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Fünf Notizen

I.

Ich habe mir oft den Himmel ausgemalt. In der Kindheit war er mir die Hütte, die sich ein alter Mann in unserer Gegend hatte auf der Höhe eines steilen Bergweges errichten lassen und die »das Paradies« genannt wurde. Mein Vater pflegte um die Stunde, in der das schwarze Heidekraut der Hügel golden wird wie eine Kirche, mit mir dahin zu gehen. Am Ende jedes dieser Spaziergänge wartete ich darauf, Gott in der Sonne, die oben am Kamm des steinigen Steiges einzuschlafen schien, sitzen zu sehen. Habe ich mich getäuscht?

Weniger leicht kommt es mich an, mir das katholische Paradies mit seinen azurnen Harfen und dem rosigen Schnee der himmlischen Heerscharen in den reinen Regenbogen vorzustellen. So halte ich mich doch immer noch an mein erstes Gesicht. Aber seitdem ich die Liebe kennengelernt habe, tat ich zu dem himmlischen Bereiche vor der Hütte des alten Mannes noch eine sonnenwarme Bergwiese, auf der ein junges Mädchen Blumen pflückt, dazu.

II.

Ich habe die Seele eines Fauns und zugleich die eines ganz jungen Mädchens. Wenn ich eine Frau betrachte, empfinde ich eine völlig andere Art von Erregung als beim Anblick eines Mädchens. Wenn man sich mit Hilfe von Blumen und Früchten verständlich machen könnte, würde ich einer Frau glühende Pfirsiche, die rosigen Glocken der Tollkirsche und schwere Rosen reichen, dem Mädchen aber Kirschen, Himbeeren, Quittenblüten, Heckenrosen und Geißblatt.

Es gibt kaum ein Gefühl, das ich erlebe, ohne daß es nicht vom Bilde einer Blume oder einer Frucht begleitet wäre. Wenn ich an Martha denke, sehe ich Gentianen vor mir, Lucie ist mir mit den weißen japanischen Anemonen verbunden, Marie mit Maiglöckchen und eine andere wieder mit einer Zedratfrucht, die aber ganz durchsichtig ist. Zum ersten Rendezvous, das ich mit einer Freundin hatte, habe ich Schwertlilien mit aprikosenrosenfarbenem Halse mitgebracht. Wir stellten sie über Nacht ins Fenster, und dort vergaß ich sie, um mich nur meiner Freundin zu erinnern. Heute wollte ich gerne der Freundin vergessen und nur noch der Schwertlilien gedenken.

All meine Erinnerungen gehören also sozusagen der Pflanzenwelt an. Bäume, Blüten und Früchte sind meine Merkzeichen für Menschen und Gefühle.

Die Pflanzen, aber auch die Tiere und die Steine haben meine Kindheit mit geheimnisvoller Lieblichkeit erfüllt.

Als ich vier Jahre alt war, stand ich und betrachtete die Haufen zerschlagener Bergkiesel am Straßenrande. Wenn man diese Steine in der Dämmerung gegeneinanderschlug, gaben sie Feuer – rieb man sie aneinander, dann rochen sie verbrannt. Die geäderten hob ich auf: sie waren schwer, als ob sie Wasser in sich verborgen hielten. Der Glimmer im Granit bezauberte meine Neugier so sehr, daß nun nichts anderes mehr sie stillen konnte. Ich fühlte, daß da etwas war, das niemand mir zu erzählen vermochte: das Leben der Steine.

Um dieselbe Zeit war man einmal böse mit mir, weil ich die künstlichen Käfer von einem Hute meiner Mutter weggenommen hatte. Das war meine Leidenschaft: Tiere aufzuheben, und ich war so voll Freundschaft zu ihnen, daß ich weinte, wenn ich sie unglücklich glaubte. Noch heute erlebe ich die namenlose Angst wieder, wenn ich daran denke, wie die kleinen Nachtigallen, die mir jemand geschenkt hatte, in unserem Speisezimmer zugrunde gingen. In dieser Zeit mußte man mir, damit ich einschliefe, das Glas mit meinem Laubfrosch in meine Nähe stellen. Ich fühlte, daß er mein treuer Freund war und mich auch gegen Diebe verteidigt hätte. Als ich das erstemal einen Hirschkäfer sah, war ich von der Schönheit seiner Geweihzangen so ergriffen, daß die Begierde, einen zu besitzen, mich krank machte.

Meine Leidenschaft für die Pflanzen zeigte sich später, als ich etwa neun Jahre alt war. Die rechte Einsicht in ihr Leben aber fing erst an, als ich ins fünfzehnte Jahr ging – ich erinnere mich noch, unter welchen Umständen. An einem Donnerstag, einem lähmend heißen Sommernachmittage, ging ich mit meiner Mutter durch den botanischen Garten einer großen Stadt. Weißblendende Sonne, dicke blaue Schatten und schwere zähe Gerüche machten aus diesem fast verlassenen Orte das Reich, dessen Pforte ich nun endlich überschritt. Im lauen, goldkäferfarbigen Wasser der Bassins gediehen kümmerlich allerlei Pflanzen, ledrige graue und hohe weiche, durchsichtige. Aber aus der Mitte dieser armen traurigen Wassergewächse erhoben sich in den großen Azur grüne Lanzenschäfte und hielten die Anmut ihrer weißen und rosigen Dolden in den lodernden Tag: die Wasserlilien über ihren Blättern, in vertrauensvollen Schlaf versunken. Mit den Wasserpflanzen hielten die Pflanzen der Erde stumme Zwiesprache. Ich erinnere mich einer Allee, in der Studenten, ein Sacktuch im Nacken, unter der Schönheit der Blätter begraben lagen. Das war die Allee der Ombelliferen. Fenchel und Steckenkraut drehten ihre Kronen über die Stengel, deren Blattscheiden platzten, empor. Schweigend unterhielten sich die Düfte miteinander, stumme Verständigung wob fühlbar von Pflanze zu Pflanze, und über dem vereinsamten Reiche schwebte Entsagung.

Seit damals verstehe ich die Pflanzen: ich weiß, daß ihre Familien sich miteinander verschwägern und daß sie alle von Natur aus sich lieben. Aber ich weiß auch, daß diese Verwandtschaften nicht da sind, um den Klassifikationen zur Unterstützung unseres trägen Gedächtnisses zu dienen.

Die Pflanzen sind lebendige, tätige Geometrie, die irgendwelchen Auflösungen zustrebt – wie die sein werden, weiß ich nicht. Da läßt sich nun ein reizvolles Geheimnis beobachten: die Arten, die in denselben geologischen Epochen vorkamen, haben einander ihre Sympathien geschenkt und bleiben auch heute noch im Wechsel der Jahreszeiten sich nahe. Wie vermöchte sonst das Wesen der frierenden schneeigen Winterliliaceen mit dem der purpurnen Herbstnachtschatten so zusammenzustimmen?

Es gibt noch andere Pflanzengemeinschaften, die nicht so sehr durch Menschenbemühungen als dadurch zustande kommen, daß gewisse Arten andere als Freunde bei sich haben mögen und sich nach ihnen sehnen. Wie schön sind die Bauerngärten, in denen die strahlende Lilie – gleich den Göttern, die die Niedrigen besuchen – zwischen Kohlköpfen, Knoblauch und Zwiebeln [die in den Töpfen der Armen kochen werden] wächst! Oh, wie liebe ich diese ländlichen Küchengärten, wenn mittags der traurige blaue Schatten der Gemüse auf den Vierecken körniger weißer Erde einschläft, der Hahnenruf das Schweigen noch tiefer macht und das geduckte Huhn unter dem schrägen gewundenen Fluge des Habichts aufgluckst? Da wachsen die Blumen der schlichten Liebenden, die Blumen der jungen Frauen, die den blauen Lavendel trocknen und zwischen ihr grobes Leinen legen. Da wächst auch der treue Buchsbaum, an dem jedes Blättchen ein Spiegel von Azur ist, und die Stockrose, an der die sanfte reine Flamme der Blüten sich in Schwermut verzehrt: fromme Blumen, dem Schweigen und der Entsagung geweiht.

Ich liebe auch die Wiesenblumen: die Königin der Fluren, schaukelnd in leichten Winden und vom Glucksen des Baches in den Schlaf gewiegt. Ihre duftende Krone schmückt sich mit Wasserkäfern schimmernder als der Hals der Kolibris. Sie ist die Geliebte der Halden, die Braut der grasigen Lichtungen.

Tief in den verlorenen alten Parks aber gibt es die geheimnisvollen Pflanzen: da gedeihen die alten Blumen, der Erdflieder, die amaryllis belladonna und die Kaiserkrone. Anderwärts müßten sie sterben, hier aber beharren sie, behütet von den Vorbildern der jahrhundertealten einzigartigen Bäume mit den verschollenen Namen. Diese vornehmen, verwöhnten und gezierten Blumen erheben ihre schwanken Köpfe nur, wenn der Wind durch die Amberbäume und die Ahorne streicht und aufseufzt wie einst Chateaubriand.

III.

Die Traurigkeit der kleinen Stadt tut mir wohl: die Gassen mit ihren finsteren Laden, die abgetretenen Türschwellen, die Gärten, die in der schönen Zeit des Jahres über einem Grunde von blauem Brodem schwimmen, über dem Gewirr von Stockrosen, Glyzinien und Weinreben – und dann jene andern Gärtchen, räudig wie Esel, mit schwärigen Buchsbaumhecken, darauf Lumpen zum Trocknen liegen, und das Rinnsal der Gerber, das den dünnen Perlmuttglanz des Himmels mitschleppt und zwischen seinen Schlammpflanzen hart die Dächer widerspiegelt, o – und der Wildbach, der die Felsen höhlt, sich windet und eilig dahinblinkt! Der kleine Stadtplatz ist hübsch, ob die Zikaden in den sommerlichen Buchen schreien, ob der Herbstwind auf ihm scharrt oder die Regen ihn zerkritzeln. Es gibt auch einen kleinen Stadtpark da, von dem Bernardin de Saint Pierre entzückt gewesen wäre: unter seinen Kastanienbäumen sind die Mainächte tief, blau und sanft.

Ich komme seit Jahren in diese Stadt, die einst mein Großvater und mein Großoheim verlassen haben, um die überblühten Antillen zu suchen. Dann haben sie das Brausen des Meeres gehört, musselinene Kleider glitten unter ihren Veranden dahin – und als sie starben, waren sie vielleicht voll Sehnsucht nach diesen Gassen mit ihren Laden, den Gärten hier, den Rinnsalen und diesem Wildbach.

Wenn ich dann meinen kleinen Meierhof aufsuche, denke ich daran, daß sie einst hier gewesen sind. Oh, ihre Ausflüge! Das Frühstück trugen sie in einem Körbchen mit, und einer hatte eine Gitarre umgehängt. Leichten Ganges folgten ihnen die jungen Mädchen; zwischen taufeuchten Hecken summte eine Romanze auf und erschreckte die Vögel mit einer unaussprechlichen Liebe. Die Maulbeeren waren noch grün. Man marschierte im Takt. Der Schrei eines Mädchens zitterte durch die Luft, an einer Wegecke wurde ein großer Hut geschwungen, und ein kühles Lachen flog zwischen den regenversehrten Heckenrosen empor.

Diese Gitarre habe ich im Hofe meiner hugenottischen Großtante an einem Sommerabend gehört, als ich vier Jahre alt war. Der Hof schlief in weißer Dämmerung, und von den Dächern sank eine unbekannte Zärtlichkeit auf die Rosenstöcke und das helle Pflaster. Meine Verwandten saßen auf einem Balken, waren froh und lachten darüber, daß ich ein so kleines Kind war und eine weiße Schürze anhatte. Dann sang mein Großonkel ein Lied aus der Hauptstadt. Ich seh ihn noch mit vorgestrecktem Kopfe stehn. Die Luft zitterte sacht. Am Ende einer Koloratur machte er eine komische nette Verbeugung.

Ich segne dich, kleine Stadt, in der kein Mensch mich versteht, wo ich meinen Stolz, mein Weh und meine Freude in mir verberge und ich keine andere Zerstreuung habe, als meine alte Hündin kläffen zu hören oder arme Gesichter anzuschauen. Aber dann steige ich die Hügel empor, wo der dornige Stechginster wächst – und dort erlebe ich in der Betrachtung meiner Kümmernisse das sanfte Glück, das Verzichten heißt. Jetzt quält mich nicht mehr das rohe und verächtliche Lachen der Leute noch auch das Zweifeln an allem. Das Lachen derer, die mich verachten, ist verstummt – und ich werde gleichgültig gegen alles, was ich bin. Aber ich bin indessen ernst geworden gegen mich selber und die andern. Mit furchtsamer Freude sehe ich nun die Sorglosigkeit der Glücklichen. Ich habe verstehen gelernt, wieviel Leiden aus der Liebe wachsen kann und wie tiefe Blindheit aus einem Blick. Und um dieser meiner Leiden willen möchte ich eine traurig zarte Liebkosung denen schenken, die noch nichts anderes wissen als das Glück.

IV.

Im Garten tut mir der Duft des Flieders plötzlich weh, denn ich bin todtraurig.

Flieder, seit der Kindheit bist du mir teuer. Damals habe ich deine Blütensträuße angeschaut, die schönen Bilder, auf eine Spielzeugschachtel gemalt. In dem vertrauten Obstgarten meiner Jugendzeit blühtest du auch. Oh, in diesem Garten gab es Igel! Sie glitten die alten Balken entlang – wie unschuldig und sanft sind die Igel trotz ihrer Stacheln. Ich erinnere mich noch meiner Erregung, als ich an einem Winterabend einen auf der Schwelle unserer Küche fand. Der Schnee hatte ihn vertrieben, und nun steckte er seinen kleinen Rüssel in die Abfälle, die da liegengeblieben waren.

V.

Ich liebe die Wesen der Nacht, die Käuzchen mit hauchendem Fluge, die Fledermäuse, die Dachse – alle ängstlichen Tiere, die durch die Luft und das Gras gleiten und die wir so wenig kennen. Was für Feste mögen sie wohl unter den Pflanzen, ihren Schwestern, feiern?

In der Stunde, da der Mensch ruht, springen die Kaninchen silbrig von Tau über die Minze der Gräben hin und halten ihre geheimen Versammlungen ab; die Frösche quaken und platschen in den Pfützen, aus den Glühwürmchen sickert der weiche, gelbe, feuchte Schimmer, der Maulwurf bohrt sich unter den Wiesen hin, die Nachtigall schluchzt auf wie ein Springbrunnen, und die Schleiereule läßt ihr trauriges Lachen hören, als ob sie sich in ihrer Furchtsamkeit zu der Freude Gottes gesellen wollte.

Wie oft habe ich mir gewünscht, ein solches Wesen der Nacht zu sein! Ein schauerndes Kaninchen unter der Weißdornhecke oder ein Dachs, von den saftigen grünen Blättern gestreichelt. So hätte ich keine anderen Sorgen gekannt als die um meine leibliche Verteidigung – und ich hätte nicht lieben müssen und nicht hoffen.

 

Ende


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