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Betrachtungen über einen Tautropfen

Das anbetungswürdige alte Fräulein starb in einem kleinen Schlößchen, das einstmals Jean Jacques Rousseau gefallen hat. Ein Wildbach schauerte an den Grundmauern des Türmchens vorbei, das überblüht war von gelben Rosen, und der nahe Teich einer verlassenen Mühle machte die Gegend mit ihren schattigen Baumgruppen vollends poetisch. Reiche Äcker dehnten sich da und dort.

Einst, als der Tag zu Ende ging, sah ich an der Ecke eines Feldes auf dem Markstein einen alten Mann sitzen. Er stützte sich auf einen Stock mit einem Schnabelgriff. Von seinem Platz aus überwachte er gemach die Erntearbeit. Ich wünschte mir sehnlich dieses Alter herbei, in dem die stillen Blicke nur noch nahe trauliche Dinge vor sich haben. Vielleicht wird das Gewesene dann zur Gegenwart? Dieser friedliche Greis, der mich eines anderen Greises gedenken ließ, jener edeln Gestalt aus »Paul und Virginie«, rief sich vielleicht, da er die schönen Schnitterinnen betrachtete, die Zeit wieder herauf, in der noch die Bücher seiner Jugend über ihn Gewalt gehabt hatten ...

Vielleicht erschien ihm Ruth, mit Kornblumen und Ähren bekränzt, oder die myrtenduftende Chloe, wie sie ihren Ziegen Salz reicht.

*

Lange, bevor ich die Heiterkeit des Tages, der hier über dem Patriarchen zu Ende ging, erlebte, war das alte Fräulein gestorben. Sie hatte hier ihre ganze Jugendzeit verbracht, und sie wohnte auch später fast immer hier. Denn ihr oblag, nachdem sie Waise geworden war, die ganze Sorge um ihre wahnsinnige Schwester. Nur ein paarmal war sie fortgewesen: als sie einige Jahre hintereinander eine Zeit in Paris verbrachte. Wenn ich an sie denke, wie ich sie als Achtzigjährige gekannt habe, mit ihren schneeweißen Scheiteln, die stets mit Parmaveilchen geschmückt waren, der großen Nase, dem spitzen aufwärts gebogenen Kinn und den feurigen Augen, wird es mir nicht allzu schwer, mir vorzustellen, wie sie als Achtzehnjährige gewesen sein mag: Da sehe ich sie mit einem biegsamen großen mit Feldblumen geschmückten Hut, in einem Mousselinkleide, das sich bei ihren Knicksen bauscht, und mit einem Gürtel aus einer kolibrifarbenen Schleife.

*

In diesem Schlosse nun habe ich in den letzten Tagen langsam und voll Zärtlichkeit das Album durchgeblättert, darin das Fräulein F. de B. seine Herzensdinge geschrieben hat, und ein unsagbares Heimweh nach der Vergangenheit überkam mich.

Während sie in Paris lebte, das muß um 1840 gewesen sein, nahm sie Botanikunterricht im Jardin des Plantes. Oh, von wieviel Liebreiz umgeben sie mir jetzt erscheint! Wer weiß, wie schönheitsentflammt die Seele dieses jungen Landmädchens war, das hier nun die strahlenden Farben und den Duftatem irgendwelcher neuer Blütendolden, die vielleicht Laurent de Jussien eben erst von wilden Inseln gebracht hatte, genoß! Ich glaube dieses Mädchen der alten Zeit vor mir zu sehen, wie es sich in einer Allee des Botanischen Gartens auf die Spitze seiner fliederfarbenen Schuhe erhebt, um das Innere einer zottigen Blumenglocke zu erforschen.

Diesem Album, in das sie sorgsam wunderbare Sträußchen gezeichnet und gemalt hat, vertraute sie ihr Herz an. Ich nenne ihre Malereien wunderbar, aber ich will damit gewiß nicht sagen, daß sie etwa das Genie besessen habe, in der Wiedergabe der Blumenkronen auch das Geheimnis der Säfte mitzugestalten; ich will vielmehr damit ausdrücken, daß diese Rokokomalereien, fern von jeder künstlerischen Absicht, die Spuren einer hohen und reinen Seele tragen und daß kein noch so berühmtes Kunstwerk mich mehr ergreifen wird als sie.

*

Man müßte sich einzeln jeden der Tage wieder emporrufen, in deren Kelch diese zarte und zage Seele ein wenig von ihrer Ewigkeit geträufelt hat. Was man auch von ihrem Verlobten redet und geredet haben mag, ich glaube, daß sie nur aus Opferwilligkeit für ihre früher erwähnte Schwester von ihm nichts wissen wollte. Das hat sie den glühenden Blumen, die sie malte, gebeichtet. Das sagen die schwellenden Rosen, die emportaumeln wollen aus ihren Kelchen wie die Herzen der erwachenden Mädchen in den Verzückungen der Maiabende. Von ihren Rosen hat eine besonders und schmerzlich zu mir gesprochen. Die hat sie sicherlich an einem leuchtenden Morgen gemalt, da sie Gott um Gnade gebeten hatte. Kein Wort vermöchte die leidenschaftliche Reinheit dieser Blumenblätter wiederzugeben, aus denen langsam eine Tauträne rollt. Oh, wie habe ich diese Träne verstanden!

Du junges Mädchen des hingegangenen Jahrhunderts hättest du, als dir in deinem immer schattigen Salon diese Träne niederfiel, gedacht, daß eines Tages ich voll Verehrung ihrer gedenken würde? Ich habe sie aufgefangen, und nichts mehr wird ihr köstliches Wasser trüben. Dieser Edelstein voll des Glanzes aus deinem Herzen – o mögest du in Frieden ruhen an der Brust des Herrn! – ist von würdigen und andächtigen Händen in dem chinesischen Schränkchen des großen Salons aufbewahrt worden, und nur zuweilen komme ich und bitte die Freunde, die ihn verwahren, ihn mir zu zeigen. O du, vielleicht hast du an demselben Weh gelitten, davon auch ich ergriffen bin, an der sinnlosen und schweigenden Leidenschaft, die einzig deine Zeitgenossen in ihrer müden Anmut und scheuen Reinheit verstehen konnten!

*

Was wissen wir, wie viele Kalvarienberge es gibt und wie oft schon der Kreuzweg beschritten worden ist! Wenn uns unter Fingerhüten, Scheren, Stückchen von Stickerei und Seidenfleckchen, zwischen kleinen Spiegeln, Haarlocken und Kinderzähnen, unter künstlichen Blumen, Fläschchen und längst aus der Mode gekommenen Schmucksachen eine alte »Nachfolge Christi« in die Hände kommt, so erscheint es uns, als ob der Duft des Abgeschlossenen, der an den Seiten haftet, nur eine unendliche Sanftheit in sich trüge. Und doch, wie mögen Hände, die jung waren und die es nicht mehr waren, vor Warten und vor Weh gezittert haben, während sie dieses Buch hielten!

In der Morgenröte ihres Geschickes mag das junge Mädchen diese Seiten wohl noch in der geheimen Hoffnung aufgeschlagen haben, daß an den Bitternissen doch nicht alle Menschen teilhaben müßten und daß vielleicht gerade ihr das Schicksal sie ersparen werde. Nur in einem entzückenden Gefühle von Pietät streckte sie damals im Erwachen die schon kräftigen Arme nach der »Nachfolge« aus.

Erst später, in der Mitte ihres Lebens, kam sie wieder zu diesem Buche zurück. Die früchteschweren Apfelbäume waren nicht mehr fröhlich wie ehedem ... eine Freudigkeit [ich weiß nicht, was für eine] hatte sie verlassen. Und jenen bunten Schmetterling, der sich vor ihr im heißen Glanz der Tage in den großen Ferien gewiegt hat, den hat sie später nie mehr über den Wiesen erblickt.

Das Alter kam. Und siehe, nun in der Neige ihres Seins hörte sie kaum mehr auf, in dem Buch zu lesen.

Es war sieben Uhr abends, draußen schneite es. Die Lampe, die aufzuckend der Stille den Takt schlug, erleuchtete den großen Spiegel, in dem sich das alte Fräulein als das getrübte Bildnis der menschlichen Wandlungen erblickte. Nun sah sie nichts mehr von dem honiggoldenen Haar, das sie sich einst spielend um die zarte Faust gewunden hatte ... Ihre Scheitel waren weiß und streng wie die Binden, in die man die Toten hüllt. Und ihre Wangen, auf deren Erblühen einst viel helles Lächeln wie Apriltage über die Gärten gestrahlt hatte, waren voll der tiefen Furchen, die allgemach der bittere Niederfall der Tränen eingräbt.

*

Möge Gottes Frieden sich auf diese Leben der alten Zeit herniedersenken! Oh, sie haben für mich immer noch die Jugend der Rose, auf der ein Tropfen in solcher Reinheit schimmert, daß man zweifelt, ob er ein Tautropfen oder die Träne eines Kindes, das sein erstes Weh verstört hat, sei.

Man tut gut daran, die Toten zu verehren und täglich ihrer zu gedenken! Kein Regenguß rauscht nieder auf die Kronen des Waldes, kein Regenbogen wölbt sich über das wolkendüstere Dorf, keiner Hirtenflöte Klang geht im Herbstwinde verloren, ohne mir Gegenstand für meine Betrachtungen zu werden. Hier, so denke ich, in dieser kleinen Höhle mit ihrem Teppich aus Farnkraut und Veilchen, mögen sie zuweilen Zuflucht vor den Regenschauern gesucht haben. Hier muß es auch gewesen sein, wo der letzte Guß des Gewitters die Schleife mit den Irismustern davongetragen hat. Und hier, so sage ich mir weiter, in diesem entlegensten Winkel des Parkes, mag das Mädchen vielleicht von ihm geträumt haben, der ihr dort in der Grotte als der Bezauberndste erschienen war. Und wenn sie dann ihre Schwermut fragte, hat ihr nur die Glocke eines verirrten Lammes geantwortet.

*

Oh, wie wird jede Kleinigkeit zu einer Welt, wenn man in ihr nicht nur ein poetisches Spiel sucht, sondern die Spuren Gottes in den geringsten Geschehnissen des Alltags! Dächte nicht ein jeder, es sei keine Sache von Bedeutung, um welche Stunde und an welchem Tage ein Kind im Walde Erdbeeren pflückt? Und ist es nicht doch voll Bedeutung, daß an einem Morgen, von dem ich nichts weiß, ein Mädchen in vergangener Zeit unwissentlich einen Tropfen Tau auf einer Rose schimmern ließ und so den Anlaß gab zu dieser meiner Träumerei, die nun zu Ende geht?


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