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Zweiter Teil

S Sie spielten Poker nach dem Nachtessen. Die Reisenden richteten sich, als sie Plymouth verlassen hatten, auf die fünfzehn Tage ein, die sie ohne Hafen bis La Guaira vor sich hatten. Engelbert saß neben Juch. Die Mitspieler waren zwei Deutsche, Kaufleute, und der junge Rizal, der eine deutsche Mutter hatte, eine geborene Blomheim aus der Firma Blomheim, Berndts & Co., und in Hamburg aufgewachsen war. Juch verlor gegen 200 Mark, als das letzte Spiel angesagt wurde. Engelbert schaute nur zu. Das Spiel mißfiel ihm. Es mißfiel ihm nicht nur, weil Juch so viel Geld verlor, das sie einmal missen müßten, sondern weil es nichts mit dem Tarock oder dem Jaß zu tun hatte, die man in Mariathann im ›Adler‹ spielte.

Juch schob die Karten, die er zusammen geordnet aufgenommen hatte, mit langsam zögernden Fingern, unter lauernd gespannten Augen, nur ein Spältchen weit an den Ecken auseinander. Ein Pokerspieler entblättert seine Karten nicht. Er »kostet« sie nur an den kleinen Randzeichnungen, die in Fliegengröße die Werte der Karten zeigten.

»Dir als Rittergutsbesitzer«, sagte er während dieser Beschäftigung laut und hielt die Worte im Tempo des verschleppenden Aufblätterns, »der so viel mit Pferden zu tun hat, müßte das Pokern eigentlich gefallen. Es ist das wunderbarste Roßtäuscherspiel. Sie öffnen?« wandte er sich aus seiner Rede zu den Spielern zurück, »ich … geh mit! Ja!«

»Bedient!« sagte er, als der Verteiler Karten anbot.

»Ihr Royal Flush«, scherzte Rizal, »macht mir keine Angst. 20 Mark!«

Der Nebenmann Rizals schied aus. Juch war nun an der Reihe.

»Ich!« zögerte er, »... plus 20!«

Engelbert erschrak und schaute mit fragenden Augen auf die Karten, die Juch wieder zusammengeschoben und auf den Tisch gelegt hatte. Da dachte Engelbert, er habe einen Fehler gemacht. Man könnte meinen, er kenne Juchs Karten und verrate sie durch den Ausdruck seines Gesichts. Ob jemand ihn beobachtet hatte? Er hob die Augen.

Sie trafen über den Kopf Rizals hinweg auf die einer jungen Dame, die hinter Rizal stand, aber in demselben Augenblick sich zum Nebentisch begab. Sie hatte Engelbert beobachtet. Sie hatte ihn mit ruhigem, sachlichem Blick beobachtet, und er eilte mit den Augen verlegen zum Spieltisch zurück. Ja, er war ein wenig beklommen. Er hatte schon einmal mit dieser jungen Dame gesprochen. Sie war Rizals Base und hatte bienenfarbige Haare, Haare, die braun waren und doch von einem blonden goldenen Schimmer glänzten wie der Leib einer Biene. Gerade diese Bezüglichkeit auf die Bienen, mit denen er so viele Stunden seines Lebens verbracht hatte, hatte eine gewisse Verbindung seines Gemütes mit ihr hergestellt, die allen andern Mitreisenden gegenüber fehlte.

Der vierte Mitspieler sagte darüber hinweg: »Ich setze 20 mehr.«

»Doppelt!« trompetete Rizal und lächelte seiner Base zu.

»Jetzt!« sagte Juch, gleichmütig und ein wenig starr: »Verdopple nochmals!«

»Thomas!« flüsterte Engelbert angstvoll.

Der vierte Mitspieler: »Einen Augenblick. Das macht 20 und 20 und 20, 60, verdoppelt 120, nochmals verdoppelt 240. Gehalten. Sec!«

»Erwischt!« lachte Rizal. »Ich mach mich heraus. Paß! Aufdecken!« sang er, »die geblufften Flushs kriegen das Zähneklappern, Herr Juch«, lachte er diesen an.

»Da gibt's kein Zittern vor dem Tod!« sagte Juch und legte seine Karten hin. »Flush von Herzkönigin! Da liegt sie auf'm Rücken. Vier mit'm Joker schlagen sie, sonst kein Deubel!«

»Der Joker wär' da!« rief Rizal, als er die Karten des Mithaltenden sah. »Aber er hat nur drei Damen um sich, der feine Herr!«

Es wurde an Juch gezahlt, und man stand auf. Rizal zog die junge Dame mit dem bienenfarbenen Haar von ihrem Sessel am Nebentisch und ging nach vorn, wo getanzt wurde.

»Du hast verloren, Manuel«, bemerkte sie.

»An Geld!« lachte er. »Hab' ich nun an Glück bei dir gewonnen, Else?«

Juch sagte zu Engelbert: »'n paar Hunderter gewonnen. Sie spielen so pütjerich! Nur auf Nummer sicher. Da kommt man mit dem besten Willen nicht gegen an, außer man hat, pour corriger la fortune, eine klotzige Flush. Sonst, das Pokern ist ein Spiel, das ich versteh'.«

»Und wenn du verloren …«

»Ich hab' aber nicht verloren«, schnitt Juch ab. »Übrigens möchte ich dich doch bitten …«, wandte sich aber zu zwei Herren hin, die, übers Deck, wandelnd, herangekommen waren und stehenblieben.

»Nun, gewonnen, Herr Juch?« fragte der eine.

»'n Abendessen bei Horcher, Exzellenz. Man spielt ja nur zur Unterhaltung. Kennen Sie zufällig Barriquicimeto, Herr Berndts?« redete er den zweiten an.

»Da ich fünf Jahre da gelebt habe, wie meine Tasche. Wenn nicht ein Taschendieb gerade darin eine Änderung vorgenommen hat«, lachte der ältere Herr gemütlich.

»Sie verglichen grade die Steuerpolitik des Staates mit Taschenspielerkunststücken, mein lieber Herr Berndts«, sagte der Gesandte. »Genieren Sie sich nicht vor mir, das Kind beim richtigen Namen zu nennen.«

»Ich dachte Ihrem Amt eine gewisse Feinfühligkeit schuldig zu sein«, entgegnete Berndts, und sie lachten alle vier.

Aber Juch lachte ein wenig gezwungen. Wieso kommt er nach Barriquicimeto? Nach meiner in der alten Schrift verborgenen Schatz- und Traumstadt des Konquistadors Hohermuth?!

»Kann man es fünf Jahre in Barriquicimeto aushalten?« fragte er, um auf Umwegen zu seinem Ziel zu kommen.

»Weshalb nicht? Eine recht angenehme Stadt. Wir haben an die vierzig Europäer im Klub gehabt. Kühl. Nette Häuser. Jetzt, die neue Autostraße nach Valera und Carracas ist recht gut. Man kann sagen: ein netter Landaufenthalt!«

Eine gläserne Schale zerbrach. Betreten sann Juch über ihren Scherben.

»Haben Sie an Barriquicimeto ein besonderes Interesse?« hörte er Berndts fragen. »Wir haben eine Filiale dort. Aber die Konkurrenz ist stark!«

»Nein, ich fragte nur so. Hab' nur zufällig was davon gelesen.«

Nein, Juch hatte plötzlich wirklich kein Interesse mehr an diesem Namen. »Egal«, sagte er sich. »Es hat zu dem gedient, wozu es zu dienen hatte. Fare well! Buenas noches, Senhora Barriquicimeto! Dormez bien!«

Rizal stand mit seiner Base Else und einem andern fast silberblonden jungen Mädchen wieder in der Nähe.

Berndts sagte: »Das junge Volk will tanzen.«

Juch verbeugte sich mit einem kurzen Kopfnicken, es war eher ein knapper, selbstbestimmender Wink zu dem blonden Mädchen hin. Sie gingen rasch nebeneinander fort und tanzten.

»Else, darf ich an den Silberknöpfen deines Kleides abzählen, ob sein Freund dich bitten wird? Schau, er macht so treue Augen. Ich wette, so was liegt dir. Du hast Gemüt, Elsa!« sagte Manuel leise zu seiner Base. Sie standen ein wenig abseits.

Er begann auf die Knöpfe zu tupfen: »Er kommt … kommt nicht …«

»Du kannst dir die Mühe sparen«, wehrte Else ihn ab. »Ich hab' schon abgezählt. Ach, Indianer, er kommt nicht!« Sie nannte Manuel seines exotischen Aussehens halber Indianer.

»Aber weshalb denn nicht?«

»Weil er ein Kalb ist«, antwortete Else.

»So doch wenigstens ein verzaubertes. Aus einem Märchen, wie? Beruhige dich!«

Von diesem Gespräch an nannten sie Engelbert unter sich »Elses treuäugiges Zauberkalb«, was sie später änderten, indem sie den Namen in »Der Treuaugenzauber« zusammenzogen.

Das Mädchen, mit dem Juch tanzte, gehörte auch zu ihrer Gesellschaft. Es war die Tochter Berndts und ebenfalls eine Base von Rizal. Berndts war der Chef und Mitbesitzer des Hauses Blomheim, Berndts & Co., das überall in Karibien Niederlagen hatte. Das Stammhaus war in Hamburg. Berndts leitete von Maracaibo aus das südamerikanische Geschäft.

Er wollte sich an Ambos wenden, der in dem Gespräch mit Juch etwas auf die Seite geraten war. Aber er sah ihn nicht mehr.

»Was sind das für Leute?« fragte der Gesandte.

»Das eine ist Herr Juch. Der andere Herr Ambos.«

»Wenn Sie mir sagen: der eine ist Pat und der andere Patachon, so weiß ich Bescheid«, lachte der Gesandte. »Aber ›Juch und Ambos‹ habe ich noch nie auf einem Filmplakat gelesen, obgleich es dazu im Klang recht gut geeignet wäre. Ich muß gestehn, dies Paar hat für mich überhaupt etwas von Filmluft um sich.«

»Und wenn ich Ihnen nun erst sage, daß der eine, Ambos, der nicht so aussieht, der direkte Nachkomme eines unserer ersten deutschen südamerikanischen Kolonisatoren ist, nämlich – Hohermuths!«

»Ah«, machte der Gesandte erstaunt. »Des Welser – Hohermuth? Interessant!«

»Wenigstens hat mir das der andere beigebracht. Relata refero!«

»Und dieser andere?«

»Sein Manager!« lachte Berndts. »Es sieht doch wirklich so aus, als ob dieser gute Herr Ambos, Gutsbesitzer im Bayrischen, verschleppt werde.«

Else und Rizal hatten das Gespräch halb angehört. Manuel mischte sich ein:

»Verzeih, Onkel, bitte, sag mir nochmals, wer ist der Urenkel des Entdeckers meiner Heimat?«

»Herr Ambos!«

»Herr Ambos, hihi!«

Sie lachten zu viert.

Juch kam mit Elvira zurück und führte Else zum Tanzen davon. Er tanzte den ganzen Abend nur mit den beiden.

Engelbert stand vereinsamt auf dem Sonnendeck zwischen den Rettungsbooten herum. Es war fast ganz dunkel hier. Niemand außer ihm war da. Die Luft war rauh, kalt, streng, ungeschützt drang sie auf ihn ein. So war es auch in seinem Herzen. Mit hartem Griff lag ein Verlangen über ihm. Er wußte nicht, wohin. Die Reuttermühle war es nicht. Um ist um. Er wehrte sich dagegen, an sie zu denken. Er hat sie in einem Kampf gegen Geister verloren. Er könnte nur ins Leere greifen nach ihr. Fahr hin!

Er stand tief im Schatten, an eines der Boote gelehnt. Nacht und Wind waren in einem Strudel zusammengeballt über ihm. Er hörte sprechen. Eine Männerstimme, eine Mädchenstimme, auf der anderen Seite des Bootes. Juch! zuckte es ihm ums Herz, Juch und das Mädchen mit den bienenfarbenen Haaren.«

Verscheucht und geplagt schlüpfte er außen um das Boot herum davon, damit sie ihn nicht bemerkten.

Aber es war Juch nicht und auch nicht das Mädchen, das ihn während des Kartenspiels beobachtet hatte. Denn die beiden sah er, da er nach unten gegangen war, zusammen tanzen. Er stellte sich an die Reling und schaute zu. Der Tanz war aus. Juch nickte kameradschaftlich und kurz einmal mit dem Kopf gegen Else und ließ sie zum Tisch des Onkels zurückgehen. Er stellte sich zu Engelbert.

»Ich hatte gedacht, du würdest dich rascher auf diese Leute umstellen. Hier hast du keinen Bauernhof, sondern 'n Rittergut, keine Sägemühle, sondern drei, vier Sägewerke. Wenn du bei dieses Leuten die richtigen Zahlen nicht mit vier multiplizierst, teilen sie sie durch vier, und du bist 'ne Null. In diesen Ländern gilt schnell alles nicht mehr als 'n Spatzendreck auf 'nem alten Zylinderhut. Money, money! that's all! Ich rate dir: sprich nicht, sprich noch weniger! Man muß mit Grundsätzen reisen! Basta!«

Engelberts' Staunen und Bewunderung für Juch hatten gleich vom ersten Tag an Bord an eine Steigerung erfahren, aber auch eine brüchige Stelle bekommen. Mit der ersten Minute trat Juch auf wie ein großer Herr, wie einer, dem das Befehlen und Anschaffen ins Maul hineingeboren ist. Schon wie er mit dem Obersteward die Tischplätze besprach, die Änderung der Kabinen herbeiführte. Denn sie hatten zusammen die billigste Kabine belegt, und jetzt hatte Juch seine eigene, die doppelt so groß war wie die, in der Engelbert blieb. Und wie er mit den Reisenden, mit den jungen Damen, den reichen Welthandelsmenschen, dem eleganten forschen Rizal, dem Gesandten von der ersten Sekunde an auf einem Ton war! Ja, diese eigenmächtige Gleichstellung und selbstverständlich tuende Übereinstimmung mit Menschen von Welt, Vermögen, Rang und damit zugleich die übertreibenden mundvollen Gespräche, Mitteilungen und Schilderungen hatten Engelbert befremdet. Seine freundschaftlichen Gefühle für Juch mußten sich gegen Mißtrauen und Bedenken wehren. Er lehnte sich über die Reling. Er empfing die Nacht und den Wind voll ins Gesicht, und das titanische Rauschen des vom Dampfer durchgepflügten Wassers, das er in den ersten Augenblicken nicht sah, nur hörte, schien ihn in sich selber zu verschütten. Er dachte an Rosina, und sie war ihm in diesem Augenblick ebenso entfernt und in die Tiefe der Zeit verloren, wie sie ihm sonst nahe war. Das erschien ihm als ein böser Zauber.

Der Zauber entspann sich drohend da unten unter seinen Augen, wo geheimnisvoll unsichtbare Stürze zu einem rauschenden Weben zusammentobten, das ihn und das Schicksal, dem er ins Unbekannte zureiste, in einen finstern Sack einknüpfte.

Gequält und bestimmungslos starrte er in die wüste, dunkle Formlosigkeit hinein, die das Schiff wälzend durchzog. Es war das Chaos.

Er hörte Juch trotzdem weitersprechen. Dessen Worte drangen durch die wilde Gewaltsamkeit der Nacht an sein Ohr. Hatte Juch doch recht? Er hatte gesehen, die Mädchen tanzten mit ihm, unterhielten sich mit ihm in einer Kameradschaftlichkeit, als sei er ihnen seit Jahren vertraut. Der Gesandte sprach mit ihm wie mit seinesgleichen. Und die Sache mit dem Poker! Auch da war er Meister geblieben.

Juchs Tanzen näherte Engelbert selber der Gesellschaft des alten Herrn Berndts und seiner Verwandten. Engelbert wurde unabhängig von seinen Werten mit in den Kreis gezogen.

»Sie haben ein Gut auf dem Mond, höre ich!« frozzelte ihn Fräulein Else.

»Ambos baut dort goldenen Weizen«, sagte Juch, »was man an der Farbe des Mondes ja auch erkennt!«

»Dann sind die Faschinen, die der Mann da oben trägt, gewiß auch aus Ihren Wäldern?« scherzte Rizal.

Man spottete gutmütig mit ihm. Er war ein braver Mann. Er war ein Mann, dem man ansah, daß Verlaß auf ihn ist.

Else sagte das einmal, als Engelbert nicht mit dabei war.

»Else, Else!« mahnte Rizal.

»Ja, Indianer, es ist soweit, ich weiß. Ich glaube, ich liebe ihn.«

»Das wird vergehn, teure Kusine. Sprich mit ihm!« antwortete mit gemachter Feierlichkeit Manuel.

»Ich finde, Ihr sprecht reichlich viel über ihn«, sagte Elvira in ihrer immer kühl entfernten Art.

»Du bist die einzige«, entgegnete Manuel, »die sich ›Elses Treuaugenzauber‹ entzieht. Hat er denn gar keine Wirkung auf dich? Du bist eine kalte Jungfrau, du scheinst in Büchsen gefroren zu sein. Das muß ich dir leider sagen, teure Kusine.«

»Manuel hat recht!« nahm nun Else auf. »Aber wie ist es, teure Kusine, wenn ich dir meine neueste Entdeckung mitteile? Treuaugenzaubers Vornamen?«

»Else!« rief Manuel, als sei er vor Ungeduld nahe am Vergehen.

Greift hoch bis in den Himmel zu den Engeln Gottes! Hier in der Passagierliste steht er. Er heißt: Engelbert!«

»Süß!« sagte Manuel. »Paßt zu den Locken!« dalberte er mit kindlicher Stimme.

Ein andermal begann er: »Ambos sieht so aus …«

»Schon wieder er!« bemerkte Elvira.

»Sei nicht eifersüchtig, bitte. Denn ich bin es ja, der etwas über ihn sagen will, und nicht Else. Ich habe viel über ihn nachgedacht. Ich habe dem Rätsel seiner Wesenheit emsig und tief nachgesonnen«, fuhr Manuel fort, »er sieht so aus, wollte ich sagen, als sei er ein zu einem Menschen verzauberter Riesenkegel mit Hobelspanlocken, natürlich der König. Wirf mal dein Herz nach ihm, Else. Wenn er dann umfällt, siehst du gleich den Zauber.«

»Pfui, Indianer«, sagte Else, »einen braven Mann als Amboß zu benutzen, auf dem du die Funken aus deinem Geist schlägst.«

So konnten sie sich oft und lange über ihn unterhalten, wenn sie nebeneinander in den Streckstühlen lagen, und ihre Unterhaltung hörte sich für Unbeteiligte wie ein Lachgefecht an.

Engelbert hielt sich einsilbig und unsicher zwischen ihnen, wenn Juch ihn mit in die Gesellschaft zog. Noch stärker, als wenn er allein war, trat dann der Drang in Engelbert auf, beiseitezustreben, zwischen den Rettungsbooten auf dem Sonnendeck sich zu sich selber zu gesellen. Aber auch fortzugehen gestatteten ihm Scheu und Befangenheit nicht. Er blieb wie ein gelähmter Gefangener zwischen ihnen sitzen.

»Reisen Sie nach Venezuela, um in die Fußstapfen Ihres Ahns zu treten?« fragte ihn Rizal. »Ich als Venezulaner bin Ihnen persönlich dankbar dafür. Denn er hat ja meine Heimat entdeckt.«

»Eigentlich müßte Herr Ambos in Carracas einige Tage lang zwischen n und 12 Uhr auf der Plaça Bolivar sich in seiner Eigenschaft als Urenkel der Menge zeigen, die seinem Ahn ihr Dasein verdankt. Indianer, du als Dazugehöriger müßtest bei Juan Vicente das mal anregen. Wie stünden Sie dazu, Herr Ambos?« fragte Else.

Da nahm Ambos einen Anlauf. Er wollte Scherz gegen Scherz setzen. Er wußte, daß es seine Schwerfälligkeit und brummige Unzulänglichkeit waren, mit der sie ihn narrten. Er dachte an den Bernhardiner, der am Sägewerk angekettet gewesen war, schob den dicken lockenumzottelten Kopf gegen das Mädchen vor und machte gegen sie wie der böse Hund:

»Wauwau!«

Damit hatte er einen großen Erfolg.

»Ist er nicht rührend?« fragte Else nachher, als sie allein waren.

»Schmelzend«, erwiderte Manuel. »Ein zu Herzen gehender Treuaugen-Wauwau!«

Fortan hieß er nun so zwischen ihnen.

Juch spielte jeden Abend Poker. Engelbert setzte sich nicht mehr neben ihn. Der Gang dieses Spiels zwischen den immer höher gesteigerten Geldsummen quälte ihn. Er meinte auf einer steilen Felswand zu stehen und in die Tiefe hinabschauen zu müssen. Es schwindelte ihn. Juch gewann fast immer.

Je mehr man sich dem Land näherte, in dem der Gesandte die Regierung seiner Heimat vertrat, um so stärker besann sich dieser auf die Ausschließlichkeit seiner Stellung und die Zurückhaltung, die sie ihm zu einer unwägbaren, aber zwingenden Pflicht machte. Er zog sich immer merklicher zurück. Er umgab sich mit einer Schicht von Unnahbarkeit und Höhe, die Berndts in Wut versetzte.

»Er hat seine Eisregion glücklich wieder erstiegen«, sagte er den Mädchen und Manuel. »Wenn Ihr die Nasenspitzen nicht erfrieren wollt, so begebt euch schleunigst nach Backbord, sobald ihr ihn an Steuerbord anschweben seht.«

Nun kam es, daß Berndts, der durch den anfänglichen Anschluß an den Gesandten bei der Schiffsgesellschaft andere Beziehungen verpaßt hatte, in der Hauptsache auf Ambos angewiesen blieb. Die Kreise, die sich in den ersten Tagen an Bord bilden, dichten sich nach außen gewöhnlich fest ab.

»Ihr macht Ambos stets zum Opfer eurer leichtsinnigen Witze«, sagt Berndts einmal zu Else. »Ich finde, er ist ein sehr ernster und netter Mann. Und wenn man wüßte, wie er mit seinem Freund zusammenhängt, und was sie in Südamerika suchen wollen …«

»Ich bin der Überzeugung, daß er nach den Fußstapfen seines großen Ahnherrn schauen kommt«, unterbrach Else.

»Liebe Nichte, du hast ein loses Maul, wenn die Bezeichnung auf dieses bei dir so besonders geglückte Instrument passen würde.«

»Aber ich glaube eher, daß Manuel recht hat«, sagte Else. »Er behauptet im Ernst, Herr Juch sei sein Impresario. Sie kämen nach Venezuela, um eine Schau zu machen.«

»Wo hätten sie denn die Sachen, die sie zeigen wollen?« fragte Berndts ungläubig.

»In einer Kabine da unten.«

»Und was ist das?«

»Nun doch er selber, Treuaugen-Wauwau, der Urenkel des Entdeckers«, lachte Else.

»Nein, hör, Else, seitdem Exzellenz sich in Dero Hoheschicht hineinbegeben haben, unterhalte ich mich oft mit Ambos allein. Und ich unterhalte mich sehr gut. Weil er nicht flunkert wie die andern und nichts spricht, was er nur vom Hörensagen kennt, oder was sich nicht in die Hand nehmen läßt. Was er mir sagt, unterrichtet mich. Er weiß, wie eine Tanne aufwächst, wie ein Wald die Beschaffenheit einer ganzen Landschaft ändern kann. Wie man Obstbäumen schlechte Naturanlagen wegerzieht und ihnen gute einzüchtet, ihre Charaktere ändert, sie also sozusagen in eine Parallele mit den Menschen bringen kann. Auch merkwürdige, fast geheimnisvolle Dinge weiß er. Hast du z. B. gewußt, und du interessierst dich doch für solche Sachen, daß Viehkrankheiten in einem bestimmten Stall, denen man nicht beikommt, oft auf den Einfluß geheimer unterirdischer Wasseradern unterm Stall zurückzuführen sind, gegen deren böse Kräfte man das Vieh durch mechanische Mittel, wie er das nennt, ›abschirmen‹ kann. Und ähnliche Dinge hat er eine Menge im Kopf. Ihr aber … weil er ungewandt ist, weil ihr euch aus seiner Schwerfälligkeit einen Festbraten machen könnt! Kinder, seid doch großmütig! Gerade du müßtest ihn ja verstehn! Na, Else?«

Else sagte leise: »Ich mag ihn doch.«

»So!« machte Berndts und sah sie von der Seite an, überrascht und prüfend.

»Weshalb schaust du so?« fragte Else.

»Und … der andere? Der Freund? Ich dachte du …«

Da sagte Else rasch und abweisend: »Pfui!«

Während der Gesandte durch das Besinnen auf seine Ausschließlichkeit von Berndts ferngehalten wurde, wurde Juch Engelbert von einer Gesellschaft junger Leute weggenommen, mit denen er bis in den Morgen in einer Kabine zechte, nachdem die Bar um Mitternacht geschlossen worden war. Manchmal brach Juch um drei oder vier Uhr in der Früh, wenn die Sitzung aus war, in Engelberts Kabine ein und feierte mit prahlendem Mund, welche neuen Beziehungen er angeknüpft, was für Berichte er bekommen habe, die ihnen von großer Bedeutung wären.

»Barriquicimeto«, sagte er lallend, »wo dieser Hohermuth war, pfeifindiebuchs! Längst erledigt! Maski! Es handelt sich um anderes …«

Es war in dieser Zeit, zwei Tage bevor die »Orinoko« La Guaira anlief, als Engelbert nach dem Abendessen, während die andern unten spielten oder tanzten, seiner Gewohnheit folgend, allein auf dem oberen Deck war, auf eines der Rettungsboote aufgestützt lag und in den Sternenhimmel hinaufschaute. Einer der Offiziere war eine kurze Zeit bei ihm gestanden.

»Wann wird das südliche Kreuz sichtbar?« fragte schließlich Engelbert, nachdem er lange sich vergeblich bemüht hatte, einen Gesprächsstoff zu finden.

»An dieser Stelle erst gegen Mitternacht!« sagte der Offizier. Dann legte er die Hand an die Mütze und ging.

»Wenn Herr Berndts nicht da wäre, bliebe ich immer allein«, sagte sich Engelbert und schaute wieder in die Einsamkeit hinauf, die auch droben um die Sterne stand. Er hielt den Kopf starr rückwärts gelegt. Er hatte einen Stern im Auge, der an Größe und vielfarbigem Glanz die andern überbot.

Eine Erinnerung klang in ihm, wie ein Ton in einem Versteck. Ein schwerer Schatten dunkelte auf. Engelbert ward traurig. Er fand den Weg zum Ausgangspunkt der Erinnerung nicht.

Da hörte er, daß ein Schritt hinter ihm ging. Es war wie ein wischendes Streifen. Er zuckte mit dem Kopf aus den Sternen hernieder, und sein Herz bekam einen Stich. Verprallendes Wasser überrauschte alles. Er horchte vergeblich nach hinten, wo die Laute der Schritte gewesen waren. Vielleicht hatte ihn sein Ohr getäuscht. Er wandte das Gesicht wieder dem hellen, großen Stern zu.

Da klang die Erinnerung wieder an, doch fern, und sie lief weit vor ihm her und wartete nicht, daß er sie erreichen sollte.

In demselben Augenblick hörte er nahe bei sich Fräulein Elses Stimme: »Es hat als sicher zu gelten, daß auf dem Canopus keine Landkonzessionen an Bewohner der Erde vergeben werden, für den Fall, daß Sie im Begriff sein sollten, sich da oben geeignetes Land auszusuchen.«

»Sie spottet über mich«, sagte sich Engelbert. Aber ihre Stimme war leise und nicht böse. Else schob sich vertraulich nahe neben ihn, die Arme über das segeltuchverdeckte Boot legend. Engelbert spürte eine Berührung ihres Kleides. Er sah das Licht einer entfernten Glühbirne ihr Haar golden flimmernd machen, das fast sein Gesicht berührte. Die Sterne schienen darauf, wie ein Atem aus Silber.

»Der alte Birnbaum …«, kam es auf in ihm. Nun hatte er die Erinnerung eingeholt.

Er senkte den Kopf aus den Sternen nieder. Eine bedeckte Traurigkeit war in seiner Stimme, als er, ohne sich zu rühren, sagte:

»An dem Abend im letzten Herbst, nach dem Begräbnis meiner Frau, hätte ich nicht weiterleben können, wenn nicht ein Stern über dem alten Birnbaum gestanden hätte. Er war besonders groß und hell, wie der da, und ich dachte mir aus, sie könnte jederzeit, wenn ich das in der Seele wollte, mit gebreiteten Armen aus dem Stern niederschweben. Dann würde ich sie noch sehen. Dann hätte ich sie noch. Ja … später habe ich auch mein Vermögen verloren.«

Er schwieg und wußte nicht, was ihn bewogen, dies dem fremden Mädchen zu sagen. Aber es war ein Gefühl milder Genugtuung in ihm, daß er es gesagt hatte, ein Gefühl, als habe er sich in einen abschirmenden Schutz begeben.

Dann hörte er sie antworten:

»Ich kenne den Tod auch. Meine Eltern sind gestorben, als ich achtzehn Jahre alt war. Ich lebe seitdem im Haus meines Onkels in Maracaibo, weil ich kein Vermögen habe.«

Mehr sprachen sie nicht. Sie lehnten noch eine Weile nebeneinander. Dann ging Engelbert. »Gute Nacht!« sagte er leise und mit einer Stimme, von der ihm selber war, als klänge sie hinter einem Wald. Das Meer stürzte um das Schiff. Die Sterne glimmten in einem silbernen Wabern durch die veilchenfarbige Raumlosigkeit. Die Masten langten schwerfällig hinauf. Wie irre Finger schrieben ihre Spitzen unerkenntliche Zeichen mitten zwischen die Bahnen der Sterne in die Ewigkeit.

»Wollen sie die Sterne beschwören? Wollen sie nach ihnen greifen, wie die Menschen?« fragte sich Else.

Am nächsten Abend, dem letzten vor La Guaira, war das feierliche Abschiedsessen, gefolgt von einem Ball.

Juch trug einen Frack. Sein Schnitt betonte übertrieben die Windhundähnlichkeit seiner Brust und Hüften.

Engelbert hatte keinen Frack. Er saß im Smoking bereits am Tisch, als Juch verspätet in den Speisesaal kam. Engelbert beobachtete, wie man Juch nachschaute und manche Gesichter in ein unfreiwilliges Lächeln kamen. Engelbert errötete und hatte eine Empfindung, daß er sich schämen müßte. Er blickte rundum, ob das sichtbar geworden sei. Da sah er, daß Fräulein Else ihn beobachtete. Betreten, wußte er nicht, was er mit seinen Händen machen sollte, und legte sie ausgebreitet auf den Teller. Er betrachtete sie einige Augenblicke unberührt, dann empfand er heftig, daß sie derb, roh und unpassend waren, zuckte mit ihnen unter das Tischtuch auf die Knie, und nun sah er, wie sich an ihrer Stelle gegenüber die blassen, fein gebildeten Hände Juchs mit einer tänzelnden Selbstverständlichkeit auf dem blütenweißen Damast zeigten.

Erst hatte Engelbert ein ungezügeltes, aber sofort wieder weichendes Gefühl, er müsse mit den Fußsohlen diese zierlichen Hände, die die seinigen vertrieben und ersetzt hatten, auf dem Damast breit und rot treten, daß sie den seinen ähnlich würden. Aber diese Empfindung kam ihm kaum zum Bewußtsein. Jetzt bewunderte er die Hände seines Freundes, und es gab nichts, was selbstverständlicher gewesen wäre, als daß diese Hände auch ihn führten.

Juch hatte vor dem Nachtessen lange mit Manuel und den andern Kumpanen an der Bar Cocktails ausgewürfelt. Seine blasse Gesichtshaut war mit roten Fädchen durchblutet, und er sprach üppig mit emsigem Mund und war wie befeuert von Einfällen. Ihr Tisch knatterte bald von den Lachgefechten und wurde zum Mittelpunkt des Festes. Man kam von den andern Tischen herüber und trank ihnen zu, ließ sich zwischen ihnen nieder.

Da erzählte Juch von den Mädchen aus dem Scheidegg.

Engelbert war zunächst über alle Maßen erschrocken und vollkommen fassungslos. Das erste, was er tat, war, zu Fräulein Else hinzuschauen, ob sie noch an dem entfernten Platz säße und seine Schmach und seinen Verrat nicht hören könnte. Dann begann er Juch zu hassen.

Es hob sich wie eine Welle von Wut und Galle in ihm hoch, und das Gefühl mündete in den Anlauf zu einer grimmigen Abwehr gegen diesen Mann, dem er sich so ganz in die Hand gegeben hatte. Engelbert war es, als schmölze mit einmal eine Haut von Juch ab. Ein Glanz ging dahin, der ihn, Engelbert, solange geblendet hatte. Er erkannte Juch vom Kopf bis zur Sohle, nackt und schmucklos. Juch hing abgezogen vor ihm, wie der traurige Balg eines magern Hasen. Der Teufel war ausgetrieben, der ihn zu den Mädchen in Scheidegg gelockt hatte, um ihn noch weicher zu machen, als er es durch das Unglück geworden war. Juch wollte nur das Geld haben, um ein Leben zu führen, wie er es sich wünschte. Etwas anderes suchte er nicht. Engelbert war ihm wurscht, die Reuttermühle war ihm wurscht. Nichts von der Großmut, dem Mitfühlen, das Engelbert bestochen hatte! Nur das Geld!

Engelbert hatte jetzt die Erkenntnis. Sie stand so klar vor ihm, als läge sie in einer dünnen, hellen, von allen Teilen durchleuchteten Glasröhre vor ihm auf dem Tisch.

Das empfand er wie einen Sturm, der sein Herz durchblies und sein Inneres von der Knechtschaft befreite, in die er geraten war. Es war ein Augenblick eines taumelnden Glücks.

Aber schon, wie Juch anfing, als er zum Schluß der Erzählung kam, diese umzumodeln, aus frecher und verräterischer Sensationslust sich herausbegab und die Mädchen aus Engelberts Heimat zu wundervollen Heldinnen, zu Amazonen des Charakters machte, und ihn, Engelbert selber, als einen wahrhaften Mann darstellte, als einen beglückenden Freund, mit dem man durch dick und dünn gehen könne, auf den man bauen könne als aus ein Fundament, das der liebe Gott selber aus Granit gemacht hat; ein Mensch sei Engelbert, ein Charakter, der nein und ja und nichts dazwischen sage – – da wandelte sich der Haß in Engelbert wieder zu der Sucht zärtlichen Verharrenkönnens in seiner Freundschaft zu Juch. Nun blindete das erkennende Gesicht allmählich wieder zurück.

Juch hob, als er die Erzählung beendet hatte, das Sektglas gegen Engelbert. Er kam mit dem Glas, wortlos und in einer Rührung, die niemandem entgehen konnte, zu Engelbert. Er schaute ihm dabei in die Augen mit Blicken, die vor Zärtlichkeit verschwammen. Da schüttete das Anklingen des Glases alles zu und läutete das Wunder der Freundschaft und Liebe wieder in Engelberts Seele wach.

Zwei Tage später in Curaçao, mußten die Reisenden das Schiff verlassen. Sie stiegen auf den Dampfer »Alemania« über, der einen Pendelverkehr zwischen Curaçao und Maracaibo versah.

»Übermorgen ist Heiligabend«, sagte Berndts zu Engelbert, als der Dampfer vor Maracaibo ankerte und man auf Arzt und Behörden wartete. »Sie machen uns doch das Vergnügen, ihn in meinem Haus zu verleben. Bringen Sie Ihren Freund mit!«

*

Juch hatte beim Oberstewart der »Alemania« ein Hotel erfragt. Es war ein kleines Gebäude, nach landesüblicher Art mit einem Hof nach innen, der als Eßraum diente. Die Zimmer lagen um eine Galerie.

Ein Deutscher führte es. Es ging auf einen schmalen, mit fremden Bäumen bestandenen Platz. Eine Palme reichte fast in Engelberts Zimmer hinein. Oft streichelte er die Blätter und bat sie, ihm in der fremden Natur freundlich gesinnt zu sein.

Er hatte Berndts Einladung an Juch gleich weitergegeben, noch als sie an Bord waren. Juch hatte nur den Ellbogen hochgehoben. Das bedeutete etwa: »an mich nicht heran!« Er sagte aber nichts dazu.

Am Vormittag meinte Engelbert nochmals die Sache mit der Einladung zum Abend erwähnen zu müssen. Da sagte ihm Juch:

»Hör gut zu. Ich kenne mich in diesen Gegenden und mit diesen Leuten aus. Der Moment, in dem wir stehn, ist der psychologische Moment, auf ihn kommt alles an. Wie wir da hinüberkommen! Denn er kann uns von vornherein die Flügel lahm machen. Es wäre jetzt das beste, wenn wir hier überhaupt niemanden zu sehen brauchten und gleich auf'n Dampfer und los könnten. Aber der verdammte Kasten fährt ja erst in acht Tagen.«

Engelbert bemerkte ein wenig ungeduldig: »Grade drum haben wir ja gut Zeit, heute abend zu Berndts zu gehn.«

»Mir die Sache verderben lassen. Nee! Dreimal nee! Kenn' ich!«

»Ja, wie?« fragte Engelbert, Beute einer großen Enttäuschung, eines Schreckens, den er noch nicht glaubte.

Juch sprach mit erregten Bewegungen. Er warf zornig die Hände unter seinen Worten auf, als wollte er sie dadurch Engelbert geradezu ins Hirn hineinschütteln: »Erkennst sie nicht? Sie ertragen keine neue Kraft. Fürchten jeden neuen Willen. Immer wollen sie einem vor dem Absprung Blei an die Füße binden! Miesmacher! Geh du! Ich geh nicht!«

»Aber was sollten sie denn damit bezwecken?« fragte Engelbert kleinlaut.

»Bezwecken? Etwas Handgreifliches. Kannst mir glauben! Sie sitzen wie Drachen vor der Höhle mit dem Schatz. Sie wollen alle Jungen und Neuen verscheuchen. Das hier ist alles ihre ersessene Gerechtsame. Das kannst du überall sehn in der Welt, bei diesen … der Engländer nennt das verächtlich: colonial people! Und der kennt sich aus. Sie bibbern vor Angst, daß der Hosenboden wie'n Paukenfell schwingt, sobald sie nur was Neues in der Nähe riechen. Sie verstecken sich vor jedem Frischen in 'n leeres Benzinfaß, damit sie nicht 'n Fußtritt trifft, und strecken nur die Schnauze heraus, mit der sie einen besabbern. So ist es. Und dahin geht Tom Juch nicht, heute abend nicht, und nie.«

Kleinmütig, verkrochen erregt in seinem Zimmer verborgen, brachte Engelbert den Tag und den Abend zu. Kaum wagte er einmal die Nase auf die Galerie hinauszustecken. Seine Sinne waren in die schleimige Hitze, die die Stadt durchbrodelte, wie in einen heißen Morast eingesunken. Und abends fand er die Kraft nicht, seinem eigenen Willen zu folgen und zu Berndts zu gehen.

Juch sah er an diesem Tag nicht mehr. Juch machte Bekanntschaften, und in den kommenden Tagen vervielfältigten sie sich wie unter der Hand eines Zauberers, der aus einem Würfel zwanzig erstehen läßt. Es waren Weiße und Eingeborene. Er reiste mit ihnen durch die Spelunken von Maracaibo, in denen die Arbeiter einkehrten, die aus den Ölcamps in die Stadt kamen, um ihre Bolivares auf den Schanktischen läuten zu lassen. Juch meinte, er holte sie aus, sie meinten, er sei ihre Beute. Denn Juch hatte immer das Maul voll: »Kaufen! Geld! Was kost's! Der Dollar rollt! Ein Dollar sind fünf Bolivares in einem Stück!« Er hatte Engelberts Geld in amerikanische Dollars eingewechselt. »Was kostet der Präsident Gomez? Was kostet die Kordillere? Was kostet Venezuela?«

Nun begann es bald, daß allerlei Gestalten ins Hotel kamen und nach dem Deutschen fragten. War Juch nicht da, wurden sie zu Engelbert gewiesen. Alle hatten sie etwas zu verkaufen:

Einen Gummiponcho, ein Zelt, Ledergamaschen, einen Feldstecher, eine Uhr, einen Photoapparat, ein Grammophon, ein Gewehr oder einen Revolver, Konserven. Einer meinte, sie müßten als gute Deutsche ein Faß Bier aus der deutschen Brauerei mit ins Innere nehmen. Einer glaubte ihnen mit Vermessungsinstrumenten zu dienen. Einer brachte einen Apparat, mit dem man, bei einem Eid auf alle Heiligen, zwischen dem Süd- und dem Nordende des Himmels feststellen könne, wo Petrol im Boden sei. Zwei deutsche Fechtbrüder wollten als Diener mit ins Innere genommen werden. Der eine hatte vom Fieber hohle und geschwärzte Augen, der andere trug ein Bein umwickelt, weil er an Furunkulose litt, aber sie waren kregel und kerngesund und stark genug, einen Absturz in die Hölle zu überdauern. Ein zusammenlegbares Boot wurde ihnen im Patio des Gasthofes vorgeführt. Ein Auto hupte sie heraus, auf den Platz, umraste ihn und sprang vor ihnen wie ein Zirkuspferd in den Bremsen hoch, als es wieder am Hoteleingang ankam.

»Wir reisen nicht zum Nürburgring«, sagte Juch den beiden, die den Wagen verkaufen wollten.

»Aber Sie können in der Kordillere überall fahren. Überall neue Straßen!«

»Wo wir hinziehn«, entgegnete Juch, »da hat noch kein Fuß den Weg eingetreten. Da kann man nicht mal 'ne Nähmaschine fahren.«

»Dann vielleicht ein Motorrad? Ein Freund von ihnen, der nach den Staaten auswanderte … Oder Fahrräder? Sie gingen doch nicht zu Fuß in diesen anstrengenden Gegenden, mit den steinigen Fußwegen, den kaum überwindbaren Höhen. Die Herren Europäer … also Pferde … sie beide wüßten Pferde … keine ausgehungerten Schindluder, keine Rosinanten, sondern gut genährte, mit strahlendem Fell, echte Cabalhero-Pferde, ausdauernd, stark.«

»Nee, danke!« sagte Juch. »Aber wenn sie grad einen Zeppelin an der Hand hätten, die Cabalheros …«

Einmal kam ein Mann mit einem dichten, blonden, von der Sonne ausgebeizten Bart, der in einem Strahlenkranz von Zotteln stand. Engelbert war allein im Hotel. Er sei, erzählte der Mann, ein deutscher Gärtner und habe sein Glück hier nicht gefunden. Ob der Herr Landsmann ihm nicht etwas Samen abkaufen wollte?

Er zeigte ein Bündelchen Samenpakete vor.

Engelbert befand sich auf einmal bei dem Anblick der farbigen, bedruckten Päckchen in einer starken Erregung.

»Wieviel?«

»Ja, das Päckchen kostet …«

»Aber nein, alles, was Sie da haben!« rief Engelbert ungeduldig.

Er nahm alles, packte es sorgfältig ein und verbarg es in einem der Koffer. Er hatte auf einmal an Rosinas Garten gedacht. Er hatte das Päckchen gekauft, wie man ein Skapulier kauft: der Geist ist darin und wird bei einem sein.

*

Engelbert sah niemanden von Berndts Familie wieder. Juch hatte ihn nicht überzeugt, aber er glaubte ihm die Treue halten zu müssen. Es sei ein Gebot der Kameradschaftlichkeit und der Zusammengehörigkeit, daß er die Wege mied, die Juch sich weigerte zu gehen. Einmal glaubte Engelbert, Fräulein Else in einem Auto zu erkennen. Er zuckte voll Schrecken zurück, trat rasch in eine Nebenstraße und ging hastig auf einem Umweg in den Gasthof. Gewiß hatte sie ihn nicht erkannt. Das Auto war rasch gefahren.

Am Freitag um ein Uhr sollte das Schiff abfahren, das sie über den Maracaibosee nach dem am südöstlichen Ende gelegenen kleinen Hafen La Ceiba zu bringen hatte. Juch war in der Früh allein fortgegangen. Um zehn Uhr kam ein Indio ins Hotel mit einem Zettel für Engelbert. Es stand darauf:

»Erledige das Hotel. Erwarte dich auf dem Dampfer. Mein Gepäck ist schon bereit.«

Um zwölf Uhr entstand auf dem Kai, an dem der Dampfer angelegt hatte, ein Auflauf. Zwischen den Wällen von Waren, die in Kisten, Fässern, Körben, Säcken dort gewohnheitsmäßig durch Wochen sich zusammenstapelten, weil die Hafenleitung nicht Meister über sie wurde, erschien eine kleine Kavalkade, voran auf einem weißen Hengst Juch. Er hatte einen breitkrempigen, hellgrauen Gauchohut auf. Um die Khakijacke trug er ein helles Ledergehäng geschnallt. Am Handgelenk hing eine Reitpeitsche.

Hinter ihm, von Indios geführt, kamen drei weitere Pferde, von denen das eine gesattelt, die andern hoch bepackt waren. Was sie trugen, war nicht zu erkennen, da alles aufs sorgfältigste in Sackleinen eingenäht war. Die Indios brachten die Pferde an Bord. Juch wollte den Steg hinaufreiten, aber ein Polizist von brauner Hautfarbe hinderte ihn daran.

»Senhor«, sagte ihm Juch auf spanisch, »darf es denn heute keine Cabalheros mehr geben?«

»In Ordnung, Senhor!« antwortete der Polizist schwungvoll und mit Genugtuung, da er den weißen Herrn absteigen und den Befehl ausführen sah. Bei diesen Weißen konnte man sich nämlich nie ganz sicher drüber sein, wann etwas Besoffenheit oder wann es Willen war. Der Polizist hatte seine Erfahrungen.

Der Einzug Juchs auf das Schiff hatte die beiden Deutschen zum Mittelpunkt der Gesellschaft gemacht, die mitreiste und die aus Einheimischen aller Schichten und Farben bestand. Sie wurden oft angesprochen und nach ihrem Reisezweck und Ziel gefragt. Juch, dauernd ein wenig unter Schnaps, gab großschnauzigen Bescheid: »'n Eroberungszug gegen den Orinoko! Wollen die Ameisen dort verstaatlichen und mit Uniformen versehen.«

Die Leute hielten ihn jetzt für einen närrischen Gelehrten, der in der Kordillere Insekten fangen ging. Ein auf Urlaub in die Berge heimreisender Polizist, ein Indio, meinte, es sei etwas anderes hinter dieser Rede, und in dem ängstlich abgeschlossenen Gepäck lägen gewiß verborgene Waffen. Aber da er keinen Dienst hatte, brauchte er sich auch nicht um die Sicherheit des Staates zu bemühen und trank die Kognaks, die der Deutsche ihm auftischte und die er als Schweigegeld ansah, voller Genugtuung darüber, daß seine Bedeutung auf diese angenehme Weise von den Fremden anerkannt wurde.

An Bord war nur noch ein Deutscher. Dieser gab sich nicht zu erkennen und hielt sich abseits.

Die Pferde waren unten verstaut. Juch ging oft zu ihnen und sprach mit ihnen wie mit Kindern. Überlegen dalberte er mit ihnen, gutmütig scherzte er mit ihnen. Er blies ihnen in die Nüstern und klopfte auf ihr Gesäß wie einem Mädchen in einer seiner Lieblingsschenken. Die Pferde sahen ihn mit starren Augen von der Seite an, abmessend und nicht ganz im klaren. Er roch anders wie die Menschen, von denen sie bisher ihre Prügel, ihre Fußtritte und ihr Heu bezogen hatten. Aber ob er besser roch?

Das Gepäck war unter den Augen Juchs in die Kabine verstaut worden. Engelbert wußte nicht, was alles in den Bündeln und Packen war, und fragte auch nicht danach. Juch hatte nur gesagt: »Bitte, streng auf das Gepäck aufpassen! Niemanden zulassen! Ist sehr wichtig!«

Nachts, schlaflos, sah Engelbert nach Osten die Flammen brennender Petrolquellen einsam den Himmel und das Wasser anglühen. Im Westen leuchtete der Schnee auf den Spitzen der Sierra Nevada unter dem Schimmer der Sterne. Und Feuer und Schnee verharrten in einer gespenstischen Starre. Eine feuchtblaue Hitze quoll durch das Schiff, und in ihr fluteten die Gerüche in gewärmten Schwaden, süß, stinkend und feindselig. Geräusche flatterten hindurch. Man wußte nicht, woher sie kamen, rote sie gemacht wurden, Kinderplärren und Frauenkeifen oder Männersingen; Grammophone spielten ununterbrochen, und aus ihrem kratzigen Kreischen sprangen die Melodien der Lieder und Tänze des Volkes in die schweißige Luft und den schlüpfrigen Gestank der schweifenden Gerüche.

Als die beiden gegen Mittag in La Ceiba mit Pferden und Gepäck das Schiff verließen, machte die Menge der Mitreisenden ein Volksfest aus dem Auszug. Juch überschwebte den Rummel als ein König, der auf einem weißen Karussellhengst inmitten klirrender Fanfaren in sein Land einreitet.

Von La Ceiba aus, einem kleinen, fiebersumpfigen Küstenplatz, wurde die Straße ausgebaut. Sie sollte eine Verbindung des Maracaibosees mit der großen neuen Andenstraße schaffen, die der Präsident Gomez seit ein paar Jahren von Carracas bis an die kolumbianische Grenze bauen ließ.

Juch und Engelbert kamen gegen Abend an die Stelle, bis wohin der Straßenbau gediehen war. Die Arbeiter hatten ihr Werkzeug schon beiseitegelegt. Ein langer, magerer Mann unter einem radgroßen Gauchohut stand mitten in der Straße und winkte mit weit ausgebreiteten Armen den beiden Reitern zu, indem er laut auf spanisch rief: »Cabalheros! Eine gute Reise!«

Juch hielt an und grüßte auf spanisch zurück. Engelbert sah die Augen des magern Mannes, die von einem ausgelaugten Blau waren, auf sich gerichtet, dann sagte der Mann: » American gentlemen?«

»Nein, Deutsche!«

Landsleut!« rief der Magere plötzlich mit großer Lebhaftigkeit und begann mit wilder Grandezza seinen großen Hut zu schwenken. Ein kleiner eisgrauer Kopf kam darunter zum Vorschein. Gleich erzählte er, er sei hier Ingenieur am Straßenbau und schon dreißig Jahre im Land. Sie hätten es gut getroffen, daß sie auf ihn gestoßen wären.

Er ist betrunken, sagte sich Engelbert. Wird er uns lange anhalten?

Juch war aber sofort abgesprungen und feierte die Begegnung aufs überschwenglichste. Es endete damit, daß beschlossen wurde, die Nacht im Haus des Ingenieurs zu verbringen, das sich in dem nah gelegenen Ort befand, durch den sie vorhin geritten waren.

»Ich bin der Ingenieur Lust!« sagte der Mann, als sie zu Fuß neben den Pferden mit ihm und einem Trupp Arbeiter die Meile zurückgingen. Das Dorf bestand aus zwei Reihen gleich aussehender Lehmhütten. Die Schilfdächer lagen tief über die Lehmwände gestülpt. Sie hatten keine Fenster, nur jeweils eine Tür, die in der oberen Hälfte sich selbständig öffnen ließ, und als Lust die beiden zu einer solchen Hütte führte und Juch die Tür aufziehen wollte, blieb sie ihm in der Hand hängen und stürzte aus den Angeln.

Lust ließ die Tür liegen, wohin sie fiel, und lachte, als sei Juch ein guter Scherz gelungen, und in demselben Augenblick huschte aus dem dunklen Innern eine Indianerin zwischen ihnen durch und verschwand ums Haus herum.

»Mei Alte!« sagte Lust und machte mit der Hand eine Bewegung, die die beiden Gäste über die völlige Bedeutungslosigkeit des entwichenen Wesens versicherte.

Es war doch eine Indianerin, sagte sich Engelbert betreten, und in welch verrottetem Zustand war sie mit dem unordentlich hängenden Haar und dem verschmutzten und zerfetzten Kleid. Als die Frau eines deutschen Ingenieurs …?

»Sie ist eine Hiesige!« fuhr Lust fort. »Man soll es nicht tun. Man tut's doch.«

Engelbert wunderte sich, daß die verluderte Erscheinung dieses Wesens als Frau ihres Gastgebers scheinbar keinen Eindruck auf Juch gemacht hatte. Ebensowenig, wie es die Armseligkeit und der Verfall der Hütte taten. Das muß also doch so sein, und es wird wohl oft vorkommen, sagte er sich. Denn Juch kennt sich ja überall in der Welt aus.

So trat Engelbert etwas sicherer in den großen Raum, der das Innere der Hütte bildete. Er merkte, der Raum hatte keinen Fußboden. Worauf er trat, war nackte Erde.

»Honoria, bring die Ölfunzel! Und mach das Essen für die Cabalheros mit! Und den Run!«

Arbeiter, die mitgekommen waren, entsattelten die Pferde, luden die Tragtiere ab, und es wurde alles in einer Ecke des Raumes auf einen Haufen gelegt. Eine Schar Hühner entwich, als die Männer in den finstern Winkel eindrangen.

Lust stürzte zwischen ihnen durch hinaus und fing draußen an zu schrein: »Wird's mit der Ölfunzel, du alte Karussellsau?! Muß ich selber? Und marsch ans Feuer! Her!«

Dann kam er mit einem auf einem Ölbehälter brennenden Docht zurück und hängte die Lampe an einen Stecken, der in die Wand gestoßen worden war. Nun sah man einigermaßen. Wenigstens der Umkreis um die Funzel war erhellt.

Engelbert entdeckte, während das Licht auf und ab blakte, ein Holzgestell, in dem offenes Stroh lag.

Wie fremd, wie unheimlich, wie verlassen und verloren war diese Umgebung! Ja, der Ingenieur war betrunken. Wenn man es ihm auch nicht gleich ansah. Nun krakeelte er wieder. Er riß ein Brett beiseite, das an einer Wand hing, und steckte den Kopf in ein Loch in der Wand, das durch das Brett verschlossen gewesen war.

»Jesus und alle Heiligen, Ochs, Esel, Knecht und Magd, du Kochtopf! Das sind Herren, das sind Grafen aus meiner Heimat! Ich brech dir alle Knochen, solltest du es wagen, den Herzögen aus meiner Heimat diesen Schmand auftischen zu wollen, den du da kochst. Holst sofort von den amerikanischen Konserven!«

Engelbert sah hinter dem in der Mauer steckenden Kopf einen kleinen Raum, in dem zwischen Steinen ein offenes Feuer brannte. Die Indianerin hockte in der Finsternis und rührte in einem Eisenkessel. Ihr hochhackiges, von schwarzen Haaren umhängtes Gesicht war vom Widerschein des Feuers angeglüht. Es hatte eine Farbe von gerötetem Kupfer.

Lust wandte sich zurück, das Brett fiel wieder in die Öffnung. Auf deutsch sagte er und schnalzte mit den Fingern der Linken, während er aus einer großen Flasche drei Gläser füllte:

»Ich bin der Ingenieur Lust. Überall im Land bekannt wie ein außer Kurs gesetzter Bolivar. Aber wenn Landsleute kommen, Hurra! Seid gesegnet! Ein Willkommenstrunk! Euer Eingang in meine Hütte sei mit Feuerwasser getauft!«

Schlupp, hatte er sein Glas herunter. Es waren kleine Wassergläser. Engelbert verbrannte der Schnaps roh die Kehle, und er mußte husten. Der Raum stank jetzt von dem Branntwein und schwitzte vor feuchter Hitze. »Starker Tobak!« rief Lust und klopfte ihm auf den Rücken. »Landesüblich! Dran gewöhnen! Run, Zuckerrohrschnaps. Das tägliche Brot für den Glückssucher, der das Glück nicht findet in Südamerika.« Schlupp, hatte er ein neues Glas in die Kehle gekippt. »Was meint ihr, Landsleute, wenn's keinen Run gäbe! Deubel und zugenäht, nicht auszudenken!«

Juch schlug ihm zustimmend auf die Schulter.

»Das ist der rechte Mann«, sagte er zu Engelbert. »Nicht diese Herren Berndts und Konsorten. Das ist der rechte Mann in unserem Land!«

»Dieser Ingenieur Lust«, nahm der Graukopf lärmend wieder auf, »jawoll, dieser Ingenieur Lust, der gar kein Ingenieur ist, sondern a so a luschtigs altes Huhn!«

Nun empfand Engelbert einen plötzlichen weichen Druck auf dem Herzen. Vor diesen Lauten, vertraut, Erinnerungen aufreißend, Bilder zaubernd, schlug es ihm ins Gemüt wie unter einem Glockenschwengel.

»Sie sind ja vom Bodensee!« rief er.

»Freilich! Von Dorrebirre!«

»Ah!« machte Engelbert. Er war gerührt. Es wühlte ihm das Gemüt auf, in dieser Unordnung, Fremdheit, Weltferne einen Mann zu haben, der die Heimat mit ihm teilte.

»Wann waren Sie denn zuletzt zu Haus?« fragte er.

Da sah er, wie der andere geringschätzig das Gesicht verkniff und wurstig lachte. »Pöh!« machte er, »vor dreißig Jahren, wie schon gesagt.«

»So lang her! Gehn Sie denn nie heim?«

»Ach, wenn einer aus Dornbirn auszieht, um das Glück zu suchen und findet es nicht, der zeigt sich nicht so gern wieder in Dornbirn«, sagte er mit leichtfertigem Spott. »Honoria« brüllte er dann plötzlich voll Jähzorn und klopfte mit dem Glas an das Brett vor dem Loch in der Wand. »Polster dir den Olez, wenn das Essen nicht gleich kommt!«

Engelbert sah Juch inzwischen an dem in der düstern Ecke übereinandergeworfenen Haufen des Gepäcks beschäftigt, und das endete damit, daß er aus einem Überzug zwei Scherenbetten hervorzog, die er aufklappte und mit einem Segeltuch überspannte. Dann legte er die schon in Europa gekauften Schlafsäcke darauf.

Juch schob die Betten nebeneinander an die Wand, trat dann drei Schritte zurück und bot sie sozusagen dar mit einer Handbewegung, die voll Genugtuung sagte: Da sind wir! Mein Werk! Er hatte sie am letzten Vormittag in Maracaibo gekauft. Jetzt rief ein Stimmchen draußen an der Tür auf der Straße, wo es inzwischen ganz Nacht geworden war. Lust schrie hinaus: »Komm!«

Ein neun- oder zehnjähriges Mädchen durchtrat die Schar der Männer, die in der Tür immer zahlreicher geworden und jetzt auch mit Frauen und Kindern untermischt war, und trug einen Teller auf der flachen Hand. Es hatte ein paar Fetzen über der Schulter hängen und ging barfuß. Es hatte hohe Backenknochen und die feurig unterglänzten schrägen Augen der Indianer, aber ihre Haut war kaneelfarben, und fast von derselben Farbe erschien auch ihr Haar in dem weichen, qualmigen Licht.

»Sein Kind!« sagte Engelbert. Juch beachtete die Kleine nicht, die vollkommen lautlos den Teller zum Tisch brachte und wieder verschwand, ja verwehte. Engelbert sah ihr zu, wie sie mit der zarten Anmut und ängstlichen Neugier eines Rehs ihr Werk verrichtete. Sie kam dreimal, jedesmal mit einem Teller, auf dem Fleisch dampfte. Engelbert wollte dem Vater etwas über das Kind sagen, fragte: »Ist das Ihr Kind?«

»Möglich!« antwortete Lust gleichgültig und wegwerfend und hob mit der Gabel Essen aus dem Teller. »An die Waffen, Gentlemen!« sagte er dann.

Nun aßen sie stumm, hastig und schlingend, wie sie es bei Lust sahen. Dann begannen Juch, der nun auch den Schnaps spürte und aus dem Gepäck eine Flasche Kognak ausgebuddelt hatte, und der Ingenieur sich gegenseitig Streiche und Abenteuer zu erzählen, mit denen sie sich durch die Welt geschlagen hatten. Lust hatte die Gamaschen und Schuhe ausgezogen. Er trug Strümpfe, von deren Füßen nur noch Fetzen bestanden, und diese Füße streckte er ohne Bedenken über eine Kiste aus. Hier und da brüllte er aus einer Erzählung heraus, über die er grölend lachte: »Honoria, ehrenwerte alte Dame, was ist endlich mit meinem …«

Aber er schien mitten in dem Gebrüll vergessen zu haben, was er hatte sagen wollen, schlug mit der Faust auf den verkrusteten Tisch und johlte:

»Noch so einen Schatzsucher! Noch so ein französisches Runchen! So ein Konjäckchen!« Und schlupp, war das ganze Glas herunter. Um seine Notdurft zu verrichten, ging er bis in die Tür, blieb zwischen den neugierigen und über die Fremden flüsternden Männern, Kindern und Frauen stehen, und ohne mit Reden aufzuhören, machte er auf die Straße. Der Schnaps ließ ihn währenddessen in den Knien ununterbrochen einknicken. Er wollte sich an der Tür halten. Sie war aber unter Juchs Griff aus den Angeln gebrochen und lag nach außen am Boden. Juch klopfte sich auf die Knie, zeigte begeistert mit einer Hand, die durch das bald sich blähende, bald zurückschwingende Öllicht weite unsichere Schwankungen beschrieb, auf Lust in der Tür und schrie Engelbert ins Gesicht: » Thats a man! Look at him!«

»Honoria, alte dreckige Hure, wenn du nicht bald …«, schrie Lust und brach ab, kam zurück, und als sie jetzt fortfuhren, mit ihren lärmenden Worten sich zu erzählen, war es Engelbert, als hörte er eine Grammophonplatte, in der ein Schaden die Nadel nicht aus der einen Rille herausließ und sich mit stundenlanger kreisender Hartnäckigkeit dieselbe kurze Tonfolge immer wiederholte.

Es stank von Schnaps, von Ölqualm und von der Hitze. Der Gestank stand steif in dem Raum.

Mein Gott, sagte sich Engelbert, ist das die fremde Welt? Gibt man eine Heimat auf, um das einzutauschen? Ist es denn noch eine Wirklichkeit, in der ich hier bestehe, zu der ich hierhin gekommen bin? Geht diese Reise nicht schon jetzt auf einer Straße in der Luft?

Er sah keinen Weg und kein Licht mehr über sich. Er vermochte die Gegenwart der beiden und ihre hemmungslosen Stimmen, den Plunder der Hütte, den Geruch nicht mehr zu ertragen und ging rasch hinaus. Sie merkten es nicht, daß er fort war. Er lehnte sich draußen mit der Stirn verzweifelt an die Wand. Sie bröckelte unter seiner Haut. Er ist verzagt bis auf den Grund seiner Adern, er ist dem Weinen nahe. Er hat seine Heimat verloren. Kein Krüstchen Erde ist mehr sein, die er in der Hand vermahlen kann, um sich an ihrer Fruchtbarkeit zu freuen. Kein Dach ist sein über dem Kopf! Ja, die Heimat verloren und nicht einmal mehr einen väterlichen Schweinetrog wie der verlorene Sohn in der Bibel besitzen!

Durch Ritzen in der Lehmmauer sickert das schäbige Licht der Ölfunzel. »Das dritte ist, daß ich fahre und weiß nicht wohin!« steht auf dem Steinkreuz … drüben. Drüben? Wo ist das? Er steht gnadenlos und preisgegeben an der Wand der Hütte. Laßt alle Hoffnung!

Drinnen wurden die Erzählenden immer lärmender. Von Weile zu Weile durchbrüllte die Stimme des Ingenieurs den Wirrwarr, den sie machten: »Honoria, du verfluchtes Weibsstück, wenn du nicht bald …«

Engelbert denkt sich aus, wie es sein Gemüt befriedige, könne er nur sanft seine Hand auf die Schulter des alten, schmutzigen, beschimpften Indianerweibes legen und an dieser Schulter spüren, daß außer ihm noch ein Mensch in dieser Fremde sei.

*

Sie reisten am nächsten Tag weiter. Juch und Lust, die jetzt du zueinander sagten, nahmen mit großen und umständlichen Anstalten Abschied voneinander. Die körperliche Anstrengung des Reitens, das wechselnd Neue des fremden Landes, das Bild der Landschaft, die zunächst noch flach war, in der Ferne aber sich in die Kordillere hinaufzubauen begann, brachten Engelbert neue Spannung. Von der Verzweiflung der Nacht war ihm nur eine Traurigkeit zurückgeblieben, die wie eine vernarbende Wunde in ihm verharrte.

» Thats a man!« sagte in den ersten Stunden, nachdem sie von Lust geschieden waren, Juch öfter laut vor sich hin.

»Denke dir«, rief er einmal zu Engelbert hinüber, »er hat mir gesagt …« Aber er unterbrach sich: »Der Kopf wackelt mir wie der Steiß von deinem Pferd! Sag mal, was hab' ich ihm eigentlich in der Nacht erzählt? Ich meine, von unseren Plänen? Mir kommt jetzt vor, als ob ich die Schnauze ein wenig zu locker hatte. Der verfluchte Schnaps. Also was hab' ich …«

»Ich hab' nichts gehört!« antwortete Engelbert. »Ihr habt euch Abenteuer und Streiche erzählt.«

»Na, dann wär's ja gut. Ja, was ich sagen wollte, denk dir, er hat mir erzählt … ich hab' ihm nämlich berichtet, daß du von dem Hohermuth abstammst, der Statthalter der Welser in Venezuela war, und da erzählte er mir, in der Kordillere gäbe es 'n Tal, in dem die Leute sich heute noch Welser nennen. Er sei selber dagewesen und habe es mit eigenen Ohren gehört. Und da ist es, wo wir hingehn! Da muß es sein! Himmelherrgott, ich hab' 'n Schädel wie 'ne schlecht gepackte Konservenkiste auf'm Rücken von 'nem Maulesel. Aber zu diesen Welsern da müssen wir hin!«

»Er war betrunken!« bemerkte Engelbert.

»Betrunken? Was heißt das?« rief Juch aufbrausend. »Natürlich war er betrunken. Aber das entwertet doch seine Mitteilung nicht. Das ist doch kein Maßstab für die Werteinschätzung eines Mannes. Du mußt dir das abgewöhnen. Sich hier betrinken oder zwischen Lindau und Mariathann, das ist 'n Unterschied wie zwischen Sekt und Most. Dann brauchst mir ja auch nicht mehr zu glauben. Ich war ja auch besoffen. Das nennt man die Weite und die Freiheit in diesen Ländern!«

»Ja«, sagte Engelbert nur und glaubte es auch.

Als sie an ein Städtchen kamen, standen vor dem Eingang eines Lokals zwei Soldaten. Die Reisenden wurden angehalten und nach Namen und Ziel gefragt.

»Was? Namen?« sagte Juch den Soldaten von oben herab. »Schreib General Chutsch aus Deutschland mit Adjutant!« fügte er selber hinzu, salutierte großartig und herablassend, und die Soldaten schauten ihnen staunend, verblüfft und untätig nach.

Sie ritten über einen schmalen Pfad weiter, übernachteten in einer Hütte zwischen der Familie eines dunkelhäutigen Mischlings, der die Lippen und die gekringelten Haare eines Negers und die Gesichtszüge eines Indianers hatte und mit dem Juch sich endlos unterhielt, zum Schluß noch von Bett zu Bett, als könnten die beiden Münder, die blattdünnen Lippen des Weißen und die wulstigen des Farbigen, sich nicht voneinander trennen.

Langsam nahm die Kordillere sie dann auf, als sie tags drauf weiterritten. Juch, der gestern noch mit einer gewissen Gemessenheit, ja mit Würde geritten war, begann heute zu hetzen, »'n bißchen mehr Tempo!« rief er zu Engelbert zurück, der der schwerere und ungeübtere Reiter war und das leichtere Pferd hatte. Engelbert strengte sich an. Aber er hatte keine Sporen, und das Pferd folgte seinem Willen nur stets auf die kurzen Augenblicke, da es unmittelbar die Peitsche fühlte.

Diese Pferde waren zudem nicht aufs Galoppieren zugeritten, und Engelbert hatte eine zartere Hand als Juch. »Draufklatschen, Donnerwetter!« schrie der ihm zu, so oft er ihn zurückbleiben sah. Eine Stunde lang ging es gut. Engelbert folgte Juchs Schimmel. Aber dann begannen die Tragpferde Schwierigkeiten zu machen. Ein Strauch lockte sie vom Reitpfad ab. Juch mußte zurück und hieb mit dem dicken Lederriemen seiner Peitsche rasend auf sie ein. Dann schossen sie wie wilde Hummeln davon und nicht immer in die Richtung, die Juch haben wollte. In dieser Zeit konnte sich Engelbert stets etwas erholen, während Juch sich vor Wut zu verzehren drohte.

Schließlich band er die Tragpferde zusammen und ließ sie vor sich herlaufen. Engelbert fühlte sich, als sie eine Reitpause zum Mittagessen gemacht hatten, völlig zerschlagen. Seine Knie waren wie Brei. Die Hüften schienen voll Nadeln zu stecken. Am Hals hatte er einen fiebrigen Sonnenbrand, weil er wegen der Hitze das Hemd offen gelassen hatte. Das Weiterreiten ward zu einer Marter, und er erzwang sich die Kraft dazu nur aus dem Willen, Juch kein Hindernis zu sein.

Juch fragte nie nach dem Weg. Er tat, als habe er in dieser Gegend überall schon als Knabe gespielt. Wenn sie umritten, so dauerte es lang, bis sie wieder auf dem richtigen Weg waren, da sie selten jemandem begegneten. Wenn sich herausstellte, daß sie wieder zurück mußten, wußte Juch das immer Engelbert aufs Schuldkonto zu setzen, als ob dessen Ungeschicklichkeit, mangelhafte Reitkunst und Schwerfälligkeit den Irrtum verschuldet hätten.

Die Vorwürfe kleidete Juch stets in die Form eines nachsichtigen Spottes und einer verhöhnenden Duldsamkeit mit Engelberts fehlender Eignung. Die mangelnde Großzügigkeit verletzte Engelbert wohl, aber schließlich glaubte er selber, daß er einen Teil der Schuld trage. Von den Anstrengungen, der Hitze und der Sonne waren seine Sinne auch zu benommen, als daß er hätte Widerstand leisten können. Er mußte alles, was sein Geist ihm an Durchsetzungskraft ließ, in das Bestreben seines Körpers geben, auszuhalten.

Unterwegs im Gebirge kamen jetzt manchmal kleine Kaffeepflanzungen. Schon in den ersten Tagen hatte Engelbert manche Dinge gesehen, bei denen er gern etwas verweilt wäre, Maispflanzungen oder Tabakäcker oder Büsche von Bananen. Er hätte sich das sehr gern näher angeschaut. Aber Juchs Ungeduld saß wie eine immer gezückte Peitsche hinter ihm. Sie hatten die Autostraße erreicht, die von Carracas durch die Kordillere bis an die kolumbianische Grenze gebaut worden war. Jetzt hatten sie nicht mehr mit den versumpften oder versandeten Stellen eines schmalen Reitweges zu kämpfen. Aber nun auf dem ebenen Boden ging es für Engelbert erst recht anstrengend zu, da Juch immer gewaltsam zum Traben anfeuerte.

Einmal hielt er sein Pferd mit einem Ruck an.

»Wart ein bißchen hier!« sagte er und lenkte den Schimmel in ein enges Tälchen hinauf, das sich von der Straße hier abzweigte. Engelbert schaute zu, wie er das Pferd wild den steilen Pfad hinauftrieb, dann oben seitwärts verschwand. Engelberts Uhr stand. Nach der Sonne war es spät am Nachmittag.

Juch kam lange nicht. Das war Engelbert recht. Sie waren seit früh fünf Uhr unterwegs, und er legte sich hin und döste bald ein. Einmal wachte er jäh auf. Ein Pferd hatte wie in einem wilden Schrecken gewiehert. Als er die Augen öffnete, sah er, daß es davongaloppierte. Und wie er dann aufstand, gewahrte er eine Schlange, die über die Straße aalte und jenseits verschwand. Sie war dick und kurz, und nach der Richtung, in der sie verschwand, mußte sie nah bei ihm vom Berg auf die Straße gekommen sein.

Ein ätzendes, lang anhaltendes Gefühl der Unsicherheit blieb in ihm. Es war, als seien seine Nerven von einer giftigen Lauge verbrannt. Er schlug jetzt oft mit der Reitpeitsche auf den Boden um sich. Schlangen hatten Scheu vor Lärm.

Wo blieb Juch denn?

Es wurde dunkel. Engelbert suchte die Pferde zusammen und band sie aneinander. Dann legte er sich wieder hin. Juch mußte jetzt doch jeden Augenblick kommen. Sonst hatte er es so eilig mit dem Weiterreiten. Engelbert lehnte mit dem Rücken gegen einen großen Stein und schaute unentwegt gegen die Höhe, auf der Juch mit dem Pferd verschwunden war. Aber man konnte höchstens noch auf Steinweite erkennen, ob jemand kam. Er versuchte sich Juchs Benehmen zu deuten, aber die Müdigkeit übermannte ihn stoßweise, nahm ihn in Schlaf und stieß ihn aus dem Schlaf wieder heraus; Juch blieb bedenklich lange aus.

Da sah er einmal, es war nun ganz finster, ein paar Schritte von sich entfernt, Augen, die zu ihm herzublicken schienen. In einem heftigen Erschrecken stieß er einen Laut aus. Da verschwanden die Augen, und er hörte, daß jemand in der Nacht fast lautlos davonging.

Daran hielt sich Engelbert lange und gewaltsam wach. Er rauchte. Dann aß er etwas. Und wartete. »So eine Rücksichtslosigkeit!« schalt er. »Wo ist er denn hin? Ist so etwas möglich?« Die Nacht lag mit einer brausenden Schwere auf seiner Stirn. Und mit einemmal, ohne jeden Übergang, empfand er es als eine Wonne, daß er allein war. Mit einer stürmischen Hingabe kostete er dieses Empfinden. Das Alleinsein und die Natur in der großen, hohen Nacht, die ihn umkreiste und umklang, wurden zu einem und demselben Ereignis seines Gemütes.

Da hatte er das erstemal, seit er die Heimat verlassen hatte, das Bewußtsein einer seligen Vertrautheit mit der Gegenwart.

Er erwachte von einem Hieb. Etwas hatte auf ihn eingeschlagen. Ihm schien, es habe seine Gamaschen getroffen. Er riß die Augen auf. Im hellen Tageslicht stand Juch vor ihm.

»Los, machen wir weiter!« rief er.

Als Engelbert sich erhoben hatte, fragte er: »Wo warst du?« Seine Glieder waren wie verbogen und steif. Er dehnte sie.

Aber Juch wies nur mit dem Stiel der Reitpeitsche in die Höhe und sagte kurz: »Gehört auch dazu!«

Zugleich hob er sich in den Sattel.

Abends waren sie in einem alten spanischen Kolonialstädchen, das Valera hieß. Hier gab es ein richtiges Hotel, in dem sie essen und schlafen konnten. Das Hotel hatte einen deutschen Namen. Es hieß Hotel Hack. Aber der Ursprung war bei dem Besitzer in Vergessenheit geraten. »Wahrscheinlich auch von den Welsern«, sagte Juch, als sie den Fall besprachen.

Nach dem Essen saßen sie im Patio, rauchten und tranken schwarzen Kaffee. »Valera ist auf seiner Zeichnung«, bemerkte Juch aus seinem Notizbuch heraus. »Und von hier müssen wir weiter diese Straße entlang, bis San Rafael und Muccuchis, und dann von der Straße nach Südost ab, ins Gebirg hinauf, erst auf dem Reitpfad nach Petroza, aber vor Petroza, einen Tag nach Muccuchis, nach Südwesten in ein Tal, und dann sieht man einen abgeplatteten Berg zwischen den Anden, ein Plateau, und da ist es. Auf das Plateau hinauf! Da ist es. Werden wir finden! 'n Mann, wie er das alles so klar dahingezeichnet hat!«

Juch steckte das Buch wieder in die Tasche, stand auf und sprach einen Fremden an, der in seinem Sessel saß. Er sprach so mit ihm, als sei er seit langer Zeit mit ihm innig bekannt. Nachdem sie eine Weile zusammen geredet hatten, schlug Juch lässig mit dem Finger zum Abschied an die Stirn, wandte sich weg und kam wieder zu Engelbert zurück.

Aber er war auf einmal unruhig, ja erregt. Er rauchte eine Zigarette um die andere, warf sie halb geraucht weg, stand auf, setzte sich wieder hin. Dann verschwand er. Als er nicht wiederkam, ging Engelbert schlafen.

Sie ritten nun Tag für Tag von früh bis spät, und so oft es abends zum Zubettgehn kam, überfiel Juch die Unrast. Ohne Worte ging er und blieb fort.

»Was tut er jetzt? Wo ist er? Weshalb?« fragte sich Engelbert.

Die Ortschaften waren meist unansehnliche Ansammlungen von Hütten. Das Land war unbebaut und unwegsam. Unsicherheit verbreitete sich in Engelbert, und bald ging Juchs Unrast auch auf ihn selber über, sobald die Stunde kam. Er lag lange schlaflos in den Räumen, die wohl ein Dach, aber keine Fenster und selten Türen hatten. Tiere schrien draußen in der Nacht. Der Wind ging, oder die Nacht kreiste mit einem stummen Rauschen. Es war kalt. Bröckel fielen von selber aus der Wand, plumpsten mit einem kleinen Gedonner auf eine der Kisten, die in Den Ecken standen. Oder waren Tiere im Zimmer? Sicher eine Fledermaus. Er hörte, wie sie in der Finsternis mit den Flügeln irgendwo anwischte. Sie pfiff aufzirpend und flatterte unermüdlich weiter. Juch kam nicht.

Engelbert hörte etwas draußen an dem offenen Türloch vorbeigehen. Er hörte es hereinschauen, ja, er hörte es schauen. Er hörte, wie es versuchte, durch die Finsternis hindurch den in den Schlafsack Eingekrochenen zu sehen.

Man behielt seine Gedanken nicht im Kopf zusammen. Sie brachen den Raum, sie krochen aus der Wirklichkeit und waren frei und leicht und gefährlich, unsicher wie Seifenblasen.

Dann auf einmal lag Juch auf seinem Bett, wenn Engelbert erwacht war und die elektrische Taschenlampe angedreht und die Scheibe des Scheinwerfers auf das Lager gerichtet hatte.

Der letzte Ort an der Autostraße, in dem sie die Nacht verbrachten, hieß San Rafael. Sie waren von einer großen Höhe herab in einen steilwandigen Kessel geritten, in dem der Ort lag. Auf der Höhe stand ein Denkmal, und sie hatten am Sockel gelesen, daß sie hier 4118 Meter hoch waren. Sie waren dort oben durch einen Schneesturm gekommen. Die Berghänge, die den Kessel bildeten, waren bis hoch hinan mit Getreide bepflanzt, und jeder Acker war von einem dicken Wall aus hohen Steinen umgürtet.

Am nächsten Tag verließen sie die Straße und stiegen in ein nach Süden gerichtetes Kordillerental. Diese Nacht verbrachten sie im Freien. Ortschaften gab es keine mehr. Der Weg war schmal, steinig, und es ging jäh hinaus oder hinab.

Und dann sahen sie den abgeflachten Berg. Es war alles, wie Lust berichtet hatte.

»Da wäre es!« sagte Juch, als sei das die natürlichste und sicherste Angelegenheit, und sie hätten, um zu ihm zu gelangen, nichts weiteres gebraucht, als von der Reuttermühle in den »Adler« nach Mariathann hinaufzugehen. Juch schien nicht eine Sekunde damit gerechnet zu haben, daß der Ingenieur sinnlos besoffen gewesen war, als er den Weg beschrieb, und daß er sie ebensogut hätte anschmieren können.

Ja, sie sahen den Berg. Er lag machtvoll breitbeinig da, mit abgesägtem Kopf. »Wie'n Tisch für uns!« sagte Juch. Aber sie sahen kein Dorf und kein Haus, nur unausmeßbare Verlassenheit, Steilheit, und die Abhänge waren teils ungeheure Geröllhalden, nackt, vom Regen gefurcht, vom Wind vertragen und abgeglättet, teils waldüberzogene Klüfte. Hinter den Terrassen stiegen die Berge weiter. Schwer hängende Wolken, weiß und grau, geballt und unbeweglich, schnitten sie in der Mitte ab.

Sie meinten, sie brauchten nun nur zwischen den haushohen, nackten und dickarmig verästelten Kakteen hinab auf den Talgrund und jenseits wieder hoch zu reiten. Aber sie stießen in unerwartete Tälchen, die sie zu Umwegen zwangen, und als man schon meinen konnte, die Kante des Berges sei nicht weiter als zwei, drei Kilometer entfernt, war sie unvermittelt wieder verschwunden, und sie mußten nochmals in eine tief hingeschnittene Schlucht hinab. Juch hatte den Tag über noch stärker gehetzt als sonst. Sie saßen in der fünfzehnten Stunde im Sattel. Es war Engelbert, als hörte er das Herz seines Pferdes durch die Satteldecke hindurch an seine Knie klopfen. Auch er selber war zermürbt, schlafsüchtig und ohne Widerstand.

»Wir kommen heut nicht mehr hinauf«, sagte er, »machen wir hier gleich halt zum Übernachten!«

»Wir kommen!« rief Juch unwillig und schlug seinem Schimmel die Peitsche unter den Leib. Der setzte an, aber nach drei Sprüngen gab er nach, und sie trotteten weiter, indem Mensch und Tiere den Kopf hängenließen. Es war bereits dunkel. Der Weg war unsicher und mit dicken Steinen bedeckt, an die die Hufe der Pferde manchmal widerstandslos anschlugen. Engelbert erschrak jedesmal vor dem trockenen Knall. Es war wie das unheimliche Klopfen eines Geistes, der aus der Nacht und der Fremde heraus mahnte.

Er stieg ab, um dem Pferd den Weg zu erleichtern. Engelberts Knie waren so zermahlen, daß er wie abgemäht zu Boden knickte. Er mußte sitzenbleiben, da er unfähig war, gleich wieder aufzustehen.

»Was fällt dir ein!« schrie Juch zornig, als er das sah. »Kreuzdonnerwetter, ist das eine Reiterei! Schlapp machen, was?! Auch einem 'n Gewicht an die Beine hängen!«

»Das Pferd kann nicht mehr!«

»Das Pferd! Pfui Deibel! Sag lieber: der Mann!« Er spuckte. Da stand Engelbert wieder auf. Er ging weiter und zog das Pferd hinter sich her. Jetzt blieb es manchmal stehen. Wenn er es wieder antrieb, trat es quer und wie blind gegen die Steine oder gegen ein Gebüsch, als wären diese Luft. Dann verharrte es hartnäckig und stur zwischen das Astwerk eingezwängt und folgte keinem guten Wort und keiner Kraft der Hand. Auf einmal trat es wieder heraus, als habe es seine Sinne, die sich verloren hatten, wiedergefunden und trottete weiter.

Die Schlucht nahm kein Ende. Der Weg wurde immer böser. Da rutschte Juchs Schimmel von einem Stein, und der Reiter ging über den Kopf des Pferdes aus dem Sattel.

»Und wenn du krepierst!« brüllte er, als er sich wieder aufgerichtet hatte, »ich komm diese Nacht hinauf.« Er sprang wieder in den Sattel. Aber das Pferd ließ sich rasch auf die Hinterhand nieder. Er drosch mit der Peitsche auf das Tier. Es blieb starrköpfig liegen. Die Packpferde standen aneinandergelehnt, als müßten sie sich gegenseitig gegen das Umfallen stützen. Das Gepäck schaukelte unter ihren wild gehenden Flanken.

Juch stieß einen Fluch aus. Ohne ein Wort zu sagen, zerrte er die Schlafsäcke aus dem Gepäck und warf sie hin.

Sie waren zu müde, um etwas zu essen. Sie ließen die Pferde ungepflockt laufen und krochen in die Schlafsäcke, die sie unter einen Kakteenbaum gelegt hatten. Juch schlief gleich und schnarchte. Heute mied ihn die Unrast. Engelbert schaute lange sitzend in die Finsternis. Er war zerschlagen, aber wach wie eine Quelle. Er horchte den Pferden zu, die manchmal wieherten, manchmal vor einem Tier erschraken, dann hörte er die Hufe entsetzt auf den Steinen klappern. Er wartete auf etwas. Es kam nichts. Dann zog er sich den Schlafsack über den Kopf. Er hatte herausgefunden, daß das die sicherste Art war, rasch zum Schlaf zu kommen und ungestört in ihm zu verharren.

Als sie am nächsten Morgen drei Stunden geritten waren, stießen sie unvermittelt in einen begangenen Pfad. Er vertiefte sich allmählich in einen Hohlweg, dessen Wände aus lockerer schwarzer Erde bestanden, und als er endete, standen sie plötzlich und unerwartet auf einem Plateau.

Da sahen sie, daß auf dem Berg keine flache, glatte Hochebene war, sondern eine vielfach gegliederte, in mannigfaltigen Verschiedenheiten sich hinbreitende Landschaft. Zu ihren Füßen lief eine mit Gras bestandene Terrasse, und über deren Kante hinweg schauten sie in eine weite Mulde hinab, die mit üppigstem Wald gefüllt war. Zwischen ihm leuchtete ein See heraus, während hier oben, wo sie waren, nur einzelstehendes Buschwerk gedieh.

Heute war der Himmel klar, und im Kreis um den Tafelberg herum hoben sich andere Berge hoch über ihn hinein, so daß man den Eindruck hätte haben können, man befände sich in einer Ebene, wenn nicht die Mulde mit dem Wald und dem See so tief unter ihnen gelegen wäre. Fast unmittelbar im Norden stieg über dem höchsten Kamm des Berges, auf dem sie standen, ein massiger, mit Schnee eingedeckter Gipfel hoch.

»Das ist die Sierra von Merida!« sagte Juch. »So hoch gibt's keinen Schnee in Europa.«

»Höher als der Montblanc?« fragte Engelbert.

»Ho«, sagte Juch nur, mit einer verächtlichen Bewegung des Kopfes.

Unter Gesträuch kam eine starke Quelle hervor, die sich sofort zu einem Bächlein bildete und eilfertig zur Terrasse hinabstrebte. Das Wasser war kühl, hell wie Metall. Gras, in das sie traten, war geschwellt und leuchtend. Saftige Kräuter nisteten sich hinein. Das Gras war anders, wie es auf den Wiesen der Reuttermühle wuchs. Wenn Juch nicht gesagt hätte, das sei Gras, so hätte Engelbert es nicht für Gras gehalten. Am Rand eines Steinhaufens leuchteten funkelrote, kleine Erdbeeren, die wie runde Glöckchen frei an hohen Stengeln schwebten. Seitwärts blühte ein Streifen wilder Gladiolen in leidenschaftlichen Farben. Vögel flogen emsig aus den Büschen und schnellten sich weiter, wie Würfe glitzernder Steine. Sie waren nur sehr wenig scheu. Sie schauten einen an, bis man zwei Schritte bei ihnen war. Zwanzig, dreißig schauten einen zugleich an. Erst dann, wenn man sie schon fast mit der Hand erreichte, machten sie, daß sie weiter kamen.

Juch und Ambos, die abgestiegen waren, gingen mit dem Quellbächlein auf die Terrasse hinab, wo sie feststellten, daß diese Seite des Kessels von oben bis zum Grund in ähnliche Terrassen ausgestaltet war. Vier von ihnen lagen da, alle offen gegen Süden.

»Eine Obstplantage!« sagte Engelbert.

Als sie von dieser Stelle aus in die Runde blickten, entdeckten sie in ihrem Rücken, von wo sie kamen, nur etwas seitlich von der Wasserrinne, eine Hütte. Sie verbarg sich halb hinter einer Hecke. Sie eilten hin und durchbrachen diese. Es war eine Feigenhecke, jung und dicht, besät mit Früchten, von denen einige in reifem Schwarzblau schimmerten.

Aber die Hütte war stark verfallen. Das Dach fehlte fast ganz. In dem mit Lehm ausgestrichenen Flechtwerk waren große Löcher.

Bevor sie hineingingen, bestrich Juch mit seinem Feldstecher die Gegend. Da sah er gegen Westen, daß über der Kante einer Hügelwelle, deren Kamm quer von oben herabstieg, und fast in derselben Höhe, in der sie selber standen, drei Rauchsäulen hochstiegen. Sie waren in dem etwas dunstigen Sonnenlicht mit dem bloßen Auge nicht zu erkennen gewesen.

»Hier ist es!« sagte Juch.

In diesem Augenblick kam eine Ziege aus dem Innern der Hütte in die Tür, schaute sie erstaunt an und wollte davon. Aber Juch hatte sie gleich am Hals.

»Guten Tag!« sagte er. »Bleib lieber bei uns!«

Er knotete sie an einen Stamm.

Nun kam eine Zeit, die sich in Engelberts Leben niederließ, als sei sie ein kleiner, süßer Märchenvogel und aus dem Lande Wo-bist-du auf seine Hand geflattert. Sie stellten die Hütte wieder her. Mit dieser Arbeit begannen sie in derselben Stunde, in der sie an diesen Platz gekommen waren, und das erste war das Dach.

»Das Dach ist das Salz des Hauses«, sagte Juch, »das Salz des Daseins, ein Dach über'm Kopf haben, heißt das Sinnbild, Mensch zu sein, der Inbegriff der Scheidung vom Tier.«

Juch hatte das Gepäck in die Hütte geschafft und gleich eine Kiste aufgeschlagen, in der Äxte, Hacken, Spaten und Sägen waren, und sie waren gleich drangegangen, junge Stämme zu schlagen, die zu Dachsparren verwendet wurden. Schon am nächsten Abend war das Gerüst fertig, und der folgende Tag wurde dazu verwandt, geeignetes Deckmaterial zu besorgen. Juch kannte sich mit allem aus.

In der Ausdauer ließ Juch nie nach. Er war von der Stunde des Erwachens bis zu dem Augenblick, in dem er in den Schlafsack kroch, in derselben Hochspannung. Er brodelte von Einfällen während der Arbeit, zeigte eine lichte, weite, ja ausschweifende Heiterkeit des Gemüts. Er beschwor mit zündenden Worten, die er, in den Dachsparren festgeklemmt, über das Land in einem hymnenartigen Tonfall sagen konnte, die Zukunft.

Juch war wie eine Grille, die ihren Sommer besang.

Engelbert trug zweifaches Glück in die Arbeit: die Übereinstimmung in der Gemeinschaft mit Juch und das Gefühl, daß ihm wieder ein Besitz in die Hände wuchs. Sich ein Haus gründen! Oft hatte er das Wort gehört oder gelesen. Immer hatte er ein wenig daran vorbeigehört, darüber weggelesen. Jetzt konnte er es erkennen. Jetzt konnte er den Wert des uralten Bestandes, der in dem Wort lag, seinem Gemüt zuführen. Ja, er gründete ein Haus! Und wenn er sich auch kein klares Bild von der Zukunft zu machen vermochte, die ihn in diesem Haus erwartete, so nahm er doch aus dem Sichtbarwerden des Fortschreitenden wieder den Glauben an eine Zukunft. Er wandte sich weg von der Zeit, in der er an einem Ende gestanden hatte, und gab sich dem Neuen hin, in dem er an einem Beginn stand.

»Schon in Babylon«, sagte Juch eines Tages, »haben sie den Fehler gemacht, daß sie die Stadt zu klein anlegten. Und seitdem wird durch alle Jahrtausende bei jeder Stadt und bei jedem Haus der Fehler wiederholt. Das scheint ein Teil der Erbsünde zu sein. Man ist dann erstaunt, daß der Fuß wächst, und daß man die Kinderschuhe fortwerfen muß, wo man geglaubt hatte, sie seien fürs ganze Leben bestimmt. Wir wollen die Torheit nicht fortsetzen, sondern es anders machen. Wir sind Neuerer. Die Ziege wird einmal werfen. Wo sollen dann ihre Jungen hin, vorausgesetzt, daß sich kein Besitzer meldet? Und es wird sich keiner melden, diese Ziege stinkt nicht. Ein Beweis, daß sie keinen Stall kennt.«

Deshalb, wo sie schon im Zug waren, wurden immer neue Stämme geschlagen und hergerichtet, und bald sah sich die Hütte um einen Nebenraum vergrößert, den Juch als Rauchzimmer, Engelbert aber, dem die Aufgabe zugefallen war, das Essen zu besorgen, wozu auch das Melken der Ziege gehörte, als Stall- und Wirtschaftsgebäude bezeichnete. Nach der anderen Seite bauten sie einen Koch- und Vorratsraum an. Der Herd bestand nur aus drei Steinen. Auf einem Gestell waren die Konserven angeordnet, die Juch in Maracaibo gekauft hatte.

Denn Juch hatte endlich die Packe ausgeschnitten und die Kisten geleert, die die beiden Tragpferde mit hergebracht hatten. Außer den Spaten, Hacken, Sägen, den Betten und Konserven kam eine Kiste zum Vorschein, die Juch als seinen Weinkeller bezeichnete. Er ließ sie geschlossen und stellte sie in den Wohnraum. Sie aßen auf ihr, indem sie sich auf den Boden hockten. In dem Gepäck waren auch zwei Gewehre und Munition. Die Gewehre bekamen ihren Platz an der Wand, und zwar unter den Gummiponchos, da der Besitz von Waffen im Lande verboten war.

Auf dem »Weinkeller« erschien eine Azetylenlampe, die mit einem leisen Fauchen ein grünweißes Licht bis in die düstersten Winkel des offenen Dachraumes dringen ließ. Pfannen und Kessel kamen, wohin sie gehörten: in die Küche. Die Pferde ließ man nach Landessitte frei laufen, und sie suchten ihre Nahrung unabhängig von den Menschen. Aber das Sattelzeug wurde im Wirtschaftsraum untergebracht, wo auch ein Verschlag für Werkzeug aufgestellt wurde.

Vor dem Haus hatten sie gleich an einem der ersten Tage eine Bank gebaut. Das Dach des Hauses stand hier einen Schritt weit vor und überragte die Bank. Tagsüber lag sie im Schatten der Feigenbäume. In die Hecke hatten sie ein Loch geschnitten, durch das sie ins Land hinaussahen.

Juch beobachtete, wie Engelbert manchmal, mitten aus der Arbeit heraus, eine Handvoll Erde aufnahm, gründlich zwischen den Fingern verrieb und sie bedachtsam betrachtete, nein, eigentlich anträumte, um sie wieder fortzuwerfen. Einmal, da sie nebeneinander auf der Bank saßen, hatte Engelbert einen Stecken in der Hand. Sie hatten gegessen, rauchten und plauderten, und Engelbert grub mit der Spitze des Steckens im Spiel der Hand eine kleine Fläche im Boden auf, grub immer eifriger, und als der Boden ganz locker war, strich er ihn mit dem Stecken glatt und zog einen Strich um ihn, mit dem er ihn von der unbearbeiteten Umgebung abtrennte. So war sozusagen ein handgroßes Gärtchen entstanden.

Juch hatte ihm zugeschaut und sagte auf einmal: »Du brauchst den Garten hier kaum einzuhagen. Hühner gibt es nicht und auch keine Kinder, die ihn dir zertreten könnten.«

»Aber die Ziege und die Pferde«, sagte Engelbert, schaute jedoch plötzlich erstaunt auf und fragte:

»Was für ein Garten?«

Juch zeigte mit der Fußspitze auf die handgroße Stelle, aus der Engelbert, ohne daß es über sein Bewußtsein hinausgedrungen war, mit der Spitze des Steckens das Sinnbild eines Gartens gebildet und damit verraten hatte, was seinen geheimen Drang beschäftigte.

»Ja, ein Garten, schau!« sagte Engelbert beklommen und war mit einemmal traurig. Er überschaute die Terrasse, die fast ohne Gesträuch und wie von Menschenhänden gebaut vor ihnen lag. Sie hatte etwa die Größe des alten Gartens hinter der Reuttermühle, der so voll von Blumen, Gemüsen, Düften und Gerüchen in seinen Erinnerungen lag, und den er so oft durchschritten hatte, um nach dem Fortschritt des Wachstums zu schauen.

»Ich kann das allein machen, was am Haus noch zu arbeiten ist«, bemerkte Juch.

Engelbert nahm eine Handvoll Erde aus dem aufgewühlten Stück. Er verkrümelte sie sorgfältig, zerrieb sie gründlich. Sie schwärzte seine Hand. Sie war locker und fett wie verriebene Farbe. Er roch an ihr.

»Fruchtbarer Boden«, sagte er vor sich hin, »als sei es Schlamm. Aber das ist doch nicht möglich hier oben?«

»Für diese Erde brauchen deine Urenkel noch kein Thomasmehl und kein Kali! Es ist verwitterte Lava«, sagte Juch.

Engelbert breitete verzückt beide Arme aus. Wie hatte er das entbehrt: Erde zu zerteilen, Erde in der Hand zu fühlen, verarbeitete Erde zu riechen, Erde vorzubereiten!

In leidenschaftlicher Auflösung stieß er unermüdlich und eifernd den Spaten ins Erdreich. Als der Garten gegraben und geebnet war, lag die Terrasse in einem seimigen, dunklen Schimmer und Glanz vor der Hütte, roch vor Drang und Fruchtbarkeit und schloß glücklich die geglätteten Flanken über dem Samen, den Engelbert in Maracaibo gekauft hatte, ohne zu ahnen, daß er jemals zu etwas anderem dienen könnte wie zur Erfüllung von Erinnerungen. Denn er hatte ihn nicht wegen des Samens gekauft, sondern wegen der Bildchen der Blumen und Gemüse drauf, die ihm durch tausend Erinnerungen vertraut waren, und die er in der Hand Rosinas wie in der seiner Mutter gesehen hatte.

Aus den geteilten Röhren armdicker Bambusstauden machte er eine Wasserleitung, die einen Teil des Quellbächleins zur Küche und von dort zum Garten führte.

Juch hatte derweil die Hütte mit Mobiliar versehen, wobei die Kistenbretter unentbehrliche Dienste geleistet hatten.

Als Tisch und Bank und ein Schemel fertig waren und Engelbert und Juch im Glanz der Azetylenlampe auf dem Tisch zu Nacht aßen und zum erstenmal dabei nicht auf der Erde hockten, sagte Engelbert:

»Wir müssen die Wände noch bekleiden. Ich hab mir ausgedacht, wenn man dicke Bambusrohre zerteilt und sie flach aneinander an den Wänden anordnet, so würde das aussehen wie kleine, schöne Säulchen, eins dicht an dem andern. Es würde auch die Wände schützen. Schau!«

Er streifte mit dem Daumen über die Wand, und Lehm bröckelte ab.

»Wenn du willst!« antwortete Juch kühl.

Engelbert fragte enttäuscht zurück:

»Würde dir das keine Freude machen?«

»Pöh! Ja, schön! Aber man ißt und schläft auch so. Ich geh mal in den Weinkeller.«

Zum erstenmal, seitdem sie hier waren, trank Juch. Er hatte eine Flasche Gin geholt.

»Du bist ja so was wie ein Dichter«, sagte er zu Engelbert. »Wenn du auch das nicht tust, was man dichten nennt. Du lebst es! Also dichte deinen Wandschmuck! Wo sind die Pferde?«

»Ich hab ein Stück im Busch eingehagt, daß sie mir nicht den Garten zertreten. Die Ziege ist auch bei ihnen.«

»Pöh, den Garten!«

Juch nahm eine der elektrischen Laternen und ging hinaus.

»Ja«, sagte er, als er zurückkam, »sie sind wirklich da!«

Als Engelbert am nächsten Morgen aus dem Schlafsack kroch, war Juch schon aus dem seinigen verschwunden. Engelbert ging hinaus, fand ihn nicht, rief. Niemand antwortete. Im Hag fehlte das weiße Pferd. Nein, die beiden Gewehre hingen an der Wand unter den Ponchos. Engelbert irrte unzufrieden umher. Er beschäftigte sich mit unnützen Kleinigkeiten, glättete weiter an einigen Beeten des Gartens, die schon so eben waren wie ein Bogen Zeitungspapier. Er schaute oft aus, in die Richtung, aus der sie gekommen waren, hinab in das Meer der runden Baumkronen, über die das von Wolken gebrochene Licht der Sonne dunstig spielte. Er goß ein Beet an, obgleich er wußte, daß die Sonne die Nässe in einer Viertelstunde wieder weggetrocknet haben würde.

Die Nichtigkeit der Beschäftigung wurde ihm bewußt, und Unmut und Unruhe stiegen. Jetzt war er erbost gegen Juch, und da nahm er die Axt und ging hinab zu dem Bambusbusch, aus dem er vor Wochen bereits Rohre für die Wasserleitung des Quellbächleins geschlagen hatte. Nachdem Juch so wenig Verständnis für das Bekleiden der Wände gezeigt, hatte Engelbert den Gedanken aufgegeben. Jetzt im Zorn gegen Juch entschloß er sich, ihn dennoch auszuführen. Er dachte sich sogar eine weitere Verwendung von Bambus in dem Zimmer aus. Bisher hatte dieses nämlich keine andere Decke als die von Palmwedeln und Schilf überhäuften Dachsparren. Es hatten sich bereits Fledermäuse und Wespen da oben eingenistet. Wenn er aber nun Bambus an Bambus quer über die ganze Breite des Zimmers oben auf die Wände legen würde, so gäbe das eine Zimmerdecke, die den leeren und unangenehmen Dachraum zuschlösse.

Nachdem er mit seiner Arbeit begonnen hatte, kam er in Eifer und vergaß den Arger gegen Juch. Das Werk ging rasch voran, und abends hatte er eine der Wände bereits fertig. Er bestaunte sie im Licht der Azetylenlampe. Sie war dunkelgrün, wie poliert, und in dem Licht schillerte sie von einem silberigen Glänzen. Da hörte er draußen Pferdehufe.

Juch kam zurück. Er band einen Sack vom Sattel und trug ihn herein.

»Steine!« sagte er.

»Wohin warst du so plötzlich verschwunden?« fragte Engelbert, dem der Unwillen über Juchs Benehmen wieder hochkam.

»Es scheint«, antwortete Juch, »als ob du mir Vorwürfe machen willst.«

»Nun ja, wenn man auf einmal …«

Aber Juch unterbrach ihn: »Vielleicht erinnerst du dich, daß wir nicht hergekommen sind, um in einer Indianerhütte, ›Schmücke dein Heim‹ zu spielen. Einer mußte einmal anfangen, und da du dich hier nicht trennen kannst, tat ich es.«

Er wollte nichts essen, sondern leerte die Steine aus dem Sack auf den Tisch, nahm jeden unter eine große Lupe, die er auf einmal aus einer Tasche zog. Dann klopfte er mit einem Hammer Splitter ab, rieb sie auf einem flachen Stein, den er vorbereitet hatte, streifte mit einem Pinsel Scheidewasser darüber und beäugte das Ergebnis. Er warf einen Stein nach dem andern durch die offene Tür hinaus. Einen behielt er.

»Da ist 'n Katzenauge drin«, sagte er zu Engelbert und schnippte den Stein mit dem Finger zu ihm hin. »Wertlos! Aber es liegen überall, wo der Regen den Boden aufgeschwemmt hat, solche Steine und andere auch herum, Amethyste, soviel du haben willst. Wo die sind, da gibt's auch anderes!«

Juch ritt täglich in der Frühe fort. Bald kam er schon nachmittags zurück, bald erst in der Nacht. Er hatte stets den Sack voll Gestein, das er zerklopfte, mit der Lupe beäugte, mit Scheidewasser prüfte. Er trank jetzt zu dieser Arbeit. Manchmal wurde eine Flasche Kognak oder Gin oder Whisky halb leer, bevor er in den Schlafsack ging.

Die Wände waren nun alle vier mit ihrem Bambusschmuck bekleidet. Der Dachraum war durch die Decke aus Bambusrohren abgeschlossen. Der Raum war gegen sein früheres Aussehen von einer idyllischen Wohnlichkeit. Aber Juch schien die Änderung nicht zu sehen. Er zerklopfte Gestein, prüfte es mit Scheidewasser und untersuchte es unter der Lupe.

Er hatte sich jetzt angewöhnt, nach einer Weile dieser Beschäftigung zornig zu werden. Dann warf er die Steine nicht mehr zur Tür hinaus, sondern mit grober. Wut gegen die Bambusverkleidung der Wand.

Engelbert sah ihm unwirsch zu und unterdrückte mit Mühe aufbrausende Worte gegen diese Handlungsweise, die er roh und rücksichtslos fand.

Dann begann es, daß Juch manchmal über Nacht nicht nach Hause kam. Es konnte geschehen, daß er am nächsten Tag zu irgendeiner Stunde auf einmal vorritt, vom Pferd absprang und, ohne sich weiter um das Tier oder Engelbert zu kümmern, in die Hütte ging und sich in seinen Schlafsack verkroch. Damit das Pferd ihm nicht in den Garten käme, führte Engelbert es in den umhagten Platz.

Diesen mußte er von Zeit zu Zeit ändern, wenn die Pferde und die Ziege ihn abgegrast und das Laub an den Sträuchern abgefressen hatten. So kam es, daß der Platz immer weiter von der Hütte wegrückte.

»Ich würde die Pferde da hinten auf die Sierra Nevada stellen!« sagte Juch eines Tages gereizt.

»Siehst du denn nicht, weshalb ich sie an eine andere Stelle tun muß?« fragte Engelbert dagegen.

Juch antwortete ihm nicht, sondern ritt davon.

»Er bringt jetzt nie mehr Steine mit«, sagte sich Engelbert, der viel im Garten zu tun hatte, wo seine Saat, mächtig mit Unkraut durchwachsen, sproßte. Er nahm auch manchmal das Gewehr und ging auf die Jagd. Die Konservenvorräte waren hingeschmolzen, Feigen und Ziegenmilch oft das einzige, was sie aßen. Schon deshalb mußte er auf die Jagd gehen. Es gab allerlei Wild in der Gegend. Er hatte Fasanen und Schnepfen gesehen, Fuchsbauten gefunden, Fährten und Losung von Rehen festgestellt. Auch die Eindrücke von breiten, krallenbesetzten Tatzen eines größeren Tieres wurden ab und zu sichtbar, und er dachte sich aus, es könne ein Puma oder ein Leopard sein. Oft stöberte er Schlangen auf, die sich eiligst aus seinem Bereich begaben.

Ein Wasserschwein war das erste, was er schoß. Er schoß es unten im Wald auf der Sohle des Kessels, wo sich an einer Stelle die Wasser von den Hügeln zu einem kleinen See vereinigten, aus dem sie in einen starken Bach abflossen. Zahllose Affen hatten kreischend und feixend in den Baumkronen seine Anwesenheit bestätigt und folgten ihm in angemessener Entfernung. Es war ihm wie ein Wunder, daß diese Tiere, die Abkömmlinge fremden Waldes, so zahlreich und so nah sich um ihn versammelten, daß er, wenn er stehenblieb, ihr Treiben genau verfolgen konnte.

Schon lange hatte er nach Südwesten in einer scheinbar geringen Entfernung Rauch gesehen. Es hatte ihn zunächst wenig gekümmert, aber da er jetzt so viel allein war, ergriff ihn nach und nach ein Gefühl der Sehnsucht nach den Rauchsäulen, die hinter einer Bodenwelle aufrecht in die Luft standen, wenn ein windstiller Tag war. Sie kündeten Menschen.

So kam die Stunde, in der er sich entschloß, diese Gegend aufzusuchen. Er war mit dem Gewehr nachmittags die Höhe über der Hütte hinangegangen und saß nun eine Zeitlang auf einem Felsblock, von dem aus er dem Rauch lange zuschaute. Die Sonne stand schon tief, und in ihren Strahlen bekamen die Rauchsäulen auf einmal eine topasbraune Farbe. Da machte er sich auf den Weg.

Es war weiter, als es den Anschein hatte. Er mußte in ein Tal hinab, das er nicht erkannt hatte, und dann zwang ihn die Bodengestaltung der anderen Seite zu einem Umweg, der hoch hinaufführte. Es begann zu dunkeln, aber er vermochte jetzt nicht mehr von seiner Absicht abzustehen. Als er hoch oben aus dem Einschnitt herauskam, sah er sich auf einem kleinen Plateau, auf dem um einsam gelagerte Felsblöcke Buschwerk wuchs. Es stand wie Inseln herum. An den freien Stellen konnte man bequem und ungehindert gehen. Von dem Rauch sah er von hier aus nichts mehr. Es war auch schon zu dunkel geworden.

Aber da hörte er, wie aus einem Buschwerk Tiere flüchteten. Er erkannte, daß es weiße Hühner waren. Also mußten auch Menschen in der Nähe sein. Er ging in der Richtung weiter, in der die Hühner davongeflattert waren.

Ein Weg ward sichtbar in dem Gras, in dem er nun hinschritt.

Unversehens war die Nacht da. Er stolperte über etwas, und grunzend und schreiend erhob sich unter seinen Füßen ein Schwein, das hier gelagert hatte, und machte sich davon. Langsam ausspähend, ging er weiter. Da sah er in Steinwurfnähe plötzlich ein Licht und hörte laute Stimmen. Er hielt die Schritte an. Er erschrak. Die eine Stimme war die Juchs.

Als er sich auf dem sandigen Boden lautlos genähert hatte und durch das offene Türloch in den Raum schaute, sah er um eine Öllampe eine Schar von Männern. Es waren Männer, die breitkrempige Strohhüte tief in den Kopf über die schwarzen Haare gestülpt, mit gelben Gesichtern, gestreifte kurze Ponchos über den Schultern. Mit dem Rücken zur Tür saß zwischen ihnen auf einer Bank Juch. Er redete laut und warf die Hände dazu.

Engelbert sah diese kleinen weißen Hände in dem qualmenden Öllicht hin und her flattern wie harte, helle Vögel.

Auf dem Tisch zwischen den Männern standen Flaschen und ein Krug. Sie tranken abwechselnd aus beiden, sie schrien Juch lärmend ins Wort. Aber die weißen Hände bändigten sie. Juch setzte eine der Flaschen an. Da schrien sie wieder und warfen auch die Hände auf und ab. Und Engelbert, der nicht erfaßte, was das alles zu bedeuten hatte, sah jetzt, wie Juch, der die Flasche wieder vom Mund abgesetzt hatte, mit der Hand hoch ging, und unter dem nahen Licht des Öldochtes fiel ein Würfel aus dieser Hand. Pang! machte er auf dem Tisch. Die Köpfe flogen hin. Dann schrien und zeterten und brüllten die Männer wieder, und Silbermünzen klangen auf dem Holz.

Niemand sieht mich, niemand ahnt oder fühlt mich, sagte sich Engelbert. Ich könnte sie überrumpeln und wie Tonpfeifen in der Schießbude einen nach dem andern abschießen. Der erste wäre Juch.

Da fühlte er sich von hinten an der Schulter berührt. In einem harten Schrecken zuckte er herum und traf mit dem Gesicht auf etwas Weiches und Nasses und erkannte in der Dunkelheit, daß es das weiße Pferd Juchs war, das dieser gesattelt herumirren ließ.

Engelbert streichelte es und klopfte es leise unter die Backen. Nun ging er rasch zurück, wieder den Weg hinauf. Das Pferd folgte ihm. Als sie außer Hörweite der Hütte waren, scheuchte er es zurück. »Geh jetzt!« sagte er zu ihm. »Geh!« Aber es ging nicht. Es blieb bei ihm und heftete sich an seine Sohlen, als er weiterschritt, und stieß ihn manchmal von hinten mahnend und zärtlich mit der Schnauze in den Rücken. Er griff ihm in die Mähne, und das Pferd schien sich an ihn anzuschmiegen.

»Ja, komm!« sagte er da, setzte den Fuß in den Bügel und stieg in den Sattel. Das Pferd trug Engelbert heim. Es ging einen andern Weg, als Engelbert hergekommen war. Engelbert saß auf dem auf und ab rutschenden Rücken gleichsam zwischen der zärtlichen Anhänglichkeit des Tieres und der treulosen Unverständlichkeit Juchs.

Als er in der Nacht heimkam und in die Einsamkeit der Hütte einging, empfand er in seinem Verlassensein eine notwendige Tragik. Sie war außerhalb seiner selbst tätig und begründet. Sie stimmte ihn zärtlich gegen sich selber und füllte sein Gemüt hoch mit einer zarten Trauer. Er trat in die Nacht hinaus, weil er seinen Garten noch fühlen wollte. Es war das einzige, zu dem es einen Zusammenhang gab. In der Finsternis konnte er nicht viel von ihm sehen, doch spürte er seine Nähe. Aber als er sich umwandte, gewahrte er, wie mit einem überirdischen und dämonischen Leuchten der breite Schneegipfel der Sierra von Merida in der Finsternis stand und die Erde beherrschte: Schnee unter dem Äquator.

Es schauerte Engelbert.

Von dieser Nacht an war der Berg ihm das Sinnbild des Bösen in dem Teil der Welt, in den er, Engelbert, verschlagen war. Und auch von dieser Nacht an war ihm sein Garten, von dem er in der Finsternis nichts hatte sehen können, zu einem Wesen mit einem lebendigen Herzen geworden. Engelbert konnte laut mit ihm sprechen. Er sprach mit ihm, wie man mit einem Sohn oder einer Tochter spricht.

Als Juch am nächsten Morgen kam, machte er sich Kaffee. Er habe Leute getroffen, erzählte er dann, und eine bedeutsame Nachricht von ihnen bekommen. Am Rio Meta seien große Goldfunde gemacht worden, und halb Venezuela sei auf dem Weg dorthin. Ob sich Engelbert an sein Gespräch mit Berndts und dem Gesandten erinnere und ob er sich erinnere, daß Berndts gesagt habe, es sei überflüssig, in Venezuela nach Gold zu suchen, da sei alles durchforscht, und ob sich Engelbert weiter erinnere, daß er, Juch, gesagt habe, es gäbe keinen Platz auf der Erde, an dem nicht Schätze zu finden seien. Und ob Engelbert sich auch noch daran erinnere, daß er, Juch, ihm in Maracaibo gesagt habe, diese Leute hätten nur das Bestreben, einem Blei an die Flügel zu binden. Und ob sich nun nicht herausstellte, daß er, Juch, wieder einmal recht gehabt habe, mit Engelberts Freund, dem Herrn Berndts und mit den Schätzen. Der Rio Meta sei nicht mehr als sieben bis acht Reittage von hier fort und bequem zu erreichen. Ein Reitpfad bestünde über Pedraza, Palmarito, El Viento.

Nicht hingehen! Mein Gott, nicht fortgehen von hier! flehte etwas in Engelbert. Er streifte mit bangen Augen seinen Garten, in dem es wunderhaft sproßte. Die Natur brauchte anderthalb Monate, den Garten zur Blüte zu bringen, während der Garten hinter der Reuttermühle die ganze Wachstumsperiode einer Jahreszeit nötig gehabt hatte. Kohlköpfe hatten schon die Größe von Kegelkugeln, der Neuseeländer Spinat verzweigte sich üppig und fett, Mohrrüben hatte Engelbert schon gekocht. In einer enthalsten Flasche standen Blumen auf dem Tisch.

Juch fragte plötzlich: »Sind eigentlich die Pferde noch alle da?«

»Natürlich!«

»Das gescheckte auch?«

»Weshalb denn nicht?«

»Und der Schimmel?«

»Selbstverständlich. Ich war gerade oben.«

»Und?« Juch warf einen schrägen Blick in Engelberts Gesicht.

»Nichts«, sagte Engelbert. »Er ist da. Du hast vergessen, ihn abzusatteln.«

Da nahm Juch die Reitpeitsche, setzte den Hut auf und entfernte sich. Engelbert, der ahnte, was er vorhatte, ging ihm nach einer Weile rasch nach. Als er an dem umhegten Platz ankam, sah er Juch, wie er den Kopf des Schimmels am Zaum hochriß. Er hielt die Peitsche umgedreht in der Hand und hatte gerade hoch ausgeholt, um mit dem Griff dem Pferd auf die Schnauze zu dreschen. Juch kehrte Engelbert den Rücken.

»Hallo!« rief Engelbert.

Da bremste Juch die jähzornig niedergehende Hand und berührte nur sacht und wie zu einem Scherz mit der Peitsche das Maul des Tieres, das ängstlich und aufgeregt tänzelte. Ohne sich nach Engelbert umzuwenden, setzte Juch dann in den Sattel und galoppierte davon.

*

Weshalb suchte er nicht nach Schätzen? Suchte denn Juch noch nach solchen? Bestand anderseits Juch noch für Engelbert? Hinter dem Schatzsuchen war für Engelbert keine Wirklichkeit gewesen. Nie! Nein, er hatte sie nie tatsächlich gespürt. Er war Juch in die Hände geraten, war von ihm in einem Nebel auf eine Welle gehoben worden. Sie hatte ihn hierher geschwemmt, ihn hier abgesetzt. Er war unbeteiligt daran. Nun mußte er sich einrichten.

Er war ein Bauer gewesen, bevor die Katastrophe gekommen war, die ihm seinen Besitz genommen hatte. Die Katastrophe war unter ihm davongebebt. Er war wieder ein Bauer, ein Bauer in den Anden. War es nicht dasselbe?

In dem Zug dieser Gedanken, die ihn in den nächsten Tagen führten, erschien Rosina oft, wie sie sich im Garten oder beim Vieh betätigte. In einem nicht feststellbaren Übergang wurde sie von Fräulein Else abgelöst, die ihn auf dem Schiff mit so sachlichem, ruhigem Auge beobachtet hatte, als er hoffte, nicht betrachtet zu werden. In einer Nacht auf dem dunklen Deck, an dem Rettungsboot hatte sie ihm gesagt, sie sei eine Waise. Engelbert war auch eine Waise. Er verscheuchte das Bild des Mädchens, als sei es ihm allzu nahe gekommen.

Er sah, wie der Garten ganz ähnlich an Ausdehnung und Einteilung wie der seines Vaterhauses war. Es gab auch einen Hügelrücken, der dem des Pfänder glich, und genau jenseits war eine Stelle im Gebirge, an der sich aus dem breiten Gewoge der Gipfel einer wie eine hohe Welle spitz hinaushob. Von Mariathann aus, an der einen Stelle des Weges von der Reuttermühle ins Dorf hinauf, war in den Alpen des Rheintals ein ähnlicher Berg zu sehen gewesen. Er fand überall Bezüglichkeiten zur Heimat.

Das Abendrot, das seitlich des Schneegipfels begann, war oft von demselben perlmutterartigen, bunten und doch kühlen Ineinanderfließen, wie es hinter dem Kirchturm in Mariathann bestand und tausende und aber tausende Male den Himmel in Brand gehalten hatte.

Das beste wäre, sagte er sich, wenn Juch nicht wiederkäme. Er ist jetzt den vierten Tag fort. Noch weitere vier, und er wäre bei den Goldfeldern am Rio Meta. Wie wunderbar wäre das! Er trug ihm nichts nach. Aber welche Erlösung! Dann könnte er mit seinem ganzen Wesen wieder Bauer sein.

Bauer sein? Für wen? Für wen graben, säen, ernten? Für wen in diesem der Welt entlaufenen Teil der Erde?

Darauf gab es keine Antwort. Es war teuflisch einsam in ihm. Das hatte merkwürdigerweise aber nichts mit zufrieden oder unzufrieden, mit glücklich oder unglücklich zu tun. Aber in dem Unausmeßbaren dieser Einsamkeit lag etwas, das drohte, er könne sich in sich selber verlieren. Das war das Teuflische an dieser Einsamkeit.

Er ging hilfesuchend zur Ziege und den Pferden. Wenn er wenigstens einen Hund hätte, sagte er sich. Er konnte heute nicht mit den Tieren sprechen wie sonst. Dann nahm er das Gewehr und stieg hinab in die Niederung, wo viel Wasser war. Er liebte das Wasser, er, der an Bach, Wehr und Mühlenkanal aufgewachsen war und dem das Rauschen des Wassers schon das erste Wiegenlied gewesen war.

Als er zurückkam, standen zwei Pferde bei der Hütte. Das eine war der Schimmel Juchs. Das andere kannte er nicht.

Er kommt mir wenigstens ade sagen, meinte Engelbert, bevor er sich zu den Goldgräbern begibt.

Denn das andere Pferd gehörte zweifellos zu einem der neuen Freunde Juchs, zu einem der messinggelben Männer, die er in der Hütte hatte mit ihm spielen gesehen und schreien gehört. Er wird mit ihm jetzt ins Goldland ziehen.

Als Engelbert aber in das Zimmer hineinschaute, sprang ihm der grauköpfige Mann vom Straßenbau entgegen, der Ingenieur Lust aus Dornbirn, und umarmte ihn lebhaft.

Juch schrie: »Hab' ihn aufgelesen! Stell' dir vor, ein Zufall. Reitet nur quer daher.«

»Ja«, schrie Lust, »wegen der Goldfunde am Rio Meta wird jetzt der Reitpfad von Puerta San Pablo am Maracaibosee über Torondoy und Mucuchies in die Llanos bis zum Rio Meta zu einer Straße ausgebaut. Kommt hier durch, ganz in der Nähe. Wird schon ausgemessen!«

Weshalb schreien die beiden so? fragte sich Engelbert. Vielleicht schreit man hierzulande. Denn nachts in der Hütte hatten die Indios und Juch ja auch geschrien.

»Ist schon angefangen!« schrie Lust wieder. »Vierhundert Kilometer werden's!«

»Nun, dann haben Sie ein schönes Stück Arbeit vor sich.«

Lust warf zur Antwort die Hand in die Höhe, wandte sich ab, und Engelbert hatte unvermittelt das Gefühl, es sei etwas nicht in Ordnung zwischen dem Ingenieur und dem Straßenbau. Dieses Gefühl wurde zur Sicherheit, als er im Lauf der Unterhaltung, die die beiden führten, feststellte, daß Juch und der Ingenieur schon drei Tage zusammen waren.

Juch ist wieder da! sagte er sich enttäuscht, und der andere wird sich auch hier festsetzen! Sie sind beide betrunken. Sie schreien, weil sie die drei Tage, die sie beisammen sind, mit Spiel und Schnaps zusammen vertan haben. Sie werden jeden Tag betrunken sein. Es wird keine Ruhe mehr in der Hütte geben und keinen Frieden.

Abends ritten sie weg. Sie kamen spät in der Nacht wieder und traten lärmend und johlend in die Hütte. Sie suchten noch nach Schnaps, fanden ihn in der Betrunkenheit aber nicht, und als sie über die Schlafgestelle stolperten, blieben sie liegen und waren gleich eingeschlafen und still. Dann schnarchten sie.

Engelbert verließ die Hütte, als der Tag zu grauen begann. Gerade als er hinaustrat, glitt eine Schlange vorbei. Sie hielt einen Augenblick an, als sie ihn merkte, stellte den Kopf hoch zu ihm hin. Dann schlang sie sich hastig weiter, schlug mit dem Schwanzende zornig auf die Erde und hielt wieder an.

In diesem Augenblick stürzte Juch an Engelbert vorbei aus dem Innern der Hütte heraus, lief, ohne sich zu besinnen, auf die Schlange zu und trat blitzschnell mit dem Fuß dicht hinter ihren Kopf. Dann riß er sie, wo er den Fuß hingestellt hatte, mit der Hand hoch. Sie rollte sich verzweifelt in seiner Hand, züngelte, schlug mit dem Schwanz ihm ins Gesicht, und Juch ergriff sie nun auch am Leib und brach sie mitten durch.

»Sau!« schrie er und warf sie weg. Am Boden ringelte sie sich ohnmächtig mit gebrochener Wirbelsäule.

»Hast gemeint, ich fürcht' dich!« rief Juch. »Ja, Kuchen.«

Engelbert, von dem Erscheinen der Schlange noch erschrocken, von dem Vorgang entsetzt, sah Juch an. Juchs Augen waren wie von dem Bruch zahlreicher Äderchen verwüstet, und die Nase hing fahl wie Aas und lang wie eine Röhre aus totem Fleisch aus dem grünlichen und mit zerhackten Fältchen übersäten Gesicht. Engelbert wandte sich ab und entfernte sich eilig. Er ertrug die Nähe dieses Gesichts nicht.

»Hast gemeint, ich fürcht' dich, du Sau!« hörte er Juch hinter sich noch einmal brüllen. Dann gab es einen Schlag auf den Boden, als habe jemand einen schweren Stein mit Wucht niedergeworfen. Engelbert drehte sich aber nicht um.

Als Engelbert gegen Mittag zurückkam und in die Hütte getreten war, sah er, daß sein Bettgestell nicht mehr an dem von ihm ausgewählten Platz stand, an den er sich gewöhnt hatte. An dieser Stelle lagen jetzt die mit Decken überlegten Grasbündel, die man für Lust hergerichtet hatte, und dessen Schlafsack. Juch und Lust saßen auf der Bank am Tisch und rauchten Zigaretten. Sie hatten eine Schnapsflasche vor sich.

Engelbert winkte mit einer unwirschen Kopfbewegung zu den Betten hin und schaute Juch mit einem Blick an, der ihn zornig zur Rede stellte.

»Was denn?« schnodderte Juch zurück. »Er muß doch auch wo schlafen!«

»Das war meine Stelle!« bestand Engelbert, ging hin und schob das Lager des Ingenieurs beiseite und seines wieder an die alte Stelle.

»Ist das so wichtig?« fragte Juch geringschätzig.

»Ja, für mich!« antwortete Engelbert.

»Na gut also, für dich!« sagte Juch wegwerfend und höhnisch. »Wir haben Hunger!« fügte er gleich in befehlerischem Ton hinzu.

Engelbert überhörte es. Was sich in ihm gegen Juch vorkehrte, war mehr als Widerstand, mehr als Verletztheit, daß Juch über seinen Kopf hinweg über ihn verfügen zu können meinte.

Es war ein Gefühl, das aus dem Ungreifbaren des Gemüts eine Wendung ins Körperliche nahm. Er fühlte, wo es feststellbar saß: in seinem Hals. Er würgte drüber, aber es ließ sich nicht hinunterschlucken. Es erregte einen heißen, deutlich spürbaren Widerwillen.

»Ich hab' Hühner mitgebracht«, hörte er Juch sagen. Engelbert hatte sein Gewehr vom Haken genommen, er hielt es und wollte es reinigen. Er kehrte den beiden andern den Rücken.

»In dem Sack da! Brat uns die!« fuhr Juch fort, kurz angebunden, gebietend und unfreundlich.

Da hörte Juch an Engelberts Gewehr, daß er das leere Schloß losschoß. Er schaute, ohne den Kopf zu rühren, mit den Augen hastig zu ihm auf.

Engelbert sagte in die Wand hinein: »Mach das selber!« und beschäftigte sich weiter mit dem Gewehr, das er auseinander nahm und reinigte.

Juch wollte etwas antworten, machte dann aber vor seinem Mund eine Bewegung mit der Hand, als schlüge er das Wort von den Lippen weg. Es lohne sich nicht, es zu sagen, es war ihm zu gering, über Engelberts Weigerung eine Bemerkung zu machen. Er ging zu was anderem darüber weg.

»Es ist wurscht!« sagte er nur.

Er schlug Lust auf die Schulter und schrie ihm in gewaltsamem Tone zu: »Du Feuerwasserbadewanne, wir verhaften noch so'n, wie nennst du den Likör? Ja, so'n Schatzsucher, was? Denn, siehst du, deine Straße läuft dir nicht zu dem Gold von Rio Meta weg, und diesen Schatzsucher, den haben wir sicher intus, wenn wir das Glas über die Kante gekippt haben! Und nun sag mal endlich, wie lange kannst du uns die Freude hier machen? Denn du weißt, man ist da in einer saumäßigen Einsamkeit und freut sich an so 'nem ollen Teufelsbraten wie du.«

»Ho, ho!« machte Lust, als sei das nicht so wichtig, wie lang er bleibe.

»Mm, das ist ganz und gar nicht wurscht, wie lang. N' Tager vierzehn«, schrie Juch.

Lust schob bedenklich die Lippen übereinander und wartete zweifelnd und wackelte mit dem Kopf.

»Drunter gibt's nix, grauhaariger Jüngling, schlag dir jeden andern Termin aus'm Kopf! Zwo Wochen.«

Juch war damit aufgestanden und hatte den Sack mit den Hühnern hergeholt. Er tat das in einer Haltung, als habe er Engelbert nie gesagt: »Da im Sack! Brat sie mir!« Den Sack hob er mit dem Boden nach oben in die Höh', und vier magere weiße Hähne fielen mit Gepolter auf den Tisch.

»Hilfst mir?« fragte er Lust.

Sie begannen die Hühner gleich zu rupfen und legten die gerupften auf den Tisch nebeneinander. Federn und Flaum ließen sie fallen, wohin es ging. »Du bist der Gast! Den Rest mach ich! Brauchst dich nicht mehr zu bemühn!« sagte Juch, als die Hühner alle vier ihrer Federn ledig waren.

Er nahm seinen Dolch und ging mit einem der Hühner hinaus und öffnete es, wusch es an der Bambusleitung, nahm das Innere heraus, schnitt den Magen auf, säuberte die Leber. Als er im Zurückgehen zur Hütte den Kropf herausschnitt, um ihn wegzuwerfen, glitt das Messer aus und stach den Kropf auf, dessen Inhalt Juch in die Hand quoll. Er wollte es gerade fallen lassen, da sah er, daß zwischen einem Gemengsel von grauen Steinkörnern und halb vermahlenen Speisen kleine Splitter in einem silbrigen Grün herausleuchteten. Darüber war er so erstaunt, daß er mit einem Schritt in die Hütte trat, die Hand mit den Steinchen offen vor sich herhielt und den beiden sagen wollte: »Das hat das Huhn im Kropf. Ist das nicht komisch?«

Aber bevor er es sagte, und bevor die andern aufgeschaut hatten, schloß er mit einem entsetzten Ruck die Finger über den Steinchen, und in derselben Bewegung, in der er die Hand hatte herzeigen wollen, fuhr er mit ihr zurück in die Tasche, biß den Mund zusammen, und ein wirbelnder Schrecken stach wie ein Dolch durch sein Herz.

Er nahm das zweite Huhn vom Tisch und ging mit ihm zum Wasser, schnitt ihm mit zitternden Händen den Kropf heraus. Er fühlte, daß sein Gesicht so fahl und entblutet war wie die Haut des gerupften Huhnes. Er stieß mit dem Dolch das Gewebe auf, und dieselben Steinchen kamen auch hier hervor.

Da schmiß er den Balg des Huhnes hin. Er ging aufwärts ins Buschwerk, wo er vor den Blicken der beiden ganz sicher war. Dort wusch er die Steinchen, die er in der Hand hatte, und die, die er in die Hosentasche gesteckt hatte. Die Mißfarbigkeit wurde zu einem wassergrünen Gefunkel.

Aus dieser übermäßigen Erregung seines Gemüts befiel eine Schwäche seine Beine. Er drohte von ihnen abzubrechen und mußte sich auf den Boden und in die Knie sinken lassen, um den Zustand zu überwinden.

Er hatte den Schatz gefunden! Die Steine waren Smaragde!

Nach und nach erholte er sich. Nur vor seinen Augen blieben von dem Stoß, den die unerwartete Entdeckung seinem Hirn versetzt hatte, schwarzgrüne Schatten, die in einer mechanischen Bewegung auf und ab stiegen und wie ein Schleierfetzen die Sicht der Dinge verfärbten, die hinter diesen geisterhaften Geweben lagen.

Juch hatte sich bald wieder ganz gefaßt, beendete seine Arbeit an den Hühnern und fand in jedem Kropf dieselben Steine. Es waren Splitter. Aber wo die Splitter herkamen, da mußten auch die andern, die richtigen Steine sein; denn es war zu erkennen, daß diese Splitter von größeren Steinen abgeschlagen und wohl als wertlos liegengelassen worden waren.

Die Hühner hatte er in dem Dorf bekommen, dessen Rauch man an windstillen Tagen von hier aus sah. Hatte Ambos den Rauch schon bemerkt? Wußte er, daß ein Dorf nicht weiter als zwei Reitstunden von hier entfernt lag? Pöh! Ambos war gekränkt, daß man sein Bett verrückt hatte. Das waren Sorgen! Wo in dem Blickfeld vor der Tür der Schatz lag! Ja, irgendwo an einem Plätzchen in der Erde, über das sein Auge jetzt ahnungslos ging, wartete der Schatz. Auf wen wartete er? Auf wen anders als auf ihn, Tom Juch, der ihn von Europa aus, von einem alten Bild aus, erfühlt hatte. Der Schatz würde sich ihm nicht entziehen. Der Schatz selber hatte Juch einen Führer zum geheimen verborgenen Lager gestellt: die Hühner des Dorfes.

Er brauchte keinen andern Helfer. Denn jeder Helfer war ein Teilhaber. Er wollte nicht teilen. Die Hühner verlangten keinen anderen Teil an der Beute als die wertlosen Splitter, die sie als Mahlsteine gebrauchten.

Doch da war ja noch, außer Ambos, auf einmal ein anderer da. Da war einer, der mehr zu fürchten war als Ambos. Einer, der mit allen Wassern gewaschen, von allen Teufeln besessen war. Solche Leute kannte Juch. Dem könnte es einfallen, herumzuspionieren. Denn vielleicht hatte er, Juch, damals in der versoffenen Nacht unten an der Küste, doch etwas gesagt, was hätte bei ihm bleiben sollen. Vielleicht war der Bursche nur deshalb gekommen, um nachzuschauen. Und wenn der etwas roch, dann wollte er von dem Braten mithaben. Mit Ambos wollte Juch es gern halten wie bisher. Sie hatten immer in der Weise geteilt, daß Ambos ihm die Hälfte gab sozusagen. Und waren dabei gut gefahren. Bei der Gewohnheit wollten sie bleiben. Er fürchtete Ambos nicht.

»Aber der andere! Dieser andere! Dieser Strauchritter, der mußte aus der Gegend. Der mußte weg!«

Juch saß, an solche Gedanken gefesselt, stumm zwischen den beiden in der Hütte. Von dieser Stunde an trank er nicht mehr. Denn der Schnaps nahm den klaren Blick, die Spannung und die Aufmerksamkeit. Die durften von nun an keinen Blutschlag mehr auslassen. Gleich die unscheinbarsten Möglichkeiten mußten berechnet werden, die dümmsten Zufälle abgeschirmt werden. Es durfte nicht ein Splitterchen in einer Lade, in einer Tasche, in einem Hühnerkropf gefunden werden.

Er überlegte gründlich, wo er mit den Smaragdsplittern hin sollte, damit sein Geheimnis sicher bliebe, und kam schließlich darauf, sie in eine leere Whiskyflasche zu tun, diese mit Wasser zu füllen, sie zu verkorken, als sei sie nie geöffnet worden, und sie zu den anderen in die Kiste zu legen. Er legte sie zwischen die untersten Flaschen, so daß er feststellen konnte, wenn jemand daran, gerührt hatte. Die Kiste stand seit kurzem neben seinem Bett. Er schob sie jetzt unmerklich mit der einen Seite unter das Gestell, so daß man dieses verrücken mußte, um daran zu kommen.

Er hockte Stunden um Stunden in der Hütte und ging nur hinaus, wenn die beiden zusammen sie auch verließen. Er ließ die Kiste nicht aus den Augen.

Die Seßhaftigkeit und Enthaltsamkeit Juchs täuschten Engelbert. Er nahm es für Reue und Gewissensbisse und war ein wenig ausgesöhnt; sie kamen in allerlei Gespräche und Juch setzte sich bei diesen Gesprächen dort auf die Lauer, wo sie zu einer Stelle führten, an der er einhaken und mit der Ausführung seines Plans, Lust zu vertreiben, beginnen könnte. Man mußte vorsichtig sein. Man mußte mit solchem Menschen ganz außerordentlich schlau und verborgen vorgehen. Er durfte nicht einmal die Ahnung einer Absicht haben.

Aber Juch war zugleich von seiner Entdeckung immer stärker in Rausch und Glut versetzt. Eine traumhafte Besessenheit, zu seinem Ziel zu kommen, erhitzte seine Vorstellungswelt und verwirrte ihm das Hirn.

Da hörte er, wie Engelbert sagte: »Wenn die Straße nach dem Rio Meta wirklich hier vorbeikommt, dann hätten wir ja eine bequeme Verbindung nach Maracaibo.«

Lust hatte sich von Juchs Enthaltsamkeit nicht anstecken lassen. Die Schnapsflasche, die vor ihm stand, war zu Dreiviertel leer. Er begann grölend zu singen:

»Ja, zu den Ma...Ma...Madeln nach Ma...Ma...Maracaibo!«

»Hör mal!« sagte Juch plötzlich. »Da von einer Straße gesprochen wird, komme ich auf einmal drauf, daß die Sache noch ein zweites Gesicht hat, um das wir uns bisher nicht kümmerten. Du bist ein öffentlicher Beamter als Ingenieur an der Straße. Die Regierung hat alles Interesse, daß die Straße rasch fertig wird. Wenn du lange von deiner Arbeit wegbleibst, wirst du am Ende Schwierigkeiten mit deinen Behörden bekommen können. Ich möchte nicht, weißt du, um Gottes willen nicht, daß wir … du hast 'ne schöne Stelle, 'nen ganz wunderbaren Job, und so was verkorxen in dieser Zeit, ne, das möchte ich gar nicht, daß wir zwei, Ambos und ich, daran beteiligt sind, so gern wir dich … weißt du, daß wir eine Schuld dran haben könnten, daß du …«

»Ha, Schnauze!« fiel Lust lärmend hinein. »Sauf lieber! Mir kommt keiner an den Klimbim, du Hahn!«

»Du bist kein Präsident Gomez, geh!« rief Juch. »Sondern 'n Ausländer mit 'nem traurigen österreichischen Paß noch dazu, 'n Gringo, und sie warten nur drauf, dir an die Nieren zu kommen. Es wäre gelacht, wenn es hier anders wäre, mit so 'nem gringo da mierda! So 'nem Ausländer aus Kuhmist!«

»Was!« brüllte Lust los, der nicht mehr genau wußte, worum es ging, sondern nur die beleidigenden Schimpfworte aufgefaßt hatte, mit dem die Eingeborenen die Fremden belegen. »Was! Du! Ein Saukerl wie du, der grad noch seinen europäischen Läusen entlaufen ist! Du an mich alten Hasen! Du, ein Haufen Dreck, grade aus den Windeln gefallen!«

Juch war am Ziel.

»Halt's Maul!« schrie Juch ihn an und trat drohend auf ihn zu. »In meinem Haus …«

Aber der Betrunkene ließ ihn nicht weiterreden. Er fuchtelte mit den Armen durch die Luft und grölte mit einem belfernden Lachen.

»Haus! hat er gesagt. Haus nennt er diesen Stall! Nenn es doch Palast!« Er johlte jetzt mit der Stimme schrill hinauf wie eine heiser gewordene Dampfpfeife. »Sag doch, Juan Vicente in Maracai beneidet dich um dein Schloß aus elenden Kistenbrettern!«

Juch ging in den Nebenraum und kam mit Lusts Sattelzeug zurück. Er schmiß es durch die Tür. Dann riß er den Schlafsack von dem Graslager und warf ihn auch hinaus in die Nacht. Jetzt stellte er sich vor Lust hin, wies mit der Hand hinaus und sagte kalt und ruhig:

»Ihm nach!«

Lust wollte sich aufrichten, knickte aber zurück und faßte nach der Schnapsflasche. Juch nahm sie ihm weg und schmiß sie dem Sattel und dem Sack nach. Sie zerknallte draußen wie ein Schuß.

»Marsch!« sagte Juch.

Da sank der alte verwüstete graue Kopf plötzlich wie hingemäht auf den Tisch. Es entstand ein langes Schweigen. Juch stand kalt da wie vorher. Engelbert, dem es schien, der Auftritt sei von Juch durch Willkür und böse Laune hervorgerufen worden, bemühte sich, ihn zu beenden und zu vermitteln. Der alte Mann könne jetzt doch nicht in die Nacht hinaus. Morgen sei auch noch Zeit, wenn es etwas zwischen ihnen zu erledigen gebe.

Aber Juch ging heftig gegen ihn an. Er, Ambos, habe nicht den Schimmer eines Einblicks in die Verhältnisse dieser Länder. Sie könnten beide unter öffentliche Anklage kommen, gegen das Staatsinteresse gehandelt zu haben, weil sie einen Angestellten dieses Staates in einem wichtigen Augenblick von seiner Pflicht abhielten. Die Straße werde wahrscheinlich gar nicht wegen der Goldfunde am Rio Meta gebaut, sondern die columbianische Grenze sei nicht weit von hier, und es sei höchstwahrscheinlich eine geheime strategische Straße. Sie könnten sich 'nen kleinen netten Prozeß wegen Landesverrat, Sabotage von militärischen Einrichtungen ins Fell setzen. Nein, tausendmal nein!

»Tom!« sagte da der Ingenieur und erhob mit einer bemitleidenswerten Verzagtheit traurig ein wenig den Kopf. Seine Augen waren voll Tränen. Er schaute schräg von unten zu Juchs Gesicht auf. »Ich bin ja kein Angestellter. Sie haben mich ja hinausgeschmissen. Ich bin auch kein Ingenieur und nie einer gewesen. Ich bin eine gescheiterte Existenz. Und sonst nichts. Und nicht einmal gescheitert. Durch dreißig Jahre jede Minute gescheitert. Und wenn ich hier 'raus muß, muß ich Erde fressen.« Er war nüchtern geworden.

Juch war enttäuscht und wütend über diese unerwartete Wendung, die das Ergebnis seines Manövers in Gefahr brachte. Er schrie ihn an:

»Und da unten bei La Ceiba? Da warst du doch beim Straßenbau angestellt! Da warst du doch der Ingenieur!«

»Nein!« jammerte Lust, »ich hab' nur da gewohnt mit der Alten, weil ich nirgends mehr geduldet wurde. Und ich hab' mich an die Straße gestellt, weil da zu erwarten war, daß Fremde kämen, Landsleute vielleicht, und ich etwas von ihnen hätte. Sie haben mich schon vor 25 Jahren hinausgeschmissen.«

Engelbert war hinausgegangen und holte das Bett Lusts wieder herein. Juch erkannte, daß sein Plan mißlungen war und er diesmal nachgeben mußte. Weil er zu rasch zum Ziel kommen wollte, war er so unbesonnen vorgegangen mit diesem von allen Straßen bestaubten, von unendlichen Fußtritten gezeichneten, von allen Hunden beschmutzten Haderlumpen.

Er wird einen andern Weg suchen. Er wird ihn finden.

*

Juch ging am frühen Morgen fort, ohne sich um Engelbert oder um Lust zu kümmern. Er ging zu Fuß. Er nahm nichts mit als den Feldstecher und ging in der Richtung auf das Dorf zu, in dem er die Hühner bekommen hatte. Er nahm nicht den Weg, den er geritten war. Er geriet auf eine Spur, die von einem Menschenfuß stammte, ließ sich von ihr in das Tal hinabführen und verfolgte dann denselben Weg, den Engelbert an jenem Abend aufwärts genommen hatte, als er Juch zwischen Indios spielen sah.

Von der Stelle, an der Juch auf die Höhe kam, war das Dorf nicht sichtbar. Aber am Rauch stellte er fest, daß es vielleicht anderthalb Meilen tiefer liegen mußte. Er bemerkte, als er die Gegend überprüfte, daß in einem an verirrte hohe Felsblöcke angewachsenen Buschwerk weiße Hühner sich aufhielten, und legte sich auf den Boden. Er richtete den Feldstecher auf das Buschwerk. Es war einen Steinwurf weit von ihm entfernt.

Aber er sah nicht, was er erwartet hatte: daß die Hühner im Boden scharrten. Nein, die Hühner saßen im Geäst und ruhten scheinbar aus. Er schaute ihnen lange durch das Glas zu und stählte seine Geduld. Sie veränderten ihre Stellung nicht. Er lag auf dem Bauch und stützte die beiden Arme auf einen flach abgerundeten niederen Stein, der wenig aus dem Gras hervorragte, und hielt sich unbeweglich.

Er wurde müde in der erzwungenen Haltung, stellte das Glas auf den Stein und wollte seine Stellung ändern. Da bemerkte er, daß ein Tier, das von der andern Seite auf den Stein gekrochen war, sich zu fliehen anschickte. Juch griff rasch zu und hielt es, zwei Finger über den Oberleib geklemmt, fest.

Es war ein Skorpion.

Er beschaute sich ihn von allen Seiten. Dann bekam sein Gesicht den Ausdruck einer grinsenden und hämischen Genugtuung. Er nahm einen Halm und reizte den Skorpion, der seinen Sporn vorstellte. Darauf tat Juch den Skorpion in das Etui des Feldstechers. Er verschloß es sorgsam, und damit es nicht aufginge, wenn der Verschluß sich durch einen Umstand von selber löste, band er eine Schnur fest rundum. Dann ging er zum Dorf hinab. Er trat in die Hütte ein, in der er gestern die Hühner gekauft hatte. Die Ungeduld floß ihm wie glühendes Eisen durch die Eingeweide. Vorsicht! Vorsicht! ermahnte er sich.

Ob er noch von diesen Hühnern haben könnte? fragte er. Aber lebend. Er sei auf den Gedanken gekommen, sich selber Hühner zu halten. Dann habe man wenigstens immer Eier.

Die alte Frau war allein in der Hütte. Sie ging hinaus auf den Weg, nachzuschauen, ob Hühner da wären. Aber sie sah keine.

Sie liefen immer weit herum, ihr Futter zu suchen. Sie wollte aber einige fangen und zusammenhalten. Wenn es nachts kühl sei, kämen sie zum Übernachten meist in die Hütte. Dann ginge es leicht.

Dann komme er morgen wieder!

Juch wandte sich zum Gehen und sah in demselben Augenblick auch draußen einen Mann, der scheinbar hereingeschaut hatte und sich nun ebenfalls in Bewegung setzte. Juch trat mißtrauisch in die Tür. Er sah den andern aber nur mehr seitlich von hinten und erkannte, daß es ein junger Bursch war, ein Indio.

»Wer ist das?« fragte er die Alte.

»Hijo!« sagte sie.

Hijo heißt Sohn, und Juch nahm ihn für den Sohn der Frau und war beruhigt. Dann streifte er umher, stieg hoch über das Dorf hinaus, dorthin, wo er vorher gewesen war. Er kletterte auf einen der Felsen, wie sie hier zahlreich als von alten Katastrophen vertragene Trümmer umherlagen. Einige ragten über das Buschwerk hinaus, andere waren durch Gebüsch unsichtbar gemacht worden. Zwischen ihnen lagen große, offene Flächen, die nur mit Gras bewachsen waren.

Der Fels, auf den er gestiegen, war durch eine Reihe Agaven, die in seiner Nähe aufragten, kaum sichtbar gemacht. Als er oben war, sah er, daß die kleine pyramidenartige Erhöhung ein Haufen Steine war, die Menschenhand aufgerichtet hatte.

'n Zeichen, sagte er sich und stieß mit dem Fuß dagegen. Ein Stein rollte ab. Er nahm noch einige fort, um den Kern zu sehen. Im Innern waren auch nur Steine, und er legte die andern wieder hin. In der Gegend, die er von der Höhe mit dem Glas untersuchte, war nichts Auffälliges festzustellen.

Er kam vor der Dämmerung nach Hause. Als die Terrasse, auf der die Hütte stand, in Sicht kam, band er die Schnur des Etuis ab. Den Feldstecher barg er in der Hosentasche.

Lust hatte sich den ganzen Tag an Engelberts Fersen geheftet. Er hatte Engelbert wortreich, teils jammernd, teils zynisch die Geschichte seines verfehlten Lebens erzählt, wobei er ihm im Garten beim Unkrautreinigen half.

Juchs Rückkehr brachte Engelbert eine gewisse Erlösung, da er nun von dem peinigenden Alleinsein mit dem gescheiterten Mann befreit war, der seit dem Auftritt mit Juch in alles, was er tat oder sagte, eine oft beinahe fassungslose Erregung legte.

Juch war nicht unfreundlich zu Lust. Er änderte seine Taktik. Die Art, in der er ihn behandelte, ließ stets eine Spannung zwischen Spott und Drohung erkennen, die Lust wohl nicht unmittelbar zusetzte, aber ihn ununterbrochen im Ungewissen und jeden Augenblick in Angst vor dem nächsten hielt.

Im übrigen faulenzte Juch auf seinem Bett herum, während die andern bald draußen, bald in der Hütte sich beschäftigten.

Ein liegender Mensch steckt nicht weniger an als einer, der gähnt, und sie gingen früh in die Schlafsäcke.

Engelbert fand das Einschlafen nicht. Er wartete drauf, daß Juch seiner Gewohnheit folgte, wenn er getrunken hatte, und zu schnarchen anfange. Aber das geschah nicht, bis unversehens sich etwas anderes ereignete. Ein wilder Lärm entstand in der Finsternis. Es begann damit, daß ein Schemel heftig umgeworfen wurde. Lust tanzte in der Dunkelheit umher und schrie mit einer Stimme, die vor Schrillheit zu bersten drohte:

»Macht Licht! Licht! Macht doch Licht, um Gottes willen!«

»Was ist, was ist denn?« rief Engelbert und sprang auf.

»O Licht, macht Licht! Ich bin gestochen!«

Engelbert zündete die Azetylenlampe an. Lust zeigte seinen nackten Fuß, an dem eine Einstichstelle sichtbar wurde, die gerötet war und anschwoll.

»Juch, er ist gestochen worden!« sagte Engelbert zu Juch, der liegengeblieben war.

Juch erhob sich nun auch unwillig und fluchend aus seinem Schlafsack. »Was ist das für ein dummes Geplärr!« schalt er. »Laß einen doch schlafen!«

»Er ist gestochen worden«, sagte Engelbert nochmals.

»Wer?«

»Lust!«

»Wo?«

»Schau, am Fuß.«

Juch neigte sich hin.

»'ne Schlange«, sagte er gleichmütig.

Lust fing an kreischend zu heulen.

»... ist es nicht, du Furchtknochen!« fuhr Juch fort.

»Aber es schwillt.«

»Schneid es auf. Brenn es aus. Das ist auf alle Fälle gut. Vielleicht 'ne Tarantel. Schüttle deinen Schlafsack. aus.«

»O nein, nein!« schrie Lust.

»Nu, dann leg dich wieder zu ihr hin!«

»Nein, nein, nein!« brüllte Lust weiter.

»Jetzt halt's Maul!« schimpfte Juch.

Engelbert hatte den Schlafsack vom Boden genommen. Er hielt ihn ängstlich weit von sich, kehrte ihn mit der offenen Seite nach unten und begann ihn zu schütteln.

Lusts graue Haare waren gesträubt. Er stand auf der Bank und schaute in einer starren Angst auf den Boden, was dort erscheinen und ihm das Urteil sprechen sollte.

Da lag auf einmal ein Skorpion da.

»Na, denn war's 'n Skorpion!« sagte Juch und zerdrückte ihn mit der bloßen Ferse.

»Was sollen wir machen?« fragte Engelbert besorgt. »Er will ja nicht aufschneiden und nicht ausbrennen. Nichts.«

»Ist es denn nicht gefährlich?«

»Kaum«, sagte Juch. »So'n oft gestochener Gentleman wie der ist immun.«

Juch legte sich wieder hin, und man hörte nichts mehr von ihm. Die beiden andern saßen noch lange erregt am Tisch und beschäftigten sich mit dem geschwollenen Fuß. Engelbert hatte den von Juchs Fußsohle ganz zerstampften Skorpion mit einem Besen hinausgefegt.

Juch war in der Frühe des nächsten Morgens schon weggegangen, bevor die beiden andern aufgestanden waren.

Engelbert hatte den Stich mit allerlei Tinkturen eingeschmiert, und die Schwellung war fast verschwunden. Er nahm das Gewehr und wollte auf die Jagd gehen. Er wäre gern allein gegangen, besaß aber nicht die Härte, Lust abzuweisen, der sich ihm mit der Unterbötigkeit und Selbstverständlichkeit eines Hundes anschloß.

Als sie am späten Nachmittag zurückkamen, fanden sie Juch in der Hütte. Er reinigte sein Gewehr. Er hatte es auf den Boden gestellt und stand daneben und trieb Putzwolle durch die beiden Rohre. Als er fertig war, legte er es quer über Lusts Schlafsack. Sie aßen zu Nacht. Kaum waren sie fertig, so sagte Juch: »Ich leg' mich in die Klappe. Und ihr?«

Was sollten sie anderes tun! Engelbert räumte noch auf dem Tisch herum. Lust ging an sein Lager und zog Schuhe und Strümpfe aus. Mehr entkleidete er sich nie zum Schlafen. Er faßte schon mit der Hand nach dem Schlafsack, um ihn aufzuschlagen und heineinzuschlüpfen, als er sich plötzlich besann. Er hob den Schlafsack mit beiden Händen an dem geschlossenen Fußende hoch und schüttelte ihn heftig mit der offenen Kopfseite über den Boden.

Als er ihn dann wieder über das Lager zurückschlagen wollte, schleuderte er ihn fort, stieß einen durchdringenden Schrei aus, und mit einem entsetzten Sprung raste er in die Ecke. Wo das offene Ende des Sackes den Boden berührt hatte, ringelte sich eine Schlange. Es war eine dünne Korallenschlange, schwarzweißrot gebändert, nicht länger als ein Lineal.

Juch schaute ihm ruhig zu. »Fast verschütt gegangen!« sagte er wurstig zu Lust, »'n Piek, und du hättest die dreißig Jahre nicht mehr beflennen brauchen.«

Die Schlange kroch eilig auf die Tür zu. Sie suchte ein wenig herum und verschwand dann durch die dunkle Öffnung.

Lust stand in der Ecke des Zimmers. Er stützte sich an die Wand an. Mit irren und hilflosen Augen hatte er der sich entfernenden Schlange nachgeschaut. Jetzt blickte er entgeistert zwischen Juch und Ambos hin und her.

»Komm zu dir! Sie ist fort, sie sitzt nicht in deinen Nieren!« rief Juch und schaute in die Ecke, und seine Augen hatten nichts Schmachtendes mehr, sondern waren in einem starren Hohn unbeweglich.

Lust vermochte noch immer nicht zu sprechen.

»Scheint dir auf die Stimmbänder gekrochen zu sein?« fragte Juch. Seine Stimme war noch höhnischer und kälter, und etwas Drohendes klang in ihr.

Da kehrte sich Lust vor. Er hob die beiden Fäuste gegen Juch. Speichel lief ihm aus dem Mund. Seine Augen quollen von einem wäßrigen grauen Blau wie Fischblasen.

»Ich bin ein Haderlump!« schrie er mit einer schrillen nackten Stimme. »Ich bin ein verkommenes Luder! Aber du bist ein Teufel! Ich geh von selber, weil ich dann lebendig geh.«

Er verschwand eilig in der Nacht.

Engelbert saß in einer beklemmenden Unfähigkeit, sich zu rühren. Es ward ihm nicht klar bewußt, was sich so rasch und so gründlich in der Hütte vollzogen und Lust dieses maßlose Entsetzen eingejagt hatte. Die Schlange hatte er nicht gesehen, die Platte des Tisches, hinter dem er saß, hatte sie vor seinen Blicken verdeckt. Aber er fühlte, daß Juch etwas Höllenhaftes angestellt hatte.

*

Engelbert war jetzt wieder viel allein. Juch blieb oft über Nacht weg. Lust blieb spurlos verschwunden. Er hatte sein eigenes Pferd mitgenommen und dazu das von Engelbert. Dieser teilte seine Zeit zwischen dem Garten, der Jagd, den Pferden und der Ziege, die bei ihnen heimisch geworden waren. Wohl gab es die Möglichkeit näherer Beziehungen zwischen Pferd und Mensch. Aber Engelbert war Bauer. Die Pferde führten hier ein Luxusleben. Nur Juch benützte manchmal den Schimmel. Die Ziege aber gab Nahrung und war fruchtbar. Es hatte sich herausgestellt, daß sie trächtig war. Hundertfünfzig, hundertsechzig Tage trägt eine Ziege, sie muß bald werfen, sagte sich Engelbert. Denn Juch und er waren fast schon solange da. So war es zwischen ihm und diesem Tier zu großer Vertraulichkeit gekommen. Die Ziege trat jeden Morgen in die Hütte an sein Lager. Sie wurde Engelbert bald zu einem Wecker. Sie stellte sich ruhig hin und wartete stumm, bis er an ihrer Anwesenheit aufwachte. Er molk sie dann und hatte stets irgendeinen besonderen Leckerbissen für sie. Sie verbrachte viele Stunden mit Engelbert in der Hütte. Ja, sie lief oft mit ihm, wenn er fort ging, und wenn er sich zum Rasten in den Schatten setzte, stellte sie sich zu ihm. Er streichelte ihr den prall gewordenen Bauch und nannte sie Mütterchen Geiß. Er scherzte über ihr trächtig schwellendes Euter. Er war ihr mit einer zärtlichen Hingabe zugetan, und wenn er von ihr eine der ungewöhnlichen Mitteilungen der Vertraulichkeit erfuhr, fühlte er eine Verschmelzung alles Kreaturhaften, eine wollüstige Annäherung der Natur. Er wunderte sich, daß nicht auch die feuerrote Erdbeere, die drüben feist und baumelnd den Sonnenschein überleuchtete, ihm seinen Namen zurief und die weißen wilden Tauben aus der Luft ihm nicht über die Hände purzelten.

Eines Morgens war die Ziege verschwunden. Engelbert rief und lockte vergeblich. »Juch!« sagte er gleich. Denn Juch war am Abend plötzlich zurückgekommen und war in der Frühe fortgegangen. Engelbert streifte suchend umher. Er suchte bei der Hütte und bei der Einhagung, in der die Pferde sich aufhielten, und wo auch die Ziege oft die Nacht verbracht hatte. Er fand die Pferde verscheut und erregt und durchforschte deshalb die Umgebung genauer. Es hatte in der Nacht geregnet. Die Gräser lagen in der Nässe schwer übereinander. Bald fand er Blutflecken an einem Strauch. Hier war das nasse Gras verwühlt. Und von hier ging eine Reihe von Einschlagspuren aus, als ob ein Körper in weiten Sprüngen über das Gras davongesetzt wäre. Als Engelbert an einer solchen Stelle die Gräser auseinander sonderte und den Boden untersuchte, sah er den Eindruck einer breiten Katzentatze mit Krallen. Er schloß auf einen Leoparden, und ein zorniger Grimm bemächtigte sich seiner, sich zu rächen und den Leoparden das Schicksal teilen zu lassen, das dieser dem geliebten Mütterlein Geiß und deren Jungen in dem prallen Bauch bereitet hatte.

Er rüstete sich mit dem Gewehr und ging den Spuren nach, die deutlich erkennbar vor ihm durch das Gras liefen. Sie führten in die Richtung, die er damals zu dem Dorf gegangen war. Er stieg ihnen in die kleine Schlucht nach und verfolgte sie aufwärts. Dann brachen sie aber in einem plötzlichen Winkel jäh einen steilen buschbewachsenen Hang hinan. Er zog sich an dem Gesträuch hoch und folgte der Spur. Manchmal wurde ein Flecken Blut sichtbar. Das entzündete den Jagdtrieb stärker.

Er gelangte auf die Höhe. Die Spuren zogen ihn weiter. Er kam an eine Stelle, wo er schon gewesen war. Er erkannte den buschumstandenen Felsen, aus dem die weißen Hühner geflattert waren. Der Räuber war an einer Reihe von Agaven entlang weitergelaufen. Das war deutlich zu erkennen.

Nun kam eine Strecke, an der das Gras nur wie in Inseln wuchs. Dazwischen lagen nackte, flache Felsenteile. Engelbert ging hindurch, als plötzlich eine Schar weißer Hühner ihm fast unter die Füße jagte. Sie flatterten vor ihm auseinander, und wie er sich wieder niederbückte, um die Spur aufzunehmen, war sie wie weggeweht, fortgezaubert. Engelbert suchte lange Zeit umher. Vergeblich. Da knallte plötzlich in der Nähe ein Schuß.

*

Juch war an diesem Tag ins Dorf gegangen, um die Hühner zu holen. Er hatte sie, in einem Sack geschultert, in die Schlucht hinabgetragen, als ginge er mit ihnen zu der Hütte. Dann war er aber plötzlich aufwärts abgebogen und strebte der Stelle zu, an der er die Hühner im Gebüsch hatte sitzen sehen. Er überlegte sich auf diesem Weg: Ich laß sie laufen und beobachte sie. Wo sie hingehen, werden die Smaragde liegen. Soll ich jedes für sich laufen lassen? Laß ich alle zusammen laufen? Was ist am aussichtsreichsten? Ich muß die Probe konzentrieren, wie er es nannte. Wenn sie das erstemal nicht gelingt, hat sie für immer versagt.

Aber er war ein Spieler. Als er oben angekommen war und sich ein Versteck ausgesucht hatte, von dem aus er in die Runde schauen konnte, entschloß er sich rasch, alles auf eine Karte zu setzen. Er ließ alle Tiere auf einmal los und schoß mit den Augen hinterher. Die Hühner flatterten schreiend auseinander. Es war, als seien sie entsetzt über die plötzliche Freiheit. Aber nach einem Stück planlosen Dahinjagens schienen sie wieder zusammenzustreben. Sie nahmen noch immer laufend Richtung auf die Agaven zu.

Da tauchte an diesen Agaven plötzlich ein Mann auf. Die Hühner prallten auf ihn und schossen mit angstvollem Geschrei wieder zurück in alle Richtungen auseinander. Juch, in seinem Busch verkrochen, fiel in eine wilde Raserei, daß seine Probe durch den Mann vereitelt worden war. Er erhob, seiner nicht mehr mächtig, das Gewehr gegen ihn, der jetzt weithin sichtbar auf eine Steinplatte getreten war.

Juch sah den Lauf des Gewehrs in weiten Schwankungen ohnmächtig vor seinem Auge hin und her gehen. Er war bis in die Pulse erschrocken. Die Handgelenke schmerzten ihn und bebten. Ihm war einen Augenblick lang, als hielten sie nicht zusammen, flössen wie heißes Blei auseinander. Der Lauf senkte sich von selber. Juch stierte auf Ambos hin. Mitten in einer schwarzen Flut von Jähzorn und Drang nach einer gewaltsamen Lösung, die seine Einbildungskraft überschwemmte, stand auf einmal das Mißtrauen. Ambos wußte von seiner Entdeckung, Ambos hatte ihn belauert, Ambos war hierhergekommen, um auch nach den Smaragden zu suchen.

Er sah, wie Ambos, zum Boden gebückt, suchend umherirrte. Bald kroch Ambos in einen Busch, kam wieder heraus, ging zurück, nahm eine neue Richtung, kniete nieder, riß das Gras auseinander, bückte das Gesicht tief zu Boden.

Juch klopften die Schläfen. Feuerdunkle Wellen spielten über seine Augen, die in jähzornigem Mißtrauen den andern verfolgten, während in seinem Innern Gier und Angst ineinanderstürmten. Er wollte allein den Schatz, den Reichtum, die Macht und den Glanz. In seinem Tollwutausbruch wirbelten tausend Farben und Formen, Länder und Autos und Schiffe, Hotels und Ausschweifungen, Genüsse, Frauen und Getränke durch sein Gehirn. Hinter seiner Stirn jagten Mordgedanken wie Gewitter auf.

Ambos suchte unbekümmert weiter. Juch sah ihn unerbittlich herumtreten und suchen. Es war, als trete er unmittelbar in seinem, in Juchs Hirn umher. Schon einmal hatte der da, dessen Kopf jetzt entfernter hinter dem Gebüsch auf und ab tauchte wie eine wandernde Zielscheibe, die bald verschwand, bald kam, ihm den Schatz, den doch er allein gefunden, aus der Hand gerissen: die Smaragde des Hohermuth. Nun, da er, Juch, ihn hergebracht hat, will er auch hier wieder ihm den Schatz nehmen, der heimtückische Bauer, der hinterhältige Knecht.

Haß und Angst schlugen in Juch ein wie ein Blitz. Er hob das Gewehr und schoß taumelnd vor Rausch und Wut nach dem braunen Hut, der über das Gebüsch stieg. Der Knall und der Schuß warfen ihn hin, er stöhnte und verkroch sich wie eine verletzte Maus tief in die Dschungel des Strauchwerks. Er blieb lange liegen und hielt die Augen fest zugepreßt. Eine Zeitlang war ihm, er habe auf sich selber geschossen und liege nun tot da. In schwarzen Kringeln stiegen hinter den geschlossenen Augdeckeln Trauer und Reue auf, so daß er leise zu wimmern begann. Aber gleich schalt er sich deswegen und begann sich selber aufzutrotzen. So lag er da, in sich festgeschraubt, in sich eingefroren und hielt in dieser Abwehr das Ereignis von sich weg. Dabei dachte er an eine Schlange, die er einmal gefangen und deren giftigen Kopf er von sich weggestreckt gehalten hatte, während Leib und Schwanz sich um seinen Hals zu ringeln versuchten.

Der Schlange hatte er die Wirbelsäule gebrochen. Die Kugel, die nach dem braunen Hut geflogen war, konnte er nicht wie die Schlange am Kopf fassen und ihren Lauf mitten durchbrechen. Er mußte sie fliegen lassen.

Als Juch herauszukriechen vermochte, umging er in weitem Bogen das Dorf. Das Gewehr hatte er vergessen. Es war hinter dem Gesträuch liegengeblieben. Er stieg in den Kessel hinab, kam in den Wald und an den See. An freien Stellen hätte er jetzt die Hütte oben über der Terrasse sehen können. Aber es bestand kein Anlaß, sich umzuwenden und hinaufzuschauen. In den Bäumen schrien die Affen erregt, voll Zorn über seine Anwesenheit.

Die Dämmerung begann. Nicht hinauf! Nicht in die schwarze Einsamkeit der Hütte! Nicht in die Arme des schwarzen Gespenstes, das sich droben in dem verlassenen Schlafsack eingenistet hatte! Lieber hier unten am Wasser krepieren!

Er schlief im Freien. Zagend kroch er am Morgen über die Terrassen in die Höhe, bis er die Hütte erreichte. Zuerst sah er, als er eintrat, Engelberts braunen Hut. Er lag auf dem Tisch unbeschädigt, als sei er nie hinter einer Hecke aufgetaucht, verschwunden und wieder aufgetaucht, und als sei keine Kugel zu ihm hingeflogen. Er war nicht durchlöchert.

Da wurde es Juch übel zumute. Die gespenstische Spannung brach in seinen Magen, der sich aus ihm herausheben wollte. Weil er aber seit vorgestern nichts gegessen hatte, ging der Zustand in heftige Krämpfe aus.

So fand ihn Engelbert. Mitten aus den zuckenden Windungen, mit denen sich sein Körper gegen die Angriffe seines Magens wehrte, schielte Juch ihn an, untersuchte mit erschauerndem Staunen seine Schläfen, seine Stirn, seine Haare. Alles ganz, nirgends das blutende Loch. Da erholte sich Juch rasch. Er war mit einemmal von einer unstillbaren Gesprächigkeit. Engelbert sei nie da unten im Kessel gewesen, wo die Affenherden durch die Bäume jagten … ein großer See sei dort … die Fische sprängen wie närrisch … Man müsse Netze flechten, Reusen machen … Er kenne das … Ein großes Tier sei an ihn herangekommen, wie er da unten nachts im Freien schlief … hundemüde gegangen sei er … von der Früh bis in die Dunkelheit …

Weshalb schaute Engelbert ihn so prüfend an? Juch blickte zu seiner Kiste hin, in der er in einer Flasche die Steine verborgen hatte. Nein, sie war nicht angerührt worden. Der Zipfel des Schlafsacks lag ganz genau so über die Ecke der Kiste, wie er ihn ungeordnet hatte. Er sprach weiter: »... das Tier ist wahrscheinlich ein Bär gewesen, der aus den Bergen zum See trinken kam … und da ich kein …«

Jetzt erschrak Juch vor dem Wort Gewehr, das er hatte sagen wollen. Es hätte Engelberts Aufmerksamkeit auf die leere Stelle unter dem Poncho lenken können. Er ließ Engelberts Augen nicht aus dem Blick, ob sie nicht vielleicht zu dem Poncho gingen, unter dem an der Stelle, wo es hingehörte, das Gewehr fehlte. Er verstummte in einer Verlegenheit voll Entsetzen. Zorn kam ihn dann, daß er sich so ungewandt benommen, der Angelegenheit eine so ungeschickte und gefährliche Wendung gegeben hatte.

*

Engelbert war durch den Schuß abgelenkt worden, die Spur des Mörders seiner Ziege zu suchen. Er hatte rasch um sich geschaut. Er dachte, es sei noch ein Jäger da. Vielleicht suchte der nach demselben Ziel wie er, habe seinerseits gefunden, was sich ihm selber entzog, und der Leopard liege mit einer fremden Kugel in einem Gebüsch. Aber er sah niemanden. Er kletterte auf einen Stein, um die Umgebung besser überblicken zu können, und rief: »He, He! Hallo!« Niemand antwortete. Niemand wurde sichtbar. Das war unbegreiflich, denn der Schuß war nicht so sehr weit von ihm abgegeben worden. Das Unbegreifliche an der Begebenheit wuchs an der Fremdheit, Ode und Verlassenheit der Buschsteppe, aus der heraus sie sich vollzogen hatte, rasch in eine Unheimlichkeit hinein. Das Bewußtsein seiner Vereinsamung drang erneut und in schärferem Griff in ihn ein. Aus dem in der Ode verhallten Schuß erhob sich eine Drohung, es gebe keine Grenze mehr um ihn, und er könne über die Randlosigkeit seiner Zukunft nur in den Untergang geraten.

Engelbert entfloh der Stätte, wo der geheimnisvolle Schuß gefallen war, und eilte mit hastigen Beinen zur Hütte zurück. Als er ihre umschließenden Wände wieder besaß und den vertrauten Blick durch die Feigenhecke auf die saubere Zucht seines Gartens genoß, fühlte er, daß der vertrauliche Bestand von etwas Heimischem, in das er sich bergen konnte, wieder das Gemüt wärmte, sicherte und befruchtete. Dieses Gefühl, das neu und stark war, nötigte ihn, sich gleich an dem Werk zu tätigen, das Quelle und Ursache der Empfindung war. Er begann eine Absicht auszuführen, an die er schon öfter gedacht hatte.

An der Feigenhecke reiften die Früchte mit drängender Eile und im Übermaß. Viele begannen zu faulen. Das erregte sein Gewissen. Feigen reifen nicht, um zu verfaulen. Wenn er sie trocknet! Wenn er für die Zeit, wo die Hecke abgeerntet ist, einen Vorrat anlegt! Er will später auch Gemüse dörren. Er will Samen ziehen.

Aber es gedieh in dem Garten und in der Hecke Nahrung für hundert Menschen, für noch mehr. Wo sind denn diese hundert, zweihundert Menschen? Er konnte sie nicht herrufen, damit sie ihre Feigen, ihr Gemüse, ihren Samen holen kämen. Also für wen? Für wen sollte er der Schaffer und Verwalter dieser Güter sein? Für jemanden, der nicht bestand?

Man muß den Mut haben, für die Zukunft zu arbeiten, auch wenn man sie nicht kennt, dachte er schließlich. Er kam sich getröstet und gesichert vor. Er begann die reifen Feigen abzuernten. Er legte sie auf den Deckel einer Kiste, alle mit dem Stiel nach oben, dicht nebeneinander, in einer wohlgefälligen, saftigen Ordnung. Darauf suchte er alle Schnüre zusammen, die er finden konnte, zerschnitt sie in handlange Stücke und band diese als Schleifen um die Stielenden der Feigen. Er trug sie auf dem Deckel hinter die Hütte und machte an einem windgeschützten Platz Feuer, und als die Äste verflammt waren und als Kohlen glühten, steckte er zu beiden Seiten der Feuerstelle gegabelte Äste in den Boden. Die Feigen reihte er vermittels der Schleifen auf Stecken auf und legte diese Stecken in die Gabeln. So hingen die Feigen über der Glut, und er wachte, daß sie nur so viel Hitze bekamen, wie ihnen zum langsamen Trocknen gut tat.

Die Arbeit gedieh und machte ihn mit der Fülle der Beschäftigung glücklich. Er hockte an dem Feuer, schürte es, milderte die Glut, wechselte die Stecken aus und dachte zugleich wieder an den Sinn der Zukunft, der in seiner Arbeit lag. Er kam nochmals zu dem Schluß, daß es eine Art von Mut sein müsse, der sie fruchtbar mache. Ein Mut, ins Blaue hinein zu arbeiten, ein Mut ähnlich dem Mut, von dem ein Segelflieger sich hoch ins Blaue tragen läßt. »Hoher Mut«, sagte er für sich, nahm ein ausgekühltes Aststück und schrieb auf den Kistendeckel, auf dem er die Feigen gesammelt ans Feuer getragen hatte:

Hohermuth.

Die Hütte wird so heißen, beschloß er. Durch Hohermuth kam ich hierher.

Er nagelte das Brett über der Tür an und betrachtete es mit der Entzündung seines Herzens und der Zärtlichkeit seiner Augen.

Juch hatte er vergessen. Den Mord an seiner Ziege nahm er hin als einen Eingriff des Bösen in seinen guten Willen. Der geheimnisvolle Schuß ward zum Sinnbild für die Notwendigkeit eines jeden Menschen, gegen die unzähmbaren Kräfte seiner Umgebung zu wachen.

Er arbeitete, bis die Sterne schienen. Die Feigen lagen auf einer Hürde versorgt im Nebenraum. Er legte sich dann an der Kante der Terrasse ins Gras, schaute in die Sterne und suchte nach Sternbildern, die er aus der Heimat kannte. Als er den Polarstern fand, ward es ihm, als ginge von der Stelle aus, auf der er im Gras lag, eine Brücke über diesen Stern zur Reuttermühle. Rosinas Geist konnte diese Brücke wandeln. Von jenseits, wo der eine Fuß des Bogens an den Bach und in seine alten Wiesen setzte, vermochte sie die Wölbung aufwärts zu schweben, bis zu dem Schlußstern in dem Gestirn. Da wartete sie. Und er, von der Hütte »Hohermuth« aus, sandte durch seine Augen seine Seele hinauf zu ihr. Wie schön war jetzt der Tod! Er gab Unvergängliches.

*

Das Unerklärliche, das sich aus der Unsichtbarkeit des Schützen in Engelberts Phantasie gebildet hatte, war nur zurückgerückt und nicht entwichen. Er hatte gestern auch einmal den flüchtigen Gedanken gehabt, der Schütze könne Juch sein. Aus dessen Worten ging nun hervor, daß Juch doch wirklich nicht in Frage kam, da er ganz anderswo gewesen war. Zugleich aber hatte Juchs Erzählung das Rätsel wieder geweckt. Es war wieder da, beunruhigte Engelbert und hatte seine Rätselhaftigkeit gesteigert.

Konnte Juch ihn auf die Spur bringen? Juch kam öfter als er in die Gegend, in der das Ereignis stattgefunden hatte. Er kannte sich vielleicht aus und konnte das unlösbar Scheinende von seinem Geheimnis befreien.

»Ist dir bekannt«, fragte Engelbert, »daß hier in der Nähe noch Menschen …?«

Er unterbrach sich unvermittelt, da durch die Tür ein Schatten in den Raum gefallen war, und als er sich hinwandte, stand ein Mädchen da.

Sie hatten es nicht kommen hören. Es stand da wie hingeblasen. Es stand da in einem langen Rock, der unten auseinander glockte und farbig kariert war. Über ihm trug es einen locker hängenden Kittel von weißer Farbe, der bis auf die Mitte der Hüften reichte und sehr sauber war. Den Hals umschlang ein limonadenrotes Seidentuch. Es war auf der Brust dick geknotet, und unter ihm wurde eine lange Kette sichtbar, die sich aus allerlei Steinen, Gläsern und Früchten zusammensetzte.

Mit einer freien Bewegung trat es aus dem Licht in das Dämmer des Innern und sagte mit etwas schwerer und tiefer Stimme: »Buenos dias, Cabalheros!«

Engelbert sah jetzt, daß es in der Hand einen Aluminiumtopf, eine Eisenpfanne und zusammengebundene Holzlöffel trug. Alles war benutzt.

Es ließ eine Anstandsfrist verstreichen, in der es mit einer unnachahmbaren Schwerelosigkeit eine Hand gegen die beiden hob, die sie wie etwas Unglaubhaftes anschauten. Diese Hand und das Stück Arm, das man in dem weiten Ärmel erscheinen sah, hatte die Farbe von hellem Zitronenholz. Dieselbe Farbe hatte auch das Gesicht. Die Haare waren schwarz und glatt und unter dem breitkrempigen, sich zuspitzenden Strohhut zu zwei Zöpfen geflochten. Sie hingen rund gebogen wie zwei Henkel aus schwarzem Lack über dem Nacken.

»Ich heiße Reinada«, sagte die Stimme, die in ihrer Tiefe wie gebrochen klang und dadurch eine herbe Dunkelheit hatte. »Mein Vater hieß Ciriaco Aleman Reynoso. Wir sind Welser. Ich hörte, da haben sich in unserm Land zwei Cabalheros niedergelassen. Sie kommen aus einem fernen, fremden Land und sind in der Gegend unvertraut. Sie sind allein, und ohne Frau müßten sie hungern. Ich werde für Sie sorgen. Cabalheros, beunruhigen Sie sich nicht. Ich habe einen Topf und eine Pfanne und Löffel mitgebracht, werde auch tanzen abends, wenn Sie das wollen, und ein Grammophon spielen lassen.«

Selbst Juch war zunächst wie aus dem Sattel gehoben. Er schaute das Mädchen an. Auch Engelbert, der nichts von dem verstanden hatte, was es gesagt hatte, schaute es an. Das Gesicht des Mädchens war klein und von der zarten Rundung einer Haselnuß. Die Nase zwischen mäßig hohen Backen war von einer fließenden Schweifung und zarten Schmalheit. Die Augen hatten in den großen weißen, wie vom Widerschein blasser Rosen angeröteten ovalen Sterne von einer fast grellen Dunkelheit.

Da fragte Juch, als er sich hineingefunden hatte: »›Welser‹, sagte die Senhorita, die anmutige Schönheit?« »Ja, Welser sind wir!« bestätigte Reinada.

»Deutsche?« machte Juch.

»Welser«, bestand das Mädchen, »das ist ein alter, sehr vornehmer Stamm, der nur an dieser Stelle der Kordillere sich erhalten hat. Er war zu aristokratisch.«

»In Ordnung«, antwortete Juch nachsichtig und jetzt ganz gefaßt. »Wir freuen uns, anmutige Lieblichkeit!«

Das Erscheinen Reinadas und die Tätigkeit, die sie sofort aufnahm, hielten Juch und Engelbert für eine Zeit von den Dingen fern, die sich am Tag vorher mit ihnen begeben hatten.

Reinada kam nun Tag für Tag. Bald blieb sie nur eine Stunde, während des Essens, bald blieb sie länger, wusch Hemden, Khakianzüge, Strümpfe, reinigte Schuhe und half Engelbert im Garten, ging zu den Pferden und sprach mit ihnen. Sie brachte Eier mit oder einen Truthahn, ein Stück Ziegenfleisch oder Mais und bereitete daraus ein Essen, das sie auf den Tisch stellte, um dann stehenzubleiben und wartend zuzuschauen. Sie sprach nicht viel, aber was sie sagte, war umglänzt von einem sonnenhaften Lächeln ihres schönen Gesichts, umschwebt von der lieblichen Schwerelosigkeit ihrer Hände, die die Worte wie Schmetterlinge umflatterten.

Reinadas Erscheinen und Gegenwart vertiefte in Engelbert das Bewußtsein seiner Einsamkeit, das sich um den unsichtbar gebliebenen und unheimlich gewordenen Jäger in der verödeten Hochsteppe erneuert hatte. Reinada war wie ein fremder Vogel. Er hatte Blut im Körper, seine Augen nahmen die Umwelt auf, die ihm mit Engelbert gemeinsam war. Das Bild ihrer behenden Bewegungen und des Körpers erregte Engelbert. Die Herbheit im Klang der tiefen Stimme verschärfte diese Wirkung. Doch blieb alles wie durch einen Zauber in einer Ferne stehen, und dazwischen lag die Schicht des Fremden. Engelbert dachte nicht daran, sie zu durchbrechen.

Denn durch diese Schicht wanderte ein anderes Bild, stand in einer vertrauten Nähe, in einem Blutschlag, der mit dem seinigen ging. Es stellte Fräulein Else dar. Er sah die Bienenfarbe ihrer Haare. Er sah die Augen, die still, ernst und sachlich ihn auf dem Schiff betrachtet hatten. Er hörte die Stimme, vom Wind vielfach und harmonisch geteilt, die in der Nacht über dem Rettungsboot zu ihm gesprochen und nicht mehr gespottet hatte.

»Else!« sagte er in einer fragenden Mahnung manchmal leise vor sich hin. Dann sagte er es nochmals und horchte dem Klang des Namens nach: »Else!« Gab es einen Laut, der einfacher und inniger die Heimat widerklang? Darin war das Bienengold ihrer Haare, die süße Reife der Haut einer Birne aus dem Garten, die verliebte Buntfarbigkeit eines Busches Federnelken am Rand des Gartenwegs, der durchlichtete Schatten in einem Buchenwald, die anemonenblaue Stille unter ernsten Tannen.

Er hörte in das Sinnen hinein ein unwilliges lautes Wort, blickte auf und sah durch die Tür, wie Juch nach Reinada gefaßt hatte und von dieser abgewiesen worden war. Sie stand kampflustig neben ihm in einem stolzen Zorn. Juch lachte mit einem schmutzigen Belfern. Er sagte laut auf deutsch:

»Denn morgen, wenn's dir heut nicht paßt!« Weggehend schimpfte er noch für sich: »Mir machste nichts weiß, du gelbe Hexe!«

Engelbert, gestört, vertiefte sich in seinen Garten. Er wurde das Bild aber nicht los. Es erzürnte ihn immer von neuem. Dieses Mädchen war sozusagen die Statthalterin des Fräulein Else und dieser gleichgestellt, wenn sie auch nicht die Schicht von Fremde, die zwischen Engelbert und ihr lag, zu durchdringen vermochte. Er wird Juch zurechtweisen müssen.

Doch da kam der Gasthof in Scheidegg in seine Erinnerung, und eine dunkle Schamröte quoll in sein Gesicht. Er bückte sich tief auf das Beet und hoffte, daß Reinada nicht zu ihm und in den Garten käme und dieses Gesicht sähe.

*

Juch ging seine Flinte holen. Er mußte sich tief in das kriechende Gebüsch hineinzwängen, um zu ihr zu kommen. Die Äste drückten ihn eng an den Boden. Sein Gesicht preßte sich über die nackte Erde. Mit einemmal hielt er an. Etwas klopfte. Er legte das Ohr eng an die Erde. Es klopfte irgendwo etwas, mit langsamen, regelmäßigen, spitz aufklingenden Lauten. Da jagte er vom Boden auf. Ein Tier hatte ihn in die Backe gestochen. Er sah es am Boden, es war eine kleine Wespe, und er erschlug sie wütend mit der Faust. Er hieb noch mehrmals darauf, als von ihr schon nichts mehr vorhanden war.

Als er wieder das Ohr an die Erde drückte, hörte er nichts mehr.

Es war ein heißer Tag. Als ob sich ein Gewitter bereite, schwelte die Luft von heimlicher Unruhe und feuchter Hitzigkeit. Hatte sein Blut ihn genarrt? Hatte ihm der Puls so spitz ins Ohr geschlagen in der Hitze? Nein, er hörte nichts mehr.

Sein Gewehr lag noch da. Wer hätte es auch fortnehmen sollen, finden, suchen sollen? Lachhaft! Das Mädchen vielleicht, das sich bei ihnen eingenistet hatte? Morgen wird er …! Warte, morgen! Wie mit hellem Honig flüssig gemachter Lebkuchen war sie. Warte!

Er blieb eine Weile liegen. Erst allmählich besann er sich, daß er ja nicht nur wegen des Gewehrs hergekommen war, sondern wegen etwas anderem, wegen des Schatzes, der unter dem Gras oder Busch irgendwo hier in der Runde ungeduldig verborgen darauf wartete, von ihm befreit und gehoben zu werden.

Er schickte sich an, aus dem Gebüsch herauszukriechen, und war schon fast bis an den Rand gelangt, als er drüben bei den Agaven einen Mann daherkommen sah. Er kam aus derselben Richtung, die Ambos gegangen war, und schritt hastig und lautlos. Was hatte das zu bedeuten? Und da erkannte Juch, daß es derselbe Mann war, der unten im Dorf in die Hütte hineingeschaut hatte, als er die Hühner kaufte.

Auch jetzt ging es wieder so, daß Juch ihn nur von hinten sah.

»Hijo!« hatte die Alte geantwortet, als er nach ihm gefragt hatte. Ihr Sohn? Was suchte er hier? Wo kam er her? Die Hühner waren auch immer hier oben. Weshalb blieben sie nicht beim Dorf? Gab es anderswo in der Welt Hühner, die eine Stunde weit von ihrem Dorf in den Wald spazierengingen?

Juchs Vorstellungen liefen heiß. In einer zornigen Ungeduld zwängte er sich aus dem Buschwerk heraus und richtete sich hoch. Der Mann war verschwunden.

Jetzt lächelte Juch. Schließlich, weshalb sollte ein Mann aus dem Dorf nicht einmal hier durchgehen? Und weshalb sollten die Hühner, die für ihre Nahrung auf sich selber angewiesen waren, nicht diese bis hierher suchen kommen? Das hatte nichts mit Smaragden zu tun, die sich hier verbargen und die niemand finden würde als er, Juch selber. Oder es wäre gelacht.

Aber als er weiterging und auf die Fußtapfen des Mannes traf, merkte er, daß die Beunruhigung, die dessen Erscheinung verursacht hatte, gar nicht fort war, sondern tief wie ein krummer Dorn sich in ihn eingehakt hatte. Er stieg auf den Felsen mit der kleinen Pyramide aus losen Steinen. Aber er sah den Mann nicht mehr.

War das möglich? Konnte der schon so weit weg sein in der kurzen Zeit, daß man ihn auch von hier oben nicht mehr sah? Er wird seinen Spuren nachgehen.

Als Juch wieder unten war, folgte er nicht den Fußeindrücken, die zum Dorf führten, sondern denen, die in die Richtung gingen, aus der er den Mann hatte kommen sehen. Bald jedoch stieß Juch an eine Stelle, an der breite Steinplatten den Boden bedeckten. Die Spur ging ihm dazwischen verloren.

Er suchte und fluchte, ging weiter, fand aber nichts mehr. Er legte das Ohr wieder auf den Boden. Er hörte nichts. Er war zerrissen an einem verborgenen Grimm. Eine laue Unlust beherrschte ihn. Alle Spannung war erschlafft. Der Schweiß sprang aus seinem ganzen wehrlosen Körper. Er schlug sich mit den Knöcheln an die Schläfen, biß auf die Knöchel, um sich wieder hartzumachen. Er bekam sich nicht wieder. Er war sich selber entwischt. Er stieß mit einer verzweifelten Raserei mit dem Fuß in eine Kaktee, und die Stacheln schlugen durch das Leder hindurch in sein Fleisch. Er schrie auf und zertrümmerte die Pflanze mit dem Schaft seines Gewehrs. Er war in einem an Irrsinn grenzenden Zerstörungstaumel, wobei die kugelrunde Kaktee bald den Kopf des verschwundenen Mannes, bald den Engelberts, bald den der Mestizin bedeutete.

Mitten in dem Koller hielt er an, als in seinen Vorstellungen das Mädchen erschien. Die Wut und der Taumel gingen in einen Rausch und in Süchtigkeit um. Er machte, daß er zur Hütte kam.

Reinada war nicht zu sehen.

»Wo ist sie?« fragte Juch in einer hitzigen Enttäuschung kurz und grob.

»Wer?«

»Nun wer? Wer?« schrie Juch unbeherrscht. »Gehört sie dir? Ach du! So?« sagte Juch höhnisch. »Ein passendes Paar! So! Habt euch gefunden? Mahlzeit!«

Er rülpste. Aber mitten aus dem Hohn heraus verlor er alle Beherrschung, alle Besinnung. Er trat dicht an Engelbert heran und schrie ihm ins Gesicht:

»Dreck, Dreck!«

Engelbert sah aus der verbrannten, rehfarbenen Haut des Gesichts, das die Farbe von verschmutzten hellen Handschuhen hatte, die Augen in einem flackerigen Drohen hervorbersten. Und zwischen diesen bös geschwollenen, häßlich entmenschten Augen hing die Nase herab, so unpassend formlos, gemein mit den großen, dunkel behaarten Löchern beiderseits der fahlen Zwischenwand, die übergroß wie ein abgestutztes Schwanzende zwischen den Haaren nach unten stand.

Engelbert fürchtete den Ausbruch und die Feindseligkeit Juchs nicht. Denn Juch bestand nicht mehr in ihm. Die Kraft, mit der er einmal Engelbert unterm Joch gehalten, ihn sich selber abspenstig gemacht hatte, war abgefallen, war erfroren, abgeborsten und aus seinem Gemüt herausgeschmolzen. Wenn er in der letzten Zeit an Juch dachte, stand immer nur dessen Name voran in seinen Vorstellungen. Gegen sie empfand er einen Widerwillen, dem er nicht zu entrinnen vermochte, eine Gegnerschaft, einen zur Gewalttätigkeit aufreizenden Haß. Ja, von seinen Beziehungen zu Juch bestand nur noch die Unerträglichkeit des Anblicks dieser Nase. Ihm war sie wie ein hinterhältiger, zu wildem Ekel aufreizender, verborgener Gestank. Die ganze Persönlichkeit Juchs schien sich in ihre Abscheulichkeit zusammengezogen zu haben.

Engelbert stand da und war mit allen Nerven und Muskeln bereit, den Angriff aufzunehmen und Juch niederzuschlagen. Aber Juch zog sich zurück. Als er außer Reichweite war, bemerkte er hämisch:

»Mußt 'ne schlechte Nase haben!«

»Nase?« rief Engelbert, von dem Wort getroffen wie von einem Fladen Kot, » du hast eine Nase wie ein Hundeschwanz.«

Da veränderte sich Juchs Gesicht. Das Hämische verflog. Eine dunkle Spannung verzerrte es. Die Augen waren in einer Feindschaft, die von Haß waberte, auf Engelbert gerichtet. Juch suchte nach einem Wort. Sie standen eine Weile stumm gegeneinander.

Dann sagte Juch, wie mit einem Hammerschlag, der den Kopf eines Nagels ruhig und fest drauf trifft: »Dummkopf!«

Das war die letzte und einzige Überzeugung, die Juch von Ambos hatte.

Wie hergeblasen stand unversehens Reinada in der Tür. Die Erscheinung beendete den Auftritt. Sie ging in den Kochraum, sie trug ein großes, in Blätter eingewickeltes Stück Fleisch in der Hand. Juch lümmelte sich auf sein Bettgestell und rief ab und zu spanische Kosewörter in die Öffnung zwischen dem Zimmer und der Küche, wo Reinada das Fleisch zubereitete.

»Kostbare Lieblichkeit!« – »Süßes Täubchen!«

Engelbert verstand die Namen nicht. Aber sie hielten ihn gegen allen Widerwillen, den er in Juchs Gegenwart empfand, im Zimmer fest.

»Prinzeßchen, mandelsüßer Liebesschatten!« rief Juch. Reinada arbeitete an den Kochsteinen, schaute nicht um sich und tat, als hörte sie nichts von den Rufen.

Draußen war es dunkel geworden. Reinada kam ins Zimmer, entzündete die Azetylenlampe und stellte Essen auf den Tisch, indem sie sagte:

» Buenos noches, Cabalheros! que aproveche!« und ging zur Tür hinaus.

Juch, der auf dem Bett liegengeblieben war, schickte ihr mit einer übertriebenen Süßlichkeit einen Handkuß hin, winkte mit erhobenem Bein und tat, als nehme er den von seinen Fingern gesandten Kuß mit dem Fuß auf, um ihn ihr nachzuschleudern.

In einem Spanisch, dessen Aussprache er übersteigerte, rief er:

» Hasta la vista, o hermosura!«

Dann sank er zurück und sagte mit speichelndem Mund gegen die Decke:

»Das nennt man 'n Weib!«

Er stieß einen stierhaft brüllenden Laut nach und rief: »Und die Wälder und die Felder und die Muskelkraft.«

Engelbert ließ Reinada an sich vorbeigehen. Als sie durch die Tür schritt, sagte er leise: »Gute Nacht, Reinada.«

Sie wandte sich noch einmal um, schon draußen. Ihr kleines, liebliches Gesicht ward im Schein der Azetylenlampe, eingerahmt von der Nacht, noch einmal sichtbar. Es lächelte mit einer schmelzenden Hingabe Engelbert zu, und der geschwungene rote Mund sagte mit großen Bewegungen sanft und weich die deutschen Wörter nach:

»Gude Na't, Don Elberto!«

Auch Engelbert lächelte.

Sie deutete mit dem Kopf auf das Brett über der Tür, auf dem » Hohermuth« stand. » El nombre!« Und aus ihrem Mund klang die spanische Bezeichnung für »Der Name!« mit seinem dunklen Vokallaut, gefolgt von dem reichen, rollenden Konsonanten, wie eine Ballade. Sie sagte noch: » Hasta la vista!« und hob dazu die beiden Hände mit der Schwerelosigkeit eines Flaums gleich einer Heiligenfigur, die sich dem Herrn darbietet. In dem Karbidlicht lag auf diesen Händen eine Tönung von goldenem Zedernholz.

Dann verschwand sie.

Dieser Abschied klang in Engelbert mit einer süßen Zartheit nach und duldete die vergewaltigende Gegenwart Juchs nicht. Er kehrte ihm den Rücken und nahm zum Schein etwas vom Teller. Nachher wollte er den Rest, den er nicht aß, forttun, damit Reinada nicht sähe, daß er nichts gegessen hatte.

Dann ging er wortlos hinaus und stieg rasch hinter der Hütte in die Nacht hinauf.

Woher kommt sie? fragte er sich. Weshalb ist sie gekommen? Von den Welsern stammt sie, weiß aber nicht, was das ist, die Welser! Hat Fräulein Else vielleicht sie geschickt? Nein, mußte Engelbert lächeln, eher kam sie noch von dem Stern über ihm.

Er war mit einemmal zwischen Süße und Härte eingespannt.

*

Als Engelbert nach Reinadas Abschied die Hütte verließ, lachte Juch ihm mit einem höhnischen Gebelfer nach, ohne sich von seinem Bett zu erheben. Aber rasch gewann in seiner galligen Stimmung das Verschwinden von Ambos eine andere Bedeutung.

»Sie haben es miteinander abgemacht! Klar! Erst geht sie. Er ißt zum Schein. Dann geht er. Sie wartet wo. Ja, wartet! Ich werde ihm sein Schäferstündchen versalzen!« rief er.

Aber es war schon eine ganze Weile vergangen, seitdem Ambos davongegangen war. Wenig Aussicht, sie zu Fuß zu erreichen. Juch lief mit dem Sattel zum Pferdehag und ritt mit dem Schimmel in die Richtung auf das Dorf zu. Er ritt eine Stunde durch die Nacht, sah und bemerkte nichts. Da wußte er, daß es aussichtslos sei, weiter zu suchen. Sie waren anderswo.

Mit einem Fluch riß er das Pferd herum, lenkte es höher hinauf, stieß ihm gewalttätig die Sporen in die Flanken. Da stand es still. Statt den Sporen zu gehorchen, zuckte es zurück und versuchte nach der anderen Seite auszubrechen.

Juch zwang es mit der Kandare zum Stehen. Dann schlug er ihm mit dem Peitschenstiel über die Nase und drückte es an die Stelle zurück, vor der es gescheut hatte. Dort stand ein dichtes Buschwerk, aus dem eine stark verästelte Baumkaktee wuchs. Die Nacht war hell von Sternen. Die fetten nackten Arme der hohen Kaktee griffen wie plumpe Schlangen nach ihnen.

»Was ist denn hier?« schrie Juch.

Er schlug mit der Peitsche auf das Gebüsch. Das Pferd sträubte zurück.

»Du bleibst, du Sau!« brüllte Juch, hämmerte beide Sporen in seine Weichen und zerrte ihm die Kandare wie ein Schloß über die Zunge. Der Schimmel zitterte. In einem bebenden Tänzeln trampelte er auf der Stelle. Juch schoß mit seinem Revolver, den er in der letzten Zeit immer mitnahm, in das Buschwerk hinein.

Das Pferd, entsetzt vor dem plötzlichen Knall über seinen Ohren, warf sich herum, achtete nicht mehr auf die Schmerzen, die die Kandare und die Sporen ihm machten, und raste in der Richtung auf die Hütte davon.

Juch lief lange Zeit Gefahr, von dem toll gewordenen Pferd aus dem Sattel geworfen zu werden. Er mußte seine ganze Aufmerksamkeit und Kraft dagegen einsetzen und gab es auf, dem Pferd seinen Willen aufzuzwingen. Nach und nach gewann der Schimmel etwas Zuversicht und Ruhe wieder. Er galoppierte jetzt durch Gras auf die Hütte zu.

Was war los gewesen?

Hatte er nicht in dem Busch ein leises Aufschreien gehört, als er geschossen hatte?

Als Juch die Hütte durch die Dunkelheit erscheinen sah, bekam er einen Einfall. Er mußte laut grölen, als er sich ihn ausdachte.

»Ich werd' dir dafür 'ne andre Bescherung machen!« rief er. »Bleib bei dem Weib liegen. Morgen wirst du dich drüber freuen!«

Er leitete das Pferd in Ambos' Garten und begann es toll darin herumzuhetzen. Bald galoppierte er über die Beete, bald ließ er es in einem langsamem Trab stampfen, bald in schwerem Schritt trampeln.

Das Pferd war nicht an den weichen, tief gelockerten Boden gewöhnt, sank ein, stolperte. Juch riß es hoch und begann von neuem. Er hörte, wie die Kohlköpfe unter den Hufen knirschend zertrümmert wurden, wie die Blumenbüsche rauschend sich an den Beinen des Pferdes zerbrachen, die Stangen, an denen die Bohnen und die Reiser, an denen die Erbsen rankten, niederbrachen, zerknackten, und er schlug noch mit den Füßen nach. Er lachte höhnisch dazu. Dann sprang er mitten im Garten ab, ließ das Pferd laufen und ging in die Hütte. Die Karbidlampe brannte noch. Er schmiß sie brennend durch die Feigenhecken in den Garten.

Er warf sich angekleidet auf das Bettgestell.

Die Lampe war mit der Flamme in die Erde gefallen und gleich verlöscht, und als Engelbert heimkam, sah er die Verwüstung seines Gartens nicht. Er hätte es nicht ertragen, von Juch angeredet zu werden. Denn alle Sterne waren in ihm und schimmerten in einem goldenen Licht. Deshalb ging er vorsichtig von hinten an die Hütte heran und schlich lautlos durch den Kochraum in seinen Schlafsack.

*

Engelbert war völlig unvorbereitet, als er am nächsten Morgen das Bild seines verwüsteten Gartens sah. Es betäubte ihn. Alles, was er an Liebe in die Erde gegeben, was er an Zeit und Arbeit in sie gelegt, was er an Sehnsucht und Hoffnung ihr anvertraut hatte, war umsonst gewesen. Die Ausdauer seines Willens, die schöne Ordnung seines Fleißes, die Labsal des Gemüts, das Verlangen nach der Zukunft und nach Erlösung aus der Einsamkeit … in die Erde getreten.

Die Pferde seien aus dem Hag ausgebrochen und in den Garten geraten, meinte er und quälte sich mit Selbstvorwürfen, weil er schon lange den Hag fester und geschlossener machen wollte. Alles war seine Schuld. Wenn er auch gegen die Pferde einen heftigen Zorn hatte, er hätte ihn gegen sich haben müssen. Er hatte versagt.

Da sah er auf einmal zwischen den Spuren der Hufe deutlich die Eindrücke der Schuhsohlen eines Menschen. Sie begannen mitten im Garten und reichten zwischen den Hufspuren durch bis an die Feigenhecke. Sie kamen von einem, der mitten im Garten vom Pferd, das die Verwüstung angerichtet hatte, abgesessen und dann auf das Haus zugegangen war.

Juch?!

Engelbert fühlte, wie das Blut aus seinem Gesicht stürzte und er weiß wurde. Er brach durch das Loch in der Feigenhecke in die Hütte.

Juch stand da, eben von dem Schlafgestell aufgestanden.

»Du?« schrie Engelbert ihn an und schaute ihm in die Augen.

»Nein, mein Pferd!« antwortete Juch gleichmütig.

Da nahm Engelbert die Reitpeitsche mit dem geflochtenen Lederriemen, die Juch in der Nacht auf den Tisch geworfen hatte. Er holte weit aus, er schwang sich fast herum, als er sie ihm um die Schenkel schlug. Er warf die Peitsche weg. Er mußte sich gegen ihn entladen Fleisch am Fleisch, Blut am Blut. Er grub seine beiden Fäuste in Juchs Brust und riß ihn auf, stemmte ihn an der Wand hoch und schlug ihn gegen sie, wie ein Brett, das man zertrümmern will.

»Sauhund! Sauhund! Sauhund!« heulte Engelbert keuchend.

Juch hing da oben. Was wird geschehen? Was wird noch kommen? »Bitte nicht …!« stotterte er verstört, entsetzt und armselig.

Da ließ Engelbert ihn fallen. So wie er ihn hoch gehalten hatte, öffnete er die Fäuste, trat weg, und Juch sackte auf den Boden nieder. Er angelte sich an seinem Bett wieder hoch.

Was wird jetzt sein? fragte Engelbert sich. »Sauhund!« sagte er nochmals, und die Raserei stieg von neuem in ihm hoch. Wenn er nicht davongeht, schlägt er ihn nieder, schlägt er ihn senkrecht mit beiden Fäusten auf die Schädeldecke, bis sie zerplatzt, bis das Gemeine, das unter ihr war, an die Wände spritzt.

Er stöhnte vor Grausamkeit und Blut. Er lief hinaus. An der Tür prallte er auf einen Mann, der im Begriff war hereinzukommen. Er sah, der Mann hatte ein gelbes Gesicht. Das Gesicht begann in der Sekunde, da es ihn sah, schwungvoll zu lächeln, und zugleich kam eine üppige spanische Rede über den Mund. Es war wohl einer von Juchs Kumpanen. Engelbert kümmerte sich nicht um ihn und drängte vorbei und hinaus, trat an eine Ziege, die der Mann an einem Strick hinter sich hielt, stolperte, richtete sich wieder auf und eilte davon. Er entfloh der Verwüstung seines Gartens, der Gegenwart von Juch und der Drohung seiner aufgewühlten Instinkte.

Der Mann trat mit der Ziege nun in das Innere. Juch war mit trüben Augen und gelähmten Sinnen an der Wand stehengeblieben. Die Erscheinung des Mannes schreckte ihn auf.

»Was willst du?« herrschte er den Eingetretenen an.

Der ergoß einen Schwalm von höflichen und überschwenglichen Begrüßungsworten über ihn.

Da stand auf einmal Reinada neben dem Indio.

»Es ist Hijo, Senhor«, sagte sie. »Er wollte eine Ziege an die Herren verkaufen, damit die Herren immer frische Milch hätten und Käse machen könnten.«

Nun erst schaute Juch den Eingetretenen an.

War das nicht …?

»Eine Ziege?« schrie er und starrte dem Indio ins Gesicht. Hijo! Ja, Hijo! Ja, das war der Mann, der im Dorf in das Haus geschaut hatte, in dem Juch die Hühner kaufte, der an den Agaven vorbeigegangen war, wie Juch nach den Smaragden suchen wollte.

Und in dem Augenblick, da Juch ihn erkannte, befiel ihn wieder eine Welle von Mißtrauen und Angst und zwang ihn, einen raschen prüfenden Blick auf die Kiste zu werfen, in der die Smaragde verborgen waren. Juch tat es in einer Bewegung, die er tagsüber in Engelberts Gegenwart hundertmal in einer Art von Zwang und Gewöhnung verrichtete. Es ward ihm zunächst nicht bewußt, daß er zu der Kiste niedergeschaut, sobald er in dem Fremden den Mann erkannte, der ihn schon zweimal beunruhigt hatte.

Aber dann sagte etwas in ihm, daß er sich durch den unbeherrschten Blick hätte verraten können. Was hatte das Frauenzimmer mit diesem Hijo zu tun?! In einer jähzornigen Aufwallung gegen sich selber trat er auf Hijo zu und riß ihm die linke Hand aus der Hosentasche.

»Was machst du mit der Hand immer in der Hosentasche?« schrie Juch. Da sah er, daß die Hand mit einem Tuch umwickelt war.

»Zeig!« befahl er.

»Oh, es ist nichts«, lächelte gutmütig und besänftigend Hijo. »Nicht der Mühe wert, daß sich Euer Gnaden um die Hand sorgt, die ein armer Indio sich an einer Kaktee aufgerissen hat, als er die Ziege einfing, die er für die Herren bestimmte.«

Aber zugleich gingen seine Blicke auf die Kiste nieder und dann im selben Zug zu Reinada, und mit einem unmerklichen Nicken sagten deren Augen: »Ja, das ist sie!« Doch Hijo ließ keine Zeit zwischen seine stumme Frage und Reinadas stumme Antwort kommen, sondern fuhr in einem Atemzuge fort: Die Ziege sei nicht teuer. Und sie gebe viel Milch, und gute, würzige Milch, aus der sich ein wunderbarer Käse machen ließe, und sei für vier Bolivares im Besitz der Herren, so schmerzlich es auch für ihn sei, sich von dem vertrauten, geliebten Tier zu trennen.

Er zerrte die Ziege an dem Strick vor. »Beschauen Sie sich sie nur, Euer Gnaden«, sagte er, »prüfen Sie alles an ihr. Fühlen Sie ihren Euter ruhig und genau an. Ich habe völlig Zeit zu warten, bis Sie festgestellt haben, daß ich nichts Schlechtes verkaufen will, daß die Ziege ein erstklassiges Tier ist. Das Beste ist für Euer Gnaden grade gut genug.«

»Hab' mich gern!« warf Juch hin, wandte sich weg und kümmerte sich nicht mehr um die beiden.

Hijo sah Reinada unschlüssig und unglücklich an.

»Du sprichst besser mit Don Elberto! Dieser Herr hier kümmert sich nicht um das! Komm!« sagte Reinada tröstend.

Sie gingen.

Nicht lange nach ihnen verließ auch Juch die Hütte. Er nagelte vorher die Kiste zu und schob sie ganz unter das Bettgestell, hängte Decken darüber, so daß sie von außen nicht mehr zu sehen war.

»Ich werde nicht mehr da wohnen bleiben, was such ich noch da? So 'ne Lehmhütte ist rasch überall aufgestellt«, sagte er sich, als er eine Weile fort war und zu der Stelle zog, die ihm etwas wichtiger war als die Hütte. Es handelte sich jetzt darum, systematisch das Terrain abzusuchen. Das Handwerkszeug konnte er sich holen, sobald er es brauchte.

*

Als Engelbert zur Hütte zurückkam, war er entschlossen, sie und die Gegend zu verlassen. Er vermochte nicht länger mit Juch denselben Platz zu teilen, ja nur seine Nähe und die Möglichkeit einer Begegnung zu ertragen. Er war verzweifelt. Ihm war, als habe er sich Wurzeln blutig ausgerissen.

Er fand Reinada in der Hütte.

»Don Elberto!« sagte sie, ging zu den Ponchos, hob sie hoch, zeigte auf Juchs Gewehr und sagte das deutsche Wort: »Bös!« Ging zu Juchs Bett und wiederholte das Wort. Sie winkte lebhaft: »Nein!« mit ihrer kleinen, schwebenden Hand, an der sie den Zeigefinger hochstreckte und erregt hin und her gehen ließ.

»Attention!« sagte sie. »Bös hombre

»Ich weiß«, nickte Engelbert betrübt und niedergeschlagen. Dennoch lächelte er sie an: »Woher weiß Reinada deutsche Wörter? Sag!«

Aber sie beantwortete nur mit einem fragenden Lächeln voll schmelzender Hilflosigkeit und Fremdheit die Rede, die sie nicht verstand.

Sie hatte ihren Strohhut abgetan, und Engelbert sah ihre Haare eng, glatt und glänzend auf dem kleinen Schädel. In der zärtlichen Anwandlung eines Menschen, der sich einsam fühlt und an der Gegenwart eines Mitlebenden einen Trost sucht, streichelte er mit der Hand sacht über diese Haare. Da glitt sie wie ein Blatt, das sich von einem Baum löst, an ihn hin.

Er war verlegen. Dann hielt er sie mit einer sanften Bewegung von sich und sagte mit einem Lächeln, das wie ein Schmerz durch sein Herz schnitt:

»Fräulein Else!«

Weshalb er gerade den Namen sagte, darüber gab er sich keine Rechenschaft. Er hätte dasselbe mit Rosinas Namen oder dem der Reuttermühle sagen können. Denn an diese dachte er, als er Reinadas Körper auf sich zukommen fühlte.

Reinada stand nun da. Sie schaute zu ihm auf wie ein gescholtenes Kind. Aber ein eigenwilliges und trotziges Leuchten schoß aus ihren Augen, und ihr Körper nahm die Haltung eines herausfordernden Sichdarbietens an. Es war Engelbert, als hielte sich das Mädchen ihm in ihren eigenen Fäusten entgegen.

Einen kurzen Augenblick waren seine Augen wie ertrunken in ihr, seine Sinne wie in sie eingehakt. Dann nahm er hastig und in einem gewaltsamen Entschluß sein Gewehr. Er ging in den Kessel hinab. Er schoß alles, was ihm vor die Mündung kam, ließ es liegen: Tuncanos, Goldhasen, Reiher, Papageien. Ein Affe stürzte getroffen mit dem Bauch auf einen Ast. Er schlang seine Arme um ihn, und im Todeskampf an den Ast festgeklammert, schrie er wie ein Kind, das zu Tode geprügelt wird.

Da war der Rausch aus. Unglücklich, wie zerfasert, strich Engelbert weiter. Er schoß nicht mehr. Er wollte Ruhe. Aber von diesem Tage an kam der Trieb zur Jagd immer wieder von neuem in ihn und wühlte seine Instinkte auf wie ein Flußpferd den Schlamm des Wasserlochs, in dem es lag und gereizt wurde.

*

Juch hatte die kleine Pyramide Stein um Stein abgebaut und dabei genau Obacht gegeben, ob nicht durch die Lage der Steine vielleicht ein Hinweis verraten werde, wo der Schatz zu sichten sei. Aber die Steine schienen willkürlich zusammengepaßt und übereinandergeschichtet zu sein. Er stellte auch fest, daß vielleicht jahrhundertelang keine Hand mehr an die Steine gerührt hatte, denn sie waren im Innern fast in die Erde gewachsen, die Regen und Wind zwischen die Steine gespült hatten. Die Erde hatte sich mit Wurzelwerk durchsponnen und hielt zäh wie ein Drahtgeflecht. Bald kam Juch mit den Händen nicht mehr weiter.

Er entschloß sich, in die Hütte Werkzeug holen zu gehen. Er häufte die abgetragenen Steine wieder zusammen, damit von unten sein Eingriff nicht festgestellt werden konnte, und machte sich auf den Weg.

Es war niemand in der Hütte, als er kam. Er ging gleich zu dem Bettgestell, unter dem er die zugenagelte Kiste verborgen hatte. Sie war nicht mehr da.

Er suchte sie vergeblich. Sie war nicht im Zimmer, nicht im Kochraum, nicht in dem angebauten Schuppen, nicht vor dem Haus. Nirgends war eine Spur von ihr. Der Garten lag verwüstet. Niemand hatte ihn angerührt. Die Peitsche war noch auf der Stelle am Boden, wo Ambos sie hingeworfen hatte.

Ein Koller erfaßte ihn. Er trampelte auf der Peitsche herum, nahm sie, biß hinein, versuchte sie zu zerfetzen, warf sie in die Feigenhecke. Er schmiß den Tisch um. Er riß die Ponchos von den Nägeln an der Wand.

»Ich warte, bis du zurückkommst«, brüllte Juch zur Tür hinaus.

Aber als er wieder überlegen konnte, mußte er sich sagen, daß nicht Engelbert es war, der die Kiste genommen hatte. Sein Gewehr fehlte an der Stelle, wo er die Ponchos weggerissen hatte. Er war auf der Jagd. Es war natürlich, daß er nicht da war. Das hatte mit der Kiste nichts zu tun. Engelbert hätte sie ja nicht zu stehlen brauchen. Kam es ihm auf den Schnaps an, so hätte er ihn Flasche für Flasche aus der Kiste trinken können. Kam es ihm auf die Smaragde an, so hätte er sie aus der Flasche herausnehmen und diese wieder zurücklegen können. Das wäre einfacher und unauffälliger gewesen, als die ganze Kiste wegzugeben.

Wenn aber nicht Engelbert, wer dann? Das gelbe Luder? Sonst kam niemand in Frage. Denn den Zufall konnte er ausschließen, daß einer vorübergegangen und an der Kiste Interesse gefunden hätte. Da wären noch andere Dinge dagewesen. Sein Gewehr zum Beispiel. Aber er wird sie finden. Er wird sie zurückbekommen, seine Kiste! Bloß, kam es darauf an? Hatte es Bedeutung, daß er seine Kiste wiederbekam? War die einzige Gefahr nicht die, daß seine Steine gefunden wurden? Seine Steine waren die Geheimboten, die der verborgene Schatz zu dem Menschen schickte, der die Gnade hatte, zu dem Menschen, dem langerhand vom Glück das Geheimnis des Schatzes bereitet ward.

Ob die Steine in der Flasche Wert hatten oder nicht, das war jetzt gleichgültig. Aber daß die Steine gefunden wurden, daß man ihnen auf die Spur kam, daß man jetzt wußte: ein Schatz verbirgt sich in der Gegend. Daß er, Juch, nun nicht mehr der einzige war, der die Gnade hatte, der einzige, auf den der Schatz im Verborgenen wartete.

Es war seine Schuld. Aber so war es immer. Erst die Dinge leicht nehmen, die kostbaren Steine in einer Flasche herumtreiben lassen, statt sie einzugraben oder sie in einem Beutel auf der Haut bei sich zu halten, und dann wütend zu sein und Widersacher zu beschimpfen!

Er stieß in einer neuen Raserei mit dem Fuß das Bettgestell um. Es flog auf das von Ambos.

Er durchsuchte die Taschen in den Kleidern, die von Ambos in der Hütte hingen. »Lachhaft! Irrsinn!« schimpfte er gegen diese Griffe in die Taschen, die natürlich leer waren. Denn die Steine waren jetzt in einer der Hütten im Dorf. »Such sie doch!« höhnte er mit sich selber, »Schatzsucher, dem man den Schatz gestohlen hat! Durchstöbere die Aschenlöcher der Indianerhütten! Nimm den Leuten die Strohhüte ab und suche die Steine zwischen den Läusen ihrer Haare! Kämme die Schilfdächer nach ihnen aus! Kratze sie aus der Erinnerung des Diebes!«

Schließlich nahm er seinen Schlafsack, holte die kurze Haue, die er in Maracaibo gekauft hatte, wickelte sie hinein und ging rasch davon. Er nahm einen andern Weg zurück als den ausgetretenen Pfad. Er ging etwas höher und durch weglose Buschsteppe. Eine Antilope jagte vor ihm vorbei. Weshalb hat er nicht sein Gewehr auch mitgenommen? Er wird es vielleicht jetzt brauchen können? Ja, nie in seinem Leben hätte er sein Gewehr nötiger gehabt, schien ihm jetzt. Er mußte Diebe verfolgen. Er mußte Schatzsucher abschießen.

Er konnte sich aber nicht entschließen, zurückzugehen und es zu holen. Er wollte es lieber ein andermal mitnehmen. Denn jetzt kamen, ein Stück ums andere, allerlei Tiere vorbei. Da war was los, was man kennenlernen mußte. Sie jagten, als seien sie auf der Flucht vor etwas, dem Juch nun begegnen mußte, mit dem er nun Zusammenstößen mußte. »Das Gewehr! Himmeldonnerwetter, das Gewehr!«

Aber er hatte ja den Revolver bei sich. Er lud seine Last ab, zog den Revolver aus der Ledertasche und steckte ihn entsichert in die Tasche der Jacke.

»Der Jäger hinter dem fliehenden Wild wird Ambos sein«, sagte er sich mit einemmal. »Sein Gewehr fehlte. Klar, daß es Ambos war.«

Er hielt nicht darauf, mit ihm zusammenzutreffen. Der Striemen über seinem Schenkel brannte noch an den Reibungen mit dem Khakistoff der Hose. Das war noch etwas, das in Ordnung zu bringen war. Die Gelegenheit wird sich ergeben. Erst das Wichtigere! Denn es gab keinen Schnellzug und kein Postflugzeug hier, mit denen man sich dünne machen konnte. Aber mit den Smaragden wäre es möglich, daß einer zuvorkommt.

Um nicht von Ambos gesehen zu werden, zwängte er sich in eines der dichten Buschstücke ein, die hier eng zusammen standen und das ganze Gelände fast zu einem geschlossenen Wald machten.

Er stand eine Weile da, als er ein Streifen hörte. Das hohe, starre Gras klang an der Berührung mit den Schritten eines Menschen, oder es waren die Kleider, die sich am Laub der Büsche rieben. Jetzt wird Ambos kommen.

Aber der, der kam, war nicht Ambos. Es war Hijo. Er trug etwas unter der Jacke verborgen, wer weiß, was es war. Der Indio ging rasch vorbei, lautlos bis auf das streifende leise Geräusch, das die Gräser mit seinen Beinen machten.

Und wie Juch Hijo erkannte, da wußte er auf einmal: »Der!« Er wußte es aus der Tiefe seines bösen Instinkts. Er wußte es aus der Hingabe seines Gemüts an den verborgenen Schatz: »Der ist es, der die Kiste gestohlen hat!«

Und Juch wußte jetzt, daß er nicht nur die Kiste gestohlen hatte, er wußte auch:

Der hat in der Hecke gestanden, in die Juch nachts, als er Ambos und das Mädchen suchte, hineingeschossen hatte, und er hat ihn an der Hand getroffen. Deshalb der leise Aufschrei und das Tuch, das er um die Hand gewickelt trug.

Er wußte jetzt, daß dieser Mann das gelbe Mädchen geschickt hatte, um ihn auszuspionieren, wußte, daß ihm der verschollene Schatz bekannt war und er nach ihm suchte und fühlte, daß auch Juch nach ihm her war.

Er fuhr mit der Hand in der Tasche an den Revolver, suchte mit der Fingerspitze das kleine Loch der Mündung des Laufs: »Du, du!« flüsterte er ihm zu, »Bruder, Bundesgenosse!« Schmeichlerisch umkoste seine Fingerspitze die Mündung, und er preßte sie kosend hinein und wie zu einer Beschwörung: »Er heißt Hijo!« sagte er dann der kleinen Öffnung, »der Sauindianer Hijo! Jetzt weißt du's, für den Fall, daß es einmal notwendig wird, nicht wahr? Er ist aus weichem Fleisch. Du bist aus Nickel und Stahl. Dir kann nichts geschehen. Dir kann keiner ein Loch in den Bauch machen. Aber dazu bist du da, weil du mein Freund und Bruder bist.«

Das Streifen der Beine durch das Gras war noch zu hören, entfernte sich aber rasch. Ein flammend roter Kardinalvogel flog dem Entschwundenen nach. Er flog so rasch, als habe er eine besondere Eile, als sei er aus einer Schleuder geschossenes Blut.

So schnell wie die Kugel, übersetzte sich Juch die Erscheinung und den Flug des Vogels. Schnelligkeit, das war jetzt der Schlüssel: »Wer zuerst die Smaragde findet! Wer zuerst schießt! That's all!« Und die beiden Begriffe verbanden sich in Juchs Einbildungskraft zu der Vorstellung von zwei Zwillingsbrüdern, an die ihn auf immer ein Bündnis knüpfte, eine Blutsbrüderschaft. Blut, rot wie der Vogel.

Während er seinen Weg wieder aufnahm, an dem der andere ihn aufgehalten hatte, überdachte er sich, daß etwas gewiß sei, nämlich, daß der Indio von dem Geheimnis der Pyramide nichts wußte. Denn sonst hätte Juch nicht die Haue holen müssen, um die vom Alter zusammengebackenen Steine auseinander zu kriegen und auf das Zeichen zu kommen, mit dem man erst den Schatz erlösen konnte.

Als er schon auf dem Felsen war und sich an die Arbeit begeben wollte, überlegte er es sich wieder anders. Es könnte einer zuschauen. Er wird die Arbeit lieber in der Nacht machen. Gestern ist der Mond um neun Uhr aufgegangen. Um zehn Uhr wird es heute hell genug sein. Er wird hier schlafen. Er wird sich gleich in seinen Schlafsack einwickeln und vorschlafen und wach die Nacht und das Geheimnis angehen, das die Steine zu klären hatten.

In der Dämmerungszeit jagten plötzlich Wolken von der Sierra von Merida her und häuften sich über dem Kessel gegeneinander. Es begann bald zu regnen. Der Himmel ergoß sich hemmungslos auf die Erde. Die ganze Landschaft schrie und brüllte vor dem Regen. Er zerknallte auf dem Felsen wie Millionen von Pulverfröschen. Er bedonnerte den Schlafsack, in den sich Juch unsichtbar verkroch, und trommelte die Erde und Juch in einem. Juch wuchs unter dem Gedonner dieses Regens in die Erde, rann mit dem Regen zu den verschollenen Smaragden, die ja auch Kinder des Regens waren. Nie hatte Juch sich erfüllter, nie so nahe dem Glück gefunden wie in diesem Regen.

Wenn der Regen auch die fiebrige Kälte, die er mitbrachte, in den Schlafsack hineinspülte, sie Juch durch die Glieder schraubte, daß sie sich schüttelten, daß ihm die Zähne aufeinanderknackten … Dies war die Nacht, die Juch gehörte. Er sang in seinem Bettsack:

»Seht den Gesandten des Herrn!«

Er hatte es aus einer Oper behalten. Heute paßte es auf ihn, da er vom Schicksal bis auf weniger als seine Körperlänge, die die Pyramide an Höhe maß, an die Erlösung des vergessenen Schatzes hergetragen worden war.

Nirgends in der Umgebung hatte er die Hand des Menschen feststellen können. Nur an dieser einsamen Stelle, deren geweihten Geist die Hühner ihm verraten hatten, war ein Zeichen hingestellt worden. Der Schatz, den es kündete, war von Hohermuth verborgen worden, vor vierhundert Jahren, als der mit seiner Truppe in das Land eindrang. Und dann ist die Erinnerung an ihn verlorengegangen. Wahrscheinlich, weil Hohermuth nicht viel übrigließ von denen, die Erinnerung hätten aufbewahren und weitergeben können.

Es wird auf die Lösung einer geometrischen Aufgabe herauskommen. Es wird eine Unbekannte X erscheinen, wenn Juch nachher die Steine weggeräumt haben wird. Solche Geschichten gab es überall in der Welt, wo die Weißen zu anderen Völkern, überall wo Krieg und Eroberung hingekommen waren.

Er suchte in seinen Erinnerungen Erzählungen alter Leute aus seiner Heimat zurück, die an der Rheingrenze lag, wo so viele Kriege durchgegangen waren, Mitteilungen aus Reise- und Geschichtsbüchern.

In den Schwärmen seiner neuen Vorstellungen baute er diese These aus und schwelgte, während vor Nässe und Kälte ihm die Zähne aufeinander klapperten, als hingen sie lose im Wind aus seinen Kiefern.

Der Regen hatte aufgehört. Juch hätte anfangen können. Aber wie lustig war es, mit solchen Dingen große bewegte Gemälde durch die Phantasie zu bauen! Juch blieb noch im Schlafsack. Er steckte den Kopf heraus. Er wollte die Pyramide sehen, seine Pyramide, nur einen Blick genießen! Zwei Lichter schillerten auf ihr, kleine Lichter phosphorisch glühender Smaragde. Sie standen nahe beieinander, nahe über Juch. Und seine Augen, die sich allmählich an die Dunkelheit gewöhnten, erkannten nach und nach die Umrisse eines kleinen runden Kopfes um die beiden Lichter. Ein im Dunkeln gefleckter Körper schmiegte sich um die Steine hinauf und zeichnete sich in dem sich erhellenden Nachthimmel dunkel in dunkel ab.

»Kss!« machte Juch leise.

Da schossen die Lichter her, nur eine Sekunde lang, fast in demselben Augenblick fuhren sie auf, waren wie zwei Feuerstreifen, dann verschwunden, und ein Körper schwebte hinter ihnen her, in einem lautlosen weichen Bogen über die Steine, und in die Dunkelheit, wie eine Welle. Es gab noch ein kurzes, knisterndes Rauschen unter dem Felsen.

Juch hatte im letzten Augenblick erkannt, daß es ein Leopard gewesen, der auf den Steinen gelagert hatte.

»Ich fürchte dich nicht«, sagte er ihm nach, befreite sich rasch von dem Schlafsack und bereitete seinen Revolver vor. Aber er steckte ihn gleich wieder ein. »Du fürchtest mich!« sagte er halblaut ins Buschwerk hinab. » Farewell!« An der Gefahr, die ein edles, wildes Tier brachte, konnte das Unternehmen in seiner Einbildungskraft, in seinem in Flammen gesetzten Temperament nur gewinnen.

Er begann gleich mit der Arbeit, während der Mond durch die Wolken trat, die über einem Berg im Osten eilig abzogen. Juch arbeitete vorsichtig und ohne Unterbrechung. Der Kern der Pyramide war wie mit Zement zusammengebacken. Oft mußte Juch die elektrische Taschenlampe zu Hilfe nehmen, um eine Stelle zu finden, durch die er zwischen zwei Steine kam.

Nach langer Arbeit gelangte er auf den Grund. Zwischen den Steinen hatte er nichts Bemerkenswertes gefunden, auch nichts zu finden erwartet. Was er finden zu müssen meinte, konnte nur in dem Fels selber und von den Steinen zugedeckt worden sein. Als er spürte, daß keine lockeren Steine mehr vorhanden und er auf der Grundlage angekommen war, legte er die Haue hin und atmete auf. Sein Herz stach ihn in einer Spannung voll Angst und Erwarten.

Wenn er jetzt den Scheinwerfer seiner Taschenlampe auf die kleine Stelle richten würde, so stünde das geheime Zeichen da, das ihm bestimmt war. Aber er wagte es nicht. Er wagte nicht die Probe zu machen. Er stand vor dem höchsten Augenblick, den ihm sein Leben zu bescheren versprach. Für diesen Augenblick, schien ihm, sei er geboren worden, für diesen Höhepunkt. Und nun wagte er nicht, ihn zu besteigen.

Was hatte er, Juch, eigentlich noch mit Ambos zu tun!

»Es wächst der Mensch mit seinen größern Zwecken …« Er begann das Zitat mit Spott und beendete es in einem erregenden Ernst und in feierlicher Hochspannung. Welcher Mensch auf der Erde hatte einen Sprung getan wie den seinen, aus dem Mietzimmer der Dorfschmiede von Mariathann, das er nicht bezahlen konnte, bis ins Geheimnis des Schatzes eines alten verschollenen Volkes in einem fremden Weltteil!

Während das durch seine Vorstellungskraft zog, reckte er in einer darbietenden Ekstase das Gesicht nackt in die Nacht, in der er das Weben der Mächte spürte, von denen er zu dieser Stunde gesegnet worden war.

Aber er erlebte eine Enttäuschung. Diese Mächte kamen nicht so bereitwillig aus der Nacht zu ihm hergeströmt, wie er es erwartet hatte. Statt ihrer kam auch von hier die Bangigkeit: ja oder nein. Was würde er finden, wenn er den Scheinwerfer seiner Taschenlampe in die Dunkelheit wendete, in der zu seinen Füßen der Stein verschwand.

Unversehens fand er sich von einer Erregung gepackt, die wie mit kleinen, schnellen und scharfen Hieben ihm im Hirn schlug. Seine Nerven zitterten in den Fuß- und Armgelenken. Er schloß die Augen, als sei die Nacht nicht finster genug, das letzte noch hinzuhalten, die Möglichkeit eines Nein noch zurückzustauen.

Ein Einfall lenkte ihn nochmals mit einem vernünftigen Grund ab:

Es sei klug und vorsichtig, seinen Eingriff an der Pyramide unkenntlich zu machen, und er begann den Steinhaufen dicht neben der Stelle, wo er gestanden, wieder aufzubauen. Dann könnte einer, der morgen bei Tageslicht unten vorüberging, nicht einmal sehen, daß jemand die Nacht hindurch hier oben auf dem Felsen etwas getan hätte, der Seele dieser Landschaft in die Flanken gegriffen hätte.

Als er mit dieser Arbeit fertig war und auch schon das erste Tagesgrauen kam, drückte er die Fäuste an die Schläfen. »Ich kann nicht mehr«, stöhnte er, sein Herz schmerzte ihn, in seinem Hirn kochte es, seine Nerven schienen in elektrischen Entladungen zu knistern … nicht mehr warten! Nicht mehr warten!

Mit nur halb hingewandtem Gesicht richtete er die Taschenlampe auf den Stein, schob in einem jähen Entschluß den Schalthebel auf, stürzte auf die Knie und fuhr mit der freien Hand über den Stein, als griffe er nach einer Frau, griffe nach Glück und Seligkeit:

Wo die Pyramide gestanden hatte, sah er zwei verkehrt ineinandergeschobene Dreiecke.

Unvermittelt war dann bei Juch die hochgespannte Erregung verlaufen.

»Ein Davidsbogen!« sagte er, auf einmal durchaus nicht erstaunt. Es war eines der Zeichen, in dem alte Völker in einem Ornament eine geheime Kunde erstatteten.

»Was hast du mir zu sagen?« fragte er. »Wo zwischen deinen Schenkeln liegen die Smaragde?«

Es war klar, daß in diesem Zeichen der Schlüssel zur Geographie der Umgebung war. Er nahm sein Notizbuch, und die Gegend überschauend, sie ausspähend, trug er die im steigenden Tagesdämmer vereinsamt aus Buschwerk auftauchenden Felsentrümmer ein, die er von hier aus sah. Vom Kriege her kannte er sich ein wenig mit Kartenzeichnen aus. Auch hatte er schon einmal Landmesser gespielt. Es kam darauf an, die Entfernungen zwischen den einzelnen Felsen in richtigem Verhältnis zueinander in das Bild zu bringen, das auf den zwei Seiten des Notizbuches unter seinem Bleistift entstand. Konnte man dann aus der Lage der einzelnen Felsen einen Davidsbogen erkennen, so wie er hier zu seinen Füßen vor Jahrhunderten in den Stein gemeißelt worden war, so hatte man den ersten Teil des Rätsels gelöst. Den zweiten zu lösen war leichter. Denn das Gebiet, in dem zu suchen war, hatte die Lösung des ersten Teils abgegrenzt.

Es stellten sich Schwierigkeiten ein, da es sich als unmöglich erwies, in dem bewegten Gebiet auch nur annähernd die Entfernungsverhältnisse mit dem bloßen Auge abzuschätzen.

Er verbrachte drei Tage damit, schrittweise die ungefähren Abstände herauszubekommen. Er hatte sich eine Holzleiste geschnitzt und sie in Grade eingeteilt; mit ihrer Hilfe zeichnete er die Topographie der Gegend in sein Buch.

Nachts schlief er jetzt zwischen zwei Felsen, die zu einem Schacht auseinander gespalten waren, am Scheitel aber zusammenhingen. So konnte es regnen, ohne daß der Regen ihm etwas antat. Der Spalt war auch ein guter Schlupfwinkel. Wenn man auf das Dorf zuging, war ein alter Bestand von Bananen, die früher wohl zu einer Hütte gehört hatten. Von der Hütte war nichts mehr zu sehen, und es waren große, grobe Früchte, Pferdebananen. Aber Juch suchte ja etwas anderes hier als Leckerbissen. Mit den Bananen nährte er sich.

Am Vormittag des dritten Tages, als er sich wieder Bananen holte, kam Hijo auf ihn zu. Er schien in den Bananen auf ihn gewartet zu haben. Er hatte ein bekümmertes Gesicht und grüßte voll Ernst und mit einer sorgenvollen Feierlichkeit.

»Euer Gnaden«, sagte er, »haben die Steine auf dem Felsen auseinander genommen und versetzt. Sie hätten das nicht tun sollen, Senhor. Das ist niemandem erlaubt.«

Juch schaute ihm in die Augen und sah ein starres Licht darin, das er auf seine Weise deutete. Er steckte die Bananen in die Tasche, zog seinen Revolver und setzte ihn Hijo mit einem derben Stoß an die Rippen.

»Lauf!« sagte Juch. »Schau ab und zu deine Hand an! Und zeig dich nicht mehr!«

Hijo ging gemessen und in der Richtung des Dorfes davon.

Juch erschlug am Nachmittag eine Schlange. Er sah auch frische Eindrücke der Tatzen eines Leoparden. Ob es der Freund war, der ihn an der Pyramide besuchte, mit den Smaragdaugen in der Nacht? Er hatte keine Lust und auch keine Zeit, den Spuren nachzugehen. Er fürchtete sich auch nicht.

In einer späten Nachmittagsstunde war er mit seiner Landkarte fertig, und ohne Schwierigkeit war auf ihr zu erkennen, daß, wenn man den Felsen mit der Pyramide als den südlichsten Punkt des Davidsbogens nahm, sich eine Gruppe nördlich gelegener Steine in die Zeichnung zusammenpassen ließ.

Er erkletterte nun der Reihe nach diese Felsen, die die Umfassung der Stelle bildeten, in der sich der Schatz verbarg. Er suchte sie nach weiteren Andeutungen ab, fand aber nichts an ihnen, was von Menschenhand herrühren konnte.

Nun ging er zur Pyramide zurück. Er reinigte sorgfältig den Davidsbogen und dessen Umgebung. Er lag eine Stunde mit dem Bauch auf der Erde und durchforschte das Zeichen und die Stelle, an der er eingemeißelt war.

Es war nichts anderes zu finden. Kein weiterer Anhaltspunkt war von den alten Verbergern des Schatzes gegeben worden.

Da sagte sich Juch: Dann liegt er im Mittelpunkt der beiden Dreiecke.

Daß es eine Smaragdader war, die hier vor vierhundert Jahren von den Eingeborenen vor den Spaniern oder den Deutschen verborgen und dann vergessen worden war, davon war Juch vollkommen überzeugt. Das hatten die Hühner deutlich verraten.

Juch fand als Mittelpunkt den auseinander gespaltenen Felsen, in dem er übernachtet hatte. Ich hätte das erraten können, sagte er sich, als er sich hineinzwängte. Wenn eine Steigerung seiner Gewißheit über den baldigen Besitz des Schatzes möglich gewesen, so wäre dieser so kenntlich gemachte Ort angetan gewesen, sie ihm zu verschaffen. So empfand er nur eine vertiefte Genugtuung vor der Zukunft.

Er begann sogleich die Wände zu untersuchen. Nirgends waren Spuren von Menschen erkenntlich. Gewachsener Stein überall. Die Spaltung schien von einer Naturkraft herzustammen.

»Vierhundert Jahre!« sagte sich Juch und dachte an die zusammengebackene Grundlage der Pyramide und seine Mühen, sie auseinander zu bekommen. Er mußte Geduld haben mit dem Ort. Die Natur hatte den Eingriff von Menschenhand wieder unkenntlich gemacht.

Er wird hier Wohnung nehmen. Das war so einfach und so gegeben wie etwas. Er wird sich zu seinem unsichtbaren Schatz ins Bett legen, scherzte er, und einmal wird der sich dann vergessen und die Tarnkappe abnehmen. Um die Stelle in ganz sicherem Besitz zu halten, wird er sich darin befestigen. Das war leicht zu machen. Er hatte nur an der Stelle, unter der oben das Gestein zusammenging, Blöcke aufzuschichten. So kam man nicht von vorn und nicht von oben an ihn heran.

Dazu brauchte er mehr Munition, brauchte Nahrungsmittel und Wasser. Er beeilte sich, zu der Hütte zu gelangen, aus der er das Notwendigste holen mußte.

Er fand Engelbert vor.

»Guten Tag, Ambos!« sagte er nicht freundlich und nicht unfreundlich.

Einen kurzen Augenblick lang erwog er: jetzt zu zweit zu sein, wäre von Vorteil. Aber er wies den Einfall ab. Er wird allein fertig. Er will nicht teilen. Er begann gleich, sich Munition zurechtzupacken.

Engelbert sah ihm halb zu.

Ist es möglich, fragte er sich dabei, daß Menschen, wenn sie nichts mehr miteinander zu tun haben, so nebeneinander herleben können, als sei der andere ein beim Hobeln abgefallener Span, mit dem man nichts mehr anzufangen weiß, auf den man treten würde, ohne hinzublicken, wenn er gerade unter die Sohle käme?

Engelbert hatte den Garten wiederhergestellt. Die Zerstörung war nicht ganz so bös gewesen. Und jetzt sah er Juch einpacken. Er sah, daß er außer der Munition Lebensmittel nahm, das Gewehr, den Poncho, Decken. Auch das Sattelzeug legte Juch zurecht.

Er wird weg wollen! Vielleicht kommt er nicht mehr zurück? Hat nicht gefunden, was er wollte. Ich habe ihn mit der Peitsche geschlagen. Ich werde etwas zum Abschied sagen müssen. Das wird schwer sein! Das beste ist vielleicht, solange fortzugehen.

Ja, Engelbert wollte es Juch erleichtern und ihn von seiner Gegenwart befreien, die ihm peinlich sein mußte. Er ritt davon. Er ritt den Hohlweg hinab, der sie hergebracht an dem Tag, an dem sie die verfallene Hütte gefunden hatten. Er ritt zum erstenmal, seit er hier war, die Halde in die Schlucht hinab, in der sie die letzte Nacht verbracht hatten, bevor sie dies Plateau erreichten. Und der Ritt begann eine sinnbildliche Bedeutung zu nehmen:

Es war der Weg, den er reiten würde, wenn er zurück wollte, von wo er gekommen war.

Wird Juch ihn nehmen? Wird er über diesen Weg sich davonmachen? Dann würden sie noch einmal aufeinandertreffen. Was dann sein würde, malte er sich aus.

Da erschien um einen Felsblock, tiefer als Engelbert stand, der Kopf eines Pferdes und gleich dahinter ein Reiter. Erstaunt sah Engelbert ihm entgegen, und die Vorstellungen um Juch brachen ab. Er hatte nie in der Gegend Reiter gesehen oder auch nur Pferde, kaum einen Menschen, kaum eine Ziege oder ein Huhn, Zeichen des Vorhandenseins von Menschen.

Der Reiter hielt auf ihn zu. Engelbert sah bald, daß er in einem hölzernen Bocksattel saß und daß es ein Eingeborener war. Er wartete auf ihn, und als der Mann neben ihm war, hörte er ihn fragen: »Don Engelberts?«

Der Mann hatte Mühe, den Namen zustandezubringen.

Als Ambos Ja winkte, zog der Reiter einen Brief aus einer Tasche am Sattel und reichte ihn hin. »Don Manuelo«, sagte er dazu. –

Engelbert nahm den Brief. Don Manuelo? Er kannte keinen solchen. Er kannte überhaupt niemanden. Er wird nicht für ihn sein.

Der Reiter blieb an seiner Seite und sagte etwas, was Engelbert nicht verstand. Engelbert beschaute den Briefumschlag. Sein Name stand darauf.

»Senhor Don Engelberts Ambos.«

Da gab's keinen Zweifel. Er riß ihn auf und las:

 

»Don Engelberto!

Meine Firma hat den Bau der Straße von Puerta San Pablo nach dem Rio Meta übernommen, und ich werde auf eine Inspektionsreise hergeschickt, auf der ich von Eingeborenen und Arbeitern hörte, in der Gegend nach Westen seien seit einem halben Jahr zwei Deutsche ansässig. Die Beschreibung, die mir die Leute gaben, könnte auf Sie und Herrn Juch passen. Wenn Sie es wirklich sind, so geben Sie dem Boten ein Wort zur Bestätigung mit. Ich komme morgen sowieso in der Nähe vorbei, da ich auf der Rückreise nach dem Norden morgen nach Muccuchies wollte. Ich würde Ihnen gern guten Tag sagen kommen.

Mit tausend Grüßen Ihr
Manuels Rizal.«

 

»Es ist merkwürdig, daß dieser Brief für mich ist«, sagte sich Engelbert. »Wir kannten einander fast nicht, und wenn er mit mir sprach, war es, um einen Witz über mich zu machen. Er wird also für Juch sein.«

Er schaute den Briefumschlag nochmals an. Ja, da war wohl sein Name. Auch die Anrede war an ihn: Don Engelberts. Er war betreten. Er konnte es sich nicht erklären, denn Rizal war ja mit Juch an Bord befreundet gewesen, nicht mit ihm.

Er schrieb auf die Rückseite des Blattes mit seinem Bleistift:

»Ja, wir sind es. Es wird uns eine Freude sein, wenn Sie kommen.

Hochachtungsvoll
E. Ambos.«

Der Indio ritt wieder hinab und war bald verschwunden. Engelbert wandte das Pferd nach oben und begann zur Hütte zurückzureiten.

»Juch wird sich freuen!« sagte er sich. »Er wird dann noch dableiben, wenn er hört, daß Rizal kommt.«

Aber als er in die Hütte trat, war sie leer.

Engelbert sah eine große Unordnung in der Hütte. Sie stammte nicht nur von Juchs Zusammenpacken. Auch er selber, Engelbert, war mit schuld an ihr. Er hatte sich auf Reinada verlassen, aber sie war die letzten Tage nicht gekommen, und so hatte sich Unordnung auf Unordnung gehäuft.

Er griff gleich zu. Säuberte, räumte, stellte Blumen in einer Flasche auf den Tisch, legte eine Decke über die Tischplatte, die ja nur ein ungehobelter Kistendeckel war. Er fegte vor der Tür, jätete Unkraut im Garten. Alles für Rizal? Er suchte nach Eßvorräten. Es war nichts mehr da als Gemüse.

Dann nahm er das Gewehr. Er legte es noch einmal fort. Er wischte die Teller, Gläser und Bestecke nach. Er hatte ein spitzes Gefühl ganz oben auf dem Herzen sitzen, so, als ob es jeden Augenblick wie ein Vogel sich hoch- und herausschwingen könnte.

Jetzt verließ er die Hütte mit dem übergehängten Gewehr. Er hatte in der letzten Zeit in der Richtung auf das Dorf zu öfter Antilopen gesehen. Er hoffte heute Glück zu haben. Er ging und ging und spähte, wartete, hockte hin, lauerte. Es kam nichts. Er ging weiter und stieg in die kleine Schlucht hinab, durch die er damals die Spuren des Leoparden verfolgte, der ihm die Ziege gestohlen hatte.

Unten rann ein kleines Wasser durch, und an der Stelle, wo er es überschritt, gewahrte er Spuren im Boden. Er bückte sich zu ihnen nieder und erschrak, als er frische Eindrücke der Tatze eines Leoparden sah.

Jetzt entsicherte er sein Gewehr. Er hatte zwei abgeplattete Nickelstahlmantelgeschosse drin. Und in den Pulsen hatte er ein plötzliches Feuer, als er die in dem feuchten Boden deutlich erkennbaren Spuren verfolgte. Ja, es war ein geradezu höllisches Feuer, das ihm die Armstränge hinaufbrannte, in denen er die Last des Gewehres fühlte.

Wenn er hier laufen könnte, sagte er sich, würde er das Biest einholen, so frisch waren die Eindrücke. Sie schienen noch die Wärme des Blutumlaufs des Tieres zu haben. Dann würde er es bestimmt einholen und würde es zwischen dem Brustbein ins Herz schießen. Er hatte Leoparden nur im Zoologischen Garten gesehen. Er versuchte sich die hohe, schmale Brust vorzustellen und den Punkt auf ihr auszusuchen, an den die Kugel hingesetzt werden mußte.

Pang! Dann überschlägt sich die Katze. Dann liegt sie da. Eine Kugel genügte. Das Fell mußte geschont bleiben. Denn es war eine Trophäe. Sie hatten immer über Engelberts Unbeweglichkeit zu spotten Ursache gehabt. Jetzt trat er vor sie als ein großer, mutiger Jäger und legte ihnen seinen ersten Leoparden zu Füßen, eine wilde, gefährliche, noch im Tod mächtig und schön aussehende Katze. Fräulein Else würde … da …

Er blieb unvermittelt stehen.

Fräulein Else? Wie kam Fräulein Else in diese Gedanken? Rizal kam. Rizal war doch nicht Fräulein Else?

Aber da ward ihm über einen geheimen Sprung, den seine Vorstellungen machten, bewußt, daß der Brief Rizals an ihn und nicht an Juch gerichtet war, weil Fräulein Else mitkam, und weil Fräulein Else Rizal gebeten hatte, den Brief so zu schreiben, wie er an Engelbert abgegeben worden war.

Diese Entdeckung hüllte ihn in eine Sturzflut von Bangigkeit, von Zweifel und Sehnsucht. Ein schmerzhaftes Glück wirbelte in ihm hoch, und oben zerstob es wie eine Wasserhose. Er drohte darin zu ertrinken. Unbewußt war er weitergegangen und der Spur gefolgt. Er behielt sie in seinen Augen. Aber seine Aufmerksamkeit, seine Sinne, sein Herz waren irgendwo im Osten, wo über eine neue Straße ein Trupp Reiter galoppierte, an jedem Vorbeikommenden haltmachte und eine Mädchenstimme mitten aus der Gruppe heraus fragte: Wo ist die Hütte, in der Herr Ambos wohnt?

Doch zugleich war unter alldem der Trieb in ihm, gewaltsam das Raubtier zu jagen, und als er an eine Stelle kam, wo sich die Tatzeneindrücke aus der Tiefe in den Hang wandten, erwachte er vollends zu ihm.

Sogleich begann er durch das Gestrüpp in die Höhe zu klettern. Fast hing er dabei wie ein Jagdhund mit der Nase auf dem Boden, so steil war der Anstieg, den das Tier ihm vorausgegangen war. Die Eindrücke waren jetzt noch klarer und in der Stemmkraft, mit der der Leopard aufwärts geklettert war, tiefer.

Die Sonne stand schräg und warf vom Westen lange, grelle Strahlen zwischen den Gebüschen herab. Die Eindrücke der Tatzen waren so tief, daß sie einen Schatten gaben. Da faßte Engelbert mit seinen Fingern hinein; ihm war, er trete damit in das Leben der Bestie ein, und ein Schwall von entzündetem Blut löste sich heftig in seinem Herzen und schoß durch seine Adern.

Als er an der Kante des Abhangs ankam, auf der dicht zusammengewachsenes Strauchwerk einen Wall bildete, schob er sich in die Wirrnis hinein, und mit dem Bauch unmittelbar auf den Spuren liegend, begann er das Gebiet, das sich nun vor ihm erschloß, nach dem Leoparden abzusuchen.

*

Juch war mit seiner Last ans Ziel gekommen und lud sie ab, nachdem er das Pferd in den Busch hineingezwängt und dort angebunden hatte. Dabei lärmte eine Schar Hühner heraus. Er warf eines mit einem Stein tot. Es war eine Vermehrung seines Proviants. »Ich kann öfter von ihnen haben.« Er war undankbar! Sie waren es doch, die ihn auf die Spur gebracht hatten. Aber wenn sie tot waren, merkten sie es nicht mehr. Dann schaffte er alles, was er mitgebracht hatte, in das Loch hinein, trug Steine herbei, baute sie als eine Wehr auf und sah eine Stelle vor, in der er sein Gewehr einfügen konnte, so daß es den Eingang beherrschte. Um diese Schießscharte so eng wie möglich zu machen, las er vom Boden schmale Steine zusammen, und da zeigte sich etwas, worauf er ganz und gar nicht gefaßt war. Etwas, das, als er so plötzlich darauf stieß, ihn zu einem Weinkrampf zwang. Ihn, der nicht einmal, wenn er in der Schule Prügel bekam, hatte weinen müssen.

Diese Steine waren von Menschenhand kunstvoll hingelegt worden, um eine Stelle zu verbergen, die nicht gesehen werden sollte. Jemand hatte unter den Steinen in der letzten Zeit, vielleicht noch gestern, gearbeitet. Juch sah jetzt zwischen den hingeordneten Steinen den frischen Schlag wie eine blutende Wunde herausschimmern.

Was der gesucht hatte, darüber gab es keine Unklarheit. Dasselbe, was er selber, Juch, hierher suchen kam. Wer es war? Kein Zweifel! … Hijo!

Er erinnerte sich plötzlich an die Klopftöne, die er gehört hatte, als er mit dem Kopf am Boden lag und die Wespe ihn gestochen hatte. Es war keine Entdeckung, daß Juchs Geheimnis bekannt war, aber die Gewißheit schlug wie eine Katastrophe in ihn ein. Etwas schoß ihm in die Schläfen. Diese Erde war für ihn bestimmt gewesen. Er stand von Kopf bis Fuß in Flammen. Er wird nicht dulden, daß sie ihm genommen wird. Jetzt muß er sie gleich haben. Er kann nicht suchen und warten. Er wird ins Dorf rasen und Hijo jagen und herbringen. An diese Stelle, in die der Indianer sich hinter seinem Rücken eingeschlichen. In einer Hand wird Juch den Revolver, in der anderen die Peitsche halten und den Indianer zu der Aufdeckung des Schatzes prügeln, den er hatte stehlen wollen, und er wird ihn darüber zusammenschießen. Man befand sich hier nicht auf einem Pferdchenspiel.

Er stieg auf, nahm im Galoppieren den Revolver aus dem Lederetui, entsicherte ihn und steckte ihn lose in die Jackentasche.

Im Dorf ritt er zu der Hütte, in der er die Hühner gekauft hatte. Das alte Weib sagte, sie wisse nicht, wo Hijo sei. Da lümmelte sich ein Mann aus der finsteren Ecke auf und schrie auf spanisch:

»Freund! Welch ein glückgewürzter Zufall! Welch eine Gnade für mich! Welch ein Festessen, daß ich Euer Gnaden begegne!«

Er trat heran. Juch erkannte einen der Männer, mit denen er vor Monaten gewürfelt und getrunken hatte, und die gesagt hatten, sie gingen zum Rio Meta, wo das Gold gefunden worden sei.

Wußte der, wo Hijo war?

Der Indio umarmte Juch lärmend und klopfte ihm in seiner Begeisterung zehn-, zwanzigmal auf den Rücken.

»Wo ist Hijo? Weißt du's?« fragte Juch ihn.

»Kenne nicht, no!« sagte der Betrunkene.

»Frau, such Hijo! Bring Schnaps!« schrie Juch.

Die Alte wußte auf einmal nichts von einem Hijo. Der Schnaps stand da, aber Juch selber trank nicht von ihm. Er goß heimlich das Glas immer auf den Boden und schenkte dem andern voll.

»Du bist nicht am Rio Meta?« fragte er den Mann.

»Am Rio Meta?« lärmte der. »Was soll ich am Rio Meta, teurer Freund. Ist so weit! Wäre acht Tage, wenn man ein Kavalierpferd hätte wie der Schimmel von Euer Gnaden.«

»Du wolltest doch mit den andern hin, wie das Gold gefunden wurde?« fragte Juch von Zweifel und Mißtrauen getroffen.

»Gold?« machte der andere und blinzelte verhohlen mit einem Auge. »Muß man da so weit, bis zum Rio Meta? Acht Tage mit einem Kavaliersroß wie …«

»Dumme Rede! Wenn es hier keines gibt!« schrie Juch.

»So? Keines? Der Betrunkene plinkerte verschmitzt mit den Augen, sah dann zu der Alten hin. Die war damit beschäftigt, einige Hühner in einer Ecke zusammenzutreiben.

»Nein, keines!« sagte Juch. »Oder? Heraus, sprich! Du und ich sind Freunde.«

»Schätzchen, rück näher«, sagte der andere.

Als Juch das getan, kam der Mann, indem er die Alte nicht aus dem Auge ließ, mit der Hand aus der Tasche, ließ Juch heimlich hineinblicken und flüsterte ihm nah ans Ohr, daß der ganze Fuselgestank seines Atems Juch die Nase vollschlug:

»Du Idiot, ob das nicht so gut wie Gold ist? Wer weiß!«

Juch war zugleich erstaunt und entsetzt. Was der andere in der Hand hielt, waren Splitter von Smaragden, ähnlich denen, die er selber in der gestohlenen Flasche versteckt hatte.

»Woher?« herrschte er den Indio an.

Der zog seine Machete aus dem Hosenbund, warf sie nach einem der Hühner, das der Frau entwischt war. »Quicks!« machte der Indio dazu. Das Tier war an den Lehmboden gespießt. Die Alte kreischte. Der Indio faßte sie an der Schulter:

»Du Tochter einer Eselin und des Kotes einer Katze! Jetzt machst du, daß du hinauskommst, damit nicht weiter die Augen von zwei Edelleuten von deiner Gegenwart verpestet werden. Caramba!«

Er schob grob und rasch die Alte hinaus. Schimpfend duldete sie es.

»Basta! Merk dir das!« schrie ihr der Indio nach.

Die Alte verschwand. Der Indio hob das Huhn an der Machete hoch. Es war tot. Er schnitt ihm in den Hals, nahm den Kropf heraus, riß ihn auf und leerte ihn auf den Tisch. Zwischen einem Haufen von anderen Steinchen kamen Smaragdsplitter zum Vorschein.

Juch stieß einen Fluch aus. Er fegte die Steine vom Tisch, sprang auf und lief hinaus. Hinter seiner Stirn stand ein glutrotes Gewitter. Er riß das Pferd los, das er vor der Hütte angebunden hatte, saß im Sattel und davon!

Der Betrunkene torkelte in die Tür. »Freund, Schätzchen, wohin?« lallte er. »Ai, ai, ai Kamerad! Wohin? Kannst ja hier davon haben, soviel du willst! Caramba!«

Aber Juch erreichten die Rufe nicht mehr. Er war bereits über die letzte Hütte hinaus. Er trieb das Pferd mit Fußtritten und Faustschlägen. Der Staub knallte unter den Hufen auf. Die schräg flammenden Strahlen der tief gesunkenen Sonne durchflossen ihn. Der Staub wurde zu zahlreichen blutrot gefärbten Wolken. Überall, wo ein Huf die Erde anschlug, entstand eines dieser blutigen Wölkchen. Sie säten sich eilfertig eine hinter die andere wie die Einschläge kleiner leidenschaftlich feuernder Geschütze, die den davonrasenden Reiter verfolgten.

Juch war schon an der Stelle angelangt, wo der Weg die Wand der Gesträuche berührte, die auf dem Kamm des Schluchtrandes sich wie ein Wall dicht zusammenballten. Er hatte von hier keine halbe Meile mehr bis zu den Smaragden.

Die Sonne erreichte diesen Buschwall nicht mehr, da sie hinter die Bergkante gegangen war. Ein früher, kühler Schatten, klar wie Glas, kam aus dem Wall heraus, durch diesen Schatten setzte plötzlich in einem gestreckten Sprung ein Leopard. Einen Augenblick lang sah er aus wie eine gefleckte Welle, die über dem Weg die Luft durchschwebte.

Das geschah auf Steinwurflänge vor dem Pferd. Das Pferd zuckte zurück, Mähne und Schweif richteten sich starr auf, und es ging mit einem blitzschnellen Aufsprung entsetzt auf die Hinterläufe. Juch, darauf nicht gefaßt, rutschte über die Kruppe aus dem Sattel, bevor er den Vorgang erkannt hatte. Dicht an ihm drehte das Pferd auf den Hinterbeinen kurz um und raste nach dem Dorf zurück, indem es ein jähzorniges, langes Gewieher ausstieß.

Juch war bei dem Sturz mit dem Hinterkopf stark aufgeprellt und fühlte sich eine Weile unfähig, aufzustehen. Er blieb liegen, wie er gefallen war, und versuchte seine Kräfte zu sammeln. Das erste, was ihm gelang, war, daß er sich aus der offenen Stelle, an der er lag, zu einem Kakteenbusch rollen konnte. Hier war mehr Schutz. Er hatte sich nichts gebrochen. Das stellte er fest, wie er sich zu dem Busch wälzte. Er hätte sich auch schon erheben können. Dumpf taumelte ihm etwas hinter der Stirn. Aber er hatte schon öfters solche Stürze mitgemacht. Er wußte, es geht am raschesten vorbei, wenn man eine Zeitlang sich ganz entspannt. Deshalb ließ er sich breit und schwer am Boden liegen und gab sich Mühe, auch nicht einmal zu denken.

Er sah einem Sonnenstrahl zu, der hinter einem Berg hervorkommen mußte und mit sichtbarem Fortschritt an der Wand eines Höhenzuges im Süden hochkletterte. Wie ein ungeheure? Zeigefinger aus feurig-blassem Dunst kletterte er hoch, und wo er hinkam, da ging es, als wische er hinter sich eine Helligkeit aus. Über ihm glühte die Bergwand. Unter ihm ward es dunkel.

Unter dem Kamm des Berges zog eine breite und massige Felsenmauer durch.

»Wenn diese Felsenmauer hinter dem Strahl und im Dunkeln liegt, werde ich aufstehen. Dann werde ich soweit wieder in Ordnung sein«, sagte sich Juch. Solange wollte er sich noch Erholung gönnen.

Gebannt verfolgte er das Weiterschreiten des Sonnenstrahles. Aber da war dieser plötzlich erloschen. Es war, als habe der ungeheure Atem eines Geistes ihn von einer Sekunde auf die andere ausgeblasen. Der ganze Berg war im Augenblick düsterblau geworden. Er stand wie ein beflorter Steinriese da, und erst hoch über ihm begann die grelle Helligkeit des Sonnenuntergangs.

Da erhob sich Juch und begab sich weiter den Weg hinan. Von dieser Stelle aus hatte er nur mehr wenige hundert Schritte bis zu der Schatzhöhle.

*

Engelbert lag in dem Wall des Buschwerks auf der Kante. Der Abhang begann gleich unter ihm, und er konnte sich in der Stellung nur dadurch halten, daß er sich mit beiden Ellbogen im Boden festkrallte und mit einem Fuß an einem Stamm Stütze fand. Er hatte vor sich in dem Gesträuch über den untersten Ästen eine Luke, durch die er ziemlich bequem das Gebiet überblicken konnte. Unmittelbar vor ihm lag ein breiter Streifen frei, nur mit Gras bewachsen. Jenseits von diesem Streifen kamen die Gruppen der einsamen Felsüberbleibsel, die sich in einer fast geraden Front nebeneinanderreihten. Nach Süden, gegen das Dorf zu sah Engelbert nicht weit. Das Buschwerk hinderte den Blick dorthin, aber bergan vermochte er das Gelände ungestört zu überblicken.

Er schaute hundertmal auf und ab. In dem Gras ist das Tier nicht. Das Gras ist so niedrig, daß es herausragen würde, auch wenn es sich gelagert hätte. Nun beginnt er die Buschstücke zu durchforschen, die wie Inseln in der Steppe liegen, von Felsen durchbrochen und überragt. Es wäre gut, wenn man ein Glas hätte. Sie liegen wohl nah. Er könnte jede Gewähr eingehen, daß die erste Kugel säße, wenn er zum Schuß käme.

Ja, die nächsten Büsche wären fast zu nah. Die Wirkung der Kugel könnte zu stark sein für das Fell. Aber er sieht den Leoparden ja noch nicht. Er hat das Gewehr im Anschlag. Er liegt auf dem Bauch, die Beine rückwärts im Abhang. Er stützt sich etwas auf. Am unteren Rand der Lücke, durch die er sieht, liegt das Gewehr auf einem festen Gegenstand, einem Ast oder einem Stein. Das kann er nicht erkennen.

Er bückt den Kopf hinter das Visier, um nochmals zu prüfen, ob der Lauf nach vorn auch ganz frei liege. Als er das linke Auge zudrückt und das rechte über das Korn wegführt, zuckt er auf und hätte fast losgedrückt.

Denn genau gegenüber, in der Richtung von Visier und Korn, hat sich hinter einem Felsen ein Mann aus dem Gebüsch geschoben. Es ist der Felsen, an dem die Agaven stehen. Engelbert kennt ihn gut. Ein pyramidenförmiger Stein erhebt sich auf ihm. Als er damals den Räuber seiner Ziege verfolgte, gingen dessen Spuren bis hierher. Hinter dem Felsen waren sie verschwunden. Der Leopard wird also wohl derselbe sein und hat denselben Weg genommen wie damals.

Engelbert hält den Atem an. Der Mann drüben zieht ein Gewehr hinter sich hervor und legt es auf ein Gesims, das der Felsen in Brusthöhe bildet. Der Mann ist hochgetreten, wohl auf einen Stein, und hat sich tief über den Schaft gebückt, um zu visieren. Er steht höher, als die Lage Engelberts tief am Boden ist. Aber dieses Gesims, auf dem das Gewehr liegt, geht hinten hoch und ist nach vorn geneigt, und wenn Engelbert ein Auge zudrückt, kann er genau den ganzen Gewehrlauf hinaufsehen. Die Flinte drüben ist auf seine Stirn eingestellt.

Ja, sie hat nur einen Lauf, denn es ist eine alte Flinte. So eine, wie der grüne Jäger im Struwelpeter sie hat. Ganz gewiß ein Vorderlader noch. Wenn die erste Kugel nicht richtig trifft, sitzt der Leopard dem Mann an der Brust.

Denn was sollte dieser Mann anderes zu bedeuten haben, als daß er als ein anderer Jäger hinter dem Leopard her war.

Freilich ist es komisch, daß die Mündung des Gewehrs genau auf seine, auf Engelberts Stirn eingestellt ist. Er ist doch nicht der Leopard. Er weiß, der Leopard ist dorthin abgegangen, wohin die Mündung seines Gewehrs zeigt; es ist wirklich sonderbar, daß der Mann zu meinen scheint, der Leopard sei mit umgedrehten Tatzen gegangen, wie man es von den alten Raubrittern auf der Ruckburg erzählt, die ihren Pferden die Hufe verkehrt anschlugen, damit die Kaufmannskarawane meinen sollte, es läge niemand im Hinterhalt, sondern der Ritter sei in seiner Burg droben. Der Mann muß doch an den Spuren sehen, wohin das Biest gelaufen ist. Jetzt richtet er sich auf.

Engelbert erschien es, als kannte er ihn. Aber wo er ihn gesehen, fand er in seiner Erinnerung nicht zurück. Es war ein Indio.

Die Dämmerung herrschte schon, und der andere war zudem vom Gebüsch beschattet. Der Mann war nur noch undeutlich zu erkennen. Aber was Engelbert als gewiß sah, war, daß jener ganz genau hinter dem Gewehr stand, das auf ihn, Engelbert, gerichtet war. Dabei hielt sich der Mann an den Stein gepreßt, als wollte er sich vor etwas verborgen halten.

Merkwürdige Empfindungen huschten Engelbert ins Gemüt. Da steht ein Mann und hat ein Gewehr gegen mich aufgestellt und weiß es nicht, und wenn er losdrückt, erschießt er einen Menschen, und weiß nicht wen. Ja, nicht einmal, ob er einen erschossen hat. Und er weiß auch nicht, daß ich ihm zuvorkommen könnte. Ich weiß nicht, ob er nicht gerade im ersten Bruchteil des nächsten Augenblicks abziehen und mich treffen wird. Es ist das Geheimnis zwischen uns allen, wir wissen nichts voneinander. Wir können uns gegenseitig töten, ohne es zu wollen, noch zu wissen.

Unter diesen Vorstellungen nahm der Unbekannte, der drüben hinter seinem auf Engelbert gerichteten Gewehr verharrte, wandelnde Geschichte an. Es war auf einmal gar nicht mehr dieser unbekannte Mann. Es war das Etwas, das einem freundlich und im selben Atem feindlich gesinnt ist. Das Etwas, das einem zu essen gibt und einen ißt. Es war ganz einfach – der andere Mensch. Es war Juch, ja, zum Beispiel Juch! Oder Fräulein Else, ja, auch Fräulein Else.

Und da war der Mann, der sich so krampfhaft drüben an seiner Flinte verbarg, den Finger so nah am Abzug und Visier und Korn auf Engelberts Stirnwölbung gerichtet hatte, plötzlich etwas von langer Hand Vertrautes, eine alte Einrichtung, die es in jedem Leben gab, ein Kamerad, Bundesbruder, Gesinnungsgenosse. Heimliche und vertraute Bande hatten sich zu dem Mann hinüber geknüpft, und gerade wollte Engelbert einen Weg suchen, um sich unauffällig mit ihm wegen der Unklarheit in bezug auf die Richtung, die der Leopard genommen, zu verständigen, da geschahen zwei Dinge.

Das eine war, daß er meinte, ein Pferd wiehern zu hören, aber er konnte der Vermutung nicht länger nachgehen, denn fast zu gleicher Zeit fühlte er sich berührt.

Etwas faßte von unten herauf mit der Weichheit eines Wölkchens hoch im Himmel an ihm entlang, und fast zugleich floß eine leise Stimme wie ein Hauch an sein Ohr:

»Don Elberto, pss!«

Obschon er die Stimme an ihrem dunklen Ton sofort erkannte, zuckte Engelbert in einem wilden Schrecken mit dem ganzen Körper auf. Unter der Bewegung zerkrachte ein Ästchen.

Drüben am Felsen, wohin Engelbert noch immer schaute, gab es eine leise Bewegung.

»Pss!« machte es nochmals hinter ihm und schon näher. Schon fast auf seiner Höhe am Halse. Und an diesem Hals und hinter dem Ohr hinauf, fühlte er Reinadas Atem wie eine Stichflamme, die nicht fressendes Feuer ist, sondern eine schwere, glühend trunkene Luft.

Er spürt nicht nur diesen Atem. Er spürt seinen Körper angeflutet von den weichen Gliedern Reinadas, die sich dicht und hoch an ihn herangeschoben hat. Es ist eine wirkliche Flut, die ihn berührt, und zugleich ein harter, kurzer Stoß.

»Platz mach!« hauchte die Stimme ihm unmittelbar aufs Trommelfell. Und obschon die Stimme auch im Flüstern dunkel und hart war, ging sie weich nieder auf das Trommelfell, wie ein Statt auf die Erde fällt. Aber sie sank durch das Trommelfell durch und wurde durch seinen ganzen Körper getragen, während seine Ohrmuschel die große Schwellung des Frauenmundes spürte und dessen Atem sich warm in sein Ohr ergoß.

»Fort!« sagte der Atem, und bei diesem zweiten Laut, der in sein Ohr eingeht, wiederholen sich die Vorgänge.

Mit einer heftigen Bewegung seiner Kopfmuskeln versucht Engelbert den Atem abzuwehren.

»Pss!« macht der nochmals, weich wie die Finsternis einer Nacht, aber mit bestimmender Tatkraft, und Engelbert sieht, wie er von dem Gewehr davongleitet. Die Stelle, an der er lag, hing rückwärts steil ab. Er hat die Stütze aufgegeben, gegen die er den Fuß stemmte, um sich oben zu halten. Seine Ellbogen haben die Mulden im Boden verlassen, in die sie sich geklemmt hatten. Er kommt sacht ins Gleiten, zusammen mit dem Mädchen. Das Gewehr ist oben liegengeblieben. Zu dem Mann auf der andern Seite hat er nicht mehr geschaut. Keiner kann ihn aufhalten im Rutschen, und Reinada, die sich an ihm hält, ist wehrlos wie er. Unaufhaltsam geht es abwärts durch das Gras, an Büschen durch. Weshalb kommt es jetzt wieder, daß sich das Mädchen, mit dem er den steilen Abhang hinuntergleitet, mit Fräulein Else austauscht? Der Austausch ist geheimnisvoll, aber er weiß doch genau, daß es Fräulein Else nicht ist, daß er es nicht wagen würde, in dieser Verfassung neben Fräulein Else über den nackten Erdboden zu gleiten, mit den Gliedern im Rutschen ihn aufzureißen, mit den Händen in Fräulein Elses Haar zu greifen, so wie er jetzt seine Finger in die glatten Haare Reinadas hineinbohrt, die gezopft sind wie Taue aus Gummi. Die sich feucht anfühlen, naß und kalt zugleich; die wie Schlingen in der Dunkelheit an ihrem Körper hängen. Denn es ist jetzt finster geworden, und er wird die Schlingen nicht erkennen, wenn sie sich um seinen Hals zuziehen, an dem er sie jetzt spürt.

*

Nachdem Juch sich erhoben hatte, hinter dem Kakteenbaum herausgekrochen und einige Schritte durch das offene Gras gegangen war, war sein Zustand behoben. Die ganze Spannung schoß wieder in seine Nerven, die Kraft in seine Glieder, und er wechselte rasch aus dem offenliegenden Kanal seitwärts zu der Reihe von Buschwerk umkleideten Felsen. Hier konnte er die Winkel ausnützen, die sich zwischen den einzelnen Gruppen ins Gebüsch schnitten und um so unbeobachteter zu der Stelle gelangen, an der die Smaragdader lag. Die Dämmerung begann einzusetzen.

Er schlüpfte vorsichtig dahin, blieb manchmal, wo er sich im Gebüsch umdrehen konnte, stehen, um die Umgebung auf Verdächtiges abzuspähen. Er bemerkte nichts Auffälliges.

Dann kam er an den Felsen, der breit aus dem Gebüsch vorsprang. Hier galt besondere Vorsicht. Denn Juch mußte sich auf fünf, sechs Schritte außer Deckung wagen. Er entschloß sich, dies nicht zu tun, sondern den Felsen rückwärts durch den Busch zu umklettern. Hatte er das hinter sich, war er schon im näheren Bereich des Smaragdloches. Denn dieser Felsen war ein alter Freund von ihm. Es war der, auf dem die von ihm versetzte Pyramide stand.

Er kroch unter den heckenartigen Busch, wand sich um den Felsen, stieg über einen hohen Stein und schlängelte sich jenseits dicht am Felsen wieder abwärts, um aus dem Buschwerk heraus und an dem Rand der Agaven entlang ungehindert weiter zu kommen.

Da stand auf einmal ein Mann da, nahe vor ihm, ebenso wie er dicht an den Felsen gedrückt. Er kehrte Juch den Rücken. Juch hielt an. Aber es war zu spät. Der Mann wandte den Kopf, sprang mit einem Satz herum, und Juch sah, daß es Hijo war. Er hatte einen Arm an den Felsen auf ein Gesims gelegt, das dieser dort bildete. Der Arm lag auf dem Gewehr.

Juch bemerkte es und stieß mit dem Fuß heftig unter den Arm an den Kolben. Das Gewehr flog nach vorne davon.

»Sauindianer!« schrie Juch. »Du hast aus dem Hinterhalt auf mich schießen …«

Doch konnte er das letzte Wort nicht mehr sagen. Hijo hatte sich gegen ihn geschnellt und mit derselben Bewegung einen der armlangen spitzen Dolche, wie sie im Land zum Viehtöten benutzt und im Achselausschnitt der Weste getragen werden, Juch zwischen die Rippen gestoßen.

Unter der Wucht des Anpralls fiel Hijo mit über den rückwärts stürzenden Juch. Aber in demselben Augenblick, da die Stahlspitze Juchs Herz erreichte, bekam dessen Hand die Kehle Hijos zwischen ihre Finger. Sie schlossen sich um den Kehlkopf, bohrten sich in ihn ein und wurden in dem jähen Todeskampf Juchs zu einer unlösbaren Klammer.

Während Juch sich in den Kehlkopf des Indios einkrampfte und den Todesstoß verspürte, war es ihm, er werde hoch in den Himmel hinaufgespießt, und als letzte Vorstellung auf diesem Flug sah er Ambos, der von Kopf bis Fuß ein einziger blendend strahlender Smaragd war und lächelnd, gewährend, duldend ihn oben empfing und in seinem herrlichen Glanz eingehen ließ. Da brach Juch selber in einen wilden Sturm aus, der Haß, Gier, Kampf, Sättigung, Liebe in ihm durcheinanderschüttelte und das Karussell seines ganzen vergangenen Lebens in einem wüsten Wirbel um den Riesensmaragd rundum blies.

Nun lag er da, und seine gebrochenen Augen schielten in das vorgedrehte Weiß der Augen seines Konkurrenten und Mörders, der mit seiner zerquetschten Gurgel, obgleich er oben lag, nicht weniger tot war als Juch selber.

*

Indios aus dem Dorf fanden sie.

»Ai, ai! Beide!« sagten sie. Die Doppelheit machte sie fast freudig staunen.

Sie wollten sie auseinander zerren. Aber es ging nicht. Sie vermochten die verkrampfte Hand des Europäers nicht von der Kehle ihres Freundes zu lösen.

Da schnitten sie sie ab. Sie hätten sonst beide zusammen in eine Grube legen müssen, und dann hätte bis in die Zeiten hinein ihr Freund Hijo keine Ruhe gefunden, so nah mit dem Feind, den er erschlagen und der ihm das Leben genommen hatte.

Sie begruben sie gleich in der Nacht weit auseinander und machten die Stellen unkenntlich. Beide waren noch warm, als sie zum ewigen Schlaf in ihr Bett in die Erde gelegt wurden, um die sie gestorben waren.

Sie hatten noch Juchs Taschen untersucht und genommen, was sie darin fanden. Es war ein Notizbuch, ein Messer, ein Revolver, eine Banane und ein Taschentuch. Einer aß die Banane.

Der Goldsucher bekreuzigte sich über Juchs Grab und sagte: »Der liebe Jesus von Cucuta möge dir das ewige Leben leicht machen!«

Denn er war ein » amigo« des europäischen Cabalhero gewesen.

»Weshalb hat er auch die Steine angerührt? Er hätte es nicht tun dürfen!« bemerkte ein alter Mann, als sie zum Dorf hinab heimgingen.

*

Die Nacht lag lange über Engelbert und Reinada unten auf dem Grund der Schlucht. Sie gingen zur Hütte, Reinada blieb die ganze Nacht bei ihm.

Der erste Schein des Tages fiel stets durch die offene Tür der Hütte und unmittelbar auf Engelberts Lager. Als das Licht hereinzufiltern begann, erhob sich Reinada vom Boden, auf den sie sich schließlich neben Engelberts Lager hingelegt hatte, und sagte etwas auf spanisch.

Engelbert stemmte sich hoch und bemühte sich zu erfassen, was sie wollte. Sie sprach von Juch. »Amigo!« sagte sie und zeigte auf das zusammengeklappte Bettgestell Juchs. Sie machte mit Worten, mit den Augen, mit den Händen sich verständlich, und Engelbert erriet bald, daß sie ihm sagen wollte, Juch käme nicht wieder.

» Porque?« fragte er, als er das erfaßt hatte. Weshalb? Dieses spanische Wort gehörte zu den wenigen, die er kannte.

Sie sagte: » En otro pais!« und machte eine weitläufige Bewegung durch die offene Tür in den sich rasch erhellenden Himmel.

Auch das verstand er. Es hieß:

In ein anderes Land.

Er schaute aber nur dem weichen Aufschweben ihrer Hand nach, an die sich durch die offene Tür die Morgenröte golden anzuschmelzen schien. Die Mitteilung traf ihn kaum. Nachher, als er Reinada nicht mehr sah, sagte er sich:

»Er mußte gehen!«

Er rief: »Reinada!«, weil er versuchen wollte zu erfahren, woher sie das von Juch wisse, ob es auch sicher sei, und weil er an Rizal dachte, für den kein Essen bereit sei. Sie könnte ins Dorf etwas holen gehen. Eier und ein Huhn oder Ziegenfleisch.

Niemand antwortete.

»Reinada!«

Niemand kam.

Er sprang aus dem Schlafsack, ging nach ihr suchen. Er fand sie nicht. Sie war fortgegangen.

Als er sich ihres Verschwindens bewußt geworden, wurde erst die Bedeutung klar faßbar, die ihr Bericht über Juchs Abreise hatte. Es war sonderbar, daß gerade sie die Überbringerin der Botschaft war, und er suchte weiter zurück einen Zusammenhang zu finden, aus dem heraus sich erklären ließe, daß niemand anderes als Reinada die Botin war, wo doch gestern Juch selber Zeit und Gelegenheit gehabt hätte, ihm die Mitteilung zu machen.

Er vermochte auch keine Ursache zu erkennen, die Juch abgehalten hätte, dies zu tun. Ebenso fand er keine Erklärung, weshalb Reinada die ganze Nacht, die sie so nah aneinander verlebt, hatte verstreichen lassen, ohne ein Wort zu sagen, um drei Minuten vor ihrem Verschwinden diese Mitteilung zu machen.

Auch diese unerwartet über ihn gekommene Nacht, die er jetzt nicht bereute, über deren Erinnerung er aber auch keine Genugtuung empfand, begann seinem Hirn zu entschlüpfen. Ihre Erlebnisse wurden zu etwas Schattenhaftem. Es war, als versänke sie in eine unsichtbar machende Schicht, die den Boden von allem bildete, was er seit seiner Begegnung mit den Spuren des Leoparden an dem kleinen Bach in der Schlucht erlebt hatte, ja überhaupt der Boden seines Daseins in der Kordillere von Anfang war.

Je mehr er der Auffälligkeit in all diesen Umständen nachsann, um so stärker begannen alle Erscheinungen in seinen Vorstellungen ineinanderzugreifen. Bald kam ein Gefühl in ihn, als sei der Leopard vor ihm auf die Höhe gelaufen, damit Engelbert zu dem Mann mit der Flinte käme, und als habe ihn Reinada in den Taumel der Liebesnacht gerissen, um ihn wieder von dem Mann zu entfernen und am Morgen Juchs Abreise zu berichten, von der er am Abend keine Kenntnis haben durfte.

Dieses Gefühl wuchs zu der beunruhigenden Kraft einer Ahnung an. Er stand im Garten und sah in der frühen Morgenstunde, wie sich über die Kante der Anhöhe hinter der Hütte, fern und doch wie unmittelbar auf seiner Stirn, der mit Schnee bedeckte Bogen aus der Sierra von Merida erhob. Die Sonne traf ihn gerade. Sie sandte grellgelbe Strahlen auf ihn. Er aber glänzte in einem unvorstellbar kalten, in einem ungebrochen flächen- und formlosen Weiß. Es war nichts Irdisches mehr. Er war höher, härter und kälter als das Geheimnis um Gott.

Und jetzt begann Engelbert auf die Ankunft Rizals zu warten, wie auf die einzige Kraft, die ihm noch in der Welt vertraut war, seitdem Juch davongegangen, und die sein Erlöser sein sollte. Daß Fräulein Else mit Rizal kommen sollte, darüber hatte er jetzt wesentlich unzuversichtlichere Vorahnungen als gestern, da er das Leopardenfell für sie bestimmte. Er wagte nicht, es noch zu glauben.

Die Sonne ist durch die Feigenhecke gestiegen, und Engelbert sitzt auf der Bank unter dem überstehenden Dach aus Schilfrohr und Palmwedeln. Es sind jetzt wenig Früchte in der Hecke. Sie gönnt sich etwas Ruhe. Das vermag Engelbert nicht. Daß nichts zu essen da sein wird, wenn nachher Rizal kommt und Reinada davon ist und er sie nicht nach Eiern schicken kann, das ist nun das wenigste.

Er schaute verloren auf den vor der Bank festgetretenen Boden und sieht zwei Käfer. Es sind zwei schmale Käfer, wie rote Emailspänchen sehen sie aus, einer wie der andere. Sie schauen aneinander vorbei und nehmen keine Notiz voneinander, obschon sie derselben Art angehören. Sie gehen aneinander vorbei, als marschierte jeder auf seinem eigenen Gestirn. »Wie Mensch und Teufel«, sagte sich Engelbert.

Er weiß noch immer nicht, wohin mit dem, was er zwischen Abend- und Morgendämmerung erlebte. Es sind jetzt auch keine Erlebnisse mehr. Es ist ein einziges zusammengebündeltes Ereignis. Aber trotz dieser Vereinfachung entzieht sich ihm dessen Wesen und Sinn.

Von nun an ist Engelbert allein, und es geht nicht, daß dieses Unklare, dieses, das Geheimnis sein will, mit ihm zusammenbleibe in einer Gestalt, die mitten in der Klarheit des Tages sich vernebelt neben einem bewegt. Rizal wird nicht helfen können. Engelbert wird Rizal nicht gebrauchen können.

Rizal wird da sein, ganz klar umrissen von der Luft und dem Licht, da im Garten, in der Hütte, und zugleich wird er zweitausend Kilometer weit anderswo sein. Er wird bei ihm essen, neben ihm am Tisch sitzen.

Aber Engelbert hat ja nichts zu essen da. Nun, dann werden sie zusammen in das Dorf reiten und etwas holen. Das Dorf wird Rizal interessieren. Venezuela ist ja seine Heimat. Vielleicht wird Engelbert ihm den Felsenzugang, wo der Mann mit dem Gewehr … Aber das ist weniger wichtig, als daß sie mit Eiern und einem Huhn zurückkämen. Es wird Feuer zwischen die Steine gemacht werden. Aber das Feuer wird nicht in sie, in Rizal und Engelbert, hineinleuchten. Rizal wird der eine, Engelbert der andere Käfer sein, und sie werden ein paar Stunden aneinander vorbeiwandeln. Wie die beiden granatroten Emailspänchen da unten … jeder auf seinem Gestirn. Und das ist gut. Denn wie war es mit Juch gewesen? Erst war er mißachtet von Engelbert, dann Helfer und Retter, dann Abgrund, in dem Engelbert zu zerschellen drohte. Jetzt war der Abgrund zugeworfen. Juch hatte nicht einmal adieu gesagt, als er in das andere Land reiste, und Engelbert konnte gleichgültig über den Abgrund hinweg auf die andere Seite gehen. Er bestand nicht mehr. Die Menschen wissen nichts voneinander …

Er mußte es sich abringen, daß er die beiden sinnbildhaften Käfer, die unter seinen Augen so gleichmütig auseinander strebten, mit der Sohle zertrat. Er tat es nicht, aber er ging hin und löste das Brett über der Tür los, auf das er einst »Hohermuth« geschrieben hatte. »Das ist nicht mehr wahr«, sagte er und stellte es in die Hütte hinein.

Als einige Stunden später Engelbert immer fassungsloser in seinem Zwiespalt verloren wieder die Bank aufsuchte und durch die Feigenhecke ziellos in den Raum der Landschaft starrte, hörte er seitwärts ein Geräusch. Er hob den Kopf hin und sah Reiter und Pferde.

Das erste, was er erkannte, war Fräulein Else.

Er erhob sich und hatte auf einmal das Gefühl eines Stolzes und einer großen Kraft in sich, so als stände er hinter einer bedeutenden Leistung. Mit seinen schweren Gliedern ging er frei hin. Es war nichts von Scheu in ihm, nichts von Unbeholfenheit und Unsicherheit. Er sah Fräulein Else, Rizal und zwei Indios, alle vier zu Pferde. Dazu noch zwei Packtiere.

Fräulein Else war schon aus dem Sattel gesprungen, und Ambos ging gleich auf sie zu und grüßte sie in einem ehrerbietigen, männlich gewichtigen Anstand. Er stand in seiner naturhaften Schwere vor dem Mädchen.

Es war das erste, was Else bemerkte, daß er anders war als auf dem Schiff. Sie hatte darüber ein Gefühl der Ergriffenheit und eines dunklen glückseligen Stolzes und reichte ihm beide Hände.

Auch Rizal begrüßte ihn mit einer freien Herzlichkeit.

»Ja, wir bauen die Straße, die hier in der Nähe vorbeigeht, und meine Kusine Else hat auf einmal so etwas wie einen Ingenieur in sich entdeckt. Dem verdanken wir beide das Wiedersehn«, sagte er. »Und mein Freund Juch?« fragte er dann gleich.

»Er ist abgereist!« antwortete Engelbert.

Die beiden schauten ihn fragend an.

»Gestern!«

»Ging es nicht zusammen?« fragte Else.

»Nein, Fräulein Else, es ging nicht. Es war die beste Lösung, daß er abreiste. Wohl für uns beide …«

»Gewiß«, bemerkte Rizal ruhig und als schiene ihm die Abreise Juchs jetzt als etwas Selbstverständliches.

»Es ist alles ein wenig durcheinander gegangen«, sagte Engelbert, »und nun habe ich nichts zu essen im Haus. Ich werde etwas holen gehen, und so lange müssen Sie mich entschuldigen.«

»Hören Sie«, antwortete Rizal, »ich mache einen andern Vorschlag. Ist ein Dorf in der Nähe?«

»Ja, dort im Westen.«

»Weit?«

»Anderthalb Reitstunden. Die Leute behaupten, sie seien Welser. Aber es sind trotzdem lauter Indianer.«

»Das interessiert mich!« rief Rizal. »Vielleicht ist mir schon wegen der Straße an den Rio Meta seine Bekanntschaft von Wert. Ich werde mit meinen beiden Leuten hinreiten und zugleich das Nötige zum Essen besorgen.«

»Ich werde Sie führen!« sagte Engelbert.

»Gern«, antwortete Rizal. »Aber können wir Else allein hier lassen? Sie ist etwas müde, da wir schon seit Sonnenaufgang im Sattel sind.«

Sonnenaufgang? sagte sich Engelbert. Da war Reinada noch bei mir. Wenn ich es gewußt hätte …

Else schaute ihn an.

Da sagte er: »Nein, natürlich. Verzeihung. Ich bleibe bei Fräulein Else.«

Die drei ritten gleich fort, nachdem Engelbert den Weg erklärt hatte. Else schaute sich das Innere der Hütte an.

»Das haben Sie fein gemacht, mit dem Bambus an den Wänden und der Decke! Es ist fast, als sei es von einem großen Architekten.«

»Es ist das ja auch«, antwortete Engelbert. »Vom lieben Gott!« Engelbert zeigte ihr den Kochraum. Sie hockte zu den Steinen nieder, erhob sich, reichte mit den Armen herum, als wollte sie ausmessen, wieviel Raum für einen Körper wie den ihrigen zur Bewegung da sei. Dann lächelte sie: »Sie haben hier drin nie ein Festessen für zwanzig Leute zubereitet, Engelbert?«

»Ach, es kocht sich sonst nicht schlecht auf den Steinen.«

»Nein, gewiß nicht!« sagte Else zögernd.

»Und im übrigen, man brauchte ja nur das Dach, das jetzt schräg auf die Erde geht, auf Stangen zu setzen, dann wär der Raum doppelt so groß …«

»Und fast eine richtige Küche!«

»Für einen einzelnen Mann, bedenken Sie, Fräulein Else!« verteidigte Engelbert seine Küche.

»Ja, für einen einzelnen Mann«, sprach sie ihm nach, ein wenig versonnen.

Sie aß eine seiner getrockneten Feigen und ließ von dem Dörrgemüse einiges über ihre Hand rieseln. »Wie gut das duftet!« sagte sie.

»Es ist aus meinem Garten. Ich will ihn Ihnen zeigen, Fräulein Else.«

»Ja, gern.«

Als sie durch die Feigenhecke gegangen waren, breitete Else auf einmal die Arme aus: »Was für einen schönen Garten haben Sie da angelegt!«

»Fräulein Else, ich bin ja ein Bauer. Ich kann das.«

»Besser als in der ersten Klasse reisen!« lächelte Else.

»Sie haben mitgeholfen, mir das nicht leicht zu machen«, gab Engelbert zurück.

»Und am Rettungsboot in der Nacht?« fragte das Mädchen.

»Sie waren gut, Fräulein Else. Das war noch schöner als mein Garten, ganz gewiß«, sagte Engelbert einfach, mit dem Ton einer frommen Gläubigkeit und Überzeugung.

Else blieb stehen, schaute ihn an.

»Engelbert Ambos!« sagte sie und nickte dazu wie zu einer Bestätigung.

»Fräulein Else!« antwortete Engelbert auf dieselbe Weise.

»Sie haben sich geändert, Engelbert!«

»Sie hatten das nicht nötig, Fräulein Else!«

»Weshalb sagen Sie meinen Namen so oft?«

»Weil er der Inbegriff des Heimatlichen ist.«

Sie legte vertraulich ihre Hand auf seine Schulter und sagte fast ein wenig traurig: »Wir haben doch wohl viel aneinander gedacht seit jener Stunde an dem Boot?«

»Es ist alles anders geworden.«

»Ich hab' viel Angst um Sie gehabt. Sie sind in Maracaibo nicht zum Heiligen Abend zu uns gekommen. Das war Herr Juch, ich weiß es … Meine Kusine sagte gleich, wie sie sah, daß wir immer noch auf Sie warteten: ›Sie werden nicht kommen. Es hat etwas gegeben zwischen ihm und Herrn Juch.‹ Auch mein Onkel hat sich wegen Herrn Juch viel um Sie gesorgt.«

»Ja«, sagte Engelbert still und schaute in den Schwall des bienenfarbigen Haares, der unter der breiten Krempe ihres Panamahutes hervorquoll.

»Wir haben oft von Ihnen gesprochen, und mein Onkel meinte, ein Mann, der nicht genau weiß, was er in den Kordilleren suchen geht, der laufe große Gefahr. Es gehöre nicht nur Charakter dazu, den Sie hätten, und noch weniger würde Lust zum Abenteuern nützen, die Herrn Juch lockten, meinte er.«

»Und Sie, Fräulein Else?«

Else antwortete nicht gleich. Dann sagte sie still vor sich hin: »Haben Sie die Tote hier manchmal in dem Stern gesehn?«

»Im Stern? Wen?« stammelte Engelbert, von der Unvermitteltheit des Eingriffs in sein heimlichstes Innere verwirrt. Aber gleich gab er sich vertrauensvoll hin: »Ja, jeden Abend steht der Stern hier über der Hütte und dem Garten, den ich auch auf der Reuttermühle sah.«

» Ihr Stern, Engelbert!«

All das Süße, Schmerzende jetzt um mich, sagte sich Engelbert, diese Seligkeit, die noch in der Luft wartet, dieses zauberhafte Glück ihrer Nähe geht alles von dem Augenblick aus, da ich Vertrauen zu ihr hatte und in der Nacht auf dem Schiff das Herz öffnete. Wenn die Menschen mehr Vertrauen einer zum andern hätten, wäre es leichter mit ihnen, wäre es besser um sie bestellt.

»Vielleicht ist es ein Trug«, sagte er dann zu Else, »aber man weiß nicht immer, wo Wahrheit und Schein sich abgrenzen. Und wie damals über dem Birnbaum ein Stern mir versprach, daß Rosina nicht ins Nichts zerstört sei, war das doch eine fühlbare Wirklichkeit. Sonst wäre ich doch nicht hier, sonst wäre …«

Er suchte nach Worten, die die Zartheit des verwehend Unmateriellen seiner Gedanken träfen. Es gab keine. Er litt.

»Quälen Sie sich nicht, Engelbert!« Else schob ihre Hand in seinen Arm. »Wenn Sie diesen Glauben nicht hätten, wer weiß, was aus Ihnen geworden wäre mit der Wirklichkeit allein! Das habe ich vorhin sagen wollen, als ich nach dem Stern fragte, auf dem Ihnen die Verstorbene erhalten blieb.«

Er sprach jetzt von Rosina. Sie gingen in dem breiten Mittelweg des Gartens, den Engelbert mit flachen Steinen gepflastert hatte, auf und ab. Lange gingen sie so, und die sachte Zärtlichkeit der Berührung ihrer Hand löste seine Vergangenheit aus ihm. Else wußte nun, daß er betrunken gewesen, als Rosina starb, daß er Not gehabt hatte an Geld und Juch ihn gerettet und zugleich ihm die Reuttermühle genommen hatte. Sie kannte die romanhafte Geschichte mit Hohermuths Bild. Die Entdeckung der Smaragde, die Juch und ihn auf den Weg nach Südamerika gebracht.

Sie wußte auch von der Nacht mit der Indianerin, und ihre Hand auf seinem Arm hatte ganz unmerklich zu zittern begonnen, als er von dem Erlebnis erzählte, das in einer geheimnisvollen Kreuzung eigentlich ihr selber gegolten und das noch Blutwärme in ihm haben mußte.

Eine Zeitlang gingen sie weiter, ohne daß ein Wort gesprochen wurde, jeder in sein Weiterdenken verloren und darin jeder dem andern so nah, daß der Luftdruck eines Grillenzirpens sie hätte ineinanderblasen können. Jetzt sagte Engelbert aus seinen Gedanken heraus: »Juch! Ich weiß es! Ich traf in einer Stunde meines Lebens auf ihn, da ich nicht fähig war, mich selbst zu wehren. Er ist über mich gekommen und durch mich hindurchgegangen wie ein Nebel. Ich hab' lang nichts anderes gesehn, und niemand konnte mir aus dem Nebel heraushelfen.«

»Engelbert, ich bleibe hier!«

Aber ihre Hand glitt aus seinem Arm. Er erschrak und wußte nicht, ob es wegen der entglittenen Berührung ihrer Hand oder wegen des Wortes war, dessen Güte er wohl verspürte, dessen ganzen Sinn er aber nicht gleich erfaßte.

Er empfand nur, daß sie etwas Uferloses gesagt hatte, etwas, das ein Mensch dem andern nur einmal zu sagen vermochte. Er sah, daß sie an seiner Seite stand, daß an ihren herabhängenden Armen mit einer schmelzend machenden Darbietung sich die Hände ein wenig vorkehrten.

Da begann er ihr zuzulächeln, und dann stiegen seine Augen voll mit Tränen. Auch Elses Augen waren voll Tränen, und sie weinte bald leise vor sich hin.

Nach einer Weile zerrte sie ihn derb am Arm.

Er sagte: »Ja!« Er sagte es zu einer Frage, die er nicht hatte stellen hören, und damit begannen sie von neuem den Weg auf und ab zu gehen. Else war mit der Hand wieder in seinen Arm geschlüpft. Sie wanderten nun auf und ab, stumm, unaufhaltsam, hartnäckig, als wollten sie sich auf den flachen Steinen des Weges durch den Garten Engelberts das Glück erlaufen.

Der Schneebogen auf dem Berg der Sierra von Merida war von Wolken verhangen und vor der Sicht der Welt abgeschnitten.

Da kam auf einmal Manuel angeritten. Er war noch nicht bei ihnen, als er rief: »Ambos, hat Juch ein weißes Pferd?«

»Ja, er hatte einen Schimmel!« antwortete Ambos.

»Wir sind nämlich auf ein Pferd gestoßen, das englisch gesattelt war und herrenlos umherirrte. Und da Sie mir sagten, Sie seien die einzigen Nicht-Indios in der Gegend, da hab' ich meine Männer doch lieber allein weiterreiten lassen und wollte zurückkommen und fragen.«

»Ja, wenn es ein Schimmel war, so konnte es nur Juchs Pferd sein.«

»Wo wollte Juch hin?«

»Ich weiß nicht, wo er hinwollte«, antwortete Engelbert.

»Haben Sie denn nicht darüber gesprochen, wie er ging?«

»Er hat sich gar nicht von mir verabschiedet. Ich wußte von nichts. Wie ich zurückkam, war er nicht mehr da. Das war aber öfter so, und daß es diesmal für immer wäre, erfuhr ich erst heut morgen durch ein Indiomädchen.«

»Was sagte es?«

»Er sei in ein anderes Land.«

»Was war das für ein Mädchen? Aus dem Dorf?«

»Das weiß ich nicht genau. Es ist eines Tages mit einem Kochtopf gekommen und hat gesagt, es ginge nicht, daß man uns so ohne Hilfe wirtschaften ließe. Es hat dann mitgeholfen, auch im Garten, hat gekocht und Wäsche gewaschen.«

»Niemand hat es geschickt?«

»Wer sollte es geschickt haben? Es ist niemand in der Nähe, den wir kennen.«

»Und keine Bezahlung genommen?«

»Es hat nie etwas verlangt.«

»Merkwürdig!« sagte Rizal nachdenklich. Er wollte noch etwas fragen, als sie das Wiehern eines Pferdes hörten.

»Das ist der Schimmel!« rief Engelbert.

Das Pferd ließ sich ohne weiteres von ihm einfangen. Sie untersuchten die Satteltaschen. Es war nichts Besonderes festzustellen. Dann zeigte Rizal auf eine Stelle an der Flanke, die ganz zerschunden und mit frisch blutenden Wunden bedeckt war.

»Von den Sporen!« sagte Rizal.

Engelbert gab das Pferd in den Hag.

*

Als er zurückkam, sagte Rizal zu Ambos: »Ich weiß nicht, unter welchen Verhältnissen Sie auseinander gegangen sind. Aber wie es auch gewesen und selbst wenn ich begreife, daß es nicht im guten geschah, so war Juch doch lange Ihr Kamerad, und er ist immerhin ein Mensch. Und Sie, Ambos, dürfen hier über das Schicksal anderer Menschen nicht so denken, als seien Sie am Bodensee«

»Was wollen Sie damit sagen? Ich versteh es nicht genau«, antwortete Engelbert befangen.

»Daß ich starke Bedenken habe, Ihrem alten Kameraden sei etwas zugestoßen. Und daß wir gleich alle Anstrengungen machen müssen, uns nach ihm umzusehen, auch wenn er nicht mehr Ihr Freund war.«

»Das ist selbstverständlich«, sagte Engelbert erschrocken. Von der Stunde mit Else war die Wirklichkeit von ihm genommen worden. Unter Manuels Mitteilung kam sie ihm allmählich zurück. Er lief sofort mit dem Sattel zum Hag und kam bald auf seinem Pferd zurück, und sie ritten alle drei dem Dorfe zu.

Als sie eine Stunde getrabt waren, kam einer der Männer Rizals ihnen entgegengesprengt. Er lenkte sein Pferd an die Seite Manuels, und sie ritten nun im Gang zwei zu zwei hintereinander, Else neben Engelbert und hinter Rizal. Engelbert beobachtete, daß Else aufmerksam, ja mit einer Spannung, die sich deutlich in ihrem Gesicht abzeichnete, den Worten des Mannes zuhorchte, der eine lange Erzählung machte. Engelbert verstand nichts von dieser Erzählung. Aber aus dem Wechsel in Elses Gesicht las er, daß der Bericht sie immer stärker beeindruckte, und über Elses Gesichtszüge ging die Wirkung auch auf ihn aus.

Endlich wandte sich Rizal zu Engelbert zurück und fragte: »Ist Ihnen in der Gegend ein Felsen bekannt, auf dem ein pyramidenähnlicher Aufbau aus Steinen ist?«

»Ja, das ist der Fels an den Agaven!«

»Mein Mann kommt aus dem Dorf. Soviel er erfahren konnte, muß etwas mit diesen Steinen und Juch losgewesen sein. Die Leute im Dorf seien etwas störrisch gewesen, sagte er. Mein anderer Mann ist noch da und bemüht sich, weiteres zu erfahren. Sie wissen nichts von einem Zusammenhang?«

Engelbert winkte: Nein!

Wohl stand nun das Bild des an dem Gewehr lauernden Mannes in Engelbert auf und auch der Gedanke, jener möchte nicht auf einen Leoparden, sondern auf einen Menschen gelauert haben. Aber er brachte es nicht über sich, Manuel davon zu sprechen, weil er dann gefragt worden wäre, weshalb er und wie er von dem Ort, an dem er das beobachtet, fortgekommen sei und nicht abgewartet hätte, wozu der andere sich drüben verborgen hätte. Er hatte es Else erzählt. Mit Else war es etwas anderes. Sie gehörten ja langerhand zusammen. Sie hatte um so mehr ein Recht darauf, als ihr Erscheinen nichts anderes wie die Fortsetzung und der Abschluß des Erlebnisses war, zu dem das Bild des Mannes hinter dem Gewehr sich mitzählte.

Als sie ans Dorf kamen, gewahrten sie einen Knäuel von Menschen um Rizals zweiten Mann versammelt. Es waren lauter Männer, die Strohhüte tief ins gelbe Gesicht und kleine Ponchos über den Schultern trugen.

»Mit Gott, Senhores!« rief Rizal und sprang ab. Er begann zu fragen, und es entstand rasch ein lebhaftes Schreien, Durcheinandersprechen und Rennen, bis Rizal aus dem Haufen heraus Engelbert zurief: »Wir wollen zur Pyramide!«

Sie ritten langsam aus dem Dorf heraus.

Engelbert fühlte sich niedergeschlagen; eine Ahnung von dem Kommenden keimte ängstlich in ihm auf.

»Engelbert!« mahnte Else leise.

»Werden wir Juch finden?« fragte er zurück.

Rizal hatte die Worte gehört. »Ich fürchte, nein!« antwortete er, ohne sich umzuwenden.

Engelbert war plötzlich sehr verzagt.

Hinter ihnen kam der Haufen der Männer aus dem Dorf zu Fuß. Den Beschluß machten die beiden berittenen Leute Rizals.

»Wie hieß das Mädchen?« fragte Manuel im Weiterreiten.

»Reinada.«

»Niemand im Dorf wollte sie kennen.«

»Ich weiß auch nicht, ob sie aus dem Dorf kam«, antwortete Engelbert. »Es liegen auch noch Hütten zerstreut hoch in den Bergen. Vielleicht …«

An dem Stein mit der Pyramide stiegen sie ab. Sie standen mitten zwischen den Männern. Engelbert sah, daß nun einer als Sprecher sich hervortat. Der zeigte, ohne das Gesicht zu heben, auf den Felsen hinauf, wo der Steinhaufen sichtbar wurde. Engelbert sah alle Augen dieser Richtung folgen, aber niemand hob den Kopf. Sie schauten alle mit den Augen mitten in einer steifen Erstarrung der Gesichtszüge in den breiten Rand ihrer Strohhüte und sahen so den Steinhaufen nicht, den zu erblicken Engelbert, Else und Rizal frei das Gesicht hoben und den Kopf weit hintenüber legten.

Das ward Engelbert, als es sich öfters wiederholte, seltsam und unheimlich. Es schien, als schwebe eine geheimnisvolle Decke nahe über allen Stirnen, sichtbar für die Indios, die Europäer sähen sie aber nicht.

Der Sprecher redete lebhaft und ohne Unterbrechung. Die Worte sprudelten ihm zwischen den Lippen hervor, als würden sie ihnen entfliehen. Engelbert wandte kein Auge von diesem Mann. Es redete aber nicht nur sein Mund.

In derselben Zeit, wo seine Lippen in einer so emsigen Hast Worte gaben, sprachen auch seine Hände, die Augen, die Züge seines Gesichts, die Knie, die nackten Zehen, die Schultern, der ganze Mensch war in Rede.

Von den spanischen Worten verstand Engelbert nicht ein einziges. Trotzdem wußte er, daß der Mann so wortreich erklärte, von Juchs Verbleib sei ihm und dem Dorf nichts bekannt.

Redet dieser Mann nicht etwas, was er nicht glaubt? fragte sich auf einmal Engelbert. Diese Empfindung verursachte ihm zunächst eine leichte Beklemmung. Sie stand nicht klar in ihm, sondern war eher ein unsichtbarer, dehnbarer Eindruck, der auch anderen Auslegungen zugänglich war.

Worte sind geschaffen, die Wahrheit zu überdecken. Aber das Spiel der Gesichtszüge, der Hände, des Körpers ist unbeherrschter und darum wahrhaftiger, und es kann vorkommen, daß ein nur beobachtender Zuschauer andere Menschen mit dem bloßen Auge klarer durchblickt als der Zuschauer, der über das Ohr in das Labyrinth der Worte des anderen Mundes hineingelockt wird.

Dies ward für Engelbert der Fall, je länger er zuschaute. Es war bald kein Eindruck mehr, daß der andere mit seinem Benehmen verriet, wie er mit seiner Zunge log. Aus der schwankend aufgetauchten Empfindung wurde eine feste Überzeugung, der Mann und das Dorf wüßten, was mit Juch geschehen, und wollten sich daran vorbeireden.

Zugleich mit dieser Erkenntnis und wie auf derselben Blutwelle in sein Bewußtsein getragen, überfielen ihn rasch, heiß und gewaltsam die tausend Erinnerungen seiner Gemeinsamkeit mit Juch. Sie waren bös und gut durcheinander. Bös und gut waren dasselbe untrennbar Gebundene, und mittendurch flog der Hieb mit der Peitsche, den Engelbert Juch um die Schenkel geschlagen hatte.

Er hatte ihn oft bereut. Aber erst in diesem Augenblick fühlte er, wie der Vorgang das Menschliche zwischen ihnen unheilbar entweiht hatte, wie es für ihn, Engelbert, würdelos, für Juch entwürdigend gewesen. Wie er, Engelbert, unter einem Auslassen menschlicher Ordnung und Selbstüberwindung dem Rohen, Tierhaften unterlegen war.

Jetzt empfand er über seine Tat eine quälende Scham, die daran zu einer Marter wurde, daß es nie wieder gutzumachen wäre, daß er es nie vergessen könnte. Ihm war, er habe sich an einem hilflosen Toten bis in die Ewigkeit vergangen.

Und aus diesem Grimm gegen sich selber sprang ein entfesselter Anfall von Auflehnung und Wut gegen die verschlagenen Lügen des vielrednerischen Menschen. Er stürzte sich gegen den Indio, riß ihn an der Brust hoch und schrie ihm ins Gesicht:

»Du lügst! Du weißt, was mit ihm geschah. Rizal, er weiß es!«

Rizal war hastig dazwischengetreten und hatte die beiden voneinander getrennt.

»Machen Sie keine Torheiten, Ambos«, sagte er rasch. »Es nützt Juch nichts, und Sie laufen Gefahr, daß man Ihnen den Aufenthalt hier unmöglich macht. Auf diese Weise ist nichts herauszubekommen.«

»Verzeiht meinem Freund. Er ist ein Kavalier. Die Erinnerung an seinen verschwundenen Kameraden hat ihn übermannt, und er hat sich zu etwas hinreißen lassen, von dem er mir gleich nachher, wenn wir allein sind, schamvoll sagen wird, daß er es bedaure.«

Die Männer hörten halsstarrig verstummt zu. Als Rizal sich zu Engelbert umdrehte, sah er, daß Else wie in inniger Anteilnahme ihre Hand auf dessen Schulter gelegt und an ihn angelehnt stand. Manuels Gesicht bekam auf einmal den Ausdruck einer hilflosen Einfalt.

»Es ist nichts zu machen. Lassen wir's!« sagte er dann rasch und schaute seine Kusine dazu an. Sie grüßten die Leute und ritten zur Hütte zurück.

»Du hast vorhin nicht sehr intelligent dreingeschaut, mein Guter«, sagte Else, die ihr Pferd neben dem ihres Vetters hielt. Die beiden Männer Rizals ritten mit Engelbert voran. »Was hattest du?«

»Das Bewußtsein, daß du mich beschwindelt hast, als du aus reinem Interesse für die Technik von Straßenbauten in den Anden dich meiner Inspektionsreise angeschlossen hast.«

»Wieso?« antwortete Else. »Daß es einem jungen Mädchen von heute verwehrt sei, Interesse an mechanischen Dingen zu haben, das sind doch erledigte Begriffe. Ich habe mir sogar sagen lassen, zum Beispiel, es werde jetzt ganz modern, daß junge deutsche Mädchen Gemüsebäuerinnen würden.«

»Im Mondgebirge?« fragte Manuel geradeaus in die Luft.

»Oder in den Anden, einerlei! Allerdings dürfen sie dann nicht mehr mit dir in La India in Carracas tanzen, scheint es. Die venezolanischen Schwestern sind noch nicht soweit, ihren eigenen Kohl zu bauen.«

»Du, du!« sagte Manuel warm.

Else rief Engelbert nach vorn zu: »Engelbert, ich hab's ihm grade gesagt!«

»Glückwünsche!« trompetete Manuel nach vorn.

Aber diese Durchbrüche von Laune blieben selten an diesem Tag, und das Rätsel um Juchs Verschwinden belastete ihr Beisammensein und ihre Gespräche.

»Haben Sie gar keine Vorstellung«, fragte Engelbert Rizal, als sie wieder in der Hütte waren, »was ihm zugestoßen sein kann?«

»Ich kann Ihnen nur im allgemeinen antworten, Engelbert, und ich kann es nicht anders sagen, als daß in der Luft dieser Länder für den Fremden ein Gift ist. Manche brauchen nichts Besonderes zu tun, keine besonderen Schicksale zu haben. Es ist auch gleich, ob sie gut oder böse sind, sich klug oder dumm anstellen, stark oder schwach auftreten, sie werden doch von dem Gift erreicht. Juch hat es schlucken müssen.«

»Sie sind sich darüber ganz sicher?« fragte Engelbert.

»Daß er nicht mehr lebt? Ja. Stellen Sie ihm ein Kreuz auf einen der Felsen, wo wir mit den Indios aus dem Dorf waren, wenn Sie die Erinnerung an ihn sichtbar machen wollen. Er wird nicht weit davon entfernt in der Erde liegen. Aber eines, Engelbert! Verfolgen Sie die Sache nicht weiter. Um Gottes willen, nur nicht etwa die Behörden damit befassen! Sonst könnte diese Erde, in der er liegt und an der er gestorben ist, sich auch gegen Sie richten. Es ist, als ob der alte Geist der Länder ihnen eine geheime Wehr gelassen hätte. Ihr Ahne Hohermuth ist ja auch, wenn ich mich gut erinnere, diesem Fiebergeist des Landes erlegen.«

»Engelbert ist stark!« sagte Else.

»Ja, er ist ein braver Mann, ich weiß. Und wenn er seinen Kohl und seinen Spinat einmal … Donnerwetter!« rief er plötzlich aus seiner Rede heraus. »Engelbert, das ist ein Gedanke! Die andern pflanzen Kaffee und Kakao und Tabak für den Weltmarkt und hängen von Konjunkturen, Spekulationen, langer Sicht und säumigen Schuldnern ab, auf die sie keinen Einfluß haben. Pflanzen Sie Gemüse für Venezuela! Maracaibo ist eine große Stadt mit Zukunft. Die Petrolgesellschaften werden Tausende von europäischen und amerikanischen Kunden für frisches Gemüse aus einer sauberen Pflanzung zur Verfügung stellen. Wenn meine Straße fertig ist, haben Sie nicht mehr als einhundertfünfundzwanzig Kilometer bis an den Dampfer auf dem Maracaibosee. Sie kaufen sich einen Lastwagen und sind ein gemachter Mann.«

»Manuel«, sagte Else, »und ich?«

»Du? Wenn ich endlich richtig begriffen haben sollte – hilfst ihm dabei.«

»Ich weiß, wie wir die Pflanzung nennen: Hohermuth! Gemüse aus der Pflanzung Hohermuth«, sagte Else.

»Ja, Mut gehört dazu«, bemerkte Manuel Rizal, »aus Else so ohne weiteres eine Bäuerin in den Anden zu machen. Aber du hast ja da einen Bären, der dich bei der Verwandlung schützt.«

Nachts, als Engelbert nicht einschlafen konnte und dem regelmäßigen Atmen der beiden wie dem Gang einer Uhr lauschte, die die Zeit überbrückte, von der Vergangenheit in die Zukunft reichte, da trafen sich seine Gedanken: Vergangenheit und Zukunft auf einmal in Engelberts Gemüt und verursachten darin einen mächtigen Sturm. Das finstere Schicksal Juchs wirbelt ihm die Nöte, Entwürdigungen, die Schläge und Gefahren des letzten Jahres ins Herz. Wie war es voll Dunkelheit, Qual und Kampf gewesen! Und darüber wehte in einer schmerzhaften und süßen Klarheit das Versprechen der Zukunft mit Else. Er widerstand lange. Dann begann er hilflos, überwogt, sich auszuweinen. Ein Weinen der Sehnsucht, ein Weinen des Glücks.

»Bleib, bleib, Stern!« flehte er, und sein ganzes Gesicht und seine Hände waren naß und salzig von den männlichen Tränen.

*

Reisende, die in Puerta San Pablo auf den kleinen Dampfer steigen, der den Platz mit Maracaibo verbindet, können heute jedesmal eine Stunde bevor, ehe sich der Dampfer in Bewegung setzt, einen Kraftwagen anfahren sehen, der mit Körben voll Gemüse und kleinen mit Butter gefüllten Holztönnchen und Obst beladen ist. Ein schwerer blonder Mann und zwei schmächtige Indios schaffen die Körbe und Tönnchen eilfertig unter Deck. Manchmal ist es auch statt des Mannes eine junge Frau, die den Wagen an die Anlegestelle steuert.

Die Straße durch die Kordillere ist fertig. Ambos hat mit Hilfe des alten Herrn Berndts und Manuel Rizals das Land gekauft. Auf den Terrassen ist bis in den Kessel hinab das Gras weggepflügt. Der Boden ist fett und schwarz und treibt mit blindem und wahllosem Eifer Gemüse und Unkraut. Das Unkraut macht mehr Arbeit als das Gemüse. Andere Felder sind mit militärisch gereihten Karrees von Apfelsinenbäumen besetzt. Der Natur ist eine Ordnung auferlegt, die in dem geometrischen Anblick einen Ausdruck auch fürs Auge findet. In weiten, mit Draht umhagten Buschweiden leben und grasen Kühe.

Die Hütte, der Kochraum, der Anbau sind verschwunden. Wo sie standen, steht jetzt ein Holzhaus mit einer Veranda, und durch die Maschen der Feigenhecke sieht man über die Pflanzung und das Kordillerental in einem. Über dem Zugang ins Haus ist ins Gehölz der Wand ein Kistendeckel eingefügt. Auf ihm steht:

Hohermuth.

Engelberts Stern wandert jede Nacht darüber, und steht er im Zenit, so beginnt er von allen Farben des Weltalls zu schillern … Ein Traum hat sich erfüllt. Er hat sich mit der reinen Kraft des Herzens gegen die Zeit erfüllt.

Juch liegt nicht mehr namenlos begraben in fremdem Land; an der Stelle, an der die Indios ihn in den Boden gelegt, steht die Steinpyramide, die Ursache und Zeichen zu seinem Untergang war.

Ambos hatte Manuels Mahnung, Juchs Schicksal nicht weiter nachzuspüren, nicht ganz befolgt. Er glaubte es der Gemeinsamkeit schuldig zu sein, die sie zusammen an diesen Ort gebracht, das Grab des Kameraden von der Schande der Namenlosigkeit zu befreien. Es ist ihm nach einiger Zeit gelungen.

Da er für seine Pflanzungen Arbeiter brauchte, hat er mit den Leuten aus dem Dorf zu verhandeln begonnen und hat sie sich nach und nach vertraut gemacht und angefreundet. Sie arbeiten bei ihm, wenn sie Lust haben, und einige sind immer da, die Lust haben. Sie verdienen Geld und kaufen sich neue Ponchos. Ja manche haben sich neue Hütten gebaut, größere. Wenn ein Huhn geschlachtet wird, ist es bei der Sitte geblieben, die der aus der Gegend wieder verschwundene Goldsucher einführte: sie lesen aus dem Inhalt des Kropfes die kleinen grünen Glassplitter heraus. Wenn einer nach Merida geht, gibt man ihm die größeren mit. Oder sie vertrauen sie einem der Leute an, die mit Don Elberto mit dem Kraftwagen nach Puerta San Pablo fahren. Manchmal ist einer auf dem Schiff, der so was kauft, und es ist schon vorgekommen, daß für solch einen Splitter anderthalb Bolivares gelöst wurden. Das sind ungefähr fünfundsiebzig Pfennig. Lieber hätten sie Don Elberto als Vermittler für diese Geschäfte gehabt. Denn sie trauen ihm mehr als den eigenen Freunden. Doch hat er von Anfang an abgelehnt. Es ist auch nicht so wichtig. Wenn sie Geld haben wollen, brauchen sie nur zu ihm zu gehen und in der Pflanzung zu arbeiten.

Und so haben sie ihm schließlich das Vergnügen gemacht und ihm gesagt, wo Juch in der Erde liegt. Er gab ja keine Ruhe und wollte es unbedingt wissen. Und sie konnten ihm trauen und überzeugt sein, daß er die Behörden nicht ins Dorf hetzt wegen dieser alten Geschichte.

Ambos hat dann kurzerhand selber, wie sie sich nicht getrauten, die Steine der Pyramide auf dem Felsen anzurühren, diese hinabgeworfen und auf der Stelle wieder aufgebaut, unter der Juch sich für die Ewigkeit ausruht. Und es ist Don Elberto nichts dabei geschehen.

Also ist auch dieser Zauber aus dem Land, und der Felsspalt ward von einem der ungefährlichen Erdbeben, die manchmal an der Gegend rütteln, zugeschüttet.

Wo ist Reinada geblieben? Wer war sie? Es kam ihm nie mehr Kunde noch Zeichen von ihr. Darüber verspürt Engelbert manchmal Unruhe, die etwas Bitteres hat. Die Begegnung mit ihr hat sich wie zu einer geisterhaften Befruchtung in sein Blut gesenkt, unvergänglich, scheint ihm, aber ohne Zweck und Ziel. Sie war das Signal zu der endgültigen Wendung seines Schicksals, zu der Rückkehr, und es bleibt ihm das Rätselhafte an ihr, daß sie ihn von der Frau entfernte, der diese Begegnung gegolten hatte und ihn in einer Stunde Else gab, wo das Erlebnis mit der andern noch deren Blutwärme besaß. Die Erinnerungen der Nacht, in denen sich jetzt der Tod Juchs und der verschwundene Leopard, der ihn zu dem verborgen lauernden Indio und in die Nacht mit Reinada geführt hatte, Jagd, Untergang und Liebe, in einem Bündel verquickt, haben etwas so Unantastbares und sind zugleich so geheimnisvoll und betörend, daß er nie darüber zu sprechen vermag. Sie erscheinen ihm zu unfaßbar in sein Inneres verweht, als daß sie von einem anderen Bewußtsein mitgetragen werden könnten. Else weiß nichts davon, daß er manchmal neben ihr sitzt und tausend Kilometer tief in diesen Gedanken von ihr davonwandert.

Engelbert findet sich damit ab. Er nimmt es hin und mit in die Liebe zu seiner Frau, als einen Teil der Erbsünde:

Es steht eine Grenze zwischen Mensch und Mensch, über die keiner in das Leben des andern einzudringen versuchen darf. Ein Schild steht vor jeder Seele, Sinnbild des von Gott an den Baum des Paradieses gesetzten: Es ist verboten …

Juch lag in seinem Grab, weil er das Verbot nicht geachtet und bedenkenlos und gewissenlos Engelberts Seele und die des fremden Landes betreten hatte.

 


Dieses Werk

ist eine Veröffentlichung der Deutschen Buch-Gemeinschaft. Die schönen Bände der Deutschen Buch-Gemeinschaft und ihre Zeitschrift »Die Lesestunde« sind über die ganze Welt verbreitet. Jedem Bücherfreund im In- und Ausland wird durch die Deutsche Buch-Gemeinschaft Gelegenheit gegeben, sich gegen eine bescheidene Ausgabe eine eigene wertvolle Hausbibliothek zu schaffen

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