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Läßt man in Gedanken die Reihe seiner Bekannten vorübergleiten, so sieht man immer diejenigen, zu denen man nicht in ein nahes und inniges Verhältnis getreten ist, in einer gewissen, bestimmten Situation erscheinen.

So geht es wenigstens mir.

Der eine biegt zum Beispiel immer grüßend um eine Ecke, einen anderen finde ich immer an meinem Fenster stehen, den Blick auf das gegenüberliegende Haus gerichtet. Da ist ein alternder Mann, der immer dasitzt und gedankenvoll in seine Suppe starrt, über der unzählige Fliegen summen, und ein eleganter junger Mann, stets in Begleitung eines Nußknackers, der im Schatten einer großen Kalla die Zähne zeigt.

Von den vielen Bildern dieser Art, die jetzt an mir vorüberziehen, will ich ein einzelnes festhalten.

Es ist ein alter Mann, der sich über eine prächtige Rose beugt und eine eben aufgebrochene Knospe küßt. Er ist Kriegsrat. Der Kriegsrat liebt seine Blumen unsagbar, auch die anderer liebt er, wie man die Kinder anderer im Verhältnis zu den eigenen liebt; hatten nun aber diese anderen ein eigentümliches Blumenkind, das sie nicht zu pflegen verstanden, so wie es gepflegt werden mußte, um zu etwas zu werden, so nahm er es zu sich und behandelte es wie seine eigenen und trennte sich nur ungern davon. Er wurde zornig, wenn man nicht gut gegen Blumen war, und ging sogar zuweilen zu wildfremden Menschen hinein und ermahnte sie, das Heliotrop, das sie im Fenster stehen hatten, zu begießen und die Myrte zu beschneiden, die daneben stand. Besagter Kriegsrat hatte eine Tochter; sie hieß nicht Julie, aber ich will sie Julie nennen. Ob sie schön war? Ja! Hört nun, wie der Kriegsrat darüber dachte. Ich habe nämlich den Kriegsrat in Verdacht, daß er einen starken Hang zu Symbolik hatte; ich glaube, daß die Blumen, die im Wohnzimmer standen, eine jede ihren Namen nach einem seiner Lieben hatten, und was nun einen schönen, weißen Oleander betrifft, der auf einem kleinen Blumentisch für sich stand und mit seinen dunklen Blättern und zarten, duftenden Blüten prangte, so bin ich fest davon überzeugt, daß er so hieß, wie Julie hieß.

Wir waren fünf junge Leute, die viel dort im Hause verkehrten: Peter und Paul, Karl und Jesper und – Mads. Das letztemal, als wir alle dort versammelt waren, war ein Abend im Oktober, und zwar in Veranlassung eines sehr seltenen Kaktus, der jetzt endlich nach neunjähriger, sorgfältiger Pflege eine Blüte bekommen hatte, die sich nach Sitte dieses Kaktus einmal im Laufe der Nacht mit einem großen Knall erschließen würde. Nun sollte ja die Wartezeit mit irgend etwas hingebracht werden, und da wir jungen Leute, was keine Seltenheit ist, glaubten, daß wir Dichter seien – Karl war freilich sowohl in bezug auf uns als auf sich selbst davon überzeugt, daß es ein Irrtum sei –, so hatten wir den Kriegsrat verstehen lassen, daß wir es übernehmen wollten, die Pausen zwischen dem Tee und den Wanderungen der Obstschalen auszufüllen.

Es war ein Kreis Damen und Herren geladen worden, aber infolge des schlechten Wetters und anderer hinreichender Abhaltungsgründe hatte sich, mit Ausnahme eines tauben Assessors, niemand weiter als wir fünf eingefunden. Aber was tat das wohl, Julie war da, und im Grunde war sie es doch, der wir vorlesen wollten, sie, von der wir uns bewundern lassen wollten.

Nun, der Kaktus stand mitten auf dem Tisch, der Kriegsrat und der Assessor saßen jeder in seiner Ecke des Sofas, Julie wand Garn auf einer allerliebsten antiken Garnwinde ab, die ihrer verstorbenen Mutter gehört hatte, und Karl saß bei ihr und schnitt mit einer gewaltigen Gartenschere Garnwickel aus. Wir andern schlenderten ein wenig unglücklich umher, verloren uns in der Betrachtung der Bilder an den Wänden, zählten die Streifen in der Tapete, nahmen die Visitenkarten durch, hoben das Rouleau in die Höhe, um zu sehen, ob es sternklar sei, und hörten trotz all der Geschäftigkeit doch jedes Wort, das im Zimmer gesagt wurde, so daß wir lachen konnten, wenn der Assessor witzig war.

Endlich war Julie so freundlich, Paul zum Anfangen aufzufordern, und so las er denn:


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