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Über die menschlichen Ansichten der Zukunft
Wenn wir uns die Vergangenheit Jahrhunderte weit zurückmalen, so erscheint sie uns durch einen Augentrug, der die fremde mit unserer kurzen jugendlichen verwechselt, morgendlich-frisch und grün und mehr mit Jünglingen als Greisen bevölkert, als ob nicht auch die unsrige Greise bewohnten.So legen wir unwillkürlich in das alte Herz unserer Eltern denselben Seelen-Frühling, den unser junges vor ihnen und durch sie durchlebte. Schauen wir aber in 1142 die lange Zukunft jenseits unseres Grabes hinaus oder hinab: so stellt sich uns gerade durch die umgekehrte Verwechslung alles mehr alt, abendlich und greisenhaft dar, als ob jedem Greise nicht ein Jüngling vorgelebt hätte. – Sollte nun nicht diese Lug-Fernmalerei (Perspektive) uns ebenso Völker-Vergangenheit ausschmücken, und Völker-Zukunft verunstalten? – Warum wurde z. B. so oft die Nähe des Jüngsten Gerichts vorausgesagt, welchem doch das Gericht der Verstockung einer ganzen Welt vorausgeht, also eine Vorhöllenzeit?
Da übrigens die Quellen des Irrens leichter zu zeigen sind als die Heilmittel desselben – indes die Arzneimittellehre die Ursachen der Krankheiten schwerer als die Gegenmittel ausfindet –, so sei zu der angegebenen Irr-Quelle bloß noch die bekannte dazugesetzt, daß die Menschen ihr Stückchen Marktfleck und ihr Stückchen Augenblick von jeher mit Weltteil und Weltgeschichte entweder fürchtend oder hoffend verwechselt haben, ihr Flüßchen etwa so nennen wie Homer jeden Fluß, nämlich einen Ozean, oder auch wie physische Sündenkränklinge alte verschuldete Schmerzen gern großen Seuchen und Wetterwechseln zurechnen.
Daher trug der bloße einsame, mehr im Fernen als Nahen lebende Gelehrte oft über den in seine Zeit- und Thron-Enge eingekerkerten Staatmann den Sieg in politischen Weissagungen davon, gleichsam ein Tiresias, von Göttern für die nahe Umgabe blind gemacht, aber dafür von ihnen durch ein wahres Wahrsagen der Ferne schadlos gehalten!
Nun weiter! Der Glaubige einer Vorsehung ruht in den Weltstürmen ohnehin auf einem festen Troste; aber sogar der bloße Glaubige der Geschichte findet in dieser den Anker der Hoffnung, obgleich mit einem noch wenig bezeichneten Unterschiede. Es gibt nämlich einen zwischen einem verschlimmerten Zeitalter oder Volke und zwischen einem verunglückten; wiewohl bloß jenes ganz in dieses übergehen muß, nicht dieses in jenes; folglich kann man über das eine auf lange hinaus prophezeien, über das andere weniger. Das Schicksal hält nämlich fest einem unmoralischen Volke den Giftkelch zum Ausleeren vor und läßt dasselbe alle Verzuckungen des Vergiftens durchmachen, bis es am 1143 selberverfertigten und zurückgeschluckten Gifte, wie die Klapperschlange am eignen Bisse, verscheidet – – alles dies konnte man z. B. dem römischen Reiche auf Jahrhunderte aus der Hand oder Faust lesen, welche die Adlerklaue oder Wolftatze der alten Welt geworden.
Hingegen die Zukunft eines verunglückten Volkes hebt sich über menschliche Vorblicke hinaus, und doch zu den Hoffnungen hinauf. Die Menschen glauben nämlich, aber irrig, daß ein gestürztes Volk nur von der Kette der Hülf-Möglichkeiten, die ihnen vor Augen liegen, wieder in die Höhe zu ziehen sei; wenn sie nun finden, daß für den Abgrund, worein es geworfen worden, alle Rettleitern zu kurz sind, um es emporzubringen: so schließen sie daraus auf dessen Rettlosigkeit, ohne sich aus der Geschichte zu erinnern, daß ein Höhlen-Abgrund der Völker – so wie einige physische Abgründe – außer dem Rück-Ausgange nach oben auch einen unten nach der Ebene, ja nach der Tiefe hat, so daß ein unerwarteter Seitengang plötzlich ein freies Weltgrün und Himmelblau auftut. Daher wurde kein Volk durch sichtbare alte Hülfmittel gerettet. Als Rom entseelt ohne Freiheit und Sittlichkeit dalag, und als nun an dem fortfaulenden Riesenkadaver eine ganze daran gekettete Welt vermodern hätte müssen, da selber durch die gesunden Nordheere die ansteckende Sargpest nur weitergedrungen wäre: wer obsiegte der ungeheuren Gift-Roma? Das Dörfchen Bethlehem.
Wollet also nicht erraten, sondern vertrauen!
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