitzen, wo sie doch so weit entfernt von der Schule wohnten!

Plötzlich hörte sie, wie Beno dem Gärtner einen Befehl wegen des Pferdes gab, und sie ging hinaus. Auf dem Hofe stand der Pingo und wurde gesattelt. Beno zog die Riemen an, schwang sich hinauf und ritt an der Mutter vorbei.

Sie blickte ihn an, und eine dunkle Angst wollte ihr fast das Herz abdrücken.

»Beno!« Ihre Stimme zitterte. »Nicht wahr, du reitest durch die Alameda und nicht durch die Freire. Mir zuliebe, nicht wahr, mein Junge?« Sie lächelte hilflos und sah bittend zu ihm auf. Sie wußte, er würde ja doch das tun, was ihm gerade einfiel.

»Ich reite immer durch die Alameda. Da kann man viel besser galoppieren«, erklärte er.

»Beno, wenn die Strafstunde vorbei ist, kommst du gleich nach Hause, nicht wahr?«

»Ich bin doch beim Fritz Grewe eingeladen. Er sagte, ich sollte bei ihm Tee trinken.«

»Gut . . .« Ihr war die Brust wie zugeschnürt. »Aber nicht wahr, du bleibst nicht zu lange dort? Bevor es dunkel wird, kommst du nach Hause, nicht wahr? Beno, ja?«

»Ja, ja!« erwiderte er und ritt davon. Sie sah ihm nach, und ihre Augen feuchteten sich. Wie viele Sorgen bereitete ihr dieser Junge, 25 und doch, wieviel Liebe trug sie für ihn in ihrem Herzen! Sie wischte sich eine Träne ab und machte sich im Garten zu schaffen, aber das Bild des Knaben schob sich immer wieder vor ihre Seele.

Unterdessen hatte der Beno den Stadtpark erreicht. Dort teilte sich die Straße. Die eine führte hinüber zur Freire, die andere ging geradeaus durch die Alameda. Ein Freund kam daher und fragte: »Wohin reitest du, Beno?«

Vergnügt antwortete er: »Ich muß zur Schule. Ich habe Nachsitzen.«

»Welchen Weg nimmst du?« Er wies nach den beiden Straßen.

Beno zeigte mit der Reitpeitsche hinüber auf die Freire und jagte an seinem Kameraden vorbei zur Station. Die Worte der Mutter, wie innig dieselben auch aus ihrem Herzen gestiegen waren, hatte er vollkommen vergessen.

Die Freire war für jeden Reiter eine gefährliche Strecke. Rechts von ihr zog sich ein hoher Damm für die Eisenbahn hin. Parallel mit diesem liefen auf der Straße die Schienen der Elektrischen, und daneben war ein verhältnismäßig schmaler Platz für Autos, Kutschen, Wagen und Reiter.

Erich stand dicht vor der Eisenbahnlinie und wartete. Ein Zug war im Begriff abzufahren. Auf ein Zeichen des Polizisten ritt Beno hinüber auf die Freire, stand still und sah sich um. 26 Autos jagten vorbei. Die Elektrische kam daher. Die Lokomotive pfiff und setzte sich in gleicher Richtung mit der Elektrischen in Bewegung, der Zug oben, die Elektrische unten, und neben letzterer ritt Beno.

Seine Augen aber waren nur auf den eilenden Zug gerichtet, und mit einem Male hieb er auf das Tier ein und gab ihm die Sporen, jagte der Elektrischen knapp voraus und ritt mit dem Zug um die Wette. Bald saß er nicht mehr im Sattel, sondern stand fast aufrecht in den Steigbügeln.

Erschrocken blieben die Menschen stehen und sahen mit entsetzten Gesichtern auf dieses verwegene Treiben. Jetzt kam hinter dem Knaben ein Auto dahergefahren. Das tutete kurz und laut, um den Jungen zu warnen.

Das schrille und plötzliche Hupen erschreckte das Pferd. Es fuhr zusammen, und Beno flog kopfüber auf die Schienen der Elektrischen. Ehe jemand von den Vorübergehenden auch nur einen Finger zur Rettung rühren konnte, war der Knabe überfahren.

Menschen strömten herbei. Autos und Straßenbahnwagen hielten. Polizisten sprengten heran. Ein Sanitätswagen rollte lautlos daher. Die Leiche des verunglückten Knaben wurde aufgehoben, geborgen und weggeschafft.

Mit verstörten Gesichtern drängten sich die 27 Menschen auf dem Unglücksplatze zusammen. Verschiedene wurden von der Polizei vernommen, und alle stimmten in ihren Aussagen überein. Der Knabe allein trug Schuld an dem furchtbaren Ereignis.

Hin und wieder flog ein flüchtiger Blick an die nächste Straßenecke, wo der Pingo stand. Mitleidig dachte dieser und jener: »Das arme Tier!«, ohne eigentlich recht zu wissen warum. Bald aber kam ein Polizist und führte das Pferd weg.

Im Hause Lennerts saß der Tod. Mit seiner kalten, unbarmherzigen Hand hatte er grausam zwei Menschen ans Herz gegriffen, und keiner von beiden war imstande, das Schreckliche zu fassen oder gar zu begreifen.

Frau Lennert brach immer wieder ohnmächtig zusammen, und wenn sie zu sich kam, schlich sie in das Zimmer, wo zwischen Blumen und Palmen der zerfetzte Leichnam ihres geliebten Jungen lag. Stumm und zitternd setzte sie sich neben ihn, hielt seine kalte Hand in ihren beiden und starrte tränenlos auf das verhüllte Antlitz.

Lennert dagegen gebärdete sich wie ein Irrsinniger, schrie, tobte, verfluchte das Schicksal und wollte seinen wilden Schmerz an irgend jemand auslassen. »Wo ist das Tier? Her mit ihm! Daß ich es bei lebendigem Leib zerschlage! Bringt mir das Vieh! Ich will es in Stücke zerreißen!« 28

Die Dienstboten hielten sich die Ohren zu und dachten mit Grauen an den Pingo. Wo war das Pferd geblieben? Hoffentlich brachte es niemand ins Haus zurück!

In der Frühe des Morgens schlug das Telephon an. Eines der Mädchen lief hin und nahm den Hörer . . . Die Polizei! Das Tier, das der verunglückte Knabe geritten habe, sei auf der Comisaria. Man solle es abholen!

»Ja, ja! Sofort!«

Schreckensbleich hing sie ab und jagte hinaus in den Garten, wo ihr Bruder arbeitete.

»Armando«, bat sie leise, »geh auf die Wache und hole den Pingo, aber nicht hieher, verstehst du? Wenn der Herr das Tier sieht, geschieht etwas Schreckliches. Bringe es zu unserm Vater hinten in den Salto. Wenn es dort ist, weiß niemand etwas von ihm, und später, wenn alle ruhiger sind, wird man sehen, was mit ihm geschehen soll.«

Der Armando tat, wie ihn seine Schwester geheißen hatte, und der Pingo wurde weitab vom Hause Lennerts in den Bergen auf einen kleinen Potrero gebracht.

Beno wurde begraben, und obwohl noch ein kleiner, lieber Junge in den Zimmern herumspielte, war es im Hause unheimlich kalt und still. Frau Lennert glich einem Schatten, und Lennert war über Nacht ein alter, 29 schweigsamer Mann geworden. Etwas in ihm selbst schien mit dem Knaben gestorben zu sein. Er kam über den Verlust nicht weg.

Stewen war gleich nach dem Unglück zu ihm geeilt, hatte ihn aber nicht getroffen, und die Frau meinte, es sei gut so, denn die Erinnerung an »Los Alamos« hätte seinen Schmerz nur vertieft.

Monate waren über den Tod des Knaben dahingegangen, aber in der Seele der unglücklichen Eltern hatte sich nichts geändert, und eines Tages faßten beide den Entschluß, das Haus aufzugeben, ihre Einrichtung zu verkaufen und ins Zentrum der Stadt zu ziehen. Sie konnten es nicht länger ertragen, dort zu wohnen, wo jeder Raum und jeder Gegenstand in ihnen Erinnerungen an die glücklichen Zeiten mit ihrem Jungen und an dessen tragisches Ende wachriefen.

So zogen sie in die Stadt, und das Haus und die Einrichtung übernahm ein Versteigerer. Da Lennert befürchtete, die Möbel würden unter ihrem Werte verkauft, bat er Stewen, am Tage der Versteigerung dabei zu sein, um die Angebote zu überwachen. Er lud ihn ein, schon vorher zu kommen, und schrieb, er würde in dem Hause alle Bequemlichkeiten haben.

Stewen sprach über den Inhalt des Briefes mit seiner Frau. Er sagte, der Auftrag komme 30 ihm ungelegen, aber er wolle seinem Freunde die Bitte nicht abschlagen.

»Schreibt er nichts vom Pingo?« fragte Herbert.

»Nichts«, antwortete der Vater. »Ich habe mich auch absichtlich nicht danach erkundigt. Das ist etwas, das heute noch nicht berührt werden darf.«

Herbert seufzte und senkte den Blick. Niemand ahnte etwas von seinem Kummer nach jenem schrecklichen Geschehen. Wo war sein Pferd? Hatte man es getötet? Sicher hatten alle dem Tier die Schuld gegeben! Dabei war es das ruhigste und fügsamste Pferd, das man sich denken konnte. Wenn er damals doch weniger entgegenkommend gewesen wäre! Wenn er doch den Pingo nicht hergegeben hätte! Was wäre dadurch alles vermieden worden! Herbert verstand und begriff das Ereignis nicht, wollte auch gar nichts weiter wissen, als was mit dem Pingo geschehen war, ob er noch lebte, oder ob man ihn umgebracht hatte.

Vor dem Zubettegehen machte er sich an den Vater heran und bat: »Vater, nimm mich doch mit in die Stadt zur Versteigerung!« Seine Augen trugen einen so flehenden Ausdruck, daß Stewen augenblicklich tiefere Gründe dieser Bitte ahnte.

Sekundenlang überlegte er, dann fuhr er dem 31 Jungen übers Haar und erwiderte: »Gern, wenn es dir Freude macht.«

Am Nachmittag des nächsten Tages fuhren sie dann zusammen in die Stadt. In Lennerts Haus war es einsam und öde. Alle Gegenstände trugen große schwarze Nummern, und nur die Dienstboten waren noch da. Stewen fuhr sofort zu Lennerts in die Stadt und ließ seinen Jungen allein.

Die Zeit benutzte Herbert für seine heimlichen Absichten. Im Garten traf er den Armando, und während dieser die Beete begoß, fing er ein Gespräch mit ihm an.

»Hast du eine Ahnung, was mit dem Pferde geschehen ist, das der Beno geritten hat?«

Der Armando blickte überrascht auf, aber als er merkte, daß der andere keine Ahnung vom Aufenthalt des Pferdes hatte und nur so nebenbei zu fragen schien, antwortete er: »Den Pingo habe ich im Salto bei meinem Vater untergebracht.«

Herbert fühlte, wie seine Brust sich plötzlich weitete. »So?« tat er gleichgültig. »Habt ihr ihn gekauft?«

»Nein, ich habe ihn heimlich von der Comisaria geholt, denn der Herr wollte ihn damals lebendig zerfleischen.«

Dem Herbert fuhr es kalt ins Herz. So etwas hatte er sich schon in »Los Alamos« dunkel 32 vorgestellt. Er sah den Armando dankbar an und meinte mit verhaltener Stimme: »Du hast dem Pferd das Leben gerettet, nicht wahr? Und was soll jetzt mit ihm geschehen?«

Der andere hob ein wenig die Schultern. »Als die Frau ruhiger geworden war, haben wir es ihr gesagt, und sie riet uns, das Tier so lange zu behalten, bis sie das Haus verließen, und gestern hat sie mir gesagt, der Pingo sollte morgen mitversteigert werden.«

Mit einem Male wurde Herberts Seele leicht und froh. »Wohnst du sehr weit von hier?« fragte er.

»Nein, nur über den Wiesen, dann ein Stück in die Berge hinein. Dort liegt unser Haus.«

»Und dort hast du den Pingo?« Der Armando nickte.

»Könnte ich das Pferd wohl rasch einmal sehen?«

Der Armando stutzte. »Wozu?« fragte er mißtrauisch. Da gestand Herbert: »Der Pingo war mein eigenes Pferd, und ich habe es an jenem Sonntag, als Lennerts uns in ›Los Alamos‹ besuchten, dem Beno geschenkt. Sicher verstehst du, daß ich in dieser Zeit immer an das Tier denken mußte.«

Das verstand der Armando wohl, und er willigte sofort ein. »Wenn du willst, können wir gleich hingehen. Der Pingo ist auf der Weide.« 33

So gingen sie denn miteinander zu dem Gütchen, welches »El Salto« hieß, und wo der Pingo sein bedrohtes Leben fristete. Herbert sah das Pferd schon von weitem, sprang über den Zaun, lief bis in die Mitte der Wiese und rief: »Pingo! Pingo! So komm doch einmal her!«

Und siehe! Das Tier wandte sich bei dem vertrauten Ruf und kam wirklich langsam daher. Herbert ging ihm entgegen, legte ihm die Hand auf den Kopf und sprach zu ihm wie zu einem vermißten und wiedergefundenen Freunde: »Armer Pingo! Warum habe ich dich nur weggegeben? Möchtest du nicht wieder zu uns aufs Land zurück?«

Er holte ein Büschel Gras und rieb ihm die Flanken ab, strich ihm über den Rücken und konnte sich lange nicht von ihm trennen, und das Pferd stand still, ließ alles mit sich geschehen und spitzte nur von Zeit zu Zeit die Ohren, als höre und verstehe es, was zu ihm gesprochen wurde.

Als Herbert wieder über die Wiesen zurückkehrte, fragte der Armando: »Warum kaufst du das Pferd nicht morgen auf der Versteigerung zurück? Es ist ein gutes Tier und hat in Wirklichkeit doch gar keine Schuld an dem Unglück.«

Herbert nickte sinnend: »Vielleicht . . .«

Am Abend kam Stewen von seinem Besuch bei Lennerts zurück. Er war mißgestimmt und sprach kaum. Nach dem Essen saß er lange in 34 Lennerts Schreibzimmer an einem Tisch und sah Rechnungen und andere Papiere durch.

Herbert kauerte neben ihm und tat so, als lese er in einem Buche. Er wartete aber nur auf einen geeigneten Augenblick, um mit ihm zu sprechen. Als Stewen die Papiere beiseite schob, faßte er sich ein Herz.

»Vater«, seine eigene Stimme kam ihm fremd vor. Das machte die innere Unsicherheit. »Vater«, begann er zum zweiten Male.

Stewen blickte auf und erschrak. Was war mit seinem Jungen? Dieses fremde Gesicht! Diese brennenden Augen! Dieser hilflose Ausdruck in den knabenhaften Zügen!

»Was ist dir, Herbert?«

»Vater . . . der Pingo soll morgen versteigert werden.«

»Und?«

»Kaufe das Tier zurück! . . . Willst du?«

Stewen sah vor sich hin. Das kam ihm unerwartet und ungelegen. Absichtlich hatte er an das Tier nicht mehr denken wollen. Auch bei Lennerts war nicht ein Wort darüber gefallen, und nun kam der Junge mit dieser unerwünschten Bitte! Alles in ihm sträubte sich dagegen, und doch wußte er, daß es ein Unrecht war, dem Pferd die Schuld an dem Unglück beizumessen. Wer trug überhaupt Schuld daran? Vielleicht die Eltern, die dem Jungen das Reiten in der 35 verkehrsreichen Stadt erlaubt hatten? Oder der Knabe selbst, der die Worte seiner Mutter in den Wind geschlagen hatte? Oder der Chauffeur, der mit seiner Hupe den Jungen warnen wollte und das Pferd damit erschreckte? Oder gar der Führer der Elektrischen, der vielleicht eine Sekunde zu spät bremste? Niemand hätte das sagen können, aber ebensowenig konnte man verneinen, daß der Pingo mit dem Unglück eng verknüpft war.

Alle diese Ueberlegungen reihten sich blitzschnell in Stewens Gedankenwelt aneinander, und dazwischen hörte er die Stimme seines Knaben: »Vater, du brauchst mir weder zum Geburtstage noch zu Weihnachten etwas zu schenken. Gar nichts wünsche ich mir im ganzen Jahre . . . Nur den Pingo möchte ich wieder haben.«

Da antwortete Stewen ernst: »Ich glaube nicht, daß es deine Mutter freute, wenn wir dieses Pferd wieder nach ›Los Alamos‹ brächten. Solche Tiere hält man sich vom Leibe . . . Geh schlafen! Sei vernünftig und schlage dir diesen Wunsch aus dem Sinn!«

Herbert ging in sein Zimmer, warf sich auf sein Bett und weinte in die Kissen hinein. Ach, der Armando hatte ihm kurz vorher das grausige Schicksal des Pferdes vorausgesagt. Niemand würde es kaufen, und dann sollte es in den 36 Schlachthof gebracht werden. Er stellte sich alles in den gräßlichsten Bildern vor, und stundenlang wälzte er sich schlaflos auf seinem Lager.

Am andern Morgen begann die Versteigerung. Viele Menschen nahmen daran teil, und bei der Redegewandtheit des Auktionärs wurden die Sachen wie im Fluge verkauft. Stewen war dauernd dabei.

Am Nachmittage ging die Versteigerung weiter. Herbert geriet in eine fast krankhafte Aufregung. Er hatte es nicht gewagt, den Vater noch einmal zu bitten, aber er konnte es sich einfach nicht vorstellen, daß ein Fremder mit seinem Pferde weggehen oder daß es gar in den Schlachthof gebracht werden sollte.

Vorläufig aber war der Pingo noch nicht erschienen. Herbert suchte den Armando, doch der war nirgends zu finden. So stellte er sich denn wieder neben seinen Vater und wartete Stunde um Stunde.

Endlich gingen die Menschen aus dem Haus auf den Hof. Der Stuhl und das Pult des Versteigerers wurden in einem Rasenbeet aufgestellt. Daneben stand ein Angestellter, der jedesmal, wenn der Hammer fiel, den Namen des Käufers aufschrieb und diesem einen Zettel gab, mit welchem die Gegenstände abgeholt werden konnten.

Gießkannen, Schläuche, Gartenbänke, Geräte, 37 Leitern kamen an die Reihe. Immer noch stand Stewen da und neben ihm sein Junge. Herbert zitterte. Ob jemand den Pingo brachte? Oder ob man das Tier vergessen hatte? Fast hörbar klopfte sein Herz. Da . . . der Mann rief die vorletzte Nummer aus . . . Eine Hundehütte! . . . Der Hammer schlug zu . . . Die Hütte war verkauft . . . Einen Augenblick herrschte Totenstille . . . Aller Blicke waren auf die Hintertür des Gartens gerichtet.

Dort erschien der Armando und zog hinter sich den gesattelten Pingo her. Es war, als laufe ein Schauer durch die ganze Menschenmenge. Jeder sah auf das Tier, und jedem schien ein heimliches Entsetzen durch die Adern zu rinnen.

Der Versteigerer begann: »Die letzte Nummer! . . . Das Pferd! . . . Jeder von Ihnen weiß, was für eine Bewandtnis es damit hat . . . Ich habe den Auftrag, das Pferd für irgendeinen Preis loszuschlagen . . . Falls aber niemand bietet, kommt das Tier in den Schlachthof.«

Herbert bebte am ganzen Körper. Der Versteigerer begann: »Zweihundert Pesos für das Pferd? . . .« Er hob den Hammer . . . Niemand bot.

Herbert sah sich um . . . Plötzlich wurden seine Augen groß und weit. Eiseskälte kroch ihm bis in die Schläfen hinauf . . . Der Vater war nicht mehr da . . . war weggegangen . . . Sein 38 Auge suchte, irrte zwischen den Menschen umher . . . Vergebens . . . Der Vater war weg . . . hatte ihn in dieser Not im Stich gelassen . . .!

Der Versteigerer fuhr fort: »Hundertundfünfzig Pesos für das Pferd!« . . . Niemand rührte sich . . . Das Angebot ging rückwärts . . . »Hundert Pesos!« . . . Wieder bleiernes Schweigen . . . Der Mann sah sich um . . . hob den Hammer . . . Blitzschnell tauchte in Herbert der Gedanke auf: »Biete ich? . . . Tue ich es auf meine eigene Verantwortung hin? . . . Nein, nein, das darf ich nicht . . .« Hinter ihm sagte jemand leise: »Wer wird denn auch dieses Pferd kaufen! Es ist schon ein Unsinn, es überhaupt anzubieten . . . So etwas knallt man nieder und macht es unschädlich.«

Der Versteigerer bot noch weniger: »Fünfzig Pesos! . . . Zum letzten . . .?« Er blickte sich um, hob den Hammer . . . Herbert krampfte die Hände zusammen, biß sich auf die Lippen, nur um nicht doch noch zu bieten . . . »Fünfzig Pesos . . . zum letzten . . .!« Vater! . . . Wo war sein Vater, sein Vater, der ihm doch sonst immer geholfen hatte . . . Da . . . Herbert war es, als habe ihm jemand mit einer Keule auf den Kopf geschlagen . . . Der Hammer war niedergefallen . . . Der Angestellte schrieb einen Namen auf das Papier . . . riß es ab und reichte es über die Köpfe der Leute weg . . . Herbert stand beinah 39 das Herz still . . . Jemand hatte geboten! Jemand hatte den Pingo gekauft! . . . Er wandte sich . . . Wem wurde das Papier gereicht? . . . Und da . . . noch nie war ihm ein Antlitz so tröstend, so liebenswert erschienen wie das, in das er jetzt blickte, und das ihm freundlich zunickte . . . Sein Vater hatte den Pingo gekauft! . . . O Seligkeit des Herzens! . . . Er drängte sich durch die Menge, umfaßte den Arm des Vaters und stammelte: »Vielen, vielen Dank!«

Stewen legte einen Augenblick seine Hand auf die Schulter des Knaben. Dann ging er zum Versteigerer, bezahlte und schritt mit Herbert hinüber zum Pingo, klopfte dem Tiere den Hals und meinte: »So . . . das wäre erledigt. Jetzt müssen wir nur noch sehen, wie wir heimkommen.« Aber auch das war bald geordnet, und noch am gleichen Abend fuhren sie aus der Stadt aufs Land zurück.

Auf der letzten Station telephonierte Stewen nach Hause. Eine halbe Stunde später erschien ein Arbeiter des Gutes mit einem gesattelten Pferd auf dem Bahnhof, und dann ritten sie zu dritt heimwärts.

Stewen begrüßte seine Frau, sprach mit ihr ein paar Worte und ritt dann sofort noch auf die Felder hinaus, Herbert aber band den Pingo an einen Baum und sattelte ab. Die Mutter 40 stand neben ihm und meinte still: »Du freust dich wohl, daß du den Pingo wieder hast?«

Herbert antwortete nicht gleich. Erst nach einer Weile sagte er, die Mutter bedeutungsvoll anblickend: »Es war nicht so einfach . . .«

Sie nickte: »Das kann ich mir denken.«

Zusammen gingen sie hinter dem Pferde her, machten die große Tranca auf und trieben es auf die Weide hinaus zu den andern Tieren. Dann schlossen sie das Tor wieder zu und sahen einen Augenblick über die Felder. Weit hinten ritt Stewen mit einem Arbeiter längs der Zäune hin.

Da kehrten sie langsam ins Hans zurück, und die Mutter fing noch einmal von dem Pingo an: »Es ist recht, daß wir das Pferd wieder hier haben . . . Wir hätten es nie hergeben sollen.«

Das war Herbert aus der Seele gesprochen, aber noch etwas anderes stand im Augenblick groß und warm im Vordergrunde seiner Gedanken.

Mit fühlbarer Bewegung erklärte er: »Der Vater hat sich in dieser Sache großartig benommen«, und nach einem kurzen Schweigen fügte er hinzu: »Ich werde es ihm in meinem ganzen Leben nie vergessen.« 41

 


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