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In der Nacht kam Biderthal mit einer Postchaise, um Henriette eilends abzuholen. Der alte Hornich war wieder eingefallen, und neue Zufälle verkündigten ihm ein schleuniges Ende.
Biderthal wurde von der Nachricht, daß sein Bruder mit Allwina verlobt sey, wie versteinert; er konnte – er wollte sie nicht glauben.
Seit jenem Abend, an dem sich Woldemar so entscheidend über sein Verhältniß mit Henrietten wider Biderthals Meynung und Wünsche erklärt hatte, waren beyde Brüder über eben diesen Gegenstand öfter, und ein paar Mal ziemlich ernsthaft an einander gerathen. Biderthal ermüdete nicht; mit Begierde ergriff er jede neue Gelegenheit, das Aergerniß, welches er an der so verkehrten Denkungsart des Freundes und der Freundinn nahm, nachdrücklicher an den Tag zu legen. – »Endlich müßten sie es doch einmal begreifen, meynte er, daß sie unvermerkt gegenseitig sich nur überspannt hätten, unverzeihlich jetzt sich täuschten, und in der drohendsten Gefahr einer schmerzlichen, zu späten Reue schwebten.« – Er redete vortrefflich, aber umsonst, und mußte zuletzt, trostlos und ermüdet, in Woldemars und Henriettens Vorschlag willigen: diese Sache, nach so vielen von beyden Seiten mißglückten Versuchen, den Gegner auf andre Gedanken zu bringen, wenigstens eine Zeitlang bloß auf sich beruhen zu lassen.
Während dieses Waffenstillstandes nun, war die Verlobung zwischen Woldemar und Allwina zu Stande gekommen.
So schnell und unvermuthet; so schlau; so tückisch! ... Biderthal empfand die peinlichste Bestürzung darüber. Er mußte nun auf immer schweigen, und schwieg.
Aber was bisher nur Tadel in ihm gewesen, wurde von diesem Augenblicke an Bekümmerniß, Sorge, böse Ahndung. Denn das blieb auch nach seines Bruders wirklicher Verlobung mit Allwina gleich ausgemacht bey ihm, daß im Grunde von Woldemars Seele Henriette die Braut sey. Warum nahm er sie denn nicht zum Weibe? – Daß sie nicht gewollt hatte: diese Thorheit war Woldemars Werk; er hatte sie ihr eingegeben, sie dazu verführt. Nun blieb das treffliche Mädchen, ohne eigentliche Haltung unter Menschen, auf eine eben so grillenhafte als unsichere Bestimmung eingeschränkt. – Warum? – Und wer konnte dafür stehen, daß Henriette nicht bald versucht würde, das Glück irgend eines würdigen Mannes zu machen, und sich mit ihm einen eigenen Heerd zu bauen? – Würde Woldemar dieß ertragen? Ertragen, daß Henriette einen andern näher anginge, einem andern mehr zugehörte und anhinge, als ihm; daß sie, zerstreut durch mannichfaltige Geschäfte, in mannichfaltiger Liebe, nicht mehr die Eine, die Seine heißen könnte? – Wenn dieß geschähe, glaubte Biderthal ... Ja, noch viel eher! Auf den bloßen Verdacht eines dahin gehenden Wunsches in Henriettens Seele, einer Möglichkeit, daß er sich in ihr erregen ließe, würde ihm das Geheimniß seines eigenen Herzens offenbar werden; würde ihn unaussprechlich foltern; endlich ihn unter die Erde drücken.
Biderthal dachte sich noch andre Möglichkeiten, wie seines Bruders Gemüth in Beziehung auf Henriette angegriffen, in Verwirrung gesetzt, und das künstliche Gebäude seiner Glückseligkeit auf die schrecklichste Weise zerstört werden könnte.
In diese Betrachtungen vertieft, saß er stumm neben Henriette im Wagen, und war nur froh, daß er zu Pappelwiesen nicht hatte weilen dürfen, und daß seine sichtbare Verwirrung auf seine Verwunderung, auf die Umstände, auf den Wechsel und Contrast seiner Empfindungen so füglich hatte geschoben werden können.
Henriette fragte ihn, worüber er so in sich gekehrt wäre; was ihn so sonderbar stille machte? – Ich habe ausgeredet! antwortete Biderthal. – Henriette verstand diese Antwort, und fragte nicht weiter.
Sie fand ihre Geschwister in des Vaters Hause versammelt. Er war etwas eingeschlummert; und so konnte nun, nachdem Henriette von dem Zustande des Kranken alle Erkundigungen eingezogen hatte, und man wieder gelassener dasaß, die Wundergeschichte von Woldemars Verlobung vorgenommen, erzählt, erläutert, und von allen Seiten betrachtet werden.
Biderthal sah mit Befremdung, daß beyde Schwestern und Dorenburg mehr erfreut und weniger erstaunt waren, als er es erwartet hatte. Auch erschien ihm etwas geheimnißvolles in ihren Mienen, welches ihn noch mehr verwirrte und beklemmte.
Eben dieses nahm auch Henriette wahr, und so wie es ihr auffallender wurde, Hub sie plötzlich an: » Ihr habt etwas unter einander; was ist es?«
Alle drey wurden roth – und nach und nach kam es herausgestottert: der Vater befände sich in einer Art von Höllenangst wegen Woldemar und Henriette, und würde nicht anders als voll Verzweiflung den Geist aufgeben, wenn er nicht von seiner Tochter das feyerliche Gelübde erhielte, daß sie nie Woldemarn als Gattin angehören wollte. Denkt euch die Beklemmung, worin wir uns befanden, sagte Dorenburg, und was für eine Wirkung die glückliche Nachricht, die ihr mitbrachtet, auf uns machen mußte. – Aber damit ist nicht geholfen, erwiderte Henriette: denn so lange noch einige Hofnung zur Genesung bey meinem Vater ist, darf ihm Woldemars Verlobung nicht kund werden; und ihn durch die Erklärung, die er wünscht, zu beruhigen, das ist mir unmöglich. – Wie? warum denn nicht? fragten die geängsteten Schwestern wie aus einem Munde. – Warum? antwortete Henriette, und ward feuerroth – Weil ich dem Haß, der Verachtung gegen den Besten unter den Menschen nicht die Hand bieten will; weil ich in keinen Bund treten will gegen meinen Freund! – Ein feyerliches Gelübde meinem Woldemar zur Schmach! – Ha! rief sie, die Augen gen Himmel gewendet, und verließ schnell das Zimmer.
Als Hornich erwachte, war sein erstes Wort nach Henriette zu fragen. Sie hatte Zeit gehabt sich zu fassen, und war schon an sein Bette geschlichen: und sobald man dem Alten geantwortet, sie wäre da, stand sie vor ihm. Wie er sie erblickte, hob er Hand und Haupt ihr entgegen mit einem unaussprechlichen Ausdruck von Zärtlichkeit. – »Liebe Henriette« – sagte er, und konnte vor Wehmuth es kaum über die lächelnde Lippe bringen – » sieh! – du hast mir Wort gehalten!«
Der rührende Sinn dieser Rede ging Henrietten in die Seele; sie sank in die matten Arme ihres Vaters, und er lispelte ihr an der Wange her: Ja, bis in den Tod, du gutes Kind! – Gott wird dirs vergelten!
Eine Weile nachher – Henriette saß jetzt neben seinem Bette ihm nahe gegen über – Es kommt mir hart vor, daß ich sterben muß, sagte der Greis, denn du hattest mich vergessen lassen, daß ich so alt war; du hast mich so süß und sanft ans Grab geleitet. – Aber dennoch – ich habe etwas auf dem Herzen; wenn du es mir davon nähmest – Ja, liebe Tvchter; auch hinunter in die Grube könntest du mich sanft geleiten!
Lieber Vater! rief Henriette, ich weiß schon, was Sie von mir verlangen; – ich bitte, hören Sie mich, glauben Sie mir! Woldemar hat nie Ansprüche auf mich gemacht; und eben so wenig habe ich den entferntesten Gedanken, je die Seinige zu werden. Sie müssen sich erinnern, daß ich Ihnen das schon mehrmals bekräftiget habe. Ich wiederhole es, und schwöre Ihnen bey allem was heilig ist, daß ich die lautere Wahrheit sage. Wozu denn ein feyerliches Gelübde? Warum wollen Sie, ohne Noth, sich so gehässig gegen einen Mann beweisen, den Sie für den Aerger, den er Ihnen einigemal unbesonnener Weise zugefügt hat – vorsätzlich beleidigte er Sie nie – lange genug bestraft haben? O, besänftigen Sie Ihr Gemüth; machen Sie Friede mit Woldemar; thun Sie es, lieber Vater, auf mein Wort – ihrer betrübten Henriette zu Liebe!
Beste Tochter, antwortete der Alte, sey versichert, ich denke nicht daran, daß mir durch Woldemar je eine Minute unangenehm geworden ist. Wollte Gott, er hätte mich aufs äusserste gekränkt, und wäre nur ein anderer Mensch! Du solltest sehen, daß ich kein so unversöhnlicher Mann bin. Und wessen Herz ist nicht voll Vergebung in der Stunde des Todes? – Bloß um dich ist es mir zu thun. Woldemarn gönnte ich gern alles Glück, das du ihm gewähren könntest. Aber sieh! ich habe genau auf diesen Menschen Acht gegeben; bin ihm um deinetwillen, da ich sah, daß du dich immer starker an ihn hängtest, auf allen seinen Wegen nachgegangen; habe mich auf das sorgfältigste überall nach ihm erkundigt; und bin je mehr und mehr überzeugt worden, daß er ein Mensch von durch und durch verkehrtem Sinn, ohne Gesetz und Gott, ein wahrer Freygeist ist. Dabey hitzig, ausschweifend, unbesonnen. ... Kurz, ich weiß kein Unglück, das du nicht mit ihm zu befahren hättest; du wärest verloren für diese Welt, und wahrscheinlich auch für jene.
Die Ankunft der Aerzte unterbrach diese Unterredung. Hornich errieth aus ihren Mienen, daß es um ihn geschehen wäre, und er drang in sie, um so genau wie möglich zu erfahren, welche Frist ihm noch bliebe. Aus ihren Antworten ließ sich abnehmen, daß er es höchstens bis an den dritten Tag – vielleicht aber auch nicht einmal bis an den morgenden bringen würde. Henriette, die einen so plötzlichen Wechsel nicht vermuthete, gerieth in die äusserste Bestürzung. Der Alte schien wunderbar gefaßt; nur daß ihn die Angelegenheit wegen seiner Tochter ängstigte. Er eilte die Aerzte von sich wegzuschaffen. Henriette wollte ihn nun ohne Verzug durch die Entdeckung von Woldemars Verlobung mit Allwina beruhigen. Hornich erschrak über die Nachricht. »Das gute Blut! sagte er. Ach! dawider kann ich nichts; es ist zu spät – doch vielleicht wird es noch rückgängig. Bey Leuten, wie Woldemar, kann man auf nichts rechnen. Da du aber anderer Meynung bist, so sehe ich nun gar nicht mehr, was dich abhalten könnte, mein Verlangen zu erfüllen, und dadurch eine Angst von mir abzuwälzen, die mir bitterer als der Tod ist.« –
Henriette weinte heftig. Sie stürzte neben seinem Bette auf die Kniee, und trug ihm die Gründe ihrer Weigerung mit so viel Stärke, auf eine so zärtliche und rührende Weise vor, daß der alte Vater äusserst davon bewegt – aber nicht überwältigt wurde. Dieser Kampf vermehrte die Unruhe seines Gemüths bis zum Tumult; unversehens sah man ihn von einer Athemsnoth ergriffen, die in wenigen Augenblicken so fürchterlich zunahm, daß Henriette laut um Hülfe schrie, und alle nicht anders dachten, als es wäre aus mit ihm. Henriette glaubte zu vergehen, so unerträglich war ihr der Gedanke, das Leben ihres Vaters auch nur um einige Stunden verkürzt zu haben. Er kam wieder zu sich. Unterdessen waren zwey der nächsten Anverwandten, und mit Alkam, der um seinen sterbenden Freund sehr geschäftig war, der Beichtvater gekommen. Dieser, ein guter rechtschaffener Mann, wußte um Hornichs Bekümmerniß, und hatte sich viele Mühe gegeben, ihn auf andre Gedanken zu bringen. Jetzt suchte er, mit der größten Sanftmuth, Henriette zum Nachgeben zu bewegen. Alkam redete nach ihm, und vertilgte die Eindrücke des frommen ehrwürdigen Mannes durch seinen hämischen Eifer. Henriette konnte den Haderer, der, voll Haß gegen Woldemar, ihr die kränkendsten Dinge sagte, nicht länger anhören. Sie floh zu ihren Schwestern.
Diese setzten ihr mit Bitten und mit Thränen zu. Dorenburg mit Bitten und mit Gründen. Er meynte: Woldemar selbst würde es ihr nicht gut heißen, – es wäre wider seine Grundsätze – wenn sie einer eingebildeten Pflicht, einer bloßen Grille wegen, wirklich übel thäte; und mit ihrem Gewissen sich entzweyte. – Das paßt hier nicht, antwortet Henriette – Ach, Dorenburg! Was man so spricht – das ist nur gesprochen; wo es gelten soll, findet man die Sache anders – O, da ist sie oft so ganz anders!
Luise gab leise den Rath, man sollte heimlich einen Boten zu Woldemar schicken, damit er in die Stadt käme. Dieser Gedanke gefiel Biderthalen. Aber Henriette, welche aus dem Hin- und Herflüstern Verdacht schöpfte, und hinter den Anschlag kam, äusserte sich mit Unwillen darüber. – » Ihr versteht meinen Eigensinn nicht, sagte sie; ihr nehmt die Sache von einer Seite, wo es sehr verkehrt wäre, ihr die mindeste Wichtigkeit zu geben ...«
Biderthal entfernte sich.
Sie unterlag endlich. Der kommende Tod, den sie immer näher und näher sich an ihren Vater lagern sah; sein fürchterlicher Arm schon zwischen ihr und ihm, um ihn von ihr wegzureißen – das erschreckte ihren Geist bis zur Verwirrung, und betäubte ihre Sinne. Jeder angstvolle Blick, den der Sterbende auf sie warf, brach ihr das Herz; mit jedem zuckte, wie Blitz in der Nacht, der Gedanke ihr durch die Seele: Wenn er noch zu retten wäre? Könnte, wie so mancher, von dem Rande des Grabes zurückkehren? – wenn diese Blicke um Leben fleheten: – um Leben – bey seiner Tochter! – daß sie ihm die Hand böte umzukehren: – und sie weigerte die Hand – und sie ließe ihn hinabsinken! ... Sie fiel in Ohnmacht über diese Vorstellungen: und da sie wieder zu sich kam, stammelte sie bebend, blaß und blind: – – ich will es thun!
Die Sache wurde schnell ins Werk gerichtet, und der befriedigte Vater verschied ungefähr vier und zwanzig Stunden nachher gegen Abend.
Daß Woldemar auf die Nachricht von Hornichs Tode in die Stadt fliegen würde, war natürlich zu erwarten, und darüber gerieth nun sein Bruder die Nacht durch auf allerhand Betrachtungen. Voll davon eilte er am frühen Morgen zu Henriette, um sie zu bewegen, von allem Vorgegangenen Woldemarn doch ja nichts zu offenbaren. – »Sorgen Sie nicht, sagte das betrübte Mädchen. Wie sollte ich in aller Welt es angreifen, Woldemarn diese Begebenheit vorzutragen? Und das wäre doch nur das geringste. Was geschehen ist, ich fühl' es, ist nicht gut ... Gott! Nach so langem heftigen Widerstreben – wenn ich unterliegen – mich doch zuletzt ergeben sollte: Warum nicht lieber auf das erste Wort? ... O ich weiß – ich weiß nur zu wohl, daß ich schweigen muß! – Und mit einem schmerzvollen Seufzer: – »Arme Henriette, daß du nicht entschlossener, daß du nicht stärker warest!«
Es fiel Henrietten unerträglich, nach ihres Vaters Beerdigung länger in seinem Hause zu bleiben; und schleunig wurde Anstalt gemacht, daß sie zu ihrer ältesten Schwester, der Dorenburginn, ziehen konnte. Ihr Vorhaben war, sich hier so lange aufzuhalten, bis ihre Freundinn Mutter würde; diesen Sommer durch aber bey ihr auf dem Lande zuzubringen.
Sie litt nicht, daß Woldemar länger als acht Tage in der Stadt verweilte, und von Allwina hatte sie zum voraus sehr ernstlich begehrt, daß sie gar nicht herein käme: – dagegen wollte sie, ehe sechs Wochen um waren, sich in Pappelwiesen zu ihnen gesellen.
Nachricht von dort erhielt sie unterdessen mit jeder Gelegenheit; oft an demselben Tage mehr als einmal. Es waren nicht immer Briefe, sondern mehrentheils – ich weiß keinen eigentlichen Namen dafür; und wozu brauchen wir Namen? Hier sind zwey dieser Stücke; denen zu mehr als einem Ende hier ein Platz einzuräumen ist.
Am 12ten May.
»Wie behaglich ich zwischen dem Grün und den Blüthen – Nachtigallen- Finken- und Lerchengesang daher wandelte; der weichenden Sonne nach; entgegen der Abendstille! Dünnes mit Lichtstreifen durchschossenes Gewölk über den ganzen Himmel. – Zu dieser süßen Tagesdämmerung nun allmählich Dämmerung der Nacht – und tüschender Schauer. Aus den Dörfern umher das Maygeläute, – nicht mit dem Wehen der Lüfte, – kaum daß ihr Wallen die Blätter bewegte – es schlich von selbst an mein Ohr in immer gleichem Klang und immer eben zusammen: und eben so an mein Auge das Grün und die Blüthen; kein rascher Lichtstrahl, der mir die Gegenstände aufdrängte; ich genoß alles in Freyheit, in Ruhe, schwebte im Meere der Allmacht ... Und eben so sanft und leise, wie der Allliebende, wie sein Frühling um mich her – eben so leise, sanft und liebend faßte Ihre Hand die meinige: nicht damit ich umblickte; – auch blickte ich nicht um: – aber vor mir hin auf dem schönen Pfade lächelte ich mit verdoppeltem Entzücken die ganze Schöpfung an.«
Den 20sten May.
»Wir hatten am Abend dieses etwas schwülen Tages am Wasserfall gesessen, und den schönsten Sonnenuntergang betrachtet. Nun zogen wir, durch leuchtende Schatten, am Ufer des Flusses her, und blieben stehen an der Wendung, wo das Auge einen Theil seiner Krümmung überschauet. Ein bezaubernder Anblick: wie die schlanken flammenden Pappeln sich in ihm spiegelten. Es schien, als hätten sie zur Lust sich untergetaucht, und es durchführe sie das süße Schrecken der angenehmsten Empfindung. Wunderbar ergriff einen das Gerege umher in allen Blättern. Uns wurde als schwebten wir im Hauch der Lüfte, die zwischen den Aesten lispelten, und über den kleinen Fluß glitten, und mit der ganzen Natur sich ergötzten. – Da kamen die Sterne hernieder. Der blaue Himmel schwamm zu unsern Füßen. Es hatte der Unermeßliche sich in niederes Gebüsch zu uns gelagert.
Wasser der Himmel – in Wassern der Erde! ... Leben – in Leben hinübergestrahlt! – ... Kraft – mit Kraft sich begattend! ...
Hohe Ahndungen ergriffen meinen Geist. Meine Seele wähnte, dem Unbegreiflichen sich zu nähern. Sie, die einst nicht Einer Vorstellung sich bewußt war, nun so voll Empfindung und Gedanke! Eigenes, gefühltes Daseyn – aus dem Nichts! – Schöpfung!«
Dergleichen Aufsätze flossen häufig aus Woldemars Feder, und waren nicht bestimmt, von jemand außer ihm gesehen zu werden. Er nannte sie die Schatten seiner abgeschiedenen Stunden, in dem nemlichen Sinne, wie man auch die Seelen pflegt Schatten zu nennen.
Die Vermählung wurde nicht lange verschoben; aber man hielt sie, aus Familienursachen, geheim. Erst im Winter, wenn man vom Lande zurückgekommen seyn würde, sollte sie bekannt gemacht werden.
Woldemar fand sich wie in eine neue und bessere Welt versetzt. Es war ganz über seine Erwartung, was er Allwina in seinen Armen werden sah, und er konnte es nicht ergründen. Nie hatte jemand auf diese Weise Theil an ihm genommen, so wunder lieb und lauter, so aus ganzer Herzensfülle, bis zur blindesten Parteylichkeit, und doch ohne Leidenschaft. Es schien ihr ausgemacht, seitdem Woldemar ihr Mann sey, habe sie weniger Recht an ihn als zuvor; sie hatte sich ihm völlig hingegeben, alle ihre Ansprüche mit, auch die an ihn selbst. Seiner Liebe zu ihr freute sie sich; aber in der That mehr, weil sie fühlte, daß Woldemar dadurch glücklich wurde, als daß sie dabey an sich gedacht hätte: nur sein Wohl war ihre Sorge, ihr Wunsch; und wie das alles in ihr bestand und aus ihr hervorging – man mußte glauben, sie wäre durch eine unmittelbare Einwirkung des Himmels dazu begeistert worden. – Ich wiederhole, Woldemar wußte es nicht zu ergründen, und das schwellte sein Herz nur desto höher von Wonne; es stand unter einer Fluth süßer, nie gekannter Empfindungen. – Und die Fluth hob ihn empor und trug ihn zurück – sanft hinauf den Strom bis zu den Quellen seines Lebens. Von allem erwachte wieder in seiner Seele die Erste frischblühende Empfindung. Der Frühling seines Daseyns wurde ihm wiedergegeben, – eine zweyte Jugend, voller und kräftiger als die Erste, – Unschuld, Zuversicht und Paradies.
Henriette, welche um die versprochene Zeit angekommen war, und zu Pappelwiesen für den ganzen Sommer ihre Wohnung aufgeschlagen hatte, sah das alles, und konnte fast die Wonne nicht tragen, die sie empfand. Von der einen Seite war ihr der Gedanke süß, daß sie die Glückseligkeit ihrer Freunde, großen Theils, als ihr Werk anzusehen hatte; von der andern Seite aber machte eben dieser Gedanke sie manchmal beklommen: er erlaubte ihr nicht, ihren Jubel auszulassen. Wenn nur ein Mittel wäre, wünschte sie tausendmal, Woldemars und Allwinas Dankbarkeit gegen sie aufzuheben; beyde zu der Erkenntniß zu bringen, daß ihr Verdienst um sie nur dem Anschein nach so groß; aber im Grunde – so gar nichts sey – »Denn,« sagte sie, »was habe ich aufgeopfert? War wohl ein widersprechendes Verlangen in meinem Herzen, das ich unterdrücken mußte? Hab' ich nicht meine eigenen Wünsche befriedigt – alle meine Wünsche? ... – Das habe ich gethan: ich habe von ganzer Seele geliebt, was ich von ganzer Seele liebte – gethan, was ich nicht lassen konnte: – Und dafür – Dank? ...
Aber auch die Art Verschlossenheit, die aus dergleichen Beherzigung folgte, mußte Henrietten neue Seligkeit bereiten; leise, aber tief und beständig war ihr Inwendiges bewegt. Allwina fand oft die Liebenswürdige, sitzend oder wandelnd in ihrer Demuth, mit eingekehrtem Blick; – schlich dann geschwind sich hin an ihren Hals – lispelte alle Namen des Himmels in ihren Busen – drückte mit geschlossenem Auge die Freundinn sanft an sich, und verschwand. – Woldemar aber konnte nicht immer sein Herz übermannen; gemeinschaftlich mit Allwina zwang er Henriette, daß sie sich hingeben mußte ihrer Dankbarkeit, ihrem Preise – – »Ja,« rief dann das fromme Mädchen, »ja, Dank sey dem Höchsten, ich habe euch glücklich gemacht; ewig sollt ihr mir danken: und ich gelob' ihn, ich weih' ihn dem Himmel, allen diesen Dank!«
Woldemar kam selten, nur wenn es die äußerste Noth seiner Geschäfte wegen erforderte, in die Stadt. Den ganzen August und noch einen Theil des folgenden Monats blieb er ununterbrochen auf dem Lande, und ohne allen Besuch: denn Biderthal hatte seine Frau ins Bad begleitet; Dorenburg konnte wegen Biderthals Abwesenheit nicht wohl aus der Stelle; und seine übrigen Freunde oder Bekannten waren zerstreut. Von den Briefen die er wahrend dieser Zeit an seinen Bruder schrieb, wollen wir nur Einen, aber diesen auch seiner ganzen Länge nach, mittheilen, wie er vor uns da liegt.
Pappelwiesen, den 23sten August.
Liebster Biderthal, ich mache mir bittere Vorwürfe darüber, daß ich beynah drey Wochen Dich ohne Briefe von mir lassen konnte. Allwina und Henriette haben mich genug ermahnt; mein eigenes Herz noch mehr – aber ich konnte nicht! Eine Menge Blätter will ich Dir zeigen an Dich worauf sehr deutlich zu lesen ist – Monat und Tag; auch etliche mit einer halben Zeile wirklichen Briefs; – etliche sogar mit einer ganzen Zeile; – mit zweyen, mit dreyen – Aber dann wollte es für die Welt nicht weiter!
Ich begreife nicht mehr wie ich es ehmals anfing, daß ich an Leute, die mir das gar nicht waren, was Du mir bist, so lange Briefe schreiben mochte. Der halben Welt bin ich Antworten schuldig. Ich werde erinnert, geplagt, zum Mitleiden gereizt – weiß mir nicht zu helfen, und werde zornig. Mir däucht, es müßte mein Feind seyn, der mir zumuthete, meine Empfindungen auf den Grad herunter zu bringen, in welchem sie sich schreiben lassen. Die edle unwiederbringliche Zeit auf diese Weise zu verlieren! Ich soll aufhören zu leben, damit ein andrer zu lesen habe! Im ganzen Ernst, wenn ich mir einen so theuren Freund gedenke, der das will, und mit zärtlich verdrießlichem Gesicht dasitzt, und zwischen den Zähnen murmelt, weil ich das nicht will – Ich kann hämisch gegen ihn werden, vom Stuhl aufspringen und ihn nicht mehr ansehn.
Freylich kommen hernach vernünftigere Augenblicke, worin ich fühle, daß ich Unrecht habe; daß ich sträflich bin; wo ich gegen mein Gewissen nicht aufkommen kann: – Und das ist eben mein Unglück!
Aber nun, was soll dieß alles hier? – Vielleicht eine Entschuldigung gegen Dich? – Ja, wenn man einmal so tief im Unrecht sitzt, dann rede sich einer heraus!
... Lieber, ich habe eben Deine zwey letzten Briefe zur Hand genommen und sie wieder durchgelesen. Mir wurde doch ganz bange ums Herz dabey, und ich dankte Gott, daß wenigstens Allwina und Henriette an Deine Frau geschrieben hatten, und letzte eine ziemlich lange Epistel auch an Dich. – Du kennst mich; Du fühlst meine Lage: also verzeih! Nein – nicht verzeihen, Biderthal; danken sollst Du dem Himmel, der mich so glücklich machte, daß ich Dirs nicht sagen konnte, und Dich versäumte! Ich weiß, ich kann das von Deinem edlen brüderlichen Herzen fodern: und dieses Zutrauen – Lieber! ist es nicht mehr werth, als tausend Briefe, und sagt es nicht alles?
Seit gestern bin ich hier ganz allein. Die beyden Tanten mit Allwina und Henriette sind nach Schellenburg, kommen aber diesen Abend zurück. Es war mir gar nicht zuwider, auf diese kurze Zeit in Einsamkeit versetzt zu werden; ich habe köstliche Stunden zugebracht. Noch war ich nicht Einmal zu einem solchen alleinigen, ganz stillen Anschauen meiner Glückseligkeit gekommen; hatte mich eben auch nicht darnach gesehnt; aber mir geschah unaussprechlich wohl, da ich nun von ungefähr dazu gelangte. – Könnte ich Dir einigermaßen nur bedeuten, wie mir war, und wie mir ist!
Sobald meine Reisenden weg waren, Morgens um neun Uhr, lagerte ich mich, nicht weit unter der Krümmung des Bachs, in die wilde Laube unter den hohen Nußbäumen. Der eine Nußbaum diente mir, wie gewöhnlich, zur Lehne. Draußen gieng ein starker Wind. Man hörte sein Anfallen an das dichte Gebüsch, wie er die Aeste bog und die Blätter drängte, – dann im Laube verwehte, – drinnen zum sanftesten Lüftchen wurde – und zwischen den jungen Eschen, Morellen, Pappelweiden, Quitten und Haseln in vieltönigem Gelispel sich verlor; – dann wieder majestätisch rauschte, höher und hinauf von Krone zu Krone, in den Zweigen der Nußbäume, – und beynah Sturm war in ihren Gipfeln. – In den mannichfaltigen Millionen Blätter, welch unendliches Spiel! Welch ein Wallen und Wühlen der Aeste! – Unter und über das luftige Laub-Meer! – Ergriffen von seinen Wogen schwamm mein Auge hinweg in die schöne Fluth, und ließ sich von ihr verschlingen. – – Leise rieselte unterdessen der liebe Bach an meiner Seite; gaukelte kleine Wellen daher, Wirbel und Schlünde; – und die Fische hatten ihren Scherz, mit Springen, Schnalzen und Klatschen. – – Der mächtige Stamm, an den ich gestützt war, schwankte, fast unmerklich, hin und her – bald stärker bald schwächer; wiegte meinen Rücken und bewegte sanft schauerlich mein Haupt. – – – Nie war meine Seele so in allen meinen Sinnen! – Lauter Genuß mein ganzes Wesen! – Ewigkeit, mein fliehendes Daseyn!
Ich verließ nach einer Weile den Platz; aber die Empfindungen, die er mir gegeben, folgten mir nach. Wohin ich wandern mochte, fand ich denselben Zustand. Alles entzückte mich so wie es war. Ich freute mich ohne Aussicht, ohne Hofnung, ganz und gleich erfüllt von der Wonne jedes Augenblicks, und wie von Allgenugsamkeit umgeben.
Der Wind hatte um Mittag sich gelegt, es war etwas schwül geworden, und gegen Abend regte sich kein Blatt. Ich ging umher, und ergötzte mich an den wunderbaren Beleuchtungen der Erde; – Bäume und Blumen, als ob sie in die Höhe schienen, und die Dämmerung erhellten. Ich ließ mein Essen etwas früher unter die Laube vor dem großen Saal bringen, weil ich keine Kerze mochte, und die Nacht wollte kommen sehen. Ich war bald fertig; saß stille da, und ließ mir träumen – von Dir; dachte – wie du vielleicht eben jetzt auch an mich dächtest; – Deine Gespräche mit Luise; Dein Sehnen nach uns zurück – Dein Kommen – Dein Eilen auf dem Wege, und mein Erwarten ...
Es war mir nicht eingefallen, daß wir Vollmond hatten. Ganz hinten, bey den Eichen, sah ich ihn unversehens in die Castanienbäume scheinen. Er zog heran – wie mit später Dämmerung feyerlich die Stille heranzieht; – lächelte zwischen dem dunkeln Laube; glich einem Freunde, der sich zur Ueberraschung herbeyschleicht, bebend von den Schlägen seines Herzens, das die Freude nicht halten kann ... Ich regte mich nicht, mochte kaum aufschauen, als wäre es so in der That, und ich fürchtete, ihm die Freude zu verderben. Da kam er endlich über die Gipfel der Eichen und trat vor mich hin. Ich flog auf! – Lieber, es war ein Augenblick voll Himmelslust!
Ich ging, und wandelte auf und ab in meinen Alleen von Pomeranzbäumen, unter den Linden, und in der mit dem Monde blitzenden Buchenhalle. Es war eine Nachtstille – ein Schweigen um mich her, wie das Schweigen unaussprechlicher Liebe. So ging ich, bis der Mond in den Teich schien, und ich nicht weg konnte unter der Ulme am Canal. Man hörte nichts als den Gesang der Grillen, das Rieseln durch den Teich, und dann und wann die Bewegung eines Fisches. – Hell und immer heller wurde das Wasser – und ich schwebte wie in der Mitte der Schöpfung, aufgelöst, und an mich ziehend aus dem feinsten Aether eine neue Bildung.
Lieber Biderthal – wie ist mir so anders! – – Du weißt, schon als Kind hatte ich die süße Verliebtheit in alles, was meinen Sinnen oder meinem Geiste in Schönheit entgegen kam; – war in beständigem Ringen; und so voll Lust und Muth – und so voll Trauer! – Wie wurde ich des Lebens so froh – Ach! und so müde! – – Ich erfuhr, daß ich Etwas im Busen trug, welches mich von allen Dingen schied, von mir selbst mich schied, weil es zu heftig mit allen Dingen sich zu vereinigen strebte. Jedermann liebte mich darum, daß ich alles so liebte; aber was mein Herz so liebend machte, so thöricht, so warm und so gut – das fand ich in Keinem ... – Von den meisten dachte ich deswegen nicht schlechter; – zuweilen, im Gegentheil, nur desto besser; aber ich glaubte zu sehen, daß überhaupt die Menschen wenig, im Grunde, nach einander fragen; wenig nach dem Menschen im Menschen. – – Ich wurde duldsam und stille ... Lieber, mir rollen die Thränen herunter, vom Andenken meiner einsamen Wehmuth! – Jede Lust machte mich betrübt, weil sie nur Staub war vom Winde aufgeregt; dahin fuhr mit dem Lichtstrahl, mit dem Schall, mit dem Wallen des Blutes. Ich wollte Raum machen in meiner Seele; erretten wenigstens an meinem Theile – aber, ach! dann erwachte gewaltiger mein Herz, und ich fühlte zehnfaches Leiden. Wie oft habe ich auf meinem Angesichte gelegen, vor der aufgehenden Sonne und vor der niedergehenden, unter dem Mond und den Sternen, voll Liebe und voll Verzweiflung, und habe geklagt, wie Pygmalion vor dem Bilde seiner Göttinn ...
Lieber, wie ist mir so anders!
Mein Herz, das einer Brust glich, worin der Lebenssaft zurückgetrieben wurde, weil den Säugling die Klemme dahin riß, und die nun der Krebs angefressen hat – Es ist genesen! Ich lebe und liebe, und alles lebt und liebt um mich her. Jeder Sonnenstrahl wird lebendig, wenn ich ihn Allwinens oder Henriettens Auge erhellen sehe; Mond und Sterne werden lebendig, wenn Allwina und Henriette in ihrem Scheine mich umarmen: so wird mir alle die Liebe wieder gegeben, die ich hoffnungslos ausgoß ins Unendliche: – Lebendiger Othem ist in den Erdenklos gedrungen; er ist Mensch geworden! – Fleisch von meinem Fleisch, und Bein von meinem Bein nun die ganze Schöpfung – geschlungen an meine Brust, und erwiedernd meine Küsse!
O, Lieber – wie ist mir so anders! ...
Und wie das begann? ... Die Stimme vom Himmel, die mir rief? Der Engel, der mir den Weg zeigte? – Du warst es! Du, den ich zuerst, den ich am längsten, den ich ohne Wandel geliebet, – mein Freund und mein Bruder!
Wunderbar, wie ich an diesen Tag gekommen bin! – Ich werde nicht müde es zu überdenken; jeden kleinen Umstand meinem Gedächtnisse zu erneuern; alle die goldenen Ringe an einander zu ketten ...
Ich kam nach B** durch Deine brüderliche Vorsorge und rechnete allein auf Dich – kam – und fand gleich in Dir, noch mehr als ich gehofft hatte. Du warest mir um vieles näher; – verstandest mich in tausend neuen Dingen; – hattest ein Weib lieb gewonnen, und mit ihr ein Haus gegründet; – Du hingst nicht mehr an diesem und jenem, womit ich nichts zu schaffen haben konnte; – von allen Seiten erschienst Du mir liebenswürdiger und besser. – Dein Gewerbe, Deine Wirthschaft mit Dorenburg; Euer ganzes Wesen – das mit andern Leuten, die Prunkgesellschaften und Gastmahle ausgenommen – ich sage, Euer ganzes Wesen untereinander, gefiel mir zum Entzücken. In Dorenburg erhielt ich einen zweyten Bruder; und, was ich nie hatte, zwey Schwestern in Euren trefflichen Frauen.
Du hattest mir Henriette zur Gattinn ausersehen. Aber das sollte nicht seyn. Sie war bestimmt, meinem Schicksal eine viel merkwürdigere Wendung zu geben. Das himmlische Mädchen deutete mir meinen alten Traum von Freundschaft; half ihm zur Erfüllung; machte mir ihn wahr. Kaum dachte ich zuweilen noch an diesen Traum, und nie anders, als wie man an ein Hirngespinnst denkt. Ich hatte Freunde von allen Gattungen gehabt; hatte mit leidenschaftlicher Anstrengung die Menschen beobachtet, mich selbst zu erforschen gesucht – hatte gefunden: daß wir sammt und sonders zu viele und zu heftige Begierden in uns haben und nähren; zu gewaltsam von den Sorgen, Geschäften, Qualen und Freuden des Lebens herumgetrieben, hin und her gerissen, entzückt und gefoltert werden, als daß irgendwo, in diesen Zeiten, zwey Menschen so Eins werden und bleiben könnten, wie meine liebevolle Schwärmerey es mich hatte träumen lassen.
Das andre Geschlecht hatte ich flüchtiger angesehen, und war über seinen Character, der mir wenig Localfarben zu haben schien, früh mit mir einig. Es kam mir vor, als wenn die Empfindungen und Gedanken bey diesen zarteren Geschöpfen sich unaufhörlich in einander verlören, und daher keine – von jenen zu einem gewissen Grad der Stärke – von diesen zu einem gewissen Grade der Deutlichkeit sich erheben könnten. Noch hatte ich keine weibliche Seele angetroffen, die in irgend etwas – nur einen festen eigenen Geschmack gehabt hätte; nicht einmal was Gestalt und Zierde, Putz und Geräthe anging. Dagegen aber fand ich in ihr Wesen die schönsten Triebe gelegt; eine wunderbare Anlage zur Selbstverläugnung; holdselige Lust, nur andern zur Freude, zur Wohlfahrt zu leben; – und jene allgegenwärtige Schönheit, jenen unbesieglichen Zauber, der uns alle fesselt. Ich sagte zuweilen mit Lachen: An Treue, an Ergebenheit, an gefälligem Witz, überträfen sie uns Männer unendlich, und wichen kaum – dem edelsten Pudel. Das sagte ich mit Lachen; aber nach meinem inneren Gefühl gab ich damit ein sehr ernsthaftes Lob: wohl mit etwas Bitterkeit vermischt; aber nicht sowohl gegen die Weiber, als überhaupt gegen die Menschen.
Ich sah Henriette. Sie zog mich an; aber mit einer Empfindung, die nichts mit ihrem Geschlecht zu thun hatte, und die mir ganz neu war. Ich wunderte mich, und betrachtete das Mädchen aufmerksamer. Jeder weibliche Reiz an ihr war mir sichtbar; sichtbarer, als allen andern: wie Henriette hatte noch kein Mädchen mir gefallen. Dennoch erregte sie nichts in mir von, sogenannter, eigentlicher Liebe. – Die Eigenschaften, die ich an ihr entdeckte, konnte ich mit meinen allgemeinen Begriffen von ihrem Geschlecht nicht wohl vereinigen; konnte aber zugleich nicht in Abrede seyn: daß sie ganz Mädchen war. Oefter hatte ich über die Mängel der Schönen mit ihr meinen Scherz. Ich behauptete: kein Frauenzimmer könnte sich überwinden, Einen Gedanken zweymal zu denken; noch weniger, – im Handeln, auf Veranlassung, inne zu halten: alles ginge bey ihnen so in einem fort. Wenn sie in schwierigen Fällen zur Ueberlegung schritten, so begnügten sie sich, den so oder anders gesponnenen und gezwirnten, gefärbten und gedrehten Faden ihrer Gedanken zehnmal hinter einander auf und ab zu haspeln; ihn auf Karten, in Knäuel und über die Finger zu wickeln; ohne je sich einfallen zu lassen, ihn an dem einen oder andern Ende aus einander zu drehen und zu untersuchen, ob sie auch den rechten Faden hätten. Auf nichts vermöchten sie mit stetem, scheidendem Blicke zu haften, wären keiner eigentlichen, entschlossenen, Geduld fähig; wären, ausser sich und in sich, ewig zerstreut. – Wie mit ihrem Denken, wäre es, natürlich, auch mit ihrem Empfinden beschaffen; ja, aus Ursachen, mit diesem noch etwas schlechter, u. s. w. – – Henriette widersprach nicht sonderlich: ich möchte wohl nicht so Unrecht haben, sagte sie; sie hätte über Denken und Empfinden nie sehr tiefe Betrachtungen anstellen können; überhaupt sich wenig den Kopf zerbrochen, sondern in jedem vorkommenden Falle das Nöthige überlegt, und, wie ungelehrte Leute pflegten, nach Gelegenheit und Umständen gehandelt.
Unterdessen sah ich häufig die Lose mich an Einsicht weit übertreffen, so, daß ich dumm vor ihr da stand; und nicht selten fühlte ich in meinem Herzen mich durch das ihrige beschämt.
Wir waren Freunde, ehe wir es dachten, und eh ich noch das Vorurtheil recht überwunden hatte, daß es mit dem weiblichen Verstande und mit der weiblichen Empfindung, über einen gewissen Grad hinaus, nichts als Betrug und Täuschung sey.
Nun aber stand mir das Gegentheil vor Augen; ich sah meinen Irrthum, und begriff ihn nur nicht; bis ich durch Henriette von ungefähr zu Aufschlüssen gelangte.
Wir waren in Allwinens Garten, und untersuchten sehr scharf an den verschiedenen Kirschbäumen, den verhältnißmäßigen Werth ihrer Früchte. Wo wir zweifelten oder verschiedner Meinung waren, da entschied Allwina; und sobald sie den Ausspruch gethan hatte, waren wir auch mit ihr Eins. – »Wer ein paar Tage Hunger und Durst gelitten hätte,« sagte unversehens Henriette, »und käme über diese Bäume!« – Himmel! rief ich, und sah ganz entzückt aus.
Henriette lächelte: Wie der Mann die Stillung einer heftigen Begierde neidet, sagte sie, und gleich alles Angenehme, Liebliche, Köstliche dafür hingäbe! – Oder glauben Sie, Woldemar, daß Sie, mit jenem grimmigen Hunger und Durst, den Geschmack dieser Früchte, ihre lieblichen Eigenschaften so wie jetzt empfunden hätten? Ihr Vergnügen wäre mehr die bloße Stillung eines Schmerzes gewesen, als eigentlicher Genuß, und kaum hätten Sie erkannt, was Sie hinunter geschlungen.
Ich gab das zu.
Also, hub sie an, wären die Freuden des Gaumens wohl im Grunde eben so wenig für den Heißhungrigen, als für den Uebersatten; und der mäßig gereizte allein genösse sie wirklich und lauter?
Ich wußte nicht was sie wollte, und gestand es abermals.
Sie fuhr fort: – Ich habe Sie Weine versuchen sehen; da warteten Sie nicht eine Stunde des Durstes ab; auch reizten Sie nicht vorher durch scharfe Speisen Ihre Zunge; sondern Sie wollten mit frischem Munde, in einem begierdenlosen Zustande sie kosten. – Was meynen Sie, mein Freund, sollte man von hier aus nicht weiter gehen, und mit Sicherheit behaupten können: daß ein gewisser Mittel-Zustand, ein Zustand, worin die Kräfte des Menschen wie in nüchternem Erwachen, frey und unbefangen sind, für ihn auf alle Fälle, wie zur richtigen Wahl, so auch zum reineren, besseren Genuß, die schicklichste Fassung sey?
Ich merke, wir fangen ein platonisches Gespräch an, sagte ich lachend; und da Sie den Sokrates vorstellen, so warten Sie, daß ich meinen Bleystift nehme, um ihre Reden aufzuschreiben.
Schreiben Sie nur, erwiederte Henriette, ich will sehen, daß ich fortrede, ohne Antwort von Ihnen zu bedürfen.
Hierauf fing sie an, und brachte, mittelst eines kurzen Ueberganges, mein System von den Mängeln des weiblichen Characters auf die Bahn. Sie zeigte, daß allen meinen Vorwürfen, in so fern sie nicht erdichtet und nicht übertrieben wären, nur Ein Hauptvorwurf zum Grunde läge: Mangel – an sinnlicher Begierlichkeit! – Und sie bewies, daß eben dieses Mangels wegen der weibliche Sinn weit reiner, schärfer, vollkommener wäre, als der männliche; die wahren Eigenschaften der Dinge, ihren innerlichen und verhältnißmäßigen Werth zuverläßiger unterschiede; daß endlich, und eben dieses Mangels wegen, in einer weiblichen Seele jede schöne Bewegung leichter hervorkäme, ungehinderter und dauerhafter wirkte.
»Da alle wichtige Geschäfte des Lebens in euren Händen sind,« fuhr sie fort, »so habt ihr mehr Uebung, mehr Erfahrung, – des sorgfältigen Unterrichts zu geschweigen, den ihr von Kindesbeinen an genießt: – Aber bey Gelegenheiten, wo euch dies alles verläßt; wo ihr euch mit uns in gleichem Fall befindet; wer von uns sieht da richtiger und weiter, wer ahndet tiefer und schneller? ...«
»Neben euren andern Sinnen habt ihr auch ein Herz, und seyd der edelsten Entschlüsse fähig. Ich will sogar euch zugeben, wenn ihr wollt, euer Herz sey größer als das unsrige. Was hilft es, wenn seine Stimme durch den Tumult eurer Begierden beständig unterdrückt wird? – Daß ihr irgendwo in alleiniger Rücksicht des Edeln und Schönen handeln solltet, und euren Leidenschaften entgegen; daran ist nicht zu denken: Leidenschaft muß überall euch [unterdrücken], – selbst in der Freundschaft. Wo ihr nicht eifert, da seyd ihr kalt und todt!
»Hingegen ein Weib ... Aber das begreift ihr nicht, seht ihr nicht, – das lästert ihr sogar; – lästert, weil ihr selbst nur nach Lust dürstet; ohne die Brille der Begierde keine Schönheit wahrnehmen, ohne Zwang der Leidenschaft euch an niemand hingeben, nur in ihrem heftigsten Rausche euch selbst außer Acht lassen könnt; – lästert, weil ihr lieber mögt gelüstet, als geliebt seyn, lieber gepriesen, als hochgeschätzt.«
Sie schwieg. – Ihr Auge senkte sich – öffnete darauf sich wieder: – – Es verklärte sich ihre ganze Gestalt. – Dann hub sie an, in himmlischen Tönen, die Wonne einer schönen Seele zu beschreiben: ihre Stille, ihren Frieden, ihre Demuth und ihre Stärke. – Keine von den Musen hat so gesungen! Es floß durch alle meine Sinne, und ich fühlte Göttliches Wesen in der That und Wahrheit.
Das Mädchen war mir heilig geworden in dieser Stunde. – – Unsre Geister näherten sich von Tag zu Tage mehr; und von Tag zu Tage wurde die Entzündung einer gemeinen Liebe unter uns unmöglicher. Der bloße Gedanke daran wäre zuletzt mir ein Gräuel gewesen; ein Gräuel wie Blutschande. – Jener Selbstbetrug, den wir platonische Liebe zu nennen belieben, konnte eben so wenig mich anwandeln; ich war ihm nie ergeben; und Henriette, die Erzwidersacherinn aller Schwärmerey, hätte diese keinen Augenblick an mir geduldet. Wir wurden Freunde, im erhabensten Sinne des Worts; Freunde, wie Personen von Einerley Geschlecht es nie werden können; und Personen von verschiedenem es vielleicht vor uns nie waren.
Wir dachten an nichts; als ihr unter einander eine Heyrath zwischen uns, fast unwiderruflich, beschlossen hattet. Die Eröffnung dieses Anschlags beschleunigte meine Verbindung mit Allwina, die sich längst ganz in der Stille bereitet hatte, und auch, ohne jene Veranlassung, durch Henriette nun bald zur Wirklichkeit gekommen wäre. – Henriette war mir eben so wenig Mädchen als Mann; sie war mir Henriette, die Eine Einzige Henriette: und es wäre gewesen, als hätte ich sie verloren, als hätte ich sie zu Grabe gebracht, wenn in Absicht ihrer in meiner Vorstellung irgend eine Verwandlung hätte vorgehen müssen, – in unserem Seyn, in unserem Thun und Wesen irgend eine Veränderung. – Nicht so Allwina. Sie war mein Urbild von reinem weiblichen Character; ganz geschaffen zur Gattinn und zur Mutter; der Ausbund ihres Geschlechts. – Ich nahm sie mit Freuden; sie mit Freuden mich: ich war, entschieden, für sie der einzige Mann; sie, entschieden, für mich das einzige Weib.
Was ich aber nicht vorausgesehen, auf keine Weise geahndet hatte, und doch so natürlich erfolgen mußte, war ein neuer Zuwachs von Freundschaft zwischen Henriette und mir. Allwina, als ich um sie warb, hatte hundertmal ihre Freundinn gefragt: »Aber würde hernach auch Woldemar noch eben das für dich seyn?« – Hatte mich hundertmal gefragt: »Aber Henriette – würde Henriette nicht dabey verlieren?« – Wir hatten beyde die Frage auf sie zurückgewendet: Ob Sie vielleicht in ihrem Herzen fühlte, daß sie nachher weniger an ihrer Freundinn hangen würde? »Ach Himmel! rief sie dann, » was für ein Gedanke!« – Dennoch behielt sie eine geraume Zeit ihre Sorge, und konnte nicht genug Versicherungen vom Gegentheil erhalten. Jeder Blick, den ich Henrietten gab; jede Zärtlichkeit, die ich ihr bewies; jede Liebkosung, die ich ihr machte, war eine Wohlthat für meine sorgliche Allwina; sie hüpfte dann vor Freude, fuhr mir an den Hals und wollte mich erdrücken. Wie mir dabey im Herzen geschah; was aus uns allen dreyen in einem solchen Umgange werden mußte – kannst Du Dir vorstellen, und hast es, zum Theil, gesehen. – Wir wurden je länger je vertrauter unter einander. Jene äußerliche Zurückhaltung, die Henrietten und mir, als zwey unverheyratheten Personen, die keine Blutsfreunde waren, gegen einander geziemt hatte, durfte nunmehr wegfallen, und das geschah bald: wir wurden Bruder und Schwester – ganz, und wie von Mutterleibe an. Allwina weinte oft vor Freude, und ich selbst fühlte mich kaum vor Wonne; wußte nicht, was mir widerfahren war. Aufgeregt war mein ganzes Wesen, und dabey meine Seele doch so still, mein Geist so heiter! ... – Die frohe, freye, volle Liebe war es; die hatte dieß alles gethan! Sie hatte bis auf den Grund mich erschüttert; und erweckt, an sich gezogen jedes ihr ähnliche Gefühl, wie tief es schlummern mochte; hatte so erneuert, vervielfacht alle meine besten Kräfte; unaussprechlich mein Daseyn erhöhet; ein Leben, wie von Ewigkeit zu Ewigkeit, in meine Seele geboren. – – Glücklich, o, glücklich der Mann, dem endlich die Liebe seinen Lohn giebt, den sie zu sich erhöhet, den sie vollendet!
Bester, komm! – Auf einmal entsinkt die Feder meiner Hand – – komm! – – – Ich ringe Dich in meine Arme – drücke, presse Dich an mich, und mir ist, als senkte ich mein Herz in Deinen Busen.
Woldemar.
Pyrmont, den 3. Sept.
Kaum, mein trauter Lieber, und nur mit genauer Noth, erhältst Du auf Deinen köstlichen, lieben langen Brief, einige flüchtige Zeilen von mir zur Antwort. Es läßt sich auf einen solchen Brief hier nicht antworten. Die Zerstreuung ist zu groß, zu mannichfaltig, zu allgegenwärtig; man kommt nicht zu sich selbst: und das soll man ja auch nicht, sagen die Aerzte. Uebrigens geht es uns hier fortdauernd wohl, und ich kann Euch nicht allein, was wir Euch von unserer Zufriedenheit mit dem hiesigen Aufenthalt gleich anfangs geschrieben haben, bestätigen; sondern ich muß hinzusetzen, daß diese Zufriedenheit seitdem noch zugenommen hat, und es uns immer besser hier gefällt. Aber Montag brechen wir auf; und nun der Tag bestimmt ist, wünschten wir auch, es wäre schon der morgende. Mit jeder Stunde wird meine Sehnsucht größer – nach Dir, nach meinen Kindern, nach Euch mit einander, nach Stadt und Land wo Ihr seyd, nach eigenem Haus und Heerd.
Sey Du nur immer glücklich, mein lieber Woldemar! Das ist mein Morgen- und Abendgebet; mein stündlicher Seufzer: Guter Gott, bewahre mir meinen Woldemar! – Ich bin fest überzeugt, so liebend Dein Herz auch ist, daß Dir nichts so beständig im Sinne liegt, wie Du mir im Sinne liegst. Jetzt, da Dir so wohl ist, jetzt ist mir vor lauter Freuden angst.
Mein Empfangen, mein Haben Deiner Epistel; mein Ermessen ihrer Länge; wie ich sie erst allein, hernach mit meiner Luise las, – und alles was folgte; von dem miteinander – finde ich nicht ein Wort in meinem Dintenfaß. – ... Lieber! O, sey doch immer glücklich! – – Ich danke Gott so von ganzer Seele für Dein Wohl. Wo ich es nicht genug thue ... Ich weine; ich bin zaghaft wie ein Weib – Was ist das? ...
Wären wir nur erst ein Jahr oder ein paar Jahre weiter, und ich sähe Dich einmal recht eingenistet auf dieser Erde! Immer kamst Du mir vor unter den Menschen wie ein Fremdling – als könntest Du nicht bleiben.
Unter uns, das ist wahr, hast Du Dich sehr gut gewöhnt; aber daß Du Dich so gut gewöhntest, haben wir das nicht größten Theils der Traumdeuterinn zu verdanken? –
Und hat sie wirklich in Dir gedeutet, Deinen alten Traum; ihn erfüllt, ihn wahr gemacht, wie Du sagtest; oder vielleicht nur einen neuen Traum in Dir erregt? – Wende Dich nicht weg von mir, lieber Guter! es ist nicht Lästerung, was ich sage; am wenigsten Lästerung gegen Henriette. Du hältst nicht mehr von ihr, als sie verdient; und es ist nichts anders, als ihr wahrer wirklicher Eindruck, was Du für sie empfindest: aber in Dein Verhältniß mit ihr bringst Du eine Fantasie, vor der mir bange wurde, sobald ich sie entdeckte. Ich hatte eigentliche Liebe unter Euch vermuthet, sah Euch wie Verlobte an, und so lange war ich ruhig; ruhiger, als ich in Absicht Deiner je in meinem Leben gewesen bin. – ... Armer Woldemar, ich kenne Dich so gut! und wenn ich Dich recht ins Auge fasse, sieh, so will mir das Herz zerspringen vor Liebe und Wehmuth. Es ist etwas in Dir, etwas – was Dich mit allem Gegenwärtigen bald entzweyen muß. Man kann nicht sagen, daß Du Dich überspannst; aber wohl, daß Du überspannt bist. So wurdest Du geboren, und mußt darum auch alles außer Dir zu überspannen suchen, damit es Dir natürlich scheine und zu Dir stimme; mußt Dein Wesen hauptsächlich in der Einbildung haben, und kannst auf kein Zureden hören. So wird Dir in die Länge kein Mensch genügen; Du wirst es keinem Menschen in die Länge aushalten – Woldemar! – Keinem!
Es ist traurig, daß Dir nie wohl seyn kann, als im Irrthum. Wo Du auch am Wahren, am Wirklichen hängst: Du machst so lange, bis ein Hirngespinnst daraus geworden ist, und dann – zu Boden damit! – Ach, Dein letzter Brief hat mich an so vieles erinnert; dieß und jenes mir so klar aufgedeckt! ... Die volle Wonne, die er athmet; die hohe, allerhöchste Himmelsfreude – Lieber! wenn Du das alles nur an einem Haare festhieltest – durchaus nur an einem Haare fest halten wolltest – und das Haar zerrisse – zerrisse vielleicht durch eine Bewegung Deiner eigenen Hand? – Lieber! ... O, erbarme Dich Deines Biderthal!
Es ist Zeit, daß ich abbreche. – Verzeih, Lieber, wenn ich ein Thor bin. Ich hoffe, daß ich es bin; und mir ahndet, daß ichs fühlen werde, sobald ich Dich wieder sehe. Was ich geschrieben habe, wird Dir weiter das Herz nicht schwer machen. Und so lebe wohl. Gruß und Kuß an Allwina und Henriette! Auch von Luisen. – Bester, Theurester, lebe wohl! Lebe wohl und bleibe meiner Liebe eingedenk.
Dein
Biderthal
heute wie gestern und immerdar.
Zwey Tage nach diesem Briefe kam Biderthal selbst an. Sein Trübsinn verlor sich in der Freude des Wiedersehens, im Anschauen der vollen Zufriedenheit seines Bruders.
Woldemar mußte nun, der Pflichten seines Amts wegen, öfter in die Stadt. Er pflegte, wechselsweise, dann bey Biderthal, dann bey Dorenburg abzutreten. Sie sahen ihn nie, ohne daß sich neue Aussichten von Glückseligkeit vor ihnen eröffneten, und zählten, immer ungeduldiger, Tage und Stunden, bis der Winter einbräche.
Einst traf es sich, daß Woldemar unversehens in die Stadt kam und niemand als Luise zu Hause fand. Er hatte eine Zeichnung mitgebracht, einen Entwurf zu einem Familien-Gemälde, worauf Henriette die hervorstechende Figur war, und mit ihrem Vater den Mittelpunkt des Ganzen ausmachte. Es war eine Hauptliebhaberey von Woldemar, Porträte aus dem Gedanken zu machen, und sie geriethen ihm ungemein. Dießmal hatte er alle seine Kunst aufgeboten, den alten Hornich auf die vortheilhafteste Weise darzustellen, und es in seiner ganzen Figur möglichst auszudrücken, wie ihn Henriette in den letzten Jahren seines Lebens nicht allein glücklich, sondern auch gefällig, gut und liebenswürdig gemacht hatte. Luise war außer sich vor Freude über diese Zeichnung, und wurde nicht müde eine Figur nach der andern durchzugehen, und die schöne gefühlvolle Zusammenordnung des Ganzen zu bewundern. Woldemar gab ihr das Blatt bis zu seiner Abreise in Verwahrung, damit sie nach Herzenslust sich daran ergötzen und müde sehen könnte. Er wollte nur bis zum dritten Tage bleiben.
Den zweyten, Abends nach Tische, foderte er das Blatt zurück, und es wurde bey dieser Gelegenheit noch einmal vorgenommen, durchgesehen, untersucht, darüber gesprochen. Den mehrsten Stoff gaben die zwey Hauptfiguren. Luise kam, voll Rührung, immer wieder auf diese zurück.
Unglücklicher Weise begegnete es ihr, in ihrem Entzücken die Worte auszustoßen: – »Sie können das nicht so fühlen, wie ich! – Sie wissen nicht alles!« –
Sobald ihr die Worte aus dem Munde waren, erschrak sie, und wurde glühend roth. Dieß machte Woldemars Aufmerksamkeit rege. Er fragte; und nun verwandelte sich die Röthe der armen Luise in Blässe. Je ängstlicher sie sich weigerte mehr zu sagen, desto dringender wurde Woldemar. Endlich drohte er, daß er durch Henriette das Geheimniß schon heraus bringen wollte; er hätte Faden genug. So kam es dahin, daß die arme Luise, halb aus Furcht, halb aus Treuherzigkeit, zuletzt nachgab, und ihm alles offenbarte.
Während dem Anhören nahm sich Woldemar so gut zusammen, und hielt sich auch nachher so fest, daß Luise gar nicht ahndete, was für einen Stachel sie ihm ins Herz gesenkt hatte.
Er brachte die Nacht im Sessel zu. Ehe er sichs versah, hatten seine Gedanken sich so gehäuft, sich so vielfältig durch einander geschlungen, daß er wie erstarrt davon war. Seine Henriette weniger hochschätzen, weniger lieben – konnte er um alles, was er jetzt erfahren hatte, nicht; er mußte eher sie bewundern, ihr Dank wissen. Und doch fühlte er, daß er unzufrieden mit ihr war.
Unzufrieden mit Henriette? – Er erschrak vor dieser Vorstellung. – Und warum unzufrieden? – Durfte er wohl jemand es bekennen? – Konnte er es nur sich selbst erklären?
»Es ist die erste Befremdung, sagte er zu sich; morgen werde ich ruhig seyn« – und wollte aufstehen, und sich zu Bette legen. Aber schnell kam wieder eine neue Gedankenreihe, die ihn faßte und niederhielt.
»Mir entsagt – feyerlich – heimlich! – Ihr Vater, ihre Geschwister vermochten sie dahin zu bringen! – Sie hat ein Geheimniß mit ihnen gegen Woldemar! – O, ich bin ihr nicht was ich dachte! – Henriette ist nicht .... Er fuhr in die Höhe – wieder zurück – wußte sich nicht zu lassen.
Der Morgen graute schon, da legte er sich. Der Kopf schmerzte ihn gewaltig, es kam Schwindel dazu; so schlummerte er endlich ein. Um neun Uhr stand er auf, sehr abgemattet, aber um vieles heiterer, und gefaßt genug, um Luisen gänzlich die Ursache seiner Unpäßlichkeit verbergen zu können. Er schalt sich ernstlich über seine ausschweifende Empfindlichkeit und gab ihr allerhand gehässige Namen. Viel lieber wollte er sich der verkehrtesten Eigenliebe, als seine Henriette einer Sünde gegen die Freundschaft schuldig finden. Es gelang ihm endlich, die Gefühle seiner ersten Aufwallung zu unterdrücken; und er reiste fest entschlossen nach Pappelwiesen zurück, sich von nun an die Sache ganz und auf immer aus dem Sinne zu schlagen. Bey seiner Ankunft nahm die einzige Henriette etwas verändertes in seinen Zügen wahr. Er schob es auf eine Unpäßlichkeit, die ihn in der Nacht überfallen hätte; doch gestand er zuletzt: einer von seinen bösen Geistern wäre einmal wieder über ihn gekommen, hätte aber keine Stätte gefunden.
Noch keinmal war ihm die Freude, seine Allwina, seine Henriette wieder zu sehen, so warm durch Herz und Adern gelaufen; es kam ihm vor, als nähme er zum erstenmal wahr, daß er so sehr geliebt sey. Tief in sein Innerstes drang Henriettens sanftes Forschen mit Blicken und Liebkosungen: – Ob etwas seine Glückseligkeit störte? – ob sie es nicht von ihm nehmen könnte? – für ihr Glück, für ihr Leben? – Woldemar ertrug es kaum. Der Zustand, worin er sich zu B** befunden hatte, schien ihm jetzt zu Pappelwiesen so thöricht, ja so rasend, daß er vor Scham und Reue zu vergehen meynte. Wäre es nicht um Luise gewesen, er hätte alles entdeckt. – Er warf sich seiner Freundinn in die Arme: – »Engel, rief er, mit beklommener Stimme, – wie du mich liebst! – Ich verdiene es nicht; ich habe kein Herz das zu lohnen.« ... –
Dennoch überfiel ihn nachher wieder dann und wann auf eine unangenehme Weise der Gedanke an Henriettens Gelübde – an das Geheimniß zwischen ihr und ihm; und es gab Augenblicke, wo es ihm bis zur sichtbaren Unbehaglichkeit beschwerlich wurde.
Sie verließen erst im November das Land. Von Allwinens Verheyrathung war zu B** nichts ruchtbar geworden. Die Frage war dort schon lange gewesen, lange vor Hornichs Tode: Welche von beyden – Allwina oder Henriette, Woldemars Gattin würde? Aber nach vielem emsigen Gewäsche war nun seit kurzem so gut als ausgemacht, man werde gleich nach der Trauer erfahren, daß Henriette die Braut sey; und so konnten die guten Leute bis dahin andere Dinge sich angelegen seyn lassen.
Sie geriethen außer sich vor Bestürzung, die guten Leute, da sie jetzt so ganz unversehens mit der Nachricht überrascht wurden: Allwina wäre – nicht erst die Braut – sie wäre seit sechs Monaten schon mit Woldemar vermählt!
Unmöglich konnte das mit rechten Dingen zugegangen seyn! – Es mußte etwas dahinter stecken! Und nun hatten sie keine Ruhe, bis sie das Wahrscheinlichste nach ihren Begriffen herausgebracht hatten.
Man kann sich die Vermuthungen, die zum Vorschein kamen, nicht ungeheuer genug denken. Am ärgsten wurde Henriette mißhandelt; nicht, daß man ihr vorzüglich gram gewesen wäre, sondern weil bey ihr das Wahre den guten Leuten am weitesten aus dem Wege lag. Selten haben Verläumdungen, auch die schlimmsten, eine andre Quelle: es ist nur, daß die guten Leute nach Maaßgabe ihres Sinnes, Herzens und Verstandes urtheilen; daß sie ihre eigentliche Meynung entdecken, nach bestem Gewissen.
Auf diese Weise geschah es, daß Henriette den Gram erfuhr, ihr Heiligstes in den Koth treten zu sehen. Ihre Freundschaft mit Woldemar wurde auf die schnödeste Weise gelästert; ihre Unschuld mit Schmach angethan.
Ich habe sie gesammlet in der Stille meiner Seele, die Thränen des Engels, und ich zitterte, daß Eine der meinigen sich dazu mischen möchte! – Sollte ich sie ausgießen vor der Menge? – Diese Menge mit keuscher jungfräulicher Thräne – mit der Weihe der Unschuld besprengen?
Feig war das Mädchen nicht; Tugend läßt es nicht seyn. Henriette blieb dieselbe in allen ihren Handlungen, in ihrem ganzen Betragen. Aber in dem Grade vermochte sie ihre Einbildung nicht zu beherrschen – und sie wäre lange nicht ein so treffliches Geschöpf gewesen, wenn sie es gekonnt hätte – daß ihr dabey nicht sehr oft die verkehrten Urtheile der Leute vorgeschwebt, und ihr einen Schauder durchs Blut gejagt hätten. Ihr geheimer Schmerz wurde dadurch vergrößert, und unvermerkt schlich sich einiger Unwille gegen sie selbst, und ihm nach, einige Bitterkeit gegen die Menschen in ihr Herz, das bis dahin den reinsten Frieden genossen hatte.
Woldemar hatte von allen den Verläumdungen, welche zu B** herumgeflüstert wurden, wenig erfahren, weil er von den Einen zu sehr geliebt, und von den Andern zu sehr gefürchtet war. Jedermann wußte, daß er Dinge dieser Art mit einem fürchterlichen Grimm empfand, und daß sein Hohn verzehrendes Feuer war. Den Nichtswürdigen auszuweichen, sich um ihretwillen zu bequemen, oder Wege der Klugheit einzuschlagen, schien ihm unerträglich; in allen solchen Fällen war seine ganze Seele lauter Trotz.
Was sich mit Henriette zutrug, entging eine Zeitlang seiner Beobachtung. Ihm war so wohl in seiner neuen Lage, und diese Lage führte in den ersten Monaten so viele unvermeidliche, im Ganzen süße, Zerstreuungen mit sich, daß er davon in eine Art von angenehmer Betäubung gerieth, die ihn unfähig machte, widrige Eindrücke anzunehmen. Allwina besaß im höchsten Grade jene Eigenschaften, wodurch eine Frau ihr Haus zu einem Himmel macht. Sie gönnte unserem Philosophen seine vornehmen Künste; wollte von ihrer Seite aber es nie darauf ankommen lassen. Sie meynte, wenn es eine so schöne Sache ums entbehrlich machen wäre, so ließe sich nichts rühmlicheres denken, als wenn sie Woldemarn am Ende sogar auch seine Philosophie entbehrlich machte. Zu gutem Glücke hatte sie an ihm den Mann, der wenigstens eben so gut zu genießen, als dem Genuß zu entsagen wußte, und so gelang es ihr wirklich, daß seine Philosophie allmählich nur in den Hinterhalt zu stehen kam. Wir haben gehört, warum er die äußerlichen Verschönerungen und Bequemlichkeiten des Lebens gern bey Seite ließ: weil er nämlich die damit verknüpften Bemühungen haßte; weil ihm eine Unterbrechung des Genusses unangenehmer als eine gänzliche Beraubung desselben war; weil er an Disharmonie, Flick- und Stückwerk einen gewaltigen Eckel hatte; und weil ihn Sorge, Anstrengung und Verlegenheit um geringfügige Dinge in die peinlichste Ungeduld versetzten. Dieß alles fiel jetzt weg durch Allwinens und Henriettens vereinigte Klugheit, Behendigkeit und zärtliche List. Was ihm von jenen Annehmlichkeiten dargeboten wurde, war immer wie ein Zauberwerk vor ihm entstanden, umgeben von Fröhlichkeit und Scherz, von Lust und Liebe. Es konnte nicht fehlen, er mußte mit ins Spiel gezogen werden.
Eine gewisse Befreundung mit Dingen dieser Erde, ist süßer als die Weisen denken. Wir können ja doch nicht von dieser Erde weg, so lange wir unsere Schwere behalten, und würden übel dran seyn, wenn sie uns nicht mehr tragen wollte.
Und wer von uns erinnert sich nicht froh an jene Zeiten, wo wir, vor lauter Lust, nicht weiter sahen, und eine jede vergängliche Gabe wie mit unvergänglicher Liebe an uns rissen; nach Tagen, nach Augenblicken strebten, als ob es Ewigkeiten wären; vollkommene Glückseligkeit leibhaftig vor uns sahen, und zwischen ihr und uns nur Raum, nur Zeit, nur weichende Hindernisse; – Ach! und immer nur der Menschen Thorheit bejammerten, die Menschheit selbst aber nie? ... Es war nicht ganz leerer Dunst, was uns so selig machen konnte. Und wohl dem, der es wieder findet, »den Frühling seines Daseyns, eine zweyte Jugend, Unschuld, Zuversicht und Paradies!« Klüger als ehmals, wird er nicht mehr nach jeder Freude taumelnd haschen, sondern die gewählte sanft an seinen Busen ziehen, und an sich herzen, damit sie nicht früher entfliehe; inniger, auch darum, weil sie vergänglich ist.
Diese stille besonnene Wollust war um so mehr in Woldemars Geschmack, weil er dabey glauben konnte, wie Xenokrates, eine Lais zu besitzen, ohne von ihr besessen zu werden. Sein Zustand däuchte ihn mehr ein Zustand der Beschauung, als des Genusses zu seyn, und er freute sich, sein Herz für alles Schöne so reizbar und der Lust so offen zu fühlen, ohne daß die Freyheit seines Geistes davon angefochten würde. Alles vereinigte sich, ihn die Ergötzlichkeiten der Sinne und der Einbildung, in einem ungewohnten Glanz von Unschuld und Reinheit erblicken zu lassen. Er entblößte ihnen seine Brust; versuchte sich an ihnen, und genoß sie doppelt, indem er sie in immerwährendem Siege zu genießen glaubte.
Endlich wurde er denn doch auf Henriette aufmerksam, als sey etwas verändertes an ihr wahrzunehmen, besonders in ihrem Betragen gegen ihn. Lange suchte er, es sich auf alle Weise auszureden. Er war seit dem Vorfall nach der Entdeckung, die ihm Luise gemacht hatte, äußerst schüchtern, und gegen sich selbst mißtrauischer geworden. Aber eben dieses mußte seine Aufmerksamkeit, da sie nun doch einmal wieder gereizt war, und fortdauernd gereizt wurde, nur in desto stärkeren Trieb setzen. Selbst indem er darauf bedacht war, sie abzulenken, stellte er, wider seinen Willen, Beobachtungen an; und so gerieth er, immer unwillkührlich, endlich dahin, daß er seine Freundinn, bald hie, bald da, auf die Probe stellte.
Seine ersten Versuche mit Henriette fielen zweydeutig aus. Er machte neue und ließ sie schneller auf einander folgen. Endlich erhielt er Resultate, welche seine Bemerkungen zu bestätigen schienen – das wollte er nicht! Falsch sollten sie befunden werden, durchaus falsch! Sie mußten es – o, sie mußten, sie mußten!
Der Unglückliche stand am Abgrunde des Verderbens, und durfte nicht einmal fürchten.
»Keine Sorge! rief er schwindelnd aus, keine Sorge! Bey allem was heilig ist, ich bin nur ein Thor! – Gott weiß, ich bin nur ein Thor! – und es wird offenbar werden!«
So drang er immer weiter voran; ging unabläßig hin und her in dem Nebel, der zwischen ihm und seiner Freundinn aufgestiegen war – ob er nicht verschwände?
Zuweilen, nahe bey, schien er weg zu seyn; einige Schritte davon, ach, da war er wieder! – Dann schwoll ihm das Herz bis zur Beklemmung; und was er begann um des Dranges los zu werden, war alles vergeblich; bis etwa ein Ausbruch von Zärtlichkeit und Wehmuth in Henriettens Armen ihm wieder einige Erleichterung verschaffte.
Schon vorher, nämlich seitdem er das Geheimniß von Henriettens Gelübde erfahren hatte, war mehr Lebhaftigkeit, aber damit auch, von seiner Seite, mehr Ungleichheit in seinen Umgang mit ihr gekommen. Alle seine Empfindungen für sie waren bey diesem Vorfall außerordentlich erregt, und in eine Art von Gährung gesetzt worden; und wie einer, dem ein theures Geschöpf, das seine ganze Wohlfahrt trägt und bindet, in Gefahr schwebt, fühlte er jetzt doppelt ihren Werth und alle seine Liebe zu ihr. Da ergriff er sie denn manchmal und schlang sie fest und fester in seine bebenden Arme. – »Du bleibst mir doch, Henriette? sagte er zu ihr – ich verliere dich nie? – nicht wahr, ich verliere dich nie? – Tausendmal eher den Tod – als dich missen! – O, du weißt nicht, wie an dir mir alles gelegen ist, alles gelegen seyn muß, und was das für eine Liebe ist, mit der ich dich liebe!«
Henriette ließ ihr ganzes Herz ihm hierauf die Antwort geben. Es fiel ihr nie ein, dergleichen ungewöhnliche Bewegungen ihres Freundes einer andern Ursache, als seiner gegenwärtigen Lage zuzuschreiben, welche alle Saiten seines Wesens gestimmt zu haben schien, von jeder Empfindung den höchsten Ton in vollem Klange anzugeben.
Aber nun, ganz neuerlich, hatte sie angefangen etwas bedenklich zu werden. Das konnte nicht ausbleiben, zumal bey dem Gemüthszustande, worin wir sie erblickt haben. Woldemars Begegnungen mußten die Peinlichkeit desselben vermehren, und da sie je länger je auffallender wurden, nach und nach in der Seele des Mädchens eine geheime Empörung zuwege bringen.
Henriette wußte nicht wie ihr geschah. Bisher hatte sie ihrer Freundschaft für Woldemar weder Maaß noch Ende gewußt. Nicht der entfernteste Gedanke an Zurückhaltung war ihr jemals gekommen. Und nun auf einmal – Was? – Es ließ sich nicht ausdenken. – Schranken! – Grenzen! – Einer solchen Freundschaft – Woldemars und Henriettens Freundschaft! – Grenzen? – Schranken? – Welche? – Warum? Was war geschehen? Was trug sich zu?
Sie fühlte – mit unendlichem Zagen, daß sie Woldemarn sich offenbaren mußte. – Ja, sie wollte! – Aber in fürchterlichen Finsternissen lag ihr Entschluß.
Daß in Woldemars Gemüthe sich eine Veränderung zugetragen habe, war nach und nach von allen in der Familie bemerkt worden; aber niemand mochte zuerst aufmerksam darauf machen, nicht einmal das Weib den Mann, oder eine Schwester die andre. Jeder suchte seine Bemerkungen sich auszureden, und niemand mehr und ernstlicher als Biderthal.
Keinem aber wollte es in die Länge auch weniger damit gelingen als Biderthalen. Nach langem Säumen und Zweifeln nahm er endlich zu Henriette seine Zuflucht. Er entdeckte ihr, was er zu deutlich gesehen hatte, und sich nicht mehr auszureden vermochte; nämlich, daß Woldemar durchaus verstimmt, seltsam verändert wäre. Erfragte: ob sie keine Ursache wüßte, ob sie ihm kein Licht darüber geben könnte?
Woldemars Verstimmung, sagte Henriette, seine abwechselnde Laune, und das oft so Unnatürliche und Plötzliche in diesen Abwechselungen hätte auch sie schon oft nachdenkend gemacht, und bekümmerte sie. Sie wüßte nichts, vermuthete aber jetzt, und dieß würde ihr mit jedem Tage wahrscheinlicher, daß Woldemar Eins und Andres von den bey Gelegenheit seiner Heyrath ausgestreuten häßlichen Verläumdungen erfahren, und vielleicht auf eine höchst verkehrte, unangenehme, empörende Weise erfahren hätte. Es schiene in der That unmöglich, daß ihm davon gar nichts sollte zu Ohren gekommen seyn. – Dieß nun hätte ihn aufgejagt. Er hätte sich bemüht auf den Gesichtern seiner Freunde zu lesen, was er zu wissen begehrt, und zu fragen sich gescheut hätte: nämlich Sache und Zusammenhang, und wie man sie empfunden, unter sich darüber gedacht, geredet, überhaupt, sich dabey benommen hätte. – Auf meinem Gesicht, fuhr Henriette fort, mag er leicht gelesen haben, was ihn noch mehr zum Forschen antrieb, ihn beunruhigte, quälte – was er tadelte, und dann bald zu entschuldigen, bald zu verzeihen sich bemühte, ohne damit für sich allein recht fertig werden zu können. Wer unsern Woldemar ein wenig kennt, setzte sie hinzu, begreift die Unmöglichkeit für ihn, aus dieser Flocke nicht eine Menge Unglücksfäden zu spinnen, und damit das sonderbarste Gewebe anzufangen. Darum muß und will ich nun unverzüglich sehen, wie ich ihm beykomme, und ihn zu einer Erklärung bringe.
Biderthalen wurde das Herz während er Henrietten zuhörte immer leichter und leichter. Er zweifelte nicht, sie hätte das Wahre getroffen, begriff alles, und bat sie nur inständig, doch ja den ersten Anlaß, mit Woldemar aufs reine zu kommen, nicht unbenutzt vorbey gehen zu lassen.
Leider, wollte ein solcher Anlaß je länger je weniger sich anbieten. Täglich erschreckte Woldemar die zarte Seele seiner Freundinn durch neue Erscheinungen, trieb das edle Mädchen aus einer Verwirrung in die andre, so daß sie an ihm, daß sie so gar an sich selbst irre wurde, und beynah verzweifeln mußte.
Dieß entging Biderthalen nicht ganz. So viel sah er, daß seines Bruders Gemüth sich immer tiefer beunruhigte; sah mit zunehmender Gewißheit, daß sein leidenschaftlicher Zustand sich ganz auf Henriette bezog, und daß nun auch diese betroffen, geängstigt, verlegen, in der peinlichsten Ungewißheit sich fühlte. Gegen ihn selbst, auch gegen die andern Geschwister, bewies sich Woldemar in dieser Zeit liebevoller, erkenntlicher, genießender in der Freundschaft als je zuvor. Dieß vermehrte Biderthals Bekümmerniß. Mit Recht schrieb er dergleichen affectvolle Aeußerungen einer innerlichen Beklemmung zu, erblickte darin ein bewegtes, gepreßtes Herz, welches sich zu helfen, sich zu trösten und zu stärken suchte. Oefter wurden ihm in Woldemars Gegenwart die Augen naß. Dieser bemerkte auch einige Mal seine Rührung; ergriff Biderthals Hand, schloß ihn in seine Arme, herzte und küßte ihn; aber ließ ihn nicht reden; beugte vor, daß es nicht zu Fragen, nicht zu Erklärungen käme.
Unterdessen arbeiteten sich Biderthals Besorgnisse mit jedem Tage schrecklicher in seinem Gemüthe aus. Was er voll Wehmuth seinem Bruder voriges Jahr aus Pyrmont geschrieben hatte, jene Worte: »Lieber! Wenn Du das alles nur an einem Haare festhieltest – durchaus nur an einem Haare festhalten wolltest – Und das Haar zerrisse – zerrisse vielleicht durch eine Bewegung Deiner eigenen Hand ...« – Diese Worte, mit dem Ausruf: » Lieber! O erbarme Dich Deines Biderthals!« lagen ihm unaufhörlich in Gedanken, tönten ihm vor den Ohren, und zerrissen ihm das Herz.
Es ist zu spät! seufzte, klagte und jammerte es in seinem Innern. Woldemar liebt Henrietten! Ich hatte Recht zu behaupten, er sey mit ihr verlobt. Er war es im Grunde der Seele, und wollte es nicht wissen. Ihm, auch Henrietten, war ich nur ein Thor. Daß ich es nicht war – – Gott! – Dieß wird Henriette bald; Woldemar erst, wenn er mit dem Tode ringt, erfahren.
Nach der vorhin erzählten Unterredung mit Henriette, hatte Biderthal sie nur zweymal an ihr Versprechen, Woldemar zu einer Erklärung zu nöthigen, erinnert. Er schwieg nachher, weil er wohl sah, daß sie keine Ermahnung nöthig hatte. Ihr alle seine Sorgen zu entdecken, durfte er nicht wagen; er würde sie dadurch nur wider sich empört, sich ihres Vertrauens, so gar ihrer Liebe – wenigstens auf eine Zeitlang – beraubt haben. Jetzt aber schien es ihm so wichtig Henrietten aufs schleunigste zur Entdeckung dessen, was in Woldemars Herzen eigentlich vorginge, zu verhelfen, daß er alles daran zu wagen beschloß, um diesen Endzweck zu erreichen.
Früh an einem Morgen ging er zu ihr. Sie war aufgestanden, aber noch nicht zum Vorschein gekommen. Er griff unterdessen nach einem Buche, das er auf ihrem Arbeitstische liegen fand. Es war der zweyte Theil von Plutarchs Lebensbeschreibungen. Beym Aufschlagen traf er eine Stelle, die doppelt angestrichen war; folgende:
»Fremdling, die Gesetze und Gebräuche der Menschen sind verschieden; einigen heißt dieses schön und gut; andern jenes: aber das gilt allgemein, ist schön und gut für alle, daß jeder unter seinen Mitbürgern, was gemeine Sitte ist verehre, und diese Ehrfurcht in allen seinen Handlungen beweise.«
Er behielt, da Henriette herein kam, das Buch in der Hand, und nachdem er sie begrüßt, und sie beyde sich gesetzt hatten, zeigte er ihr die angestrichene Stelle, und fragte: warum sie diese Irrlehren über Schönes und Gutes, diese sklavische Maxime eines Barbaren, die sie hätte durchstreichen sollen, angestrichen, und gar doppelt angestrichen hätte? – Wenn Woldemar das fände! ... Indem gab er ihr das Buch in die Hand.
Diese Striche sind schon alt, sagte Henriette.
Dann lasse ichs gelten, erwiderte Biderthal; machte das Buch zu, und legte es wieder auf die Stelle, wo er es genommen hatte.
Henriette wurde roth. – Nein, Biderthal, sagte sie, nein; diese Striche sind von gestern; zog ihr Schnupftuch hervor, bedeckte sich das Gesicht, und fing bitterlich an zu weinen.
Biderthal sprang auf, umarmte Henriette, drückte sie an sein Herz, und sagte mit beklommener Stimme: Fasse Muth du gute, liebe, schöne Seele du! Man kann nicht unschuldiger, nicht ehrwürdiger und besser seyn, als du es bist. – O, fasse Muth. Ich fürchte Aergeres, gewiß viel Aergeres, als du; und doch hoffe ich, mein Woldemar, und wir mit ihm, sind noch zu retten.
Henrietten sanken die Arme. Sie sah mit trockenem Auge Biderthalen an – » Aergeres?« – Wiederholte sie todtenblaß, und sich aufrichtend: » Aergeres? – Wo ist Arges? Gewiß eher in meiner Seele, in der Ihrigen, in unser aller Seele, als in der himmlischen Seele meines Freundes. O, wenn er minder arglos wäre, ich weinte nicht, und Sie – bebten nicht an dieser Stelle!«
Biderthal wollte reden; aber Henriette flehte mit gefaltenen Händen, von neuem in Thränen aufgelöst, daß er sich entfernen, sie allein lassen möchte.
Er ging.
An der Thüre rief und holte Henriette ihn zurück. Schluchzend stammelte sie: Ich will anhören! Ich weiß nicht was vorgeht; nein, ich weiß es nicht. Ich werde Schuld haben, es wird auf mich fallen; reden Sie, lieber Biderthal, sagen Sie mir – sagen Sie mir alles.
Biderthal war tief bewegt. Er drückte und küßte Henrietten die Hand, weinte mit ihr, setzte sich und stand wieder auf; versuchte zu reden und hatte keine Stimme. Henriette, die zuerst sich faßte, half ihm, durch milde Anrede, zu Worten.
Verzeihen Sie meine Heftigkeit, sagte sie zu ihm; ich hatte sehr Unrecht. Gewiß kamen Sie mit herzlicher Liebe, mit vertraulichem Rathe zu mir, und ich stieß Sie von mir! – O verzeihen Sie mir! Werden Sie mir wieder gut!
Sie bedürfen keiner Verzeihung, antwortete Biderthal, und ich selbst verdiente keine, wenn ich einen Augenblick von Woldemar Arges denken, eine Furcht in Absicht seiner haben könnte, die ihn erniedrigte. Oder ist es etwas Arges, wenn ich glaube, daß er Sie über alles liebt; Sie liebt, wie er außer Ihnen niemand lieben kann; daß er im Grunde – Sie allein liebt? –
Henriette fuhr etwas zurück. –
Ist Ihnen dieses neu, sagte Biderthal? Sie wissen es doch!
Setzen Sie den Fall, Woldemarn wäre auch, was er längst weiß, neu geworden; er fühlte, wie er Sie liebt, mehr als er es je gefühlt hat; und nun genügte ihm Ihre Gegenliebe nicht mehr. Irgend ein unbedeutender Zufall könnte sein Gemüth in eine Bewegung gesetzt haben, die sich selbst vermehrte, stärker und stärker wurde. – Sie zweiflen doch nicht, daß der leidenschaftliche Zustand, worin wir ihn sehen, sich auf Sie bezieht? – Auch verbergen Sie sich nicht, daß dieser Zustand von Tage zu Tage zunimmt, bedenklicher wird! – – Wie können Sie denn so gelassen zusehen, und nicht fürchten, und das schlimmste abwarten wollen?
Lieber Biderthal, antwortete Henriette, ich kann mich nicht fürchten, wie Sie; aber ich leide genug. Auch Allwina ist bekümmert. Sie hat es mir lange abgestritten, daß in Woldemar etwas vorginge, was er uns verheimlichte. Sie sah und fühlte nur, daß sie ihm mit jedem Tage lieber wurde; war dabey in die Freude, bald Mutter zu seyn, ganz vertieft. So lange sie selbst nichts bemerkte, wollte ich nicht, daß sie fragen sollte. Endlich wollte sie bemerkt haben und fragte. Da hat Woldemar mit der größten Offenherzigkeit und Freundlichkeit geantwortet: »Ja, es gehe ihm etwas im Kopfe herum; es sey eine so große Albernheit, daß er es sich zu sagen schäme; er wolle aber, um sich zu strafen, diese Schaam überwinden, und zuverläßig ihr und mir die kindische Grille beichten, so bald er sie weggeschafft hätte.« – Nun verreist Allwina Ende dieser, oder Anfangs künftiger Woche, mit der jüngern Tante nach Fließen, um bey dem Oberamtmann vollends wieder alles ins Gleiche zu bringen und gut zu machen; sie warten nur auf Briefe, daß er dort angekommen sey, und sie gern erwarte. Bis dahin habe ichs, aufs längste, verschieben wollen, Woldemarn was ich auf dem Herzen habe zu sagen, und seine Vorwürfe gegen die meinigen auszuwechseln. Auf einmal und mit ein paar Worten wird es sich schwerlich abthun lassen. Aber abgethan, völlig abgethan soll es werden; das verspreche ich Ihnen, wie ich mir selbst es versprochen habe.
Zufriedener, mit erhöhtem Muthe ging Biderthal von Henriette weg. Der reine, schöne Affect des Mädchens, ihre Fassung und ihr hoher Geist, hatten ihn aufgerichtet und gestärkt.
Henriette, im Gegentheil, hatte dieser Auftritt sehr angegriffen. Sie fühlte sich, da sie allein war, traurig, beklommen, in einer Bewegung, der sie nicht Meister werden konnte. Auf den Mittag mußte sie zu Woldemar, der eine große Gesellschaft zum Essen hatte. – Dort sollte sie auch Biderthal wieder finden. – Ihre Angst, daß sie nicht genug sich würde sammeln können, nahm unter dem Ankleiden zu. Sie mußte endlich fort. Beym Einsteigen in den Wagen fühlte sie, daß ihr die Kniee zitterten. Das Herz klopfte ihr gewaltig beym Fortrollen über das Pflaster; noch heftiger, da der Wagen vor Woldemars Hause still hielt. Man öffnete den Schlag, und sie zweifelte, ob sie aussteigen sollte.
Woldemar fuhr zusammen über ihren Anblick. Er suchte seine Befremdung durch einen desto wärmeren Empfang zu verbergen; aber starr sanken darauf seine Arme an ihr herab. Henriette fühlte es, und beyde überlief es kalt. Woldemar sah sie an – und wieder an – und wieder – bis Schwindel und Blindheit ihn zwangen abzulassen. – » Verloren! verloren! schrie es in seiner Seele, verloren!« – Er hatte sich umgekehrt, und stand am entlegensten Fenster, sein Gesicht an eine Scheibe geheftet, und sah gerad auf gen Himmel. Sein Bruder und Caroline, die zu ihm traten, und sich nach seinem Befinden erkundigten, und seine Gäste, die nach einander ankamen, erlaubten ihm nicht, in dieser Stellung zu verweilen. – Er hätte sein Leben gewagt, um einige Minuten mit Henriette allein zu seyn. – Sie litt Todesangst. – Auf einmal ging sie auf ihren Freund zu: » Lieber Woldemar, sagte sie zu ihm, indem sie ihm die Hand drückte; nicht wahr wir haben mit einander zu reden? Auf den Abend! Nur bis dahin, Lieber, sey ruhig!«
Diese Worte, noch mehr die liebevolle Miene, welche sie begleitete, erhellten Woldemars Gemüth auf einige Augenblicke; aber kaum war er recht zu Gedanken darüber gekommen, so kehrte seine Unruhe desto unerträglicher zurück. Sehnsucht, Erwartung und Furcht trieben ihn bis zur Verwirrung umher. – »Es war also gewiß: Henriette hatte etwas auf dem Herzen; – etwas das ihn anhinge: – sie hatte es schon lange auf dem Herzen gehabt; schon so lange ihm verheimlicht! Was konnte es seyn?« – Er verwickelte sich je länger je mehr in diesen Vorstellungen, so daß er kaum mehr inne wurde, was um ihn her geschah, sondern unablässig mit Forschen an Henriettens Augen, an ihren Mienen und Geberden hing. Henriette wurde äusserst verlegen; Woldemar, der ihren Unmuth beobachtete, desto verwirrter. Seine Zerstreuung stieg aufs höchste; und nun begab sich alle Augenblicke etwas, wodurch sie ihm selbst auffallend wurde. Er erschrak darüber, und begann in der Angst allerley, um sich zu helfen: er wurde laut; warf mit witzigen Einfällen um sich; unterbrach, bald hie bald dort, ein Gespräch; trank, halb in Gedanken, halb mit Vorbedacht, von verschiedenen Weinen, und in größerer Menge, als er gewohnt war.
Diese gewaltsame Erheiterung, bey dem ganz entgegen gesetzten Zustande, worin er sich befand, brachte ihn vollends aus aller Fassung. – Man stand von Tische auf, und es ward immer ärger mit ihm. Seine Fantasie glühte; sein Herz zerrann. Er wußte nicht zu bleiben vor all dem Widersinn, der sein ganzes Wesen aus einander trieb.
Henriette, voll Bekümmerniß, sah sich oft verstohlen nach ihm um. Von ungefähr bey einer schnellen Wendung, begegnete sein Auge einem solchen Blick; da flog er auf sie zu, faßte ihre Hand, und stand einen Augenblick vor ihr, als ob ihn die Seele verlassen wollte. Henriette erschrak zum Erblassen: – » Allwina winkt mir« – sagte sie, und sprang ihr an die Seite.
Woldemar durchkreuzte einigemal den Saal; dann kam er wieder gerade zu auf Henriette; zog sie bey Seite: »Ich muß, sagte er, ich muß gleich diesen Augenblick mit Ihnen reden; kommen Sie mit.« » Das kann nicht seyn!« erwiederte Henriette mit einem äusserst gefaßten Ton; auf den Abend, sagte ich Ihnen; dabey bleibt es.«
Woldemar glaubte in ihrer Geberde etwas von Verachtung wahrgenommen zu haben, und entfernte sich mit zerrissenem Herzen.
Der Rest des Tages war für beyde entsetzlich. Woldemar strengte sich bis zur Ohnmacht an, und konnte dennoch seine Bewegungen nicht alle zurückhalten. Henriette zitterte von Augenblick zu Augenblick, daß Woldemar sich noch sichtbarer vergessen möchte; es däuchte ihr schon lange, alle Anwesende wären heimlich nur mit ihm und ihr beschäftigt. – Und – weiter hinaus: Der Ausgang! Das Ende! – Und ohne Weiteres, an sich die bloße Sache: Woldemar und Henriette in einem solchen Zustande, einer solchen Lage! – – Beyde folterte dieß mit Qualen der Hölle in gleichem Maaß.
Nachdem die Gesellschaft auseinander gegangen war, führte Woldemar Henrietten nach Hause. Ihrem gepreßten Herzen war so Noth um Luft, und der Zwang neben Woldemar fiel ihr so unerträglich, daß sie ihr Englisches zu Hülfe nahm, um schon auf der Straße anzufangen, sich ihm zu eröffnen, und nun ununterbrochen fortfuhr bis hinein in ihr Cabinet. Sie fühlte nicht die mindeste Zurückhaltung mehr, konnte alles nach der Reihe jetzt klar heraus sagen von Anfang bis zu Ende: was für häßliche Gerüchte entstanden wären; wie ihr diese zu Ohren gekommen; was sie dabey empfunden; was sich nachher in ihr zugetragen, was sie darauf an ihm beobachtet hatte; – und nun den ganzen gegenwärtigen Zustand ihrer Seele. ...
Dem Himmel sey Dank, fuhr sie fort, daß es noch eben zu rechter Zeit zu einer Erklärung unter uns gekommen ist: aber nun, lieber Woldemar, auch in unserm Leben keine solche wieder! Lassen Sie uns in unserem äusserlichen Betragen gegen einander, einige Schritte rückwärts thun. Seit Allwina Ihre Frau ist, und schon vorher, haben wir unvermerkt angefangen, uns hierin weniger um öffentliches Urtheil zu bekümmern. Dieses unschuldige Vergessen war so natürlich, es floß so unmittelbar und rein aus den Wendungen unserer Verhältnisse, aus unserer ganzen Lage, war so schicklich zu den Bedürfnissen von Allwinens Herzen – war durchaus so schön. – O ich freue mich; ja, ich freue mich auch der Lästerungen, die über mich ergangen sind, weil nichts in mir war, was mich vor ihnen hätte warnen können. Dieß Bewußtseyn vergütet mir alles. Aber nun bin ich gewarnt. Unsere Freundschaft ist mir heilig, und ich kann den Gedanken nicht ertragen, irgend jemand zu reizen, daß er ein Aergerniß an ihr nehme und sie lästere; vielmehr möchte ich auf jeden den Segen bringen, sie für das, was sie ist, zu erkennen. Vor allem muß mir daran liegen, daß in meiner eigenen Seele ihr reines Bild unangetastet bleibe. Ich habe Ihnen gesagt, was für eine Wirkung die boshaften Urtheile der Leute auf meine Fantasie gemacht haben. Wenn es Schwachheit von mir ist, so haben Sie Nachsicht damit; ich bin kein Mann. Auch dem Manne wird es nicht an Betrachtungen und Gründen fehlen, meinen Vorschlag gut zu heißen. Und so sey denn dies hiermit festgestellt! – Unsere Freundschaft ist zu tief gegründet, und zu wohl bewährt, als daß ich mich nicht der Anmerkung schämen sollte, daß sie nicht den mindesten Abbruch hiebey zu befürchten habe; was geht dieß alles sie im Grunde an?
Henriettens Tafeluhr schlug. Erwünscht für Woldemar! denn er konnte nun erschrecken, daß es schon so spät war, und nach Haus eilen. Hastig sprang er auf; zog, als ob er zweifelte, seine Uhr aus der Tasche; griff nach seinem Hut, und sagte zu Henriette: Auf das, was Sie mir erzählt und vorgetragen haben, ist nichts zu antworten. Ich wußte nicht ... ahndete nicht ... Ich erstaune! – Es ist sehr gut, daß Sie endlich geredet, und mir aus dem Traum geholfen haben. Sie sollen mit mir zufrieden seyn: Gewiß! Verzeihen Sie mir, und beruhigen Sie sich. – Schlafen Sie recht wohl, und vergessen Sie. ... Er reichte ihr dabey zum Abschiede die Hand. – Sie bot ihm eine Umarmung, die er annahm, aber etwas frostig; und damit, wie ein Blitz, zur Thüre hinaus und aus dem Hause.
Ueber alles von Henrietten Gesagte, hatte er während dem Anhören wenig bey sich festsetzen können; er war lauter Verwirrung gewesen, lauter Verlegenheit; immer in Gedanken darüber, wie er sich äussern sollte, im Fall er sich dazu gezwungen sähe: daher sein plötzliches Aufbrechen und seine Eile wegzukommen.
Vor dem Hause blieb er einige Augenblicke stehen.
... Ach! alle die Liebe in seinem Herzen! – Alle die Liebe die er genossen hatte – in grenzenlosem Vertrauen! – Der süße Friede! – So angefochten ... gewogen – gewagt – der Zerrüttung ausgesetzt! ...
Er lief schnell die Straße hinab; schneller die folgende, und weiter bis auf den Domplatz, – da säumte er, verweilte, stand im Freyen, und breitete sich rund um, der Luft entgegen. – Die Stille der Nacht wollte er haschen – und den Raum der Himmel.
Er fühlte Erquickung. Gelassenheit und Ruhe gingen, wie Sternhelle, in seiner Seele auf. – Nun erst hörte, vernahm er, was Henriette ihm gesagt hatte, wiederholte sich ihren Vortrag, erwog ihn.
Die meiste Zeit fühlte Woldemar lebhafter, was andre anging, als was ihn selbst betraf; nichts war leichter, als ihn zu seinem eigenen Nachtheil einzunehmen. Diese Gutherzigkeit verläugnete sich auch in dem gegenwärtigen Falle nicht. Die Vorstellungen seiner Freundinn, da er sie von neuem überdachte, wirkten auf ihn, machten Eindruck; er setzte sich an ihre Stelle, und vertrat sie mit solchem Eifer, daß ihre Sache bald anfing ein unverwerfliches Ansehen zu bekommen. Getrost ging er nun nach Hause, wo ihn Allwina mit Schmerzen erwartete, weil er sie wegen seines Befindens in Sorgen gesetzt hatte. Sie freute sich, ihn so wohl zu finden. Er brachte noch eine Weile in liebevollem Geschwätz mit ihr zu, ehe er sich zur Ruhe begab, und hatte keine schlimme Nacht; nur dauerte es ein wenig, bis er einschlafen konnte, und er war früh wieder munter. – In Ansehung Henriettens sah er am Morgen nicht anders als den Abend zuvor. – Etwas weh mußte ihm freylich das Herz noch thun von den vielen Leiden, die es erduldet hatte; auch regte sich noch dieser und jener kleine Vorwurf wider Henriette, hauptsächlich wegen ihres Betragens am vorigen Tage, und der Art, wie sie gegen ihn sich erklärt hatte. Entschuldigen – zur Noth – konnte er auch dieses – nach dem Uebrigen; aber ein gewisser Unmuth blieb in seiner Seele, der war nicht zu verdrängen.
Henriette eilte, gleich nach dem Frühstück, ihn zu besuchen. Er saß schon oben in seinem Cabinet. – Da hörte er sie! Hörte – sie die Treppe hinauf fliegen, – und hin an sein Vorzimmer, – und die Thür öffnen, und hinein rauschen, auf sein Cabinet zu.
Es war an seinem Herzen, wie wenn ein Damm durchgeht. – Unverwandt blieb er vor seiner Arbeit sitzen. – Henriette faßte mit ihrer linken Hand seine rechte Schulter, und senkte sich hinüber vor ihn, und schaute ihm mit so freyer, froher Liebe ins Gesicht, daß er davon ausser sich gesetzt wurde. Der ganze Himmel, den ihm das Mädchen geschaffen hatte, that sich weit vor ihm auf; kaum widerstand er, sie an sich zu herzen, und eine Fluth von Thränen, die ihn drängte, über sie hinströmen zu lassen. Aber er hielt sich; ermannte sich zu heiterm Blick und Lächeln, und that einen Augenblick, als zweifelte er, ob er sie umarmen dürfte. Indem hatte Henriette ihm schon die Wange gereicht. – Damit stand er auf, und fing an sich freundschaftlich mit ihr über verschiedenes zu unterreden. Etwas fehlte doch, daß es nicht ganz im alten herzlichen Ton war. Woldemar merkte, wie er immer mehr davon abwich, immer weiter sich zurück zog; aber er konnte sich nicht zwingen, anders zu seyn. Ihn deswegen anzugehen, trug Henriette Bedenken, zumal da er allen Anlaß durch ein freyes ungezwungenes Wesen zu entfernen bemüht war.
Sie sprachen eben vom Oberamtmanne, dem guten wunderlichen Onkel, daß er nichts von sich hören ließe: als Allwina mit einem Briefe in der Hand herein gehüpft kam. Es war der erwartete, und sein ganzer Inhalt erwünscht. Nun wurde auf der Stelle ausgemacht, daß Allwina gleich übermorgen nach Fließen aufbrechen sollte. Hierauf brachte Allwina hundert Gründe herbey, warum Henriette ihr heute und den ganzen folgenden Tag nicht von der Seite weichen dürfte. Henriette sagte ihr noch hundert andere dazu, und wurde, halb erstickt von Küssen, im Jubel hinweg geführt.
Woldemar ging wieder an seine Arbeit, nahm die Feder voll Dinte, und setzte sie an, als ob sein Geist in der besten Bereitschaft wäre, und ihn die Gedanken übereilten. Aber alles fand er getrennt in seinem Kopf, und je mehr er sich bemühte, seiner Zerstreuung abzuhelfen, desto schlimmer wurde es damit.
»Nun dann! – sagte er, ungeduldig, zu sich selbst, indem er die Arbeit wegschob, und seinen Stuhl herum rückte, – Nun was ist es? –
»... Dieß – und jenes da – und wieder dieß ... Was soll es? – Henriette ist und bleibt bey dem Allen ein treffliches Geschöpf; ist und bleibt es, wenn sie mir auch noch weher gethan, noch viel ärger wider meinen Sinn gehandelt hätte. Ich brauche mich nur an ihre Stelle zu setzen; nur zu bedenken, daß sie ein Mädchen ist; zu erwägen, was überdem unser beyder Charaktere für Verschiedenheiten mit sich bringen: so kann ich sie über alles rechtfertigen; so muß ich sie durchaus entschuldigen. – Wer gefehlt hat, bin ich; daß ich nicht früher dieß in Betrachtung zog, – so in den Tag hinein lebte, als ob ...«
Hier stockte Woldemar. – Er wollte fliehen vor dem Wetter, das ein ferner Blitz ihm verkündigte, – ein ferner Blitz, und dumpfes unendliches Donnergerolle hinter ihm her. Aber wer kann sich erwehren umzublicken im Fliehen; und wen ereilts nicht?
Als ob! ... Das war Täuschung also, daß wir Ein Herz, Eine Seele, – Eins in allem uns fühlten? Ich muß aus mir hinausgehen, als aus einem Fremden, und mich in ihre Stelle versetzen! Versetzen? – Henriette ist mir ein Anderer; Henriette ist wider mich. Hin ist unsre Einmüthigkeit, unsre Eintracht: um ihr gut bleiben zu können, muß ich vergessen, wie ganz ich sie für meine Freundinn hielt – wie ganz ich ihr Freund war; – – endlich das gefunden zu haben meynte, und darin ewigen Frieden mit den Menschen.
Dem Aufkommen, dem Ergreifen und Bleiben dieser Gedanken widerstrebte Woldemar mit Gewalt. Alle die freyeren Bewegungen seiner Seele wirkten Henrietten zu Liebe; und diese sollten die Oberhand behalten: so war sein ernstlicher Wille.
Seine Aufführung gegen Henriette wurde der vollkommenste Abdruck dieser Gemüthsstimmung. Woldemar besaß eine seltene Fertigkeit, die Bewegungen seines Herzens aufzuhalten, seinen Leidenschaften den sichtbaren Ausbruch zu verwehren, und sie sogar, auf kurze Zeit, wo nicht zu unterdrücken, doch ausserordentlich zu schwächen. Es kostete ihm gewöhnlich nachher auch wenig Mühe, seine Aufmerksamkeit, wenn er es für gut fand, ganz von den Gegenständen, die ihn erschüttert hatten, abzulenken.
Allwina, den Abend vor ihrer Abreise, übertrug ihrer Freundinn Woldemars Verpflegung und ihr ganzes Hauswesen.
In liebevollem Auffahren ergriff sie mit dem einen Arm die Freundinn, mit dem andern den Mann, und herzte sie gegen einander, und drückte sie an sich aus allen Kräften; und indem sie nachließ, zerfloß in Englisches Lächeln ihr Gesicht; und an ihm herab sah man – wie wenn eine sonnichte Wolke sanft und schnell sich ergießt – Thränen der Zärtlichkeit und der Freude rinnen.
Mit bangem Herzen begab Henriette sich am folgenden Morgen zu Woldemar. Sie hatte genug empfunden, daß tief in dem seinigen etwas gegen sie arbeitete. Sie liebte ihn so ernstlich und so schön, und wußte sich keinen Rath. Denn womit hatte sie ihn beleidigt? Wie hätte sie anders handeln, anders sich erklären können? – Eine abermalige Erklärung – worauf sollte diese gehen? – Woldemar hatte Unrecht; er hatte so gewiß – O, er hatte so offenbar Unrecht – daß man es nur ihm selbst überlassen mußte, die Augen aufzuthun.
Henriette weinte bitterlich, indem sie dieses überdachte. Seufzer auf Seufzer preßten sich aus ihrer Brust mit unendlichem Weh. Ohne Woldemars Freundschaft wurde ihr das Leben zu Nichts. Und diese Freundschaft schwebte in Gefahr. Und sie mußte sie der Gefahr überlassen. – »Lieber mag der Himmel sie mir rauben, sagte sie bey sich selbst, als daß ich sie verderbe!«
Woldemar hatte schon einige Stunden einsam, in tiefen Gedanken und voll Unruhe, zugebracht. Sein holdes liebes Weib war früh, vor Anbruch des Tages, von ihm geschieden. Es war am Anfang des März. Diese Trennung hatte ihn sonderbar gerührt. Um und um schlug sein Herz von Liebe; – um und um, gegen an die erstarrende Mitte, wo Mißmuth über allgemeinem Unglauben brütete und der schrecklichsten Verzweiflung.
Er war zu lange glücklich gewesen; war zu sehr von den süßen Gefühlen erwiederter herzlicher Zuneigung und innigen Vertrauens durchdrungen worden, als daß die entgegen gesetzten bittern Gefühle sich so bald seiner ganzen Seele hätten bemeistern können. Die Menge, die Lebhaftigkeit der Erinnerungen, die ganze Magie der Einbildungskraft, alles wirkte vorzüglich auf jene Seite.
Was ihm nach Allwinens Entfernung zuerst begegnete, waren verschiedene Sachen auf seinem Tische: Schlüssel, Papiere, Bücher, die für Henriette da lagen. Dieß machte ihm die Vorstellung auffallend, daß sie, nach Verlauf von ein paar Stunden, bey ihm seyn, und gewissermaaßen ihre Wohnung hier aufschlagen würde. Er hatte eine Menge zärtlicher Aufträge an sie von Allwina. Und dann sollte er Ja! ihr dieß und das erzählen, was den Abend vorher, nachdem sie schon weg gewesen, und den Morgen früh, zwischen ihnen war geredet worden, worunter manches Scherzhafte war, das auf länger und kürzer Vergangenes in mannichfaltiger Beziehung stand.
Woldemar saß da, – unterdessen heiter der Tag heranlichtete, – hinträumend über das alles; und fühlte, wie sehr er sich jetzt auf Henriettens Ankunft freuen würde, wenn er freyes Muthes gegen sie wäre.
Diese Vorstellung nahm überhand, und wurde lebhafter mit jeder neuen Lichtung des Himmels. – Endlich fingen seine widerwärtigen Grillen an ihm so lästig zu werden, er mußte so von ganzem Herzen sie verwünschen, daß er sich entschloß, im Fall der Noth sie nur geradezu von sich abzuwerfen.
Hiezu befand er sich durchaus in der günstigsten Stimmung. Noch war auf seiner Brust die Stelle warm, wo Allwina ihr untadeliches Herz an das seine gedrückt hatte. Es war ihm da ein Anschauen von voller Liebe, von unverbrüchlicher Treue so wieder neu geworden, daß seine Seele davon wie besessen blieb. Und auch sein eigenes Herz hatte er wieder stärker da gefühlt. Es hatte ihm gezeugt – es hatte voll Entzücken, ihm zugeschworen, daß auf Menschen Verlaß sey.
Und zu diesen Menschen sollte Henriette nicht gehören? seine Henriette? die Freundinn seiner Allwina?
Unsinniger Verdacht! – Anschwärzung! bloße Anschwärzung! – Eigendünkel, Eigensucht, Hochmuth, tyrannisches Wesen, verkehrter Sinn mußten da im Spiel gewesen seyn; die hatten ohne Zweifel ihn verblendet, ihn bethört!
Gefehlt – etwas gefehlt mochte sie immer haben. – War er selbst doch auch nicht ohne Schuld. Hiemit sollte alles aufgehoben, alles vergessen seyn.
Um die Zeit, da er Henrietten erwartete, trat er ans Fenster, damit er sie von weitem kommen sähe. Es dauerte nicht lange, da erblickte er sie am Ende der Straße im Wenden um die Ecke. Henrietten, da sie ihn wahrnahm, fing das Herz an stark zu pochen. Sie kam näher, sah seine heitere Miene, sein frohes Lächeln, und wußte nicht, ob sie ihren Augen trauen sollte. Als sie nahe bey dem Hause war, grüßte er sie mit vertraulichem Nicken, sprang hinweg vom Fenster, und die Treppe hinunter an die Thür ihr entgegen. Sie war nie mit mehr Zärtlichkeit, mit mehr freundschaftlicher Wärme von ihm empfangen worden. »Nun geschwinde hinauf! sagte er zu ihr, komm!« griff ihr unter die Arme, und oben in einem Fluge!
Henriette, die sich auf eine ganz andere Begegnung vorbereitet hatte, wurde bestürzt, und gerieth in Verwirrung.
Auf einige Befremdung hatte Woldemar gerechnet, denn er wußte wohl, daß sein Unmuth die zwey vorhergehenden Tage hindurch von Henriette nicht hatte können unbemerkt bleiben: Aber diese Befremdung sollte gleich darauf in Freude, und diese Freude in einen gewissen höheren Grad von Zärtlichkeit übergehen.
Natürlich genug waren diese Erwartungen; aber der Gang, den Henriettens Empfindungen nahmen, war es nicht minder. Sie hatte nie an Woldemar dergleichen plötzliche Abwechselungen von Laune – sie konnte nicht wohl es anders nennen – wahrgenommen. Gegen sie besonders hatte sich nie ein Schatten davon gezeigt. Nun gab es der sonderbaren Erscheinungen so viele! – Lauter fremde ungewöhnliche Dinge! – Alles so ausserordentlich, so sehr ausserordentlich! – Wie das kommen – was in dem Manne vorgehen mochte?
Diese Gedanken, mit welchen sich hundert andre verknüpften – Was sie von Biderthal nicht hatte hören wollen; nicht ausdenken mochte –
Biderthal, der ihr wie vor Augen stand – und Allwina abwesend – eben heute verreist. ...
Des Hin- und Hersinnens war kein Ende; und sie stand vor Woldemar ungefähr eben so, wie er vor zwey Tagen Ihr gegen über gestanden hatte.
Woldemar wollte lange das nicht sehen. Er mußte wohl endlich.
Aerger als alles war ihm eine gewisse Schüchternheit, etwas Argwöhnisches, das aus Henriettens zerstreuter bedenklicher Miene hervorblickte. Es rief, wie zu ewigem Bleiben, die widerwärtigen Vorstellungen zurück, über die er die Verbannung ausgesprochen hatte. Aber noch widersetzte er sich ihrer Aufnahme, und eilte, Henriette zur ältern Tante hinunter zu führen, bey welcher er sie zurück ließ.
Er brachte den ganzen Morgen mit allerhand kleinen, mehrentheils mechanischen Geschäften zu, bloß in der Absicht, sich vom Nachdenken abzuhalten. Er hoffte auf günstigere Eindrücke, und wollte wenigstens den Verlauf des Tages in Gelassenheit abwarten.
Es traf sich an diesem Morgen, daß er wiederholt gestört wurde, und so oft er jemand an seiner Thüre hörte, glaubte er, es wäre Henriette. Aber sie kam erst kurz vor Tische zu ihm herauf, und mit Biderthal, welcher Freunde, zum Theil Ausländer – sehr interessante Menschen, zum Nachtessen haben sollte, und sich Henriette und seinen Bruder dabey wünschte.
Woldemar hatte keine Lust; »er wäre heute früh auf gewesen« – und dergleichen.
Biderthal erinnerte ihn, daß er immer früh aufstände; und versicherte, man sähe ihm an, daß er Zerstreuung nöthig hätte.
Darüber lachte Woldemar.
»Aber ich denn, sagte Henriette, ich wenigstens brauche Zerstreuung. Ich weiß nicht, mir ist der Kopf heute so schwer, ich mag mich nicht leiden; diese Einladung käme mir gerade recht, wenn Sie mit seyn wollten.«
Was hindert, antwortete Woldemar, daß Sie ohne mich gehen?
»Das wissen Sie nicht? erwiederte Henriette. Nichts! als daß ich dann kein Vergnügen fände, und das Mittel mir nicht helfen würde – Nun, schlagen Sie ein, lieber Woldemar! Ersparen Sie mir den Verdruß, daß ich meine schale Laune die Ihrige mit verstimmen sehe. Sie kennen mich darin, daß mir nichts schlimmeres begegnen kann. – Und wie käme ich bey Allwina zurecht? – Nicht wahr, Lieber, wir gehen mit einander – Sie thuns?«
Ja, ja! sagte Biderthal, und fiel ihm um den Hals; ich sehe schon, er thuts.
Indem kam ein Bedienter, zu melden, daß aufgetragen sey.
» Nein, er thut es nicht, rief Henriette; er thut es nicht, Biderthal, wenn Sie mir es abschlagen uns diesen Mittag Gesellschaft zu leisten. – Nicht wahr, lieber Woldemar, Sie thuns nicht? Sie haben noch nicht fest versprochen?«
Recht, recht! sagte Biderthal, thu es nicht, ich muß bleiben!
Die Mahlzeit lief ganz vergnügt ab. Biderthal zeigte sich in seiner ganzen Liebenswürdigkeit, und war sehr unterhaltend. Woldemar stimmte mit ein, so gut er konnte. Die Fröhlichkeit und die vortrefflichen Einfälle seines Bruders, und Henriettens zauberischer Witz, rissen ihn hin; er fühlte wirkliches Ergötzen. Aber des Stachels in seinem Herzen wurde er darum nicht weniger gewahr. Der traf – sachte immer tiefer wühlend – ihm zuweilen so scharf ins Leben, daß er Mühe hatte, einigemal mitten im Lächeln, nicht einen lauten Seufzer auszustoßen.
Nach dem Essen ließ Henriette sich von Biderthal nach Hause begleiten, weil sie ihren Kopfputz noch besorgen, und sich ganz frisch ankleiden mußte. Abends um sechs Uhr sollte Woldemar mit dem Wagen kommen, sie nebst Dorenburg und Caroline abzuholen.
Auf dem Wege und zu Hause erzählte Henriette Biderthalen, daß sie gleich am Abend desselben Tages, an dem er Morgens bey ihr gewesen wäre, mit Woldemar gesprochen, und ihr ganzes Herz vor ihm ausgeschüttet hätte. Biderthal sollte sich nun beruhigen, sich von nichts anfechten lassen, und es ihr zutrauen, daß sie der Sache einen guten Ausgang verschaffen würde.
Woldemarn hatte, da Henriette mit Biderthal wegging, ein Schauer durchfahren. Er sah von fern ein Heer Gedanken, das ihn nun überfallen, ihm seine Einsamkeit zur Hölle machen würde. Wohin sollte er fliehen? Er gebot sich Stille, Gelassenheit, Ergebung.
Die gefürchteten Gedanken näherten sich ihm; sie kamen in dichten Haufen, aber nicht stürmisch: langsamer nahten sie sich, und in einer gewissen Ordnung.
Sein Geist wurde gefaßter. Und sein Herz – Das war von den heftigen tiefen Erschütterungen, die es, Stoß auf Stoß erlitten hatte; besonders von den plötzlichen Abwechselungen des heutigen Tages, dergestalt auseinander, daß es kaum sich mehr zu fühlen im Stande war.
Also gestimmt und vorbereitet setzte Woldemar sich hin, und ging die Aufführung seiner Freundinn durch: von dem heutigen Tage an zurück bis auf denjenigen, wo sie in des alten Hornich feindselige Hände ihm entsagt hatte. – Der Schluß fiel dahin aus: daß er in seiner Meynung von Henriette geirrt hätte. Und ...
Nein! – das Herz brach ihm nicht davon!
Er stand auf, ließ sich ankleiden, und befahl um die gesetzte Stunde den Wagen. Es war nicht mehr lange hin. Unterdessen ging er in seinem Zimmer auf und nieder. Ehe er sich's versah, hörte er den Wagen aus der Remise sprengen. Der Wagen kam vorgerollt, und stand gerade unter seinem Fenster. Da fuhr's ihm durch alle Glieder.
»Hinfahren zu Henriette! Mit ihr – und Caroline und Dorenburg zu Biderthal? – Dort die glänzende Gesellschaft; die erleuchteten Zimmer; das Geräusch; Spieltische; – ein Gastmal – Gespräch – Scherz – Fröhlichkeit – Lachen!« – Es war unmöglich, er konnte nicht hin!
Doch ließ er den Wagen eine starke Viertelstunde halten. Er hatte eine Menge Bedenklichkeiten, über die es ihm schwer fiel hinweg zu kommen. – Endlich befahl er wegzufahren, und gab einen Bedienten mit, der ihn entschuldigen sollte: »Er hätte Kopfschmerzen bekommen, mit denen er sich nicht getraute in Gesellschaft zu gehen, und wäre willens sich ganz früh nieder zu legen.«
Hierauf eilte er, sich die Kleidung vom Leibe zu schaffen, und sich von Kopf bis zu Fuß in sein Nachtzeug zu stecken, damit, wenn etwa noch sollten Anschläge auf ihn gemacht werden, er ihnen desto zuverlässiger entginge.
Nach einer halben Stunde kam der Wagen zurück, und der Bediente hatte Woldemarn viel zu berichten; wie sehr man seine Unpäßlichkeit bedauere; wie mißvergnügt über seine Absagung sich besonders Henriette bezeugt habe. Sie ließ ihn ausdrücklich wissen: daß ihr alle Freude auf diesen Abend verdorben sey.
» Alle ihre Freude auf diesen Abend verdorben,« – wiederholte Woldemar bey sich selbst; – das mag wahr seyn! – Und so ein Abend kann einem lang werden. – So Ein Abend. – – Aber mir? – Und hundert Abende! – hundert Abende und Morgen! Tausende! – Und die alle – so glücklich seyn sollten! – – Die schönen reichen Blüthen alle ... O!
Sein Herz wurde plötzlich weich; und es fehlte wenig, daß er laut wie ein Kind zu weinen angefangen hätte.
»Aber wie nun auf einmal wieder so ganz dahin« – fragte er sich. – »Erst heute Morgen noch so voll Muth, so voll Glauben ...?«
Diese Betrachtung fesselte seine Aufmerksamkeit. Er sann jenem Zustande nach; suchte die Vorstellungen und Empfindungen, welche ihn zuwege gebracht hatten, in sich zu erneuern, und versenkte sich mit ganzer Seele in ihren Begriff.
Freylich! sagte er – Das ist und wird seyn: daß Henriette zu den besten ihrer Gattung gehört. – Ich kann mich auf ihre Tugend, – auf ihre Freundschaft (wie andre – auch vortreffliche Menschen diese Worte nehmen) verlassen. – Nur ist auch sie nicht – was ich schon lange zu suchen aufgegeben hatte; – was ich endlich – gefunden zu haben meinte: – nicht die Eine, die Meine.
Was fest, was unwandelbar macht; jene Treue, die keine Tugend – die Stärke, Lebhaftigkeit und Tiefe allein des Sinnes ist – gebricht ihr.
Wie fern – daß ihr Herz wie das Meinige empfände!
Sie weiß nichts davon, daß sie von mir abgewichen ist – fühlt nicht das Widrige, das Unerträgliche darin: Zweymal in eine Parthey gegen mich – wo nicht getreten zu seyn – doch sich verflochten zu haben. – Konnte es wagen, konnte es über sich bringen, bey mir in Verdacht zu kommen, um dem Verdacht nichtswürdiger Menschen zu entgehen! – Konnte gegen Freundschaft, gegen die Ruhe meines Lebens, andere Dinge auf die Wage legen – so kalt!
Wie manches ihr mehr gelten muß, als meine Liebe; – wie manches sie ärger schrecken – als dieser liebe Tod! ...
Es mag seyn, daß sie dadurch, daß sie tadelhaft vor mir erscheint, vor allen andern Menschen desto untadelhafter da stehe – Es mag, oder nicht! Hier ist davon allein die Frage: was eine Seele von der meinigen unzertrennlich macht – Das hat die ihrige nicht! Die Möglichkeit, daß sie von mir abfiele, liegt am Tage. Wir haben wirklich den Fall, daß ich ihr eine Art von Widerwillen, von Eckel errege. – Sie hat mir verhehlt; sich gegen mich verstellt – Ränke gebraucht – Lügen geredet – Zweifel und Mißtrauen gebrütet – hat uns entzweyt!
Und hätte sie nun eben dadurch auch den Himmel verdient – und wäre sie das Erste unter allen menschlichen Wesen: so könnte ich sie – wohl eine Heilige nennen – Freundinn aber nicht. – Wir wären nicht minder abgerissen von einander – ich desto härter nur verstockt allen Freuden, auf ewig!
Der Tumult in Woldemars Seele war offenbarer Aufruhr geworden; und fern daß er darauf gedacht hätte ihn zu stillen, hieß er den Eifer gut, der seine Glückseligkeit zu Grunde richtete. Er brachte die ganze Nacht damit zu, alles in sich umzukehren, so daß auch jede Aussicht eines Wechsels vernichtet, und jede Hoffnung zur Thorheit wurde. Hierauf schien es ihm, er wäre ruhiger. Er lagerte sich hin auf den Ruin, und schlief ein.
Henriette hatte in eben dieser Nacht kein Auge geschlossen. Daß Woldemar ihr den leeren Wagen geschickt, und eine Unpäßlichkeit vorgeschützt hatte, um allein zu Hause zu bleiben, war ihr hart aufgefallen; aber mit Gewalt unterdrückte sie für den Augenblick das weitere Nachdenken darüber, um in der Gesellschaft bey Biderthal nicht anders zu erscheinen, als man sie zu sehen gewohnt war. Sie hielt sich in dieser Fassung, nicht ohne große und oft erneuerte Anstrengung. Ganz erschöpft kam sie nach Hause.
Der Gedanke an Woldemar – Wie er diesen Abend zugebracht haben möchte? – überfiel sie drohend und schreckend. Es war ein Gedanke ohne Ende. Wo lag der Weg zu seinem Anfange? – Henriettens ganze Einbildungskraft war aufgeregt, und nie vorher gesehene Verbindungen stellten sich ihrem Geiste plötzlich dar. Von dem gestrigen Tage an zurück, lief sie alle mit Woldemar in Absicht ihrer vorgegangenen Veränderungen durch in einem Nu, und fand ihren Anfang schon in Pappelwiesen. Das zusammen machte nur Eine Begebenheit, Eine Entwickelung aus. – Was begab, Was entwickelte sich? – Biderthals ehmahlige Warnungen, seine Reden jüngst am Morgen, kamen ihr ins Gedächtniß, flossen in einander, erläuterten sich, und verbreiteten über das Ganze ein wankendes fürchterliches Dämmerlicht. Ihre Verwirrung stieg aufs höchste. Verzweiflung wollte sie ergreifen; sie sank auf ihr Angesicht, suchend wo und wie sie vor sich selbst sich verbergen könne.
Mitten in dieser heftigen Erschütterung strahlte, wie ein Licht vom Himmel, der alte feste Glaube an ihren Freund ihr in die Seele. Sie fühlte: ihre Liebe zu ihm war keine Thorheit. Viel eher konnte alles andere nur bethörender Wahn, trügende vorübergehende Erscheinung seyn.
Hieran: Am Gewissen, am zuverlässig Wahren wollte sie sich halten; standhaft seyn, und ihrem Freunde anhangen auf jede Gefahr.
Eine schöne Ruhe, die sich keinem, der sie nicht erfahren hat, beschreiben läßt, kam über die Seele des Mädchens, und füllte sie mit Huld und Stärke.
Morgens um neun Uhr ging Henriette zu Woldemar. Da man ihr sagte, er wäre noch nicht aufgestanden, wurde sie bestürzt. Der Bediente mußte augenblicklich ins Schlafgemach; sie selbst folgte sacht nach; und da Woldemar den Bedienten fragte: was er wolle? gab sie die Antwort: – »Ich bin hier, lieber Woldemar! Wie es Ihnen geht? Sie haben mich zum Tod erschreckt!« – Und trat näher. Ihr Angesicht flammte von Liebe. Sie wurde es inne, da die Flamme nicht zündete, und zurück schlug. Ihn gebrannt hatte sie dennoch.
Woldemar antwortete dürr und freundlich: – »ihm sey wieder besser, aber er brauche noch Schlaf; bis gegen sechs Uhr habe er wach gelegen.« – Hierauf fragte Henriette, mit nassem Auge: ob er nichts begehre? – » Nichts in der Welt,« war die Antwort, » als Ruhe!«
Diese Antwort, obgleich Ton und Miene dabey nichts bedeuten wollten, ging Henrietten durch die Seele. – Sie wendete sich langsam und ging. – – Als sie leise die Thür ins Schloß gezogen hatte, blieb sie, wie erstarrt, die Schlinge in der Hand, mit gesenktem Haupt davor stehen. Endlich ließ sie die Schlinge, und lehnte sich ans Gesimse. – Sie war voll Schwermuth, und wußte nicht wie; sie konnte zu keinem Gedanken kommen.
Die ältere Tante unterbrach sie in dieser Träumerey, und führte sie mit sich hinunter. Aber da war für sie kein Bleiben. Sie ging bald wieder hinauf, und warf sich im Vorzimmer auf einen Sessel, ihr Gesicht mit dem Arm verhüllend, voll unaussprechlicher Betrübniß.
Woldemar unterdessen prüfte nochmals sein Inneres, und suchte sich in seiner Fassung unumstößlich zu gründen.
Er fand immer eben wahr, daß er ein für allemal jene überschwengliche Idee von Freundschaft zwischen ihm und Henriette aufgeben müsse. Gesetzt auch, er hätte sich weniger an ihr betrogen als die Erfahrung zeige: so sey es an den Zufällen genug, wodurch er und sie nun einmal wären aus einander getrieben worden, um eine Wiedervereinigung, in dem Grade, unmöglich zu machen. – Also, weg damit! – – Und warum sollte er sichs nicht aus dem Sinne schlagen können? – Er hatte ja vor diesem auch gelebt, und das Leben nicht unerträglich gefunden!
Ein Blick in jene Zeiten, die noch nicht so weit entfernt waren, und mit seinen gegenwärtigen, stürmischen, qualvollen Tagen auf eine Weise abstachen, welche ihnen keinen geringen Reiz ertheilte, versenkte ihn ganz in die Vorstellung der Süßigkeiten, die mit Genügsamkeit und Ruhe verbunden sind. – Der Gedanke wurde Empfindung, und die Empfindung Genuß. Dabey kamen ihm die Vorzüge seiner gegenwärtigen Lage vor Augen. Eine Allwina zum Weibe; Er, der Gatte dieses Engels; bald Vater – von Kindern aus ihrem Schooße; – um ihn her die liebenswürdigste Verwandtschaft; – die besten Glücksumstände – Wohlleben und Ehre – – Wo er hinsah, alle seine Wünsche übertroffen! ... Er mußte sich seines Kleinmuths schämen! daß er sich so ganz hatte hinreissen – unsinnig so lange umhertreiben – bis zur Verzweiflung ängstigen lassen. Er verglich es mit der Berauschung eines Menschen, der einen bösen Trunk hat, schalt sich einen Thoren, einen Rasenden – bedrohte sich mit Unglück und Schande.
Und Henriette – die Einzige, wurde verstoßen! – Und Woldemar triumphirte! – – Er fühlte an sein Herz, – Ja, es schlug ihm freyer; – – Und die Andern alle, – – Sie waren ihm desto lieber geworden. – Er hatte es gut genug auf der Welt.
Es schlug eilf Uhr, er stand auf.
Henriette in seinem Vorzimmer anzutreffen, war ihm unerwartet. Ihr schwermüthiger Anblick fiel ihm auf. – Dem armen Zerrütteten, immer mehr sich selbst und alles Verlierenden ... Wehe! es wurde von diesem Anblick ihm noch leichter ums Herz!
Von seinem Befinden, kam die Rede auf den gestrigen Abend – und Henriette ließ ihrem Herzen freyen Lauf. Es war so voll wahrer warmer Zärtlichkeit, und ergoß so lieblich gegen ihn die schöne Fülle, daß er davon entweder in gleiche Rührung, oder – in die äußerste Verstockung gerathen mußte.
Das letzte geschah. – Kaltes freundliches Lächeln war seine ganze Erwiederung, und er griff nach jeder Nebensache, um die Unterhaltung gleichgültiger zu machen; besonders wenn dem armen Mädchen Thränen hervor drangen, die sie mit Noth wieder einsog und darüber die Sprache verlor; – dann kam er unfehlbar mit einer Unterbrechung, und führte wohl gar einen Scherz herbey. – Aber Henriette beschirmte ihre Brust, daß alle diese Dolchstöße nur daran her streiften – viel Blut machten und wenig Wunde.
» Ich komme!« rief sie plötzlich hell auf, als ob ihr jemand wiederholt gerufen hätte, und stürzte zur Thür hinaus.
Woldemar war erschrocken. Er blieb noch einige Augenblicke stehen, und ging dann, etwas betroffen, in sein Cabinet.
Er war ungeduldig, einen Versuch mit Arbeiten zu machen. Sogleich wollte es nicht; aber nicht lange, da war er vollkommen gesammelt, und es gelang ihm nach Wunsch. Voll Zufriedenheit hierüber kam er zu Tische, ließ sich's wohl seyn, und war sehr gesprächig.
Henriette wollte ihn bereden auszugehen – oder auszufahren. Er lehnte das ab, indem er große Sehnsucht äußerte, eine Arbeit, die er den Morgen angefangen, zu vollenden. Auch gab er sich ungesäumt wieder daran. Es ging ihm noch besser von Statten, als am Vormittage.
Henriette, die nicht Lust hatte, einem Besuch beyzuwohnen, der sich bey der Tante einfand, brauchte ihr altes Recht, und ließ sich in Woldemars Vorzimmer nieder. – Auch das konnte Woldemar nicht stören. – Wenn er zuweilen, beym Durchgehen, an ihr vorbey kam, und sie ihm zuwinkte; so antwortete er ganz geschäftig, nur eben mit einem freundlichen Nicken, und verfolgte gedankenvoll seinen Weg.
Es freute ihn, seiner Aufmerksamkeit dergestalt zu gebieten, seiner selbst so mächtig zu seyn. Die Lust am Fortgange seiner Arbeit kam dazu; so daß etwas von wahrer Heiterkeit in seiner Seele dämmerte. – Gleich wollte sein Herz wieder aufwallen zu Liebe, und seine errungene Fassung zu Grunde gehen! – Sie saß da, mit der er jede Freude zu theilen gewohnt war! Ach! und jeden Schmerz! – – Er lief hinauf auf den Altan. – Ueber eine Weile folgte ihm Henriette. – Woldemar hatte sich von neuem gestillt. – – Die Sonne war untergegangen. Gegen über trat jetzt der volle Mond hervor. Damit kamen die vorigen Regungen wieder, und mächtiger. – Des fluchte Woldemar seiner Seele, und raffte alle seine Kräfte zusammen, um sich zu verhärten. – Aber ein tiefes Grauen überfiel ihn: – »Daß ihm hinfort kein Gestirn mehr leuchten dürfe; – leer über ihm seyn müsse der Himmel – und um ihn, nur Finsterniß die Nacht.« – – Gleichwohl hob er sein Haupt in die Höhe, blickte rund umher – und sein Geist schwang sich empor. – – Sanft lenkten seine Augen sich auf Henriette. – Er lächelte ihr zu – wie ein willig Sterbender dem Tode lächelt, drückte sie an seine Brust, und führte sie mit sich hinunter.
Diese Gemüthsstimmung hielt an, ohne sonderliche Abwechslung. Denselben Abend schöpfte Henriette lauter gute Hoffnungen; denn sie hatte lange nicht Woldemar so ungezwungen heiter, durchaus so natürlich gelassen, und gegen sie so voll herzlicher offener Freundschaft gesehen; sie mußte fühlen, er war ihr gut, aufrichtig gut.
Eben das fing aber schon am folgenden Tage sie zu drücken an; sie war nicht seine Henriette wie vormals. Und wie sie das jetzt so nackend, so ganz in seinem eigenen Schmerz zu fühlen bekam – es war ihr unerträglich.
Ihre Betrübniß wuchs von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tage. Woldemar hatte Mitleiden mit ihr; mit sich selbst noch mehr: Hülfe, Rath, sah er nirgend; und er wollte nicht jammern, wollte männlich sein Schicksal tragen.
Einmal da Henriette, von innerlichem Weinen halb erstickt, dasaß; ihr endlich ein Paar von den Thränen, die durchaus nicht los sollten, über die Wangen schossen, und auf den Schooß stürzten; ihr nun die Brust noch enger wurde, daß sie länger sich nicht halten konnte; ausrief ohne Laut, und hinsank mit dem Kopf auf die Hand, und ihr Angesicht offen lag – die Augen trocken und die Wangen naß ... Er stand vor ihr – und konnte nicht fragen: Henriette, was ist dir? – konnte um kein Haar breit sich ihr nähern ...
Das ergriff ihn mit Entsetzen – Wankend stand er da – Ohnmacht, kalte gräßliche Ohnmacht kroch durch alle seine Glieder, hin ans erstarrende Herz.
Indem kam jemand die Treppe herauf.
Henriette nahm sich zusammen. Woldemar blieb wie er war.
Der die Thür öffnete, ins Zimmer trat? – Es war Biderthal.
Er fuhr zusammen; faßte sich – doch mußt' er die Frage vollenden, in der er stecken geblieben war: Was – Was fehlt dir, Woldemar? – »Wie? was mir fehlt? – sehe ich übel aus?« Er trat vor den Spiegel: schüttelte den Kopf, und lächelnd: »Man sollte bange werden!«
Damit fing er an von andern Dingen zu reden, welches Biderthal gern geschehen ließ, und so bald wie möglich sich wieder entfernte.
Dießmal hatte Biderthal alle Fassung verloren. Das Herz wollte ihm zerspringen. Er lief nach Hause, von da zu Dorenburg, wohin er Luise gebracht hatte, ehe er zu seinem Bruder ging.
Vor Dorenburgs Hause ergriff ihn eine Furcht – er wollte wieder umkehren. Aber Caroline hatte ihn erblickt; Dorenburg sprang ans Fenster, und Biderthal mußte sich entschließen, ins Haus zu gehen. Auf die Frage: was ihm begegnet wäre, daß er so verstört aussähe? gestand er gerade zu: Es beträfe Woldemar, und er wäre gekommen, um ihnen, was ihm schon lange unerträglich auf dem Herzen läge, einmal ganz zu offenbaren.
Hierauf erzählte er seine früheren Sorgen, seine späteren Beobachtungen; was er mit Henriette gesprochen; wie diese gegen Woldemar sich erklärt, und nun in was für einem Zustande er beyde vor einer Stunde angetroffen hätte.
Gegenseitige Eröffnungen folgten dieser Erzählung: von Beobachtungen, die jeder gemacht; von Besorgnissen, die er geschöpft und mit Gewalt in sich unterdrückt hätte: aber keinem waren Gedanken, wie die, welche Biderthal quälten, eingekommen. Sie erschöpften sich in Muthmaßungen, und erreichten wenigstens so viel, daß Biderthals Schwermuth besänftigt, und sein Gemüth etwas ruhiger wurde.
Dorenburg war der Meynung, und setzte sie durch: daß sie alle sich ganz stille halten, und es Henrietten zutrauen müßten – wie es diese auch mit Recht von Biderthal schon gefordert hätte – daß sie der Sache einen guten Ausgang verschaffen würde. Sie wäre auf alle Fälle genug gewarnt, und bedürfte keinen Rath. Ihre Unruhe zu vergrößern, oder sie auf irgend eine Art zu stören, würde gefährlich seyn.
So geschah es, daß Henriette in ihrer festen Erwartung, am folgenden Morgen einen Besuch von Biderthal zu erhalten, betrogen wurde. Sie besann sich, ob sie nicht bey ihm ansprechen sollte; war aber bald für das Gegentheil entschieden. Freywillig wollte sie nichts, was ihren Freund anging, insgeheim thun oder reden. Und was hatte sie Biderthalen auch zu sagen?
Acht Tage gingen herum; noch eine Woche lief zu Ende; und Henriettens Seele fing an sich zu empören.
Was nur ein menschliches Herz überwältigen kann: alles war an Woldemar vergeblich gewesen. So tausendmal gerührt, erschüttert: immer ohne Frucht; immer doch, am Ende, unbeweglich! ...
Warum wollte er sie aus seinem Herzen verstoßen? – Verstoßen? – Stand dies in seiner Gewalt? Sie hatte ja nichts verbrochen, war ja Henriette wie immer.– O Gott! rief sie aus: ich bin ja unschuldig!
Der Stachel, der ihr im Herzen saß, und folterndes Pochen in alle seine Fasern brachte – es war, als wenn er bey diesem Ausruf auf einmal sich löste.
Unschuldig! – Ueberall in ihr wars erklungen – Ewig seiner ganzen Freundschaft werth! – Und kann, was unvergänglich ist, vergehen? – Vergängliches mag vergehen; – – Harren will ich in Unschuld. – Harren, und treulich bewahren alle die Liebe in meinem Herzen – und gen Himmel schauen!
Da Woldemar die stille Heiterkeit erblickte, den siegenden Muth, der über Henriette gekommen war, wandelte ihn etwas an, wie Schrecken.
Er sträubte sich, es dafür zu erkennen; wollte, daß es Freude wäre, und suchte es heimlich darin zu verkehren: Aber er fühlte bald, wie vergebens!
Da ergriff ihn ein zwiefaches Schrecken. Was noch von Hoffnung in seiner Seele versteckt war, fuhr auf und verschwand. Die entsetzlichste aller Empfindungen: Verachtung dessen, was überschwenglich geliebt war, kam den geräumten Platz einzunehmen; – sie hatte lange schon gedrängt. – Er wurde voll Eckel an dem Unbestimmten seiner Lage: lieber volle Verzweiflung, tausendmal lieber! Und er fing an darnach zu ringen.
Aber er konnt' es nicht fassen, konnt' es nicht glauben! ...
Das gekostet zu haben, was eine solche Freundschaft giebt; und es fahren zu lassen, und es missen zu können, und Muth zu behalten zu leben – Ruhe, Heiterkeit? – Seyn zu können dieß, und jenes gewesen zu seyn? Eben dieselbe? Diese Henriette? Diese, Diese, Diese?! ... Er schwindelte in Wahnsinn dahin.
Noch mäßigte er sich im Aeußerlichen; er zeigte nur Kälte: aber sein Wille, diese Kälte fühlbar zu machen, kam je mehr und mehr zu Tage. Er wich allen Gelegenheiten aus, Dienste von Henriette anzunehmen; war höchst sorgfältig, daß sie in seinem Hause nicht die geringste Bemühung hätte; äußerte in Absicht ihrer tausend Bedenklichkeiten; hatte beständig ihr etwas aus dem Wege zu räumen; so daß ihr der Aufenthalt neben ihm nicht anders als peinlich seyn konnte.
Aber sie hielt Stand; und wenn die Kränkungen, die sie von Woldemar erfuhr, auch wohl einmal sie erbitterten, so erholte sie doch bald sich wieder, und bewies sich nur desto liebreicher gegen ihn.
Ein tieferer Gram erzeugte unterdessen sich in ihrer Seele, eine Schwermuth, die in naher Verwandtschaft mit dem Trübsinne ihres Freundes stand.
»Ist die Würde des Menschen – so hörte sie in ihrem Innern flüstern – ist Stärke, Schönheit und Größe der Seele so zerbrechlich? Kann der Geist zufällig von Thorheit angesteckt werden, wie der Leib von Krankheit – und verderben, untergehen wie der Leib? ...
»Was ist Freundschaft, was ist Liebe, wenn auch die reinste, höchste Liebe vergiftend – wenn sie im Menschen ein böser Geist werden kann, der Vernunft und Tugend austreibt und sich an die Stelle setzt?«
Fürchterlich wühlten diese Betrachtungen in Henriettens Gemüth. Aber der Grund ihrer Seele war rein: Es folgte Stille; es folgte Friede.
Nie vorher in ihrem Leben war sie so ganz verlassen gewesen, daß sie Hülfe allein bey sich selbst, Zuflucht nur in ihrem eignen Herzen hätte suchen müssen. Hier fand sie jetzt ein Zeugniß, welches über ihre Zweifel siegte; ein Licht, welches desto heller leuchtete, je mehr sich Finsternisse um sie versammelt hatten.
Woldemar blieb nicht ohne Ahndung des höheren Schwunges, welchen Henriettens Seele nahm; und die seinige sank davon noch einmal tiefer, und immer tiefer. Die Verwirrung seines Gemüths wurde fürchterlich.
Täglich sah er Henriette; und wo er sie erblickte, war sie umgeben von der glänzenden Schaar entzückender Erinnerungen. Dieselbe Kraft, ihn glücklich zu machen, wohnte noch in ihr; sie wußte noch jetzt so manchen Schimmer von Freude in seine finstere Seele zu dämmern; brachte unaufhörlich Anwandlung von Glauben, von Vertrauen in sein Herz – Von Vergebung! – Ach! die sie aber nicht foderte, nicht zu bedürfen glaubte; ohne Sinn für seine tiefen Leiden – vielleicht insgeheim sie verachtend – hoch erhaben über den Wahnsinnigen, verrückten Woldemar, und nur in schmählichem Mitleid sich zu ihm herablassend – Die Edle! – Ha, Elende! Ferne, ferne du von diesem Herzen, das du geschändet – und das du verlassen hast!
Alle seine Beschäftigungen, außer denen welche sein Amt ihm auferlegte, waren unterbrochen. Er, der seiner Stelle so gewachsen war, unterlag jetzt ihren Pflichten. Er fand, mit empfindlicher Demüthigung, sich überall zerstreut, strengte sich an, vergeblich; stärker, und immer vergeblicher; wurde müde, bis zum Erliegen; matt, bis zur Verzweiflung. Und da war niemand, dem er sich entdecken, der über seinen Gram mit ihm Eins werden, gemeine Sache mit ihm machen, ihn verbergen, ihn beschirmen, ihm Zuflucht geben konnte. Er mußte sich als einen Geächteten ansehen, dem die Flucht unmöglich gemacht war.
Am ärgsten folterte ihn der Gedanke an Allwina.
Daß er sein Herz von Henriette abgerissen hätte: Es war unmöglich, daß sie es begriffe, es ertrüge. ... »Arme unglückliche Allwina! – – Unseliger Woldemar – Welch ein Fluch bist du geworden!«
Ohne alle Vorbereitung durfte er das holde Weib nicht lassen. Aber – Wie sie vorbereitet werden müsse? Darüber konnte er zu keinem Entschlusse kommen.
Ein Posttag verstrich nach dem andern. Er hatte hundert Entwürfe zu Briefen gemacht, aber bey der Abfertigung ergriff ihn jedesmal ein Schrecken, der ihn das Geschriebene zurückhalten ließ. Mit Angst und Eile wurde nun ein neuer Brief zu Stande gebracht; und die mancherley Gewalt, die er sich dabey anthun mußte, die mancherley und schwere Pein, die er dabey litt, richtete sein Inneres vollends zu Grunde.
Endlich kam der Tag, an welchem zum letztenmale an Allwina geschrieben werden konnte; sie war im Begriff ihre Rückreise anzutreten.
Was alles in Woldemars Seele damals vorging, läßt sich nicht beschreiben. Sein Brief sollte am Vorabend fertig seyn. Um Mitternacht war noch keine Zeile geschrieben. Er wurde gewahr, daß seine Gedanken und Empfindungen sich nur immer mehr verwirrten.
Voll Verzweiflung sagte er endlich zu sich selbst: – Ich will schreiben – dürre hinschreiben was ist!
Schrieb – und floh, da er geschrieben hatte, vor den Zügen seiner eigenen Hand.
Hastig begrub er hierauf sich in sein Bette, wo erst nach langem vergeblichen Sehnen ein betäubender schwerer Schlummer ihm die lästige Besinnung nahm.
Diese überfiel ihn, wie ein Todfeind, am Morgen. Er entsetzte sich vor dem Daseyn des Wesens, dessen Gefühl sein eigenes Gefühl war. Zweymal gelang es ihm, in die Betäubung, die ihn verlassen hatte, wieder zurück zu sinken. Zum drittenmal konnte er sein Erwachen nicht überwältigen. Er hoffte, daß er ausser dem Bette sich müder, betäubter fühlen, eher wieder in Schlummer fallen würde, und stand auf.
Schon so nah dem Wahnsinn, daß er sich selbst nicht mehr suchte, war jetzt dieser Unglückliche; so tief schon gesunken, daß er mit sich selbst nicht mehr haderte, sondern sich für edel hielt und gut, unterliegend allein seinem Schicksal, dem er nachgeben mußte, womöglich, ohne Murren!
Mit andern Leiden war in Henriettens Seele unterdessen Heiterung gekommen, und Muth, und neue Kraft, und, mit noch mehr Ergebung, Hoffnung.
Sie hatte am vorigen Tage Woldemar früh verlassen, abgerufen durch eine dringende Botschaft von ihrer Schwester Luise.
Henriette folgte ungern, denn der äusserste Zeitpunkt, den sie sich gesetzt hatte, Woldemar zu einer vollständigen Erklärung mit Gewalt zu nöthigen, war gekommen: diesen Abend sollte der gefährliche, ihr so fürchterliche Versuch unternommen werden. Alle ihre Kräfte hatte sie aufgeboten, in der Stille gesammelt, und die nöthige Fassung errungen. Deswegen schrieb sie Luisen um Aufschub, wenn es möglich wäre, bis zum andern Morgen in der Frühe.
Luise antwortete: Henriette müßte augenblicklich kommen; was sie ihr zu sagen hätte, litte keinen Verzug.
Es war die Beichte ihrer Unvorsichtigkeit, die sie ablegen wollte: wie sie ehmals, von Woldemar überrascht, ihm das Geheimniß von Henriettens Angelobung an Hornichs Todtbette offenbart hatte.
Luise war erst seit kurzem hierüber unruhig geworden; sie hatte nie vorher daran gedacht, daß zwischen dieser Begebenheit und dem, was jetzt mit Woldemar vorging, einiger Zusammenhang seyn könnte. Die erste Ahndung hievon durchbohrte ihr das Herz. Sie eilte zu Caroline, die ihr Trost einsprach, aber zugleich sie nachdrücklich ermahnte, Biderthalen die Sache nicht länger zu verheimlichen.
Luise wäre lieber in den Tod gegangen, aber sie gehorchte.
Biderthals Bestürzung war entsetzlich! Gleich einem Unglücklichen, der, aus einem tiefen Schlaf erwachend, sein Unglück nur geträumt zu haben wähnt; und es wahr findet – größer und schrecklicher, je mehr er zur Besinnung kommt: so erschien jetzt Biderthalen, was ihn bis dahin geängstigt hatte, wie ein Spiel der Fantasie, gegen die Gewißheit, die er nun zum erstenmal empfand. Fürchterlich klar war ihm alles; er wußte keine Rettung. Nur ein Fünkchen Hoffnung – das schimmerte noch, glimmte: Er konnte endlich, wie er selbst überzeugt war, auch Henriette überzeugen; durch sie war vielleicht noch Hülfe möglich.
Er lief zu Dorenburg, der auch heftig erschrak, und einstimmig mit seinem Freunde dafür hielt: es müßte diese wichtige Nachricht Henrietten unverzüglich mitgetheilt werden.
Henriette kam.
Unten in Biderthals Hause wurde ihr gesagt, daß auch Dorenburg und Caroline oben wären. Dieß hemmte ihren Schritt.
Sie hatte genug gemerkt, daß Biderthal nicht länger seinen Gram vor Dorenburg und ihren Schwestern hatte verbergen können, und war anfangs wegen der Folgen dieser vertraulichen Mittheilung ängstlich besorgt gewesen. Da aber nichts erfolgte; alle sich ruhig verhielten, und Biderthal seitdem gelassener schien: so genoß sie die Erleichterung gern, welche Biderthal, nicht sich allein, sondern auch ihr verschafft hatte.
Nun fürchtete sie, man würde auf einmal desto gewaltsamer in sie dringen wollen. Bebend öffnete sie die Thür. Sie wunderte sich, beym Eintritt ins Zimmer, Luise nicht bey den übrigen zu finden, und wollte eben nach ihr fragen, als diese aus dem Nebenzimmer, weinend und schluchzend, auf sie zustürzte, Verzeihung flehte, an ihrem Halse sich verbarg, und in der äussersten Verwirrung ihr Bekenntniß ablegte.
Henriette wußte nicht wie ihr geschah; alles zitterte an ihr, so daß sie Mühe hatte sich aufrecht zu halten. Von Luisens Vortrag hatte sie so viel als nichts verstanden. Nach und nach erhielt sie Erläuterung, und erkundigte sich nun genau nach dem Zeitpunkt der Begebenheit.
Nachdem Luise ihr diesen bedeutet, sie selbst hierauf einige Augenblicke sich besonnen hatte, erheiterte sich ihr Gesicht. Ihr wurde, auf eine andre Weise als Biderthalen, nun auf einmal alles klar. Woldemar war beleidigt; sie selbst hatte gefehlt; es ließ sich denken, wie er an ihr hatte irre werden können; mehr als denken, wie sein Mißtrauen und seine Vorwürfe nachher mit jedem Tage hatten zunehmen, sich vervielfältigen und häufen müssen, bis der höchste Grad des Unwillens da war, und Verzweiflung ihn ergriff. Dieß alles stellte in einem Augenblick sich Henrietten dar, und sie rief aus, einmal über das andre: Gottlob! Gottlob!
Dieß waren so viele Donnerschläge in Biderthals Ohr. – Gottlob! rief sie aus! Gottlob, bey einer Nachricht, welche sie vernichten sollte? – Lag ihr etwa nur daran, mit Woldemar sich wieder zu versöhnen? – War ihr Jubel diese Aussicht? Kalt fuhr es ihm durch alle Glieder. Seine lange finstre Schwermuth, sein bitterer Gram, wurden in diesem Augenblick erstickende Verzweiflung. Leichenblaß saß er da mit starrem Auge und gelähmter Zunge.
Plötzlich wurde Henriette seine Blässe gewahr. Sie sprang auf, fiel ihm zu Füßen, rief: Biderthal, Sie irren! O, ruhig, Biderthal! Hören Sie mich! ...
Es war ihre letzte Kraft. Sie sank nieder, wie todt.
Biderthalen schmolz das Herz; und während er mit den Uebrigen beschäftigt war, Henriette wieder zu sich zu bringen, träufelten dicke Thränen aus seinen Augen.
Da die Ohnmächtige anfing wieder Leben zu zeigen, führte Dorenburg ihn aus dem Zimmer. Sie aber hatte kaum die Augen aufgeschlagen, als sie unruhig sich nach Biderthal umsah, und ihr Verlangen, daß er wieder kommen möchte, bezeigte. Da ihre Schwestern zauderten, wollte sie selbst aufstehen. – Ich bin schon wieder wohl, sagte sie; mir ist nur angst um Biderthal: laßt mich zu ihm. – Luise ging und holte die Männer.
Biderthal strengte alle seine Kräfte an, um den Aufruhr in seiner Seele zu mäßigen. Er trat zu Henriette, und sie faßte seine beyden Hände in die ihrigen. »Nur noch einmal, liebster Biderthal, sagte sie, nur dieses eine Mal noch so viel Vertrauen, daß Sie mich geduldig anhören! Ich schwöre Ihnen, Gott hilft uns, Gott will uns helfen; wir alle sind bald wieder froh.«
Bey dem Worte: Vertrauen, flossen Thränen über Biderthals Wangen; bey den Worten: Gott hilft uns, erblaßte er. Er machte sich los von Henriette, kehrte sich um, und ging nun, die Hände ringend, im Zimmer auf und nieder.
Niemand vermochte ihm zuzureden. Einzelne Worte, die er mit dumpfer Stimme aussprach, vermehrten die schauerliche Stille.
Dorenburg trat zu seinem Freunde, ging, ihn umfassend, mit ihm auf und nieder, suchte ihn zu trösten, ihn aufzurichten.
... »O, wie habe ich nicht, sagte Biderthal, wie habe ich in diesen trüben Tagen mich nicht an allem schon versucht – ohne Hülfe! – Alles, alles versagte mir.
»Ich habe tief, tief, tief das Elend, das Nichts der Menschheit empfunden.
»– Ich blickte gen Himmel – Beten? ... Wohin beten? Wohin?
»Vor wem ringt der Wurm sich hier im Staube? Wäre Erhörung: sie käme meiner Augst zuvor – der Mensch wäre anders als er ist – wahrlich, er wäre anders! ...
»Was will der Gott mit dem Wurm im Staube, mit seiner unheilbaren Angst? – Was will der Unbegreifliche so unbegreiflich? – Diese dicke schwere Finsterniß, und dieses mannichfaltige, unendliche, gräßliche Unvermögen: Wozu?
»... O, ich hätte gelästert, wäre nicht der Gedanke mir zu Hülfe gekommen – Aus dem Innersten der Seele stieg er auf! – Der Gedanke: Wie unser Murren, das eine Vorsehung läugnen will, dennoch für sie zeugt, indem es, sie vermissend, sie am heftigsten in Anspruch nimmt.«
Engel des Himmels umgeben dich! rief Henriette, indem sie auf ihn zuflog, und ihn fest in ihre Arme schlang.
»Lieber! ich habe gemurrt wie du; bin auch, wie du, der Lästerung nahe gewesen, und zeuge nun, mit dir, aus vollem Herzen für ein Wesen, das es besser mit mir meynen muß, als ich es mit mir selbst zu meynen verstehe. Das Geringere kann nicht das Höhere erzeugt haben; unsre sehnsuchtsvollen Gedanken sind Kinder eines edleren Vaters, sind Kinder der Macht und der Verheißung. Jene Vorsehung, die der arme Mensch, der hier nur auf der untersten, der ersten Stufe der Besinnung steht, in Anspruch nehmen kann, muß Göttlich vorhanden seyn, außer ihm, über ihm, mit ihm! – Auch mit dir, frommer Biderthal; mit mir; mit uns allen!«
Ein lindernder Balsam floß mit dieser Rede auf des guten edeln Mannes zerrissenes blutendes Herz.
Rede weiter, sagte er mit sanfter liebender Stimme zu Henriette. Ich fühle, du hast bessere Kunde als ich; ich will dir glauben, mit dir hoffen – O, rede!
Verzeiht, sagte Henriette! Euch alle habe ich erschreckt mit meinem Ausruf, den ihr nicht verstehen konntet. Das bedachte ich nicht. Da ich es bedachte, erschrak ich mehr als ihr Alle.
O, Gott, Ihr Lieben, wo soll ich anfangen, euch von mir zu erzählen, zu bedeuten?
Biderthal hat euch seine gräßlichen Sorgen entdeckt; er wird euch auch gesagt haben, welch Entsetzen mich ergriff, da ich sie zuerst erfuhr. Ich war und blieb überzeugt, daß er irrte, sich an Woldemar betröge. Aber ich selbst konnte dem Geheimnisse nicht auf den Grund kommen. Ich sah, ich erfuhr Dinge, die ich für unmöglich gehalten hatte. Es wurde sehr finster um mich! Und ich erlebte Stunden des Unmuths, worin das Unmöglichste mir nicht mehr unmöglich schien. – Nur Stunden; nur Augenblicke vielleicht, die mir Stunden däuchten – Sie waren fürchterlich! ...
Ihr Männer begreift die Qualen nicht, die ein gutgeschaffenes weibliches Herz am unerträglichsten foltern.
Luise, sage du es Biderthalen, wie dir seyn würde, wenn nur ein Schatten von Furcht dich anwandeln könnte – Entsetze dich nicht! – Ein Schatten der Furcht! es keime, zum Beyspiel in Dorenburg, oder es entwickle sich in ihm eine leidenschaftliche Neigung zu dir ...
Du erschrickst, und zürnst, wirst roth und bleich – zürne nicht und tadle mich nicht. Ich bedarf deines Zeugnisses darüber, daß in einem solchen Falle das lebhafteste Gefühl deines Unwillens sich wider dich selbst kehren würde; du würdest dich durch die Wirkung, die von dir ausgegangen wäre, wie unschuldig du auch daran gewesen, für verunreinigt halten, und die tiefste Demüthigung empfinden.
Diese Art zu leiden ist den Männern, die überall nur von sich abzuwälzen suchen, fremd.
Ich wäre vergangen, wenn Biderthals schreckliche Sorge je meine eigene geworden wäre; wenn ich nicht in mir selbst, bey jeder Anwandlung, über sie gesiegt, und auf Woldemars schöne Seele immer von neuem geschworen hätte. – Dennoch habe ich unsäglich gelitten ...
Ich hatte mich auf heute gefaßt gemacht, Woldemar zu einer vollständigen Erklärung zu nöthigen, ihm mit Gewalt Licht über sich selbst zu verschaffen. Die Ausführung wurde durch Luisens wiederholte dringende Botschaft verhindert – so glücklich! Denn wie leicht wird mir nun mein Geschäft, da ich Verzeihung zu suchen, ein Bekenntniß abzulegen habe; da ich die größte Schuld auf mich selbst legen darf. Dieß zusammen schwebte mir vor in einem Nu, ergriff mich; ich mußte ausrufen, Gottlob! Gottlob! – O daß ihr schon mit mir ausrufen könntet! ... Ihr werdet bald!
Allen klopfte das Herz, und selbst Biderthal getraute sich nicht, Henrietten zu widersprechen. Aber er seufzte tief, und es war auf den Gesichtern der übrigen zu lesen, daß sie mehr mit ihm, als mit Henriette fühlten.
Sie fuhr fort:
Unsere Ansichten sind verschieden; scheut euch nicht, mir zu widersprechen, und mir alles, was ihr auf dem Herzen habt, rein heraus zu sagen. Mein Gemüth ist nun frey; ich werde ruhig anhören, ruhig auf alles antworten können. Nichts hält, nichts bindet mich mehr, daß ich euch nicht dürfte in meiner Seele lesen lassen, wie ich selbst darin lese. Versucht es; der Versuch wird euch Muth machen; wir werden uns verstehen und Eins werden.
Dorenburg erwiederte: Wir haben zusammen Biderthalen so lange widersprochen, und seine ärgste Furcht ihm zu benehmen gesucht, sie ihm wirklich auch zum Theil benommen, als Luise mit ihrer Beichte zurück hielt. Wir verstummten, nachdem sie gesprochen hatte. Die entgegengesetzte Wirkung dieser Entdeckung auf Sie, liebe Henriette, ist begreiflich. – Wenn Sie nur nicht zu viel hoffen!
Was Sie eben von der Eigensucht der Männer und der entgegengesetzten Tugend gutgeschaffener weiblicher Seelen sagten, ist eine überaus wahre Bemerkung. Euch ist die Liebe des Sittlichen, Billigkeit, Verläugnung, Demuth, gewissermaßen natürlich; so wie uns die heftige Begierde, Stolz, Härte, Ungerechtigkeit. Dieß letztere bedenken Sie vielleicht in diesem Augenblicke nicht genug, wissen es wohl auch noch nicht genug. Sie vertrauen der Energie des Sittlichen, nach der Empfindung davon in ihnen selbst, und haben deswegen immer von neuem auf Woldemars schöne Seele geschworen. Doch gestanden Sie auch schon, daß Sie an ihm erfahren hätten, was Sie ohne diese Erfahrung für unmöglich halten würden. Könnte nicht auch diesen Erfahrungen etwas zum Grunde liegen, was Sie nicht einmal zu ahnden im Stande sind; vielleicht ein Gewebe von Gemüthsbewegungen, dessen geheime tiefe Kunst oder Zauberey über unser aller Begriff ist? Ich denke mir die Sache minder einfach als Biderthal, und bin deswegen jetzt noch besorgter, vielleicht, als er.
Ich kann Sie nicht widerlegen, antwortete Henriette, denn es ist wahr, daß ich mich allein auf die Energie des Sittlichen bey Woldemar verlasse; und eben so wahr, daß er sich in einem Zustande heftiger Leidenschaft befindet, der gewiß sein Inneres schon sehr zerrüttet hat, und gefährlich genug seyn mag.
Aber ich verlasse mich auf jene Energie nicht bloß nach der Empfindung, die ich in mir selbst von ihr habe, sondern nach der Anschauung, die mir in Woldemar von ihr geworden ist. Ich glaube an des Mannes Tugend. Eine solche Zuversicht läßt sich eben so wenig darstellen, als mittheilen – Ich muß sie wenigstens bekennen.
Sie peinigen mich, gute Henriette! rief Biderthal, mit bewegter Stimme. Sie zwingen mich wider Woldemar zu reden, zwingen mich zu sagen, daß ich nicht an seine Tugend glaube.
Gut geschaffen ist Woldemar, wie kein anderer Mann, den ich kenne; aber nach Tugend hat er vielleicht nicht einmal gestrebt – Ich möchte sagen, er glaube nicht einmal an eigentliche Tugend.
Erwägen Sie seine beständige Lehre: Gerecht, tugendhaft, edel, vortrefflich sey, was der gerechte, tugendhafte, edle, vortreffliche Mensch, seinem Charakter gemäß, ausübe, verrichte und hervorbringe; einen andern Grund hätten diese Begriffe nicht; das edlere Gemüth erzeuge sie aus sich, und erkenne kein höheres Gesetz, als seinen besseren Trieb, seinen reineren und höheren Geschmack; – Oder: Wie das Kunstgenie, durch den Eindruck seiner Werke, der Kunst Muster und Gesetze gebe; so das sittliche Genie, der Freyheit. Daher seine Verachtung der öffentlichen Meynung, sein stummer Trotz – daher, ich muß es aussprechen – sein Hochmuth, der ihn zu Fall brachte.
Mit zurückgehaltenem Weinen, strahlend zugleich von Würde, erwiederte Henriette: Ja er ist gefallen; aber die Tugend an die er wahrlich glaubt, und die ihn nicht verlassen kann, wird ihn höher wieder aufrichten.
Biderthal! Sie fanden vor einiger Zeit ein Buch bey mir, und zeigten mir eine darin angestrichene Stelle. Ich fand auch ein Buch bey Ihnen, und darin eine Stelle, die war nicht angestrichen: sie drang in mein Innerstes.
»Niemand,« las ich, »Niemand kann beständig seyn, es gebe es ihm denn Gott.«
Dieses Zeugniß legt Petrarka in seinen Bekenntnissen ab.
So hat Woldemar noch nicht bekannt, noch nicht gezeugt; noch verläßt er sich auf sein Herz, und ist ein Thor. Er ist, wie Biderthal richtig bemerkte, so glücklich geschaffen, die Lust am Guten und Schönen ist in ihm so groß, so lebhaft, so überwiegend, daß er leicht verführt werden konnte, diese Lust für Tugend, und sich, durch diese Tugend, für stark genug zu halten.
Alle Menschen pflegen minder oder mehr sich an Empfindungen zu hängen, von denen sie glauben, daß sie in ihnen selbst, oder in Andern, dauern werden; und finden sich betrogen. Einige, die sich klüger dünken, suchens im Verstande, und meynen, mit Begriffen ließe das Lebendige sich wohl einbalsamiren, und diese Mumien wären keine Leichen. Aber so wenig sich Gefühl in uns oder Andern nach Gefallen anzünden, auslöschen, mindern und mehren läßt; so wenig und noch viel weniger will es gelingen, des Gefühls mit Hülfe der Begriffe zu entrathen. – Wie entgehen wir also der Vergänglichkeit in unserm Thun und Dichten? Wie retten wir unser Selbst; wie das Selbst derer, mit denen wir Ein Herz, Eine Seele auszumachen streben?
So hat Woldemar früh schon gefragt, früh sich müde gesucht nach dem Wege zu jener Freystätte der Weisheit, wo der Mensch immer dasselbe will und dasselbe nicht will, immer nur Einerley suchet und meidet, und jedesmal halten kann, was er sich selbst und andern versprach.
Keine Heerstraße war dahin gebahnt; das erfuhr er bald: obgleich Millionen Stimmen das Gegentheil versicherten. Doch waren Zugänge, das wußte er; auch hatte er, vornehmlich aus Fußtritten der Alten, eine Kunde von der Richtung. Verirren aber konnte er, und verirrte. ...
»Auf dem gefährlichsten aller Abwege!« fiel mit Heftigkeit Biderthal ein, – »auf dem Abwege des hartnäckigsten und geflissentlichsten Eigendünkels?
Wahrlich, fuhr Biderthal fort – jene Antwort des Delphischen Orakels auf die Frage: Wie man sich den Göttern wohlgefällig machen könne? – jene vom Orakel mehrmals wiederholte, und von Sokrates und Mark Aurel gepriesene Antwort: Nach den Gesetzen deiner Stadt! – leidet, fodert eine weitere Anwendung, als nur auf Religionsgebräuche!
Was die allgemeine Stimme unserer Mitbürger als gut und schön empfiehlt, und wovor sie, als Bösem, warnt, das soll man, wenn nicht klare Gesetze der Sittlichkeit dawider sind, dafür gelten lassen; jenes suchen, dieses fliehen.
Nichts ist gefährlicher, als eigenes Gutfinden über die allgemeine Stimme zu erheben; nichts heilsamer, als Gehorsam und Unterwerfung. Viel besser, wir bequemen uns nach unschuldigen, wenn auch thörichten Gebräuchen und Vorurtheilen, und glauben jedem andern Menschen, als daß wir nur uns selbst folgen, nur uns selbst anhören und glauben.
Du vertrauest Woldemars schöner Seele. Gerade dem, was du so nennst, mißtraue ich im höchsten Grade; es verführt ihn, schwächt ihn, treibt ihn herum auf einem gränzenlosen Meere, hat ihn zum Schwärmer – Ach! zu einem unseligen, unheilbaren Fantasten und Sophisten gemacht.
Du wirst heftig und übertreibst, sagte Dorenburg; übrigens bin ich sehr deiner Meynung. Woldemar ist ein geistiger Wollüstling; und ob er gleich nur höheren Lüsten nachhängt, so sind es doch Lüste: und wer nur in Lüsten lebt, verdirbt.
Was ein Mensch von Natur Gutes, Vortreffliches, zumal Schönes an sich haben kann, ist Woldemarn in einem nicht gewöhnlichen Maaße zu Theil geworden, und er hat, wahrscheinlich, von Jugend auf, wenig Anlaß gehabt, gegen seine Empfindungen, Gemüthsbewegungen, Neigungen mißtrauisch zu werden. Deswegen hat er nicht genug sich selbst kennen gelernt, hat die jedem Menschen so nöthige strenge Zucht entbehrt, und – verschmäht sie. – Gehorsam, wie du scharf und richtig bemerktest, eigentlicher Gehorsam ist nicht in ihm. Er hat seine ganze Kraft allein auf die Ausarbeitung seiner eigenthümlichen Sinnesart verwendet; und es bedurfte auch weiter nichts als einer solchen Ausarbeitung, damit der Trieb zum Guten und Schönen, als der herrschende, in ihm hervorkäme; der Mann ist wirklich schön und gut geworden.
Leider! ist mit Schönheit der Reiz zur Eitelkeit verknüpft; und mit Freyheitsgenuß, Stolz; ja, was noch weniger seyn sollte, Herrschsucht. Jeder aber, der nur seinem Hange folgen darf, dünkt sich frey, und edel vor seinen Brüdern, über die ein anderes Gesetz waltet, als der eigene Trieb ihnen gab.
Jetzt drückt und unterdrückt der gute Woldemar sich selbst; sein eigener Wille verwirrt ihn, reibt ihn auf; sein eigenes Recht bringt ihn um.
Ich finde nicht, sagte Henriette, daß ihr Beyde mir sonderlich widersprochen habt – Laßt mich ausreden!
Woldemar empfindet lebhaft und tief, und jede Empfindung, die er freywillig in seine Seele aufgenommen hat, scheint unauslöschlich darin zu haften. Bis auf einen gewissen Grad kann jeder Mensch seine Empfindungen verstärken, und ihnen einen Nachdruck geben, wodurch er sie wie neu gebiert, sie zu Geschöpfen seines Willens macht, und dauerhafter mit seiner Person vereinigt. Diese gemeine Gabe erhielt in Woldemar eine nicht gemeine Anwendung. Die von Natur schon wohl angezogenen Saiten seiner Empfindung, gaben bey der zartesten Berührung einen so hellen reinen Klang von sich, und tönten so lange nach, daß er unwillkührlich zum Nachsinnen über eine noch reinere Stimmung erweckt und hingezogen werden mußte. Er ergründete diese Stimmung, lernte ihren Gebrauch, und wurde seines Herzens in einem ausserordentlichen Grade mächtig.
Allmählig entwickelte sich in ihm der Gedanke, der Glaube – wie nenne ichs am besten? – es wären die menschlichen Empfindungen, – Neigungen und Affecten, nicht durch ihre eigene Natur so unzuverlässig und vergänglich, als sie im gemeinen Leben uns erscheinen; sondern sie würden es durch unsere eigene Schuld, durch Nichtachtung und Leichtsinn.
Ihn täuschte seine eigene wahrhaft schöne Kunst: er betrog sich an der Freythätigkeit, wodurch er sie hervorgebracht hatte, und die er nun, durch eben diese Kunst, hinwieder zu vermehren wußte. Er schloß aus einem minder Vergänglichen, minder Zufälligen in ihm, auf ein mögliches Unvergängliches, wahrhaft Ewiges, das der Mensch in seinem Gefühl erzeugen, und woran er, wie an einen Gott, in seinem Thun und Dichten, Leiden, Streben und Meiden, sich halten könnte.
Recht hat sich diese Idee erst während seines Aufenthalts bey uns, durch neue Erfahrungen, Beobachtungen und Versuche in ihm entwickelt. Ihr wißt, welche Mißverständnisse sich bald ergaben, und wie euch Woldemar beschuldigte, ihr übertriebet seine Maximen und ginget irre. Biderthal scheint dieß bey den Vorwürfen, die er Woldemarn eben machte, vergessen zu haben; wiewohl sich auch zur Noth behaupten ließe, sie träfen an der Seite, die Biderthal angriff, Woldemar so gut, als dieselben Vorwürfe euch an der damals von Woldemar angegriffenen Seite trafen.
Jene Irrungen waren unerheblich und bald geschlichtet. Doch hatten sie auf Woldemar so viel gewirkt, daß er seitdem mehr an sich hielt, geheimer und noch mehr allein mit seiner Muse lebte. Die Wahrheit ihrer Gesänge zu prüfen, war in ihm eine verborgene Sehnsucht, deren mannichfaltige Aeußerungen er selbst noch nicht verstand. Er bedurfte einer gleichgestimmten freundschaftlichen Seele, um gewiß zu werden, seine Weisheit sey kein Gedicht. Es gelang ihm, sich wenigstens mit einer Erscheinung dieser Art zu täuschen; und nun hängte er sich an diese Erscheinung, wie an den Bürgen seiner Glückseligkeit, seines Werths, seines eigentlichen Daseyns.
Ich habe ehrlich mit ihm geschwärmt, und muß es darum verzeihlich finden, daß er allmählig jede Zuversicht, mehr aus der Freundinn Seele, als aus seiner eigenen schöpfte. Fürchterlich muß die erste leiseste Anwandlung eines Zweifels an mir den Mann erschüttert haben! Er empfing eine Wunde, die von selbst nie wieder heilen konnte; sie mußte unter sich fressen, und in ein tödtliches Geschwür ausarten.
Und Ihnen, fiel Dorenburg ein, ist wegen dieser tödtlichen Krankheit doch nicht bange?
Mir ist nicht bange, erwiederte Henriette, weil ich von Woldemars Uebel mit ergriffen wurde, und nun gewiß bin, ihm auch meine Genesung mitzutheilen. Die Verzweiflung, die ihn martert, wollte auch mich zu Grunde richten. Schon war aus meinem Herzen aller Glaube, alle Zuversicht entflohn.
So fühlte ichs –aber so war es nicht.
Und was nun auch für Verschiedenheiten, allgemeine und besondre, zwischen Woldemar und mir statt finden mögen; denkt sie euch so groß und mannichfaltig als ihr wollt; lasset, was euch nur beliebt, in ihm vorgegangen seyn: es soll alles gelten; auch das Aergste – selbst Biderthals gräßlicher Verdacht soll wahr und gegründet seyn: Ich behalte dennoch Muth!
Denn ich weiß, es ist der Menschheit eine Kraft verliehen, die, in einem Manne wie Woldemar, der selbst schon so oft sie in sich aufgerufen hat, nur darf wieder aufgerufen werden, und er hat gesiegt.
Henriette! sagte Biderthal, liebe, gute Henriette! – Du bist sehr hochfliegend! Gram und Betrübniß haben mich gebeugt; ich kann dir nicht nachfliegen. – O Demuth! Demuth!
Demüthig, antwortete Henriette, ist jeder Aufrichtige. Nur der Heuchler kann lange stolz seyn; und gewiß ist jeder Stolze auch ein Heuchler.
Aber die Aufrichtigkeit, womit Demuth verknüpft ist, macht uns darum nicht feig. Sie erfodert vielmehr, und gebiert hinwieder den größten Muth. Von diesem Muthe redete ich; und ich weiß, er ist in euch Allen. ...
Schwestern! – sie ergriff mit der einen Hand Caroline, mit der andern Luise – – Schwestern! helft mir noch einmal wider diese verstockten Männer zeugen! Sagt ihnen, daß Etwas im Menschen ist, was er nicht aufzuopfern vermag; – und noch Etwas, was ihm die Aufopferung verbietet, wenn er sie auch beschließen könnte. Oft leiden wir unsäglich, und könnten von diesem unsäglichen Leiden uns befreyen; aber eine wunderbare Kraft in uns widersteht, läßt es uns nicht zu. – Wir fühlen, daß wir diesem Wesen in uns mehr als uns selbst zugehören – und fühlen auch wieder, daß eben dieses Wesen unser eigenstes, innerstes Wesen ist. – Treffen uns Vorwürfe aus und in diesem Innersten, so ist es ein Schmerz, der an Empfindlichkeit jeden andern übertrifft – Nicht Schmerz, nicht Furcht – Was ist es dieses Unerträgliche, Wunderbare? ...
Sie stockte. Luise senkte sich herab an ihrer Seite, und Caroline rückte näher und schmiegte sich dicht an sie.
Henriette hub von neuem an: Und dieß zu erfahren in einem Wesen, das man über alles liebt; aus welchem man sein bestes Daseyn – alles Daseyn nimmt; ohne welches man nicht leben möchte – nicht leben könnte; dessen Würde ...
Sie erblaßte, und himmlisch verklärte im Erblassen sich ihr Angesicht; helle Thränen rollten ihr über die Wangen; mit bebender, kaum vernehmlicher Stimme fuhr sie fort:
... Ich habe – seinen Tod wünschen können! – Seinen Tod! ...
Aber daß ich das konnte: davon ist mir ein neuer Tag, eine neue hellere Aussicht geworden.
Auch die Männer fühlten sich erschüttert. Dorenburg wendete sich mit Blicken voll Rührung gegen Biderthal – reichte ihm die Hand. – Mit zärtlicher Heftigkeit ergriff sie Biderthal. Beyde standen auf, traten zu Henriette, umarmten sie, weinten mit ihr.
Es war eine schöne Stille, welche aller Herzen in diesem Augenblick vereinigte; alle mit demselben Trost, denselben Hoffnungen erfüllte, ihren Geist aufrichtete, und mit einer neuen unaussprechlichen Zuversicht erquickte.
Sie wünschten nun insgesammt, daß es heute noch zu einer Erklärung zwischen Woldemar und Henriette kommen möchte. Leider! war es dazu schon viel zu spät am Abend; man mußte bis morgen sich gedulden. Auch fand Henriette nöthig, daß sie zuvor sich wieder sammelte, ausruhte, und, zu dieser schweren Unternehmung, von neuem sich in die beste Fassung setzte. – »Vorerst, sagte sie, muß ich mich hier auf der Stelle noch mehr erholen; wir müssen beysammen bleiben, und uns auf eine recht gute Nacht besinnen, die wir beym Auseinandergehn uns nicht bloß wünschen, sondern wirklich mitgeben.
»Aber wie fangen wir es an, daß wir dazu stille genug, und nicht zu stille werden? – Ich wüßte Etwas ...
»Gewiß erinnert ihr euch noch eines merkwürdigen Gesprächs bey Woldemar, über menschliche Ohnmacht und Größe. Man wollte untersuchen: Was die Seele stark mache; was für ein Gegenstand das sey, den der Tugendhafte sich vor Augen halte; überall sich vor Augen halten könne, so, daß er damit alles überwinde und ausrichte; vordringend – eigentlich zu welchem, zu was für einem Ziele?
»Die Untersuchung wurde durch eine Vorlesung unterbrochen, auf die wir eigentlich zu Woldemar geladen waren. Es war sein Auszug der Geschichte Agis und Kleomenes. – Wie uns allen wohl dabey wurde, und wir hernach nicht weiter grübeln mochten, habt ihr nicht vergessen. Mir däucht, es wäre schön, wenn wir das Andenken jener wohlthätigen Stunde heute mit einander feyerten. Biderthal hat eine Abschrift dieses Auszugs; er soll sie holen, und ich lese vor. Auf diese Weise unterbrechen wir uns, ohne uns zu stören oder zu zerstreuen; wir werden uns im Gegentheil dabey noch inniger zu einander versammeln, neue Stärke und neue Fülle erhalten.«
Nicht gleich fand Henriettens Vorschlag Beyfall. Am meisten sträubte sich Biderthal: – »Er könnte unmöglich zuhören; unmöglich die geringste Aufmerksamkeit haben: der bloße Gedanke daran wäre ihm peinlich – Er begriffe Henrietten nicht ...«
Ich begehre keine Aufmerksamkeit von Ihnen, erwiederte diese; Sie brauchen nicht einmal zuzuhören; Sie sollen nur dasitzen, als wenn Sie zuhörten – Ich sagte, eine Stunde: es wird kaum eine Viertelstunde dauern – So viel können Sie wohl mir zu Gefallen thun.
Biderthal holte die Handschrift. Man setzte sich um Henriette, und sie hub mit leiser Stimme an zu lesen:
»Ein großherziger Jüngling, Agis, König zu Sparta, sah mit tiefem Schmerz das Verderbniß, worin seine Mitbürger gerathen waren, und wollte ihnen, durch Herstellung der Lykurgischen Einrichtungen, Gleichheit, Freyheit und Tugend wiedergeben.
»Die unüberwindlichsten Hindernisse legte ihm sein Mitkönig, Leonidas, in den Weg. Dieser wurde verbannt, und Kleombrotus, des Leonidas Tochtermann, an seiner Stelle König.
»Dennoch konnte Agis nicht durchdringen. Leonidas kehrte zurück, am heftigsten wider seinen Tochtermann ergrimmt. Von seiner Wache umgeben drang er in den Tempel des Neptun, wohin Kleombrotus sich geflüchtet hatte, und machte ihm die bittersten Vorwürfe darüber, daß er, sein Schwiegersohn, sich wider ihn empört, ihm die Krone geraubt, und aus seinem Vaterlande ihn verbannt hätte.
»Kleombrotus wußte auf diese Vorwürfe nichts zu antworten; er saß beschämt und schweigend da. Seine Gemahlinn Chelonis, Leonidas' Tochter, hatte sich zuvor wider ihn auf die Seite ihres verfolgten Vaters geschlagen, und von Kleombrotus, sobald er den Thron bestieg, getrennt; ihres Vaters Unglück hingegen suchte sie, während er in Sparta blieb, durch ihre Dienste und Fürbitten zu erleichtern, und hing, als er entfloh, dem Kummer nach, und dem Unwillen über die Ungerechtigkeit und Härte ihres Gemahls. Jetzt, da das Glück sich von diesem wandte, nahm sie auf einmal andre Gesinnungen an. Sie wich nicht mehr von Kleombrotus' Seite, vereinigte ihr Flehen mit dem seinigen, und hielt ihre Arme um ihn und ihre beyden Kinder geschlungen, wovon das eine auf der rechten, das andere auf der linken Seite in dem Tempel zu ihren Füßen saß.
»Alle Anwesende waren durch die treue Liebe dieses tugendhaften Weibes in Bewunderung und in Thränen gesetzt; da redete Chelonis, auf ihr zerstreutes unordentliches Haar und auf ihren Anzug deutend, ihren Vater mit diesen Worten an: ›Die Zeichen der Trauer, o Vater, die du hier erblickst, rühren nicht von meinem jetzigen Mitleid mit Kleombrotus her; es sind Ueberbleibsel des Kummers, womit dein Unglück und deine Flucht mich vertraut gemacht haben. Soll ich nun in diesem Zustande der Trauer bleiben, da du als Sieger und König wieder in Sparta bist; oder mich mit einem kostbaren königlichen Gewande schmücken, und in diesem Schmucke meinen Gemahl von dir ermorden sehen? – meinen Gemahl, den du selbst mir in meiner Jugend gabst, und der, wenn er dich nicht durch seiner Kinder Thränen und durch die meinigen erweichen kann, sein Vergehen härter, als du wünschest, büßen wird, weil er mich, seine Geliebteste, alsdann vor ihm wird sterben sehen. Denn wie könnte ich mich entschließen, unter meinen Mitbürgerinnen zu leben, wenn ich, als Weib und Tochter gleich unglücklich, meinen Vater und meinen Gemahl durch mein Flehen nicht mehr rühren, sie zum Mitleid gegen einander nicht bewegen kann? Jeden Vorwand zur Vertheidigung, der meinem Gemahle übrig blieb, habe ich ihm benommen, da ich auf deine Seite trat, und hiedurch wider seine Thaten zeugte. Du aber rechtfertigest durch dein eigenes Verfahren seine Ungerechtigkeit, indem du zeigst, die königliche Würde müsse etwas so großes und bestrebenswürdiges seyn, daß man um ihretwillen seine Schwiegersöhne tödten und seiner Kinder nicht mehr achten dürfe.‹
»Während dieser Klagen hielt Chelonis ihr Gesicht an das Haupt ihres Mannes gelehnt, und warf einen niedergeschlagenen, von Traurigkeit getrübten Blick auf die Umstehenden. Leonidas, nachdem er mit seinen Freunden sich berathschlagt hatte, befahl dem Kleombrotus aufzustehen und Sparta zu räumen; seine Tochter aber bat er zu bleiben, und einen Vater, der sie so zärtlich liebte, und ihr jetzt durch die Begnadigung ihres Gemahls einen neuen Beweis dieser Liebe gäbe, nicht zu verlassen. Aber Chelonis war nicht zu bewegen. Sobald Kleombrotus aufstand, überreichte sie ihm eines ihrer Kinder, das andere faßte sie selbst bey der Hand, warf sich vor dem Altare des Neptun nieder, und nach einem Gebet zu diesem Gotte wanderte sie aus mit ihrem Gemahl, welcher, wenn er nicht durch eitle Ehrsucht schon zu tief gesunken war, die Verbannung in der Gesellschaft eines solchen Weibes für ein größeres Glück halten mußte, als den Besitz des königlichen Throns.
» Agis unterlag den Nachstellungen treuloser Freunde, die Leonidas gewonnen hatte. Sie lockten ihn aus seiner Freystätte, dem Tempel der Minerva, übermannten ihn, und schleppten ihn ins Gefängniß. Leonidas eilte mit seinen Kriegsknechten schnell herbey und umzingelte den Ort. Es traten Richter auf, den Gefangenen zu verhören; sie begehrten tückisch, er sollte sich vor ihnen rechtfertigen. Der junge König verlachte ihre Heucheley. Dieß brachte Amphares auf, einen jener treulosen Freunde, die ihn verrathen hatten, und welcher als Ephor unter seinen Richtern war. Er drohte dem unglücklichen König, daß sein Lachen sich bald in Thränen verwandeln, und er die Folgen seiner Verwegenheit hart genug empfinden sollte. Ein anderer der Ephoren hingegen gab sich den Schein, als ob er, von des Agis Schicksal gerührt, ihm den Weg zur Vertheidigung bahnen wollte, und that in dieser Absicht die Frage an ihn: ob er nicht von Lysander und Agesilaus Zwey vornehme Spartaner; der letzte des Agis Oheim. Beyde waren von dem jungen Könige zur Ausführung seines Vorhabens gebraucht worden, und an dem Mißlingen desselben hatte Agesilaus durch Einmischung eigennütziger und niedriger Absichten die meiste Schuld. zu seinem Unternehmen wäre gezwungen worden? Agis antwortete: er wäre von niemand gezwungen worden, sondern bloße Verehrung für das Andenken des Lykurg, und die Begierde in die Fußstapfen dieses großen Mannes durch Wiederherstellung seiner Gesetze zu treten, hätten ihn zu diesem Unternehmen vermocht. Darauf fragte ihn derselbe Ephor: ob er denn das Gethane nicht bereue? Der junge König antwortete: Ein so schönes Unternehmen würde er nicht bereuen, sollte er auch den Tod vor Augen sehen.
»Agis wurde nun zum Tode verdammt; und die Ephoren befahlen den Gerichtsdienern, ihn in die sogenannte Dekas, den Ort im Gefängnisse zu führen, wo die zum Tode Verurtheilten erdrosselt zu werden pflegten. Als sie dahin kamen, bemerkte Agis, daß einer von den Gerichtsdienern über ihn weinte und sein Unglück bejammerte. Weine nicht, mein Freund, sagte Agis zu ihm; ich, der ich wider Gesetze und Recht die Todesstrafe leiden muß, bin weit besser daran, als meine Richter. Nach diesen Worten bot er freywillig seinen Hals dem Stricke dar. Amphares war unterdessen vor die Thüre des Gefängnisses gegangen, wo seine Bekannte und vormalige Freundinn, des Agis Mutter, Agesistrata, ihm zu Füßen fiel, und für ihren Sohn um Gnade bat. Amphares hob sie mit der Versicherung auf, daß Agis weder Gewalt noch Mißhandlung zu befürchten hätte; er ermunterte sie sogar, zu ihrem Sohne, wenn sie Lust hätte, in das Gefängniß zu gehen. Sie bat um die Erlaubniß, ihre Mutter mit hinein zu nehmen. Auch hierin, sprach er, wird dir Amphares nicht zuwider seyn. Er führte darauf beyde in das Gefängniß, schloß die Thüre desselben hinter sich zu, und übergab Archidamia, der Agesistrata Mutter, eine sehr bejahrte und von ihren Mitbürgern allgemein verehrte Frau, zuerst den Gerichtsdienern. Sobald diese ums Leben gebracht war, befahl er auch der Agesistrata, in das Innerste des Gefängnisses zu treten, wo sie ihren Sohn und ihre Mutter hingerichtet, den ersten auf der Erde liegen, und die andre noch am Stricke hangen sah. Sie selbst nahm mit den Gerichtsdienern den Leichnam ihrer Mutter ab, und nachdem sie ihn neben den Leichnam ihres Sohnes gelegt, ihn bedeckt und verhüllet hatte, warf sie sich über den Leichnam ihres Sohnes, küßte ihm das Antlitz, und rief aus: deine frommen und menschenliebenden Gesinnungen, o mein Sohn, und deine allzu große Güte und Milde haben über dich und uns dieß Verderben gebracht!
»Amphares, der an der Thüre stand, und was vorging sah und hörte, trat auf diese Worte der Agesistrata herzu, und sagte voll Erbitterung zu ihr: Wohlan, da du mit deinem Sohne gleiche Gesinnungen hegst, so bereite dich auch, mit ihm gleiche Strafe zu leiden. – Agesistrata ging von selbst dem Strick entgegen: Möge nur mein Tod, sprach sie, meinem Vaterlande nützlich seyn!
»Nach der Hinrichtung des Agis hatte Leonidas zu lange gezögert, desselben Bruder Archidamus gefänglich einzuziehen; ein Umstand, welchen dieser benutzte, mit der Flucht sich zu retten. Des Agis Gemahlinn aber, Agiatis, ließ er mit dem Kinde, das sie kurz zuvor geboren hatte, aus ihrem Hause holen, und zwang sie, seinen Sohn Kleomenes, obgleich er noch nicht mannbar war, zu heyrathen, damit sie keinem andern zu Theil werden möchte. Denn sie hatte von ihrem Vater Gylippus ansehnliche Reichthümer geerbt, war noch in der Blüthe ihrer Jugend, und übertraf an Schönheit der Gestalt und an Adel der Sitten alle Griechinnen ihres Zeitalters. Sie hatte, um der neuen Vermählung zu entgehen, Bitten und Flehen und alle andre Mittel, den Leonidas zu rühren, vergeblich angewandt. Daher haßte sie ihn tief nach ihrer Verbindung mit dem Kleomenes; in ihrem Umgange hingegen mit ihrem jungen Gemahl zeigte sie so viel Sanftmuth und gefällige Güte, daß dieser sie bald im höchsten Grade liebgewann, und ihr zärtliches Andenken an Agis sogar, das sie fortdauernd in der Seele trug, mit ihr zu theilen suchte. Er befragte sie oft um die Geschichte ihres vorigen Gemahls, und hörte ihr voll Aufmerksamkeit zu, wenn sie von seinen Absichten und Entwürfen redete.
»Kleomenes war voll edler Ehrbegier und erhabener Gesinnungen; auch gab er an Einfalt der Sitten und an Mäßigkeit dem Agis nichts nach; doch fehlte ihm die sanfte Güte und Schonung jenes Königs. Die Natur hatte in seine Gemüthsart eine Heftigkeit gemischt, die ihn zu allem, was die Gestalt des Guten trug, mit Ungestüm immer fortriß. Er hielt es zwar für vorzüglich schön, über Willige zu herrschen; aber auch für schön, gegen Nicht-Willige das Gute mit Gewalt durchzusetzen. An dem damaligen Zustande von Sparta hatte er ein tiefes Mißfallen. Die Bürger waren in Unthätigkeit und Wollust versunken; der König überließ sich dem Vergnügen, und brachte, wenn ihn niemand darin störte, seine Tage in üppiger Ruhe und in Wohlleben zu. Für das gemeine Beste war im Staat alle Theilnahme verschwunden; jeder ging nur seinem eigenen Vortheil nach, und an die alte strenge Erziehung der Jugend, an ihre Bildung zur Arbeitsamkeit, Mäßigkeit und Gleichheit, wagte niemand mehr, durch das unglückliche Beyspiel des Agis abgeschreckt, auch nur einmal zu denken.
» Leonidas starb, und Kleomenes gelangte zur Regierung. Er sah jetzt deutlicher das äusserste Verderbniß des Staats, den Hang der Reichen zum Vergnügen und zur Vermehrung ihrer Schätze, und ihre Gleichgültigkeit gegen das gemeine Beste; sah den großen Haufen, durch Dürftigkeit niedergedrückt, seines alten kriegerischen Muthes, und des edlen Wetteifers, seine Kinder mit Sorgfalt zu erziehen, beraubt. Er selbst war König bloß dem Namen nach; die ganze Herrschaft befand sich in den Händen der Ephoren. Diesen Zustand der Dinge beschloß Kleomenes durch eine gänzliche Staatsumänderung zu verbessern.
»Er hatte einen Freund, Namens Xenares, der zuvor sein Geliebter gewesen war; eine Leidenschaft der Jünglinge für einander, welche man in Sparta eine göttliche Begeisterung nannte. Die Gesinnungen dieses Xenares suchte Kleomenes zuerst zu ergründen. Er legte ihm daher über die verunglückten Absichten und Entwürfe des Agis häufig Fragen vor, und verlangte zu wissen, welcher Mittel und Gehülfen dieser König zur Ausführung seines Unternehmens sich bedient hätte. Xenares erinnerte sich anfänglich dieser Dinge nicht ungern, und ließ sich in eine umständliche Erzählung der ganzen Geschichte ein; sobald er aber merkte, daß Kleomenes dadurch für die Neuerungen des Agis in Leidenschaft und in Feuer gesetzt wurde, und auf diesen Gegenstand die Unterredung immer von neuem zu lenken suchte, so verwies er ihm zornig seine Unbesonnenheit und schalt ihn einen Thoren. Sogar brach er zuletzt allen Umgang mit ihm ab; entdeckte aber keinem aus welchem Grunde, sondern begnügte sich den darnach Fragenden zu antworten: dem Könige selbst wäre der Grund davon am besten bekannt.
» Kleomenes schloß aus diesem fehlgeschlagenen Versuche, daß es ihm mit den übrigen Spartanern nicht besser als mit Xenares gelingen würde, und nahm sich vor, seine Anschläge für sich allein auszuführen. Da er glaubte, daß eine Staatsumänderung während eines Kriegs sich weit eher, als im Frieden zu Stande bringen ließe, so suchte er, seine Vaterstadt gegen die Achäer aufzuwiegeln, wozu gerade eine schickliche Veranlassung gegeben war.
»Auf diesem Wege nun gelang es dem Kleomenes wirklich sein Vorhaben auszuführen.
»Nach einigen siegreichen Feldzügen überfiel er plötzlich die Ephoren, räumte sie aus dem Wege, und stellte in allen Theilen die alte Lacedämonische Zucht und Sitte wieder her. Diesem glücklichen Unternehmen folgten neue glänzendere Siege und ein solcher Zustand der Macht und des Ansehens für Sparta, als es kaum in irgend einer früheren Periode genossen hatte. Mißtrauen, Furcht und Neid erwachten hierüber, vornehmlich bey dem Achäischen Aratus, der lieber Griechenland unterjocht, als den Kleomenes so groß sehen wollte. Er verursachte Zwiste, nährte den Hader, und rief zuletzt den Macedonischen Antigonus wider den Herakliden Kleomenes zu Hülfe. Dieser mußte der überwiegenden Macht nachgeben. Während er sich zurückzog, um Lakonien zu decken, erfuhr er den Tod seiner geliebten Agiatis. ...
»Er hatte den Aegyptischen König Ptolemäus um Beystand angerufen, worauf dieser von ihm verlangte, daß er seine Mutter und Kinder als Geißeln schicken sollte. Dem Kleomenes fehlte es lange Zeit an Muth, seiner Mutter diese Foderung zu offenbaren. Zwar lenkte er oft, wann er bey ihr war, die Unterredung darauf ein; doch wollte es nie mit ihm zum Vortrage seines Anliegens kommen, so daß ihr seine Verlegenheit auffiel, und sie den Grund davon durch seine Freunde zu erfahren suchte. Endlich wagte es Kleomenes, und eröffnete sich ihr. ›Dieß ist also, sagte sie lachend zu ihm, was du mir zuzumuthen so lange Bedenken trugst? Schiffe uns nur geschwinde ein, und sende uns hin, wo du glaubst, daß dieser Körper Sparta noch nützlich seyn kann, ehe ihn Alter und Unthätigkeit auflösen!‹ Es wurden nun die nöthigen Anstalten zu ihrer Abreise gemacht. Nachdem man damit fertig war, begab sie sich zu Lande, unter der Begleitung des Spartanischen Heeres, nach dem Hafen zu Tänarus, wo sie, vor ihrem Einsteigen in das Schiff, in einem Tempel des Neptun, von ihrem Sohne unter den zärtlichsten Umarmungen und Küssen Abschied nahm. Kleomenes war äusserst gerührt und in Thränen. Sie warnte ihn, als sie es bemerkte: Hüte dich, o König von Sparta, sprach sie, daß niemand, wenn wir aus diesem Tempel kommen, unsere Thränen, noch irgend etwas anderes in unserem Betragen sehe, was unseres Vaterlandes unwürdig ist. Dieß allein steht in unserer Macht; unser Schicksal aber bey den Göttern! Nach diesen Worten nahm sie eine gefaßte Miene an, stieg mit ihren Enkeln zu Schiff, und befahl hierauf dem Steuermann, ohne Verzug abzufahren.
»Bey ihrer Ankunft in Aegypten hinterbrachte man ihr, daß Ptolemäus Gesandte des Antigonus mit Friedensvorschlägen angenommen hätte; zugleich erfuhr sie, dem Kleomenes wären ähnliche Vorschläge von den Achäern geschehen. Aus Furcht, ihr Sohn möchte ihrentwegen Bedenken tragen, sich ohne Vorwissen des Ptolemäus mit diesen einzulassen, schrieb sie unverzüglich dem Kleomenes: er möchte thun, was für Sparta gut und schicklich wäre, und auf den Ptolemäus, um einer bejahrten Frau und um eines Knaben willen, nicht ängstlich Rücksicht nehmen. So groß und standhaft betrug sich Katasiklea in ihrer mißlichen Lage.
» Kleomenes, nachdem er von neuem alle seine Kräfte aufgeboten und, mehr als je zuvor, Griechenland durch wiederholte große Thaten in Erstaunen gesetzt hatte, mußte, nach einem unglücklichen Treffen, bey Sellasia, sich selbst zur Flucht entschließen. Er schiffte sich zu Gythium mit einigen Freunden ein, und war schon nahe bey Cyrene, als einer seiner Begleiter, Therykion, ein Mann, der in seinen Thaten immer großen Muth gezeigt, in seinen Worten aber etwas hochfahrendes und ruhmrediges hatte, ihn bey Seite zog, und zu ihm sagte: ›Den schönsten Tod, o König, haben wir auf dem Schlachtfelde, wo er sich uns anbot, entwischen lassen, obgleich zuvor uns alle sagen hörten, daß dem Antigonus der Sieg nicht anders als mit dem Tode des Königs von Sparta zu Theil werden sollte. Jetzt bleibt ein andrer Tod uns übrig, der an Ruhm und Tapferkeit dem ersten wenig nachgiebt. Wohin schiffen wir so, ohne vernünftigen Grund? Warum fliehen wir vor dem, was uns nahe liegt, um es in weiter Ferne aufzusuchen? Denn wenn es Herakliden keine Schande bringt, den Nachkömmlingen des Philipp und Alexander sich zu unterwerfen, so dürfen wir der Schifffahrt nur entsagen, und uns dem Antigonus ergeben, welcher eben so weit über dem Ptolemäus ist, als die Macedonier über den Aegyptern. Ist es aber unser unwürdig, sogar denen zu gehorchen, die mit ihren Waffen uns besiegt haben; warum machen wir denn einen Mann zu unserm Herrn, der diesen Vortheil nicht einmal über uns erhalten hat? Etwa, damit wir uns statt Eines Siegers zwey geben; den Antigonus, vor dem wir fliehen; und den Ptolemäus, dessen Gunst wir erschmeicheln müssen? Oder gehen wir um der Königinn, deiner Mutter willen, nach Aegypten? Wahrlich, dieser bereitest du ein schönes und erfreuliches Schauspiel, indem du ihr Gelegenheit verschaffst, den Weibern des Ptolemäus ihren Sohn zu zeigen, wie er aus einem Könige ein Flüchtling und Gefangener geworden ist. Laß uns vielmehr, da wir unseres Schwerdtes noch mächtig sind, und Sparta noch vor unseren Augen liegt, diesem unglücklichen Leben ein Ende machen, und uns dadurch bey denen rechtfertigen, die bey Sellasia für ihr Vaterland gestorben sind! Oder dünket es dir rühmlicher, in Aegypten die Nachricht abzuwarten, was für einen Satrapen Antigonus über Sparta bestellt hat?‹
»Auf diese Vorstellungen des Therykion antwortete Kleomenes: ›Feigherziger! indem du zu sterben suchst, welches unter allen menschlichen Dingen das leichteste und immer in eines jeden Gewalt ist, willst du dir den Schein der Tapferkeit geben, und ergreifst dadurch eine schändlichere Flucht, als diejenige, die du rügest. Mehr als einmal haben, durch das Glück oder durch die Menge besiegt, Männer, die weit besser waren als wir, vor ihren Feinden fliehen müssen; wer aber vor Mühseligkeiten und Beschwerden flieht, oder von dem Lob und Tadel andrer Menschen sich bemeistern läßt, ist ein Sklave seiner eigenen Schwäche. Der selbstgewählte Tod muß eine Handlung, nicht eine Flucht vor Handlungen seyn, und es ist nichts schändlicher, als für sich allein zu leben oder zu sterben. Zu einer solchen Schande aber führet dein Rath, unsern gegenwärtigen Uebeln durch einen Tod zu entfliehen, der weder Ehrenvolles noch Nützliches stiftet. Mein Rath hingegen ist, daß wir beyde, sowohl du als ich, die Hoffnung, unserem Vaterlande nützlich zu seyn, noch nicht aufgeben. Verläßt uns diese Hoffnung ganz, so wird es uns ein leichtes seyn, unserem Leben, wenn wir Lust haben, ein Ende zu machen.‹
» Therykion erwiederte dem Kleomenes nichts auf diese Rede. Sobald er aber Gelegenheit fand, sich von ihm zu entfernen, suchte er einen einsamen Ort am Ufer auf, wo er sich entleibte.
» Kleomenes landete in Libyen, und kam, unter einer Königlichen Begleitung, zu Alexandrien an. Bey seiner ersten Erscheinung vor dem Ptolemäus, empfing ihn dieser mit gemeiner Höflichkeit und ohne alle Auszeichnung; als aber Kleomenes in der Folge Beweise seiner großen Einsicht und seines männlichen Verstandes gab, und in seinem täglichen Umgange mit dem Aegyptischen König, neben der den Spartanern eigenthümlichen Einfalt und Offenheit, eine edle Liebenswürdigkeit und Freyheit auf eine seiner Geburt anständige Weise, ungebeugt durch seine Lage, zeigte; so flößte er bald dem Ptolemäus mehr Zuneigung und Vertrauen ein, als alle seine Hofleute mit ihren ihm bloß zum Wohlgefallen ersonnenen Schmeicheleyen. Es ergriff jetzt diesen König Schaam und Reue, daß er einen solchen Mann vernachlässigt, und dadurch dem Antigonus zu einem Siege, der seinen Ruhm und seine Macht so sehr vermehrte, Gelegenheit verschafft hatte. Er begegnete dem Kleomenes mit der größten Achtung und Freundschaft, und gab ihm die Versicherung, daß er ihn mit Schiffen und Geld nach Griechenland zurückschicken, und auf den Königlichen Thron wieder zu erheben suchen wollte. Zugleich wies er ihm eine jährliche Einnahme von zwanzig Talenten an, wovon Kleomenes einen sparsamen Aufwand für sich und seine Freunde machte; das übrige aber zur Unterstützung derjenigen verwendete, welche sich zu ihm aus Griechenland nach Aegypten geflüchtet hatten.
» Ptolemäus starb, ehe er sein Versprechen hatte erfüllen können. Unter seinem elenden Nachfolger kam es zuletzt dahin, daß Kleomenes mit seinen Freunden in der ihnen eingeräumten Wohnung eingeschlossen wurde, und man sie, als Gefangene, auf das strengste bewachte.
»Mit vieler Mühe und List entkamen sie an einem Tage. Sie hofften einen Aufruhr zu erregen, und sich der Citadelle zu bemächtigen. Der Anschlag mißlang. Hierauf ermahnte Kleomenes seine Freunde zu einem freywilligen Tode. Hippotas, gebrechlich und äusserst ermüdet, empfing, auf sein Bitten, den Tod von einem der jüngsten der Gesellschaft; alle die andern starben edler durch ihre eigene Hand. Der einzige Pantheus blieb noch übrig, welcher die Mauern von Megalopolis bey der Einnahme dieser Stadt zuerst erstiegen hatte; ein schöner junger Mann, von der Natur mit allen Anlagen zu den trefflichsten Eigenschaften, wodurch in früheren Zeiten seine Landsleute sich hervorthaten, gebildet, und aus diesem Grunde ein Liebling des Kleomenes. Er hatte von diesem den Befehl erhalten, nicht eher Hand an sich zu legen, bis er ihn und alle übrigen des Lebens völlig beraubt sähe. Pantheus nahm daher der Reihe nach mit einem jeden der Entleibten die Untersuchung vor, berührte sie mit der Spitze seines Degens, und gab sorgfältig Acht, ob sich irgendwo in ihnen noch eine Spur des Lebens zeigte. Da er in den Gesichtszügen des Kleomenes, als er diesen in die Ferse stach, noch eine Zuckung bemerkte, so küßte er ihn, ließ sich neben ihn nieder, und wartete sein völliges Hinscheiden ab; darauf raubte er auch sich das Leben, nachdem er den todten Leichnam des Königs noch einmal umarmt hatte.
»So starb Kleomenes, ein großer und edler Mann, nach einem sechszehnjährigen Besitz der Königlichen Würde.
»Das Gerücht von seinem Tode verbreitete sich schnell durch die ganze Stadt, und drang zu seiner Mutter Katasiklea. Der Muth dieser standhaften Frau wurde diesesmal von der Größe ihres Unglücks überwältigt; sie schloß die Söhne des Kleomenes in ihre Arme, und fing laut über sie zu weinen an. Der älteste, nachdem er sich aus ihren Armen losgerissen, und heimlich das Dach erstiegen hatte, stürzte sich von dort auf den Kopf herab. Doch starb er, obgleich hart beschädigt, nicht von diesem Falle: man hob ihn auf und trug ihn weg, ungeachtet seines Geschreyes und der Aeusserungen seines Unwillens gegen diejenigen, welche ihm das Leben zu fristen suchten.
»Auf die Nachricht von dem Vorgegangenen ließ der König den Leichnam des Kleomenes öffentlich aufhängen; zugleich ertheilte er Befehl, die Kinder desselben nebst seiner Mutter und allen Weibern ihres Gefolges hinzurichten. Unter den letztern war Pantheus' Gemahlinn; eine Frau von der schönsten und edelsten Bildung. Sie und ihr Gemahl waren Neuvermählte, und brannten noch vom ersten Feuer der Liebe, als ihr unglückliches Schicksal sie traf.
»Gleich Anfangs, da ihr Gemahl nach Aegypten reiste, hatte sie ihn dahin begleiten wollen; allein ihre Eltern verhinderten es, und schlossen sie ein, um ihren Vorsatz desto sicherer zu vereiteln. In der Folge gelang es ihr, sich ein Pferd und etwas Geld zu verschaffen; mit diesen entfloh sie bey Nacht, eilte nach Tänarus, und segelte von dort auf einem zur Abfahrt eben fertig liegenden Schiffe, nach Aegypten ab zu ihrem Gemahl, mit welchem sie ruhig und zufrieden sein Loos in einem fremden Lande theilte.
»Als Katasiklea von den Soldaten zur Richtstätte geführet wurde, reichte ihr die Gemahlinn des Pantheus unterweges die Hand, trug die Schleppe ihres Kleides, und sprach ihr Muth ein, obgleich Katasiklea selbst den Tod nicht fürchtete, und um nichts als um die Gnade bat, daß man ihr vor ihren Enkeln das Leben nehmen möchte. Ihrer Bitte ungeachtet richtete man diese zuerst und vor ihren Augen hin. Aber Katasiklea blieb standhaft bey dem schrecklichen Anblick, und unter so großen Leiden ließ sie nur die Worte hören: »Meine Kinder, ach! wo seyd ihr hingekommen?«
»Pantheus Gemahlinn, welche groß und stark war, schürzte, ohne ein Wort zu reden, ruhig ihr Kleid auf, legte die Getödteten zurecht, bedeckte und verhüllte sie, so gut es nach den Umständen möglich war. Endlich bereitete sie sich selbst zu ihrer Hinrichtung, zog ihr aufgeschürztes Kleid herab, und erlaubte niemanden, sie zu sehen oder zu berühren, als allein dem zur Vollziehung des Urtheils bestellten Henker. Sie starb mit Heldenmuthe; und nach ihrem Tode hatte niemand nöthig, ihren Körper zu bedecken, so groß war ihre Sorgfalt gewesen, den Anstand der Seele und des Körpers, wodurch sie in ihrem Leben sich ausgezeichnet hatte, auch noch in den letzten Augenblicken zu bewahren.
»Auf solche Weise zeigte Sparta, in einer Reihe von Trauerscenen, worin die Weiber mit den Männern um den Preis der Standhaftigkeit und des Muthes wetteiferten, daß die Tugend von dem Glück nicht überwältigt werden kann.«
Langsam legte Henriette nun die Handschrift wieder zusammen, und behielt sie vor sich auf dem Schooße in ihren Händen.
Auf alle hatte diese Vorlesung einen desto tieferen Eindruck gemacht, da nicht allein das gegenwärtige Gefühl, sondern auch, die Erinnerung des ehmals bey Woldemars Vorlesung Empfundenen, sie bewegte.
Nach einer kleinen Pause sagte Henriette, indem sie Biderthalen schärfer ins Auge faßte: – Ich besinne mich ... ob es nicht bey dieser Vorlesung war, da wir zum ersten Mal von Woldemar hörten: Tugend wäre eine freye Kunst; und wie das Kunstgenie, durch That, der Kunst Gesetze gäbe; so das sittliche Genie, dem menschlichen Verhalten: – Gerecht, gut, edel, vortrefflich wäre, was der gerechte, gute, edle, vortreffliche Mensch, seinem Charakter gemäß ausübte, verrichtete, hervorbrächte; dieser erfände gleichsam die Tugend; verschaffte der Menschenwürde ihren Ausdruck – gebäre sie?
Nicht bey der Vorlesung, antwortete Biderthal, sondern den Tag zuvor, da wir mit Sidney und andern Freunden bey Dorenburg zu Mittag speiseten. – Etwas erröthend setzte er hinzu: Sie wollen ohne Zweifel mich erinnern, daß ich meinem Bruder, der sich ereifert, und unsern Vater im höchsten Grade wider sich aufgebracht hatte, bey Dorenburg widersprach; mich am folgenden Tage aber von ihm überholen ließ, und durch die Vorlesung, die wir eben wiederholt haben, hingerissen, zuletzt feuriger als er selbst für seine Meynung sprach?
Nie, erwiederte Henriette, sah ich Sie in einer schöneren Begeisterung! Mir däucht das bloße Andenken daran müßte Ihnen diese Begeisterung wiedergeben, und Sie vollends aus der Betäubung ziehen, die sie für Nüchternheit halten.
Nüchternheit, wovon? – Wahrlich, von dem reinsten Geiste der Wahrheit; von dem Muthe der Freyheit und des Lebens!
Das ist mir vorzüglich geblieben, wie Sie den hohen Sinn der Alten darin priesen, daß bey ihnen Gutes und Schönes unzertrennlich, in Einem Gefühl, Begriff und Wort verknüpft gewesen wäre. – Wir nennen, sagten Sie, eine Seele schön und schöner, wenn sie leicht und leichter durch ihre Hülle dringt, überall Seele offenbar macht: – so empfangen wir von dem besseren Menschen, ohne zu wissen wie, den Saamen seiner Ähnlichkeit; Er strahlt uns sein Bild ins Gemüth; und wir lernen froh – wie man sich selbst im Anschauen eines Andern verliert – lernen Freundschaft, Religion, Patriotismus – Jede Tugend; Alle Wahrheit.«
Ja, liebe Henriette! sagte Biderthal – Ja! – – Aber Tugenden des Menschen: Was sind sie? Was sind wir mit ihnen? Alle menschliche Wahrheit: Was haben wir daran? Was haben wir damit an uns selbst? – Ich frage nach einer Tugend, nach einer Wahrheit – nach Einer, die bey mir sey und bey mir bleibe, wie mein Bewußtseyn, wie der Trieb zum Leben.
Jene großen Menschen, von denen Sie uns eben vorgelesen haben: es erhebt die Seele, nur an sie zu denken! – Doch sagt von dem größten unter ihnen, von Kleomenes, derselbe Plutarch an einem andern Ort: Man werfe ihm nicht ohne Grund vor, er sey heftig, ungerecht, ein wahrer Tyrann gewesen.
Liebe Henriette! – Ach! Wir sind ein erbärmliches Geschlecht, und es war ein toller Raub – jener des Prometheus, der so peinlich von uns zurück gefodert – so bitter an uns geahndet wird.
Biderthal! – rief Dorenburg aus – Ich kann nicht länger mit dir seyn; ich schlage mich zu Henriette.
Was sie eben von Woldemar wieder anführte, und vorhin so hart von dir war getadelt worden; eben dieses – Erinnere dich! – lehrte schon vor zwey tausend Jahren der nüchternste, scharfsinnigste, pünctlichste und strengste unter allen Philosophen, der systematische Aristoteles. Auf ihn berief sich auch damals Woldemar ausdrücklich, und lieh mir nachher die italiänische Uebersetzung der Ethik, von Bernardo Segni, die ich mit Begierde las, hierauf mir selbst anschaffte, dann wieder las, studierte, und einen solchen Geschmack an dem Stagiriten fand, daß ich mich, ganz in der Stille, seitdem noch viel tiefer mit ihm eingelassen habe.
Also vor zwey tausend Jahren lehrte schon Aristoteles: »Handlungen der Gerechtigkeit und Mäßigkeit wären diejenigen, die so beschaffen wären, wie der mäßige und gerechte Mensch sie ausübte.«
» Alle Tugenden,« lehrte er, »wären vor ihren Begriffen, Vorschriften und Einsetzungen da; sie erzeugten diese erst. Von jenem bloß natürlichen unmittelbaren Daseyn der Tugenden gienge die Sittenlehre aus, und würde sonst nicht verstanden werden können, da das Princip aller Principien überall wäre: daß ein Ding sey.
»Die einzige Richtschnur des Wahren und Guten wäre demnach im Urtheile des gutgeschaffenen Menschen, wie denn überhaupt der Mensch an nichts anderem messen und prüfen könne, als am Menschen.
»Und so ließe mit Worten, durch Zergliederungen und Vernunftschlüsse, über das Eigentliche der Tugenden und ihre Erste Quelle sich nichts ausmachen: sie entsprängen, mit ihren Gesetzen, aus sich selbst, und bezögen sich alle, abgesondert oder vereinigt, auf einen dem Menschen eigenthümlichen besondern Sinn, und einen ihm eigenthümlichen besondern, unmittelbaren Trieb.
»Was aus diesem Triebe jenem Sinne gemäß verrichtet würde, wäre tugendhaft; alles andere nicht; es möchte beydes von aussen scheinen wie es wollte.
»Nun würde zwar allen Menschen mit jenem Sinn und Triebe eine gewisse Tugendfertigkeit angeboren; aber nicht in gleichem Maaße.
»Der Glückliche, welcher diese Gabe im höheren Maaß erhielte, wäre allein den Gipfel der Tugend zu erreichen fähig; er besäße das schönste, köstlichste, edelste und größte, was einem Menschen zu Theil werden, und durch Anweisung und Lehre von Niemand weder empfangen noch gegeben werden könnte; was die Natur eigenmächtig und allein verliehe: gleichsam ein schärferes Geistesauge, um das Anständige und wirklich Gute überall unterscheidend wahrzunehmen, und den immer gleich regen Trieb, jedesmal das Beste auch zu wollen, und mit stetem Eifer zu bewirken.«
So viel von dem eigentlich Sittlichen in den sittlichen Handlungen verstand Aristoteles, und mehr nicht.
Dieses zu Woldemars Rechtfertigung!
Eigentlicher habe ichs wegen der Vorwürfe mit dir zu thun, die du der menschlichen Natur machst, als sey ihr alles Gute fremd und peinige sie nur.
Lieber! der Mensch kann sich so nicht wegwerfen, ohne zuvor die ganze Natur mit ihrem Urheber weggeworfen zu haben. Denn beyde, Gott und Natur, sofern sie etwas für den Menschen sind, müssen ja im Menschen – müssen sein eigener Begriff, seine eigene Empfindung seyn. Woher nimmst du die Vorstellungen von einer Wahrheit und Weisheit, einem Daseyn und Vermögen, wogegen menschliche Wahrheit und Weisheit, menschliches Vermögen und Daseyn, dir so verächtlich scheinen? Wo erblickst du, wo hast du, – Wo und Was sind ihre Gegenstände? Verachtung ist doch nur aus Vergleichung möglich! Also: Wogegen verachtest du dich? – Gefühlter Unwerth setzt gefühlten Werth nothwendig voraus; und mir däucht, um sich gering zu schätzen, müßte man an etwas Höheres schon reichen – Mehr als reichen! Man müßte es sich angemessener, natürlicher, näher, eigenthümlicher finden. – Dieß erwäge, lieber Biderthal. Erwäge es tief und tiefer, und du nimmst zuverläßig deine bösen Verwünschungen reuevoll zurück.
Henriette freute sich über Dorenburgs Beytritt, und unterstützte ihn, indem sie Biderthal an den Gedanken erinnerte, der ihn bey dem Glauben an eine göttliche Vorsehung erhalten, und wovon er gesagt hatte: Er wäre ihm aus dem Innersten seines Wesens empor gestiegen. Dieser Gedanke, meynte sie, wäre im Grunde derselbe, auf den auch Dorenburg sich stützte. – »Gewiß! – setzte sie hinzu, zeugen höhere Begriffe von höheren Wesen, und von unserem Zusammenhange, unserer Verwandtschaft mit ihnen. Dieß alles kann nicht blos Gespenst, Wahn, Erdichtung; ich weiß nicht – Was? und Wovon? seyn.«
Noch ein Wort, sagte Dorenburg, das ich vom Herzen haben muß! Es betrifft die von Biderthal wider Kleomenes angebrachten Beschuldigungen: Er wäre heftig, ungerecht, ein wahrer Tyrann, von der sittlichen Seite nichts weniger als bewundrungswürdig gewesen; auch diese Tugend, also, wäre nur wieder ein Gedicht.
Hierauf ist meine Antwort, daß sich eine Folge von heroischen Handlungen, ein Heldenleben, ohne alle Gewaltthätigkeit schwerlich denken lasse, und ich frage: Ob darum dem Heroismus schlechterdings soll der Stab gebrochen werden Macchiavelli im IX. Abschn. des I. Buchs seiner Discorsi sagt von Kleomenes: »Bey dem Stolze der Menschen hätte es diesem großen Manne unmöglich geschienen, vielen nützlich zu werden, so lange einige dawider wären« ( parendogli per l'ambitione degli huomini non potere far utile a molti, contra alla voglia di pochi.) – Dieser ganze IX. Abschnitt verdient nachgelesen zu werden.?
Was würde aus der Menschheit, wenn nicht von Zeit zu Zeit Heldengeister aufträten, um ihr einen neuen Schwung zu geben, ihr aufzuhelfen, sie zu erfrischen? Gerade durch diese Heroen wird das Leben der Sittlichkeit immer wieder neu geboren. »Das Hergebrachte – sagt der Kirchenvater Tertullian – hat unsern Herrn ans Kreuz geschlagen.« – Menschen, die ein inneres Freyheitsgefühl Göttlich über ihr Zeitalter erhebt, sind das wahre eigentliche Salz der Erde; und was ihr Beruf von ihnen fodert, halte ich für wohl gethan, wenn auch Zeitgenossen und Nachwelt sie Tyrannen, Schwärmer, Bösewichter schelten. Ohne sie würde die Menschheit stinkend. Selbstbestimmung, Freyheit, ist die Seele der Natur, und auch – die Erste Quelle aller Gesetze, Einrichtungen, Sitten und Gebräuche.
Hingegen hat, in diesen äusserlichen Formen selbst, die Vergänglichkeit ihr Wesen; man könnte sie die Fürstenthümer des Todes – eines verborgenen, in äusserliches Leben eingekleideten, Todes nennen. Denn sie schränken das Lebendige ein, verzehren es, vertilgen es zuletzt, und gehen mit ihm unter.
Sollen wir sie mehr als das Leben ehren, weil wir dieses in seiner Reinheit nicht fest halten, nur im Sacrament – in sichtbarer Gestalt genießen können?
Wo geräthst du hin, mein Lieber? sagte Biderthal. – Du vergißt, du verlierst dich!
Meine Antwort übrigens auf alles das ist schon gegeben. Ich sagte es vorhin zu Henriette: – Ihr fliegt mir zu hoch! ... Ich traue dem Gefieder nicht, womit ihr euch der Sonne naht.
We leap at stars, and fasten in the mud!
Ich lobe mir den gleichen Boden, und, in Ermanglung eines Besseren, die Vox populi, und in seiner weitesten Ausdehnung den vorhin angeführten Delphischen Orakelspruch und alle Arten von Krücken und hölzernen Beinen – denn wir sind ein hinkendes Geschlecht. Eigendünkel ist mir einmal über alles fürchterlich geworden; so fürchterlich und gräulich, daß ich lieber nach der Kette des unbedingtesten Gehorsams, als nach der Hirnversengenden Krone der Selbstregierung greifen mag.
So grämlich wie du sprichst, antwortete Dorenburg, kannst du im Grunde des Herzens unmöglich seyn; und du würdest auch so nicht reden, wenn du nicht auf unsern Widerspruch rechnetest, den du gern hören magst und nur recht in Feuer setzen willst.
Du räthst, der Sicherheit wegen, die Freyheit aufzugeben: Ist das nur eine mögliche Sache?
So lange wir selbst handeln, handeln wir nothwendig frey; und es ist unmöglich die Selbstregierung auszuschlagen; unmöglich an die Stelle der Vernunft und des eigenen Gewissens ein andres Wahr- und Gutfinden zu setzen, dessen Ansehen höher, dessen Entscheidung zuverlässiger wäre.
Wie wolltest du es anfangen, irgend einem Gesetz, irgend einer Autorität blinden Gehorsam – Knechtschaft anzugeloben, ohne eine Wahl vorhergehen zu lassen, ohne dich selbst in und nach dir selbst zu entscheiden?
Und laß die Wahl geschehen seyn: Wodurch vermagst du bey ihr zu bleiben?
Treu und beständig zu seyn – was die Seele der Tugend ist! – Sollte der Buchstabe mehr und bessere Kräfte dazu verleihen, als der Geist? Mir verschwindet alle Idee von Sittlichkeit, wenn ich Gesetz, herrschende Meinung, irgend eine Buchstabenart, als etwas ansehen will, das über Vernunft und Gewissen herrschen, folglich sie aufheben, sie zerstören soll.
Sieh! Du willst den Menschen verwahren, daß er nicht von seiner Pflicht weiche – und nimmst ihm alle Würde. Denn daß wir prüfen, wählen, beschließen, und auf unserm Entschluß beharren können: darin allein besteht die Würde des Menschen; und allein um diese Würde ist es dir am Ende doch zu thun!
Beschließen, antwortete Biderthal; das Rechte beschließen, und darauf beharren: das ist allerdings die Sache!
Du hast wohl geredet, Dorenburg; und sieh, ich bin bereit dir zu gestehen, daß – der Mensch sich in einer wunderlichen Klemme befindet.
An der einen Seite: Vernunft und Freyheit, die er nicht aufgeben; an der andern: ihre Formen, Aeusserlichkeiten, Bestimmungen – der Sitz der Vergänglichkeit, wie Du sagtest – die er nicht entbehren kann, und deren Gebrauch Unterwürfigkeit, oft den unbedingtesten Gehorsam fordert.
Beharrlichkeit und unbedingter Gehorsam sind unzertrennliche Gefährten; und wenn es keine Vorschrift, und, zu der Vorschrift, auch noch ein Vermögen des unbedingten Gehorsams giebt: so giebt es auch keine eigentliche, wahre Tugend.
Ich will euch ohne Dunkelheit und Uebertreibung sagen, was ich meyne.
Schöne, gute, edle Handlungen zu verrichten, ist dem Menschen natürlich. Aber lauter gute Handlungen zu verrichten, tugendhaft zu seyn; ist gegen die Natur des Menschen: ohngefahr eben so, wie es dem Menschen natürlich ist, die Befriedigung seiner Begierden zu suchen; aber gegen seine Natur, der möglichen Befriedigung aller seiner Begierden, der Glückseligkeit, durch Maaßhalten, Meiden und Leiden, nachzustreben.
Unter allen seinen Neigungen ist keine, die, zur höchsten Gewalt erhoben, den tugendhaften Charakter hervorbrächte. Dieß war Woldemars Irrthum, wie auch Henriette zugiebt; nämlich: daß wir unter unsern Neigungen Eine wählen, oder aus mehreren zusammensetzen könnten, die, in unserem Gemüthe auf den Thron gesetzt, uns zu unveränderlich guten Menschen, und auch zu den glücklichsten machte.
Giebt es aber keine solche Neigung, und läßt sich keine solche Neigung bilden: woraus soll der tugendhafte Charakter entspringen? Woher Wesen und Absicht nehmen?
Daß wir gern Eins mit uns selbst; zufrieden mit uns selbst, das ist – überhaupt zufrieden seyn, in einem behaglichen Zustande uns befinden mögen, begreift sich leicht; aber dieses Verlangen ist kein ursprünglicher Trieb, und bloße leere Zufriedenheit und Selbstzufriedenheit ein Unding.
Es bleibt die Frage: Womit zufrieden?
Die Vernunft verstummt bey dieser Frage; wie denn überall ihr Forschen eitel ist, wo der Sinn nicht weiter zu ergründen vermag. Da sie keine Tugend- Kraft herbey zu denken fähig ist, so ist sie auch nicht fähig eine Tugend- Lehre, welche Stich hielte, zu erschaffen. Die Kraft muß als Thatsache dargethan seyn, und ihr Gegenstand vor Augen liegen, ehe eine Theorie ihrer Anwendung möglich ist. Die eigene Kraft der Vernunft vermag nur den Wunsch im Menschen zu erregen, Eins mir sich selbst zu seyn, ohne weiteres; und dieser Wunsch ist ein schwacher Schild. Ich sage mit Bedacht, ein Schild; denn auch dieser Wunsch ist ohne Nachdruck, weil er ohne Inhalt ist, und im Grunde nur wegwünscht, was das Leben unterbricht. Furcht ist das Wesen dieser Kraft; und wie kann Furcht Tugend gebären, wenn Tugend etwas an sich selbst ist, wenn sie ist, was man von ihr rühmt: Aeusserung und Quelle des höchsten Daseyns? Ist sie das, so muß sie aus Liebe entspringen; so muß ich sie umfassen können, wie meinen Freund; sie nicht lassen können, wie meinen Freund; mehr in ihr als in mir selbst leben und weben, empfinden und genießen, wie im Freunde. Wo ist nun eine solche Liebe im Menschen? und wo findet sie ihren Gegenstand?
Ich habe vorhin, erwiederte Dorenburg, den Aristoteles wegen Woldemar zu Hülfe gerufen; er mag noch einmal erscheinen – nicht wider dich, um mir zu helfen; sondern damit er uns beyde zurecht weise, unser Mittelsmann werde.
Auch dem Stagiriten war Tugend ohne Tugend- Liebe ein Unding.
Ja, es wußte Sokrates, es wußten Xenophon und Plato schon nicht besser, als daß Tugend in einer unüberwindlichen Lust und Liebe zum Guten bestände, und daß eine solche beständige Lust und Liebe in uns erzeugt und zum Herrschen gebracht würde, indem wir jene Fertigkeiten, die unter dem Namen der tugendhaften bekannt sind, erwärben.
Anlagen müssen da seyn, wenn Fertigkeiten entstehen sollen.
Und da findet nun Aristoteles die Anlage des Menschen zu allen Tugenden in seiner Anlage zur Freundschaft.
»Zugleich mit der Freundschaft, sagt er, erweitern sich die Begriffe dessen was Recht ist, wie wenn es in derselben (das, was Recht ist, in der Freundschaft) verwebt wäre, und auf Eins hinaus liefe; sie (das, was Recht ist, und Freundschaft) haben gleiche Beschaffenheit und äussern sich auf gleiche Art. Die Gesetzgeber sind daher mehr um die Freundschaft, als selbst um die Erhaltung der Gerechtigkeit bemüht; denn Eintracht ist etwas der Freundschaft ähnliches, und auf diese arbeiten sie am mehrsten hin, so wie sie Aufruhr, da er Feindschaft ist, am mehrsten entfernen. Freunden darf die Gerechtigkeit nicht befohlen werden: aber Leute die gegen einander gerecht seyn sollen, bedürfen der Freundschaft.«
Höre weiter!
»Die Tugenden,« sagt Aristoteles, »kommen uns weder allein durch die Natur, noch wider dieselbe. Nicht allein durch die Natur, weil sie erworbene Fertigkeiten sind; nicht wider die Natur, weil kein Wesen annehmen kann, was wider seine Natur ist. So wird ein Stein durch noch so oft wiederholtes in die Höhe werfen nie dahin gebracht werden, daß er von selbst in die Höhe steige, sondern er muß immer von neuem, wenn er in die Höhe steigen soll, dazu gezwungen werden: er erwirbt keine Fertigkeit, weil ihm die Anlage fehlt.
»Tugend also, die eigentliche, vorsetzliche Tugend, ist eine selbsterworbene Fertigkeit durch innere Seelenthätigkeit aus eigener Kraft.
»Die Anlage, aus welcher die Fertigkeit hervorgeht und womit sie ihren Anfang nimmt, ist auch selbst schon eine Fertigkeit; nur keine selbsterworbene; sondern, eine angeborne. Ohne eine dem Menschen von Natur beywohnende allgemeine Tugendfertigkeit, durch welche er das sittlich-Schöne liebt, das Unsittliche verabscheut, würde er so wenig bestimmt werden können, freywillig sich zur Tugend – der selbsterworbenen, eigentlichen Tugend – anzustrengen, als der Stein bestimmt werden kann, aus eigener Bewegung in die Höhe zu steigen. Alle Ermahnungen dazu würden vergeblich an ihm seyn, da er nicht im Stande wäre irgend einen sittlichen Unterricht nur zu verstehen.
»Also, wie Augen und Ohren nicht vom Sehen und Hören, sondern dieses von jenem kommt; so die erworbene Fertigkeit und Tugend von der angebornen. Jene empfängt von dieser Eingebung und Antrieb. Sie, die angeborne Tugend, lehrt den Menschen die Principien der sittlichen Handlungen, wie ihn der gesunde Menschenverstand die ersten Denkgesetze lehrt.
»Es hat uns nämlich die Natur ein unmittelbares Wissen und Gewissen eingepflanzt, nach welchem wir in unserm Innersten über Seyn und Nichtseyn, über Thun und Lassen, ursprünglich, unmittelbar und schlechterdings, mit Ja, und Nein, ohne anderen Beweis, entscheiden. Und diese allerhöchsten Aussprüche legt sich die Vernunft zum Grunde, da sie, für sich allein, nicht finden kann, weder was Wahr noch was Gut ist. Wissenschaft und vorsetzliche Tugend bringt die Vernunft hervor; aber was ursprünglich wahr ist, bestimmt der Verstand; was ursprünglich gut ist, der Wille. Beyde, Verstand und Wille, vereinigensich im Wahrheitssinn, dessen Aussprüchen die Vernunft subordinirt ist, wie Mittel dem Zweck. Alles was zwischen dem Ersten und Letzten, zwischen den Principien und dem Zweck der Zwecke liegt, gehört zum Gebiete der Vernunft, deren eigenthümliches Vermögen und Geschäft ist, – Nach erhaltenem Maaße Maaß zu geben. – – Sinn, könnte man sagen, ist der Mann; Ueberlegung, Nachsinnen, das Weib; Weisheit ihre Frucht. Weisheit vereinigt Tugend und Erkenntniß, und durch sie wird der Mensch mit dem, was besser als er selbst ist, mit dem Göttlichen bekannt. Sie bringt nicht – wie die Arzeneykunst, Gesundheit – sondern wie die Gesundheit, Kraft, Leben, Glückseligkeit hervor.«
Dorenburg hielt einen Augenblick inne.
Ich dachte mich kürzer zu fassen, sagte er. Der gewaltige Geist des Stagiriten hat mich hingerissen. – Folgt mir nur noch wenige Augenblicke.
Tiefer gesammelt hub er von neuem an:
»Alle lebendige Wesen ergötzen sich an dem Gefühl des ihnen beywohnenden Guten, und dem Menschen ist das Daseyn dadurch angenehm, daß er fühlt, was gut ist: Wir sind aber nur durch die Aeusserung unserer Thätigkeit – durch Handeln und Bewußtseyn.
Ein gemeinschaftlicher Strebungspunkt der Kräfte muß sich in jedem Wesen finden, weil die verschiedenen Kräfte sonst nicht Ein Leben, Ein Wesen ausmachen, zu Einem Leben und Wesen gehören würden. Dieser gemeinschaftliche Strebungspunkt bestimmt die Natur des Wesens, und ihm selbst seinen Zweck. Was zu seinem Zwecke dient, empfindet es als gut: den Zweck selbst, als etwas an sich wünschenswürdiges, als sein höchstes Gut.
»Der Mensch ist sich seiner als eines unausgemachten, unvollkommenen, zweydeutigen Wesens bewußt, und ringt nach Einheit und Vollendung: Dieses Ringen ist sein eigentlicher Trieb – der Menschliche.
»Was vom Menschen seinem eigenthümlichen Triebe gemäß verrichtet wird, heißt das Anständige, Ehrbare, Schickliche.
»Um des Anständigen, welches der Zweck der Tugend ist; und – um des Angenehmen willen, thut der Mensch alles.
»Das gemeine Wesen seiner Triebe hat keine andere als diese beyden Gegenstände, wegen der es sich in Rotten theilt. Der Königliche Wille im Innern des Menschen; das, was ihm seinen eigenthümlichen Zweck vorhält, ist wider diese Rotten; es verlangt Eintracht, und verheißt, mit dieser Eintracht, Zufriedenheit, Glückseligkeit.
»Dem Angenehmen nachzutrachten, und was schmerzhaft ist, zu fliehen: dieser Haß und jene Liebe, gehören zu den Grundeigenschaften empfindender Wesen, und der Mensch hat sie mit den Thieren gemein.
»Hingegen unterscheiden das Gefühl und die Liebe des Ehrbaren, und der Haß ihres Gegentheils, des Unanständigen und Schändlichen, den Menschen vom Thiere, und machen sein eigenthümliches Daseyn aus.
»Die angeborne Liebe des Anständigen, ihre Thätigkeit, ist die natürliche Tugend des Menschen, seine besondre eigenthümliche Lebenskraft, durch welche der Mensch, als Mensch, ist oder nicht ist.
»Und diese natürliche wird zur eigentlichen Tugend, wenn die Liebe des Anständigen im Menschen zur unumschränkten Herrschaft gelangt, und sich als eine Fertigkeit beweist, das Angenehme überall dem Anständigen freywillig nachzusetzen.
»Es gehört also zur Natur des Menschen, und ist sein eigentlicher Instinct: die gemeinen Triebe, einem ungemeinen höheren Triebe unterzuordnen; oft, was schmerzhaft ist, zu wählen; freywillig dem Vergnügen zu entsagen; Begierden und Leidenschaften zu unterdrücken; Freyheit und Leben aufzuopfern.
»Aber mit der Ausübung jeder Fertigkeit ist auch Wohlgefühl nothwendig verknüpft. Denn ungehinderte Thätigkeit gewährt allemal Vergnügen; und wo eine Fertigkeit entstanden ist, da sind die Hindernisse, die sich dem freyen Spiel der Thätigkeit entgegensetzten, weggeräumt. Die bessere und höhere Thätigkeit muß folglich auch das bessere und höhere Vergnügen gewähren. So lernt der Mensch durch Tugend eine eigene, höhere, unvergleichbare Wonne kennen, die ihm seine Verwandtschaft mit der sich selbst hinlänglichen Gottheit ahnden, und seine Vollendung, daß er sie erringen werde, mit Zuversicht erwarten läßt.
»Die Liebe des Angenehmen erscheint daher, wenn Tugendübung sie gereinigt, und des Menschen Sinn und Herz veredelt hat, als der Trieb zum Guten selbst; dergestalt, daß der Grad der Herrschaft, welchen dieser Trieb erreicht hat, an dem Wohlgefühl abgenommen wird, welches die tugendhaften Handlungen begleitet. Denn Niemand wird, z. B. den gerecht nennen, dem nicht Gerechtigkeit angenehm ist. Dasselbe gilt von den andern Tugenden. Wer sich körperliche Wollüste versagt, und in diesem Entsagen einen Genuß, ein Vergnügen findet, der ist enthaltsam. Wer Gefahren besteht, und dieß mit Vergnügen oder ohne Widerwillen thut, der ist tapfer: wer es ungern thut, ist feig. Denn das ist der Gegenstand und die Vollkommenheit der Tugend: daß sie eine den natürlichen Neigungen ähnliche Fertigkeit zu Stande bringe.
»Summa: Wohlgefühl ist Grundeigenschaft der Seele; denn das Leben ist ein Gut an sich, und wir sind und leben nur durch die Aeusserungen unserer Thätigkeiten. Ohne Kraftäusserung findet kein Vergnügen statt; jede Kraftäusserung aber hat eine gewisse eigenthümliche Wollust, welche die Thätigkeit selbst allemal erhöht, vollkommener macht, vollendet. Wer eine Sache mit Lust thut, beurtheilt sie auch feiner, und bearbeitet sie sorgfältiger. Das Vermehrende aber ist mit dem Vermehrten verwandt; folglich ist das Vergnügen einer guten Thätigkeit selbst gut; das Vergnügen einer tadelhaften, selbst tadelnswerth; und so unzertrennlich und unmittelbar mit einander verknüpft sind Kraftäusserung und Wohlgefühl, daß man die Thätigkeit von ihrem Wohlgefühl nur zweifelhaft unterscheiden, und, z. B., kaum bestimmen kann: ob wir das Vergnügen des Lebens wegen, oder das Leben wegen des Vergnügens suchen.
»So könnte man von der Tugend sagen, daß sie die höchste Wollust; von dieser höchsten Wollust, daß sie Tugend, Vollkommenheit – die Seligkeit der Götter sey.«
Aber zu einer solchen Tugend und Vollkommenheit kann der Mensch sich nicht erheben. Er erringt es nicht, daß ihm allein das Schickliche angenehm, das Unschickliche allein und überall zuwider, die Erfüllung jeder Pflicht eine Lust wäre. Er kann durch Bestimmungen in seinem Innern die Natur der Dinge nicht verändern, und bleibt ein bedürfnißvolles, einem Heere von äusserlichen Uebeln und der schmerzlichsten Zerstörung preis gegebenes Wesen. Abhängig selbst im Erwerbe, in der Anwendung und Erweiterung seiner Tugenden; von Vergänglichkeit umgeben und durchdrungen, sieht er sich von Selbstgenügsamkeit so weit entfernt, daß er diese – aus und nach sich selbst – sogar als etwas überhaupt unmögliches betrachten muß. Darum kann er sich in seiner gegenwärtigen Zusammensetzung – den lebendigen Tod eines solchen Daseyns – auch nicht lieben; darum ist es ihm Triumph und höchstes Gut, mit seinen Ahndungen aus sich heraus zu gehen, sich empor zu schwingen – unbegreiflich! – mit überschwenglicher Liebe, zu einem überschwenglichen unanschaubaren Gegenstande, der sich ihm allein durch die Wirkung dieser Liebe darthut: einer Liebe, die den Menschen fähig macht, zu hoffen und mit Zuversicht zu glauben, was der sinnlichen Vernunft allein unmöglich schien.
Und darum, Freunde! nennen wir auch jede Freundschaft leer, gering und seicht, die nicht jener hohen Liebe ähnlich, die nicht von ihr ausgegangen ist; jede mit vergänglichen gemeinen Dingen erzeugte, und darum schon todt geborne Freundschaft, – die alle ihre Gründe weiß, sich ganz durchschaut, und das deutlichste Bewußtseyn hat, von ihrem eigenen Nichts.
Ich bin wohin ich strebte! Da, wo ich behaupten kann: – Daß wer an Freundschaft glaubt, nothwendig auch an Tugend, an ein Vermögen der Göttlichkeit im Menschen glauben muß; und daß wer an ein solches Vermögen, oder an Tugend nicht glaubt, unmöglich an wahre eigentliche Freundschaft glauben kann. Denn beyde gründen sich auf Eine und Dieselbe Anlage zu uneigennütziger, freyer, unmittelbarer, und darum unveränderlicher Liebe.
Und diese Liebe muß allmächtig seyn im Menschen! Nicht durch Uebergewicht, wie eine Begierde die andre überwindet, sondern durch ihre besondre Natur, die überirdisch ist.
Also, Bruder! gebe ich darin dir vollkommen recht, daß, von Neigungen gleicher Art, keine auf den Thron gesetzt, und dadurch ein tugendhafter Charakter hervorgebracht – gleichsam durch Anschießen und Crystallisirung gebildet werden könne. Auch daß es keine Mischung oder Ausarbeitung solcher Neigungen, Begierden und Leidenschaften gebe, wodurch der Mensch eine sichere Herrschaft über sich, ein unveränderliches Selbst erhielte. Nicht einmal ein standhaftes bloßes Wohlverhalten kann der sich allein überlassene Mensch nach Vorschriften dieser Art zu Stande bringen. Seine Weisheit ist ein Traum, und in demselben Maaße, wie sie von dem, was die allgemeine Stimme für weise, gut und löblich erklärt, sich entfernt, die Eingebung eines bösen Geistes. Gesetze und Landessitte, Angewöhnung und Vorurtheil, sind die unentbehrlichen Stützen einer solchen allein auf gegenseitige Einschränkung der Begierden gegründeten Tugend. Auch enthält die öffentliche Moral in jedem Zustande der Gesellschaft noch so viel Gutes und Wahres, und der Zusammenhang ihrer lebendigen Vorschriften ist so tief gegründet, so weit umfassend, ihr innerster Geist überall so richtig, daß sie, wenigstens als der Vorhof der Tugend, als der einzige Durchgang zu ihrem Allerheiligsten, und als die sicherste und stärkste Brustwehr wider das Laster, eine fast ungemessene Ehrfurcht verdient. Wer seinem persönlichen Hange zu gefallen, aus Stolz, Grille, mit einem Worte eigensüchtig von ihr sich entfernt, ihr zuwider handelt, Aergernisse zu geben sich nicht scheut, der ist auf dem geradesten Weg zur Untugend, zur Ehr- und Gewissenlosigkeit.
Also neige ich mich von ganzem Herzen mit dir vor der vox populi, als einem heiligen Echo, preise mit dir die Weisheit des Delphischen Orakelspruchs, und will jede Krücke und jedes hölzerne Bein, an seiner Stelle, gleich einem beseelten Gliede, in Ehren halten. Ich bleibe auch, was diesen Punkt angeht, bey meinem vorhin geäusserten Tadel an unserm Woldemar; aber nur in dem Maaße, wie ich ihn aussprach, und mit billigem Vorbehalt. Ich warf dir Uebertreibung vor, und übertrieb doch auch an meiner Seite. Er ist wohl lange nicht so sündig, als wir beyde im Zorn des Schreckens vorgaben. Was er gesündigt hat, wird nun bald abgebüßt seyn. Gereinigt wird er da stehen, und, nach Henriettens Prophezeyung, der ich glaube, höher aufgerichtet, als er gefallen war. Erinnere dich jener Worte des ehrlichen Montaigne: »Wie lasterhafte Seelen zuweilen durch irgend einen fremden Reiz gut zu handeln angetrieben werden; so hängt sich manchmal auch an tugendhafte Seelen etwas Böses.« – Es wäre schrecklich, darum gegen alle Tugend mißtrauisch zu werden, und sich wider ihre eigenthümliche Kraft, die Freyheit der Seele, als wider einen bösen Geist verwahren zu wollen.
Henriette glühte vor Freude. Eine höhere Begeisterung, die in allen ihren Zügen sichtbar war, öffnete ihre Lippen und gab ihrer Rede einen ungewöhnlichen Strom; ihre Stimme tönte wie Gesang.
Das hat ein Gott, sagte sie, oder ein Engel Ihnen eingegeben, Dorenburg! daß Sie Freyheit der Seele die eigenthümliche Kraft der Tugend nannten.
Ja, Freyheit ist der Tugend Wurzel; und Freyheit ist der Tugend Frucht. Sie ist die reine Liebe des Guten, und die Allmacht dieser Liebe. Ein hohes Wesen! wie die Gottheit verborgen – und zudringlich, wie die Gottheit! Denn allein durch Freyheit fühlt sich der Mensch als Mensch; durch sie allein ist Selbstachtung und Zuversicht, Wort und Glaube, Friede, Freundschaft, feste Treue möglich, worauf unter Menschen alles beruht. Wie man die Gottheit geläugnet hat; so läßt sich auch an Freyheit und Tugend zweifeln: weil wir nicht ergründen und erklären können, wie sie sind, und wie sie wirken; weil wir sie nicht sinnlich machen, sie dem Sinnlichen nicht unterwerfen, dem Sinnlichen nicht dienstbar machen – Freyheit und Tugend nicht in ihr Gegentheil verwandeln, in ihr Nichtseyn auflösen können.
Besser leuchten allerdings dem Erdensohne Tyranney und Knechtschaft ein. Der Lust will er dienen, und er will sich scheuen vor dem Schmerz. So gesinnt entsetzt er sich vor dem Wesen der Freyheit, welches ist zu herrschen über Begierde und Abscheu; zu verachten jede Lust und jeden Schmerz, die sie nicht selbst erzeugte; alleinthätig zu erwecken, hervorzubringen, zu erschaffen in des Menschen Brust seinen Haß und seine Liebe, und aus seiner Seele alles zu vertilgen, was nicht unvergänglich ist.
Träume, Fantasien, ein wesenloses Hirngespinnst wären Freyheit und Tugend – weil sie nicht von Erde, nicht allein aus Erde, aus reiner Erde – weil sie mehr als Natur, weil sie Göttlich sind: anders und mächtiger erfreuen als Wollust, höher begeistern als Ehre, gewaltiger sichern als Gold und Kronen – weil sie die Welt überwinden? ...
Zweymal hat Dorenburg, fuhr Henriette fort, den Aristoteles aufgerufen. Wir alle wußten von dem Manne aus Stagira, und hatten mancherley von ihm gehört. Unter dem oft und viel Gehörten hat sich mir am tiefsten eingeprägt – was Dorenburg zurück behielt.
Indem zog sie aus ihrer Brieftasche ein von Woldemars Hand geschriebenes Blatt hervor, und las:
»Alle Dinge haben in ihrer Natur etwas Göttliches! – Auch der in Unsittlichkeit versunkene Mensch behält noch etwas natürlich Gutes in sich, das ihn fortdaurend antreibt, nach dem ihm eigenthümlichen Guten hinzustreben. Vielleicht suchen wir alle, weder was wir wähnen, noch was wir vorgeben; sondern es suchen alle mit einander Eins und Ebendasselbe; denn, wie gesagt: alle Dinge haben in ihrer Natur etwas Göttliches.
»Was es nun auch sey, das im Menschen herrscht und gebietet und die Begriffe von moralischer Schönheit und göttlichen Dingen in ihm unterhält: sey es selbst etwas Göttliches, oder nur etwas dem Göttlichen gemäßes: also wenigstens in ihm das Edelste und Göttlichste: so ist die Anwendung und Entwickelung dieser Thätigkeit der eigenthümliche Zweck seines Daseyns, sein höchstes Gut; so ist diese ungehinderte Kraftäusserung selbst, das an sich Wünschenswürdige für ihn: das, was wir Glückseligkeit nennen.
»Denn Glückseligkeit ist nicht etwas, was dem Leben nur angehängt werden kann; sie muß aus der Natur des Wesens das zu ihr gelangen soll, hervorgehen. Niemand wird von einem Thiere sagen, daß es Glückseligkeit erwerbe; noch von einem Kinde, daß es sie genieße. Erwerb und Genuß der Glückseligkeit ist allein durch Tugend möglich; ihr Begriff ist der Begriff der Vollkommenheit des Menschen: sie ist Vollendung.
»Da nun der Geist im Menschen eigentlich allein den Menschen ausmacht, und seine geistige Natur, in Vergleichung mit der körperlichen, etwas Göttliches ist; folglich auch das den geistigen Bedürfnissen gemäß eingerichtete Leben, in Vergleichung des gewöhnlichen Lebens, allein ein göttliches Leben genannt werden darf: so müssen wir nicht, wie einige sagen, als Menschen, menschlich; als Sterbliche, sterblich denken: sondern im Gegentheil, so viel wir immer vermögen, gegen das Sterbliche ankämpfen, und alles thun, um dem, was das edelste in uns ist, gemäß zu leben. Denn wenn gleich dieses edelste unserer Natur nur den kleinsten Theil derselben auszumachen scheint, so übertrifft dieser kleinere Theil doch die übrigen alle an Würde und an Kraft.«
Mit einem eigenen Nachdruck sprach Henriette noch einmal diese letzten Worte aus: An Würde und an Kraft. Ihr zuversichtlicher Blick bey dieser Wiederholung machte alle weitere Auslegung überflüssig.
Biderthal fühlte den ganzen Inhalt jener Worte und dieses Blicks.
»Genug!« sagte er, »genug! Ich bin lange überwunden, und sündigte, indem ich so hartnäckig wider deine schöne Zuversicht mich auflehnte, und dem Glauben in meinem eigenen Herzen widersprach. Der ganze Himmel ist auf deiner Seite, und es wird wahr werden, was du verheißen hast.«
Das Gespräch erhielt nun eine neue Wendung. Luise und Caroline nahmen frohen Antheil daran; die alte Traulichkeit stellte sich ganz wieder her, und jedem wurde durch eigene Empfindung und durch Theilnehmung so wohl, daß sie nicht von einander scheiden konnten, und sich gegenseitig hielten bis tief in die Nacht. Henriette drang endlich darauf, daß man aufbrechen mußte. Da sie nach Hause kam, warf sie sich mit ihren Kleidern auf ihr Ruhebette, wo der gehoffte Schlummer sie auch bald umfing. Erquickt stand sie früh am Morgen auf, kleidete sich um, und ging zu Woldemar.
Wie dieser den vorigen Abend und die Nacht zugebracht hatte, ist vorhin erzählt worden.
Er war eben aus seinem Schlafzimmer getreten, da Henriette ankam. – Er sah, daß sie vor seinem Anblick sich entsetzte!
In demselben Augenblick lag sie auch schon vor ihm auf den Knieen, hatte eine seiner Hände ergriffen, bebte, weinte, hatte keine Stimme.
Stehen Sie auf, sagte der Starrsinnige; gleich wird mein Bedienter kommen.
Diese Worte gaben Henrietten eine neue andre Erschütterung. – Sie stand auf.
So geben Sie nun Befehl, sagte sie, daß wir ungestört bleiben, denn ich habe viel mit Ihnen zu reden, und ich lasse Sie nicht mehr, es komme Was und Wer da wolle – Wir müssen an ein Ende, Woldemar! Heute, in dieser Stunde!
Müssen erst? antwortete Woldemar. Er reichte ihr den Schlüssel zu seinem Cabinette. – Gehen Sie an meinen Schreibtisch und lesen Sie, ob wir erst müssen.
Henriette ging, und fand auf dem Schreibtische den Brief, den Woldemar in der Nacht an Allwina geschrieben hatte. Nach Woldemars Rede konnte sie nicht anders glauben, als, es wäre dieses Schreiben an sie selbst gerichtet. Zitternd nahm sie das Blatt in die Hand, und las mit zunehmender Verwirrung.
»Ich habe zwanzig Briefe an Dich geschrieben, die Du alle nicht erhalten hast; sie sind zerrissen, verbrannt. – Aber was soll ich Dir es länger verhehlen, daß ich in die tiefste, unheilbarste Schwermuth gerathen bin? – Mir schaudert vor dem Gedanken, gute Seele, wie ich Dich erschrecken, Dich betrüben werde! Aber ich muß, ich muß!
»Oder soll ich fort, auf und davon? – O, ich bin tausendmal dazu versucht gewesen! Aber Du sollst nicht elender werden, als das Schicksal Dich macht! Ihm Deinen Fluch, nicht mir!
»Warum hörtest Du mich ehmals nicht! als ich Dich, als ich Euch alle vor mir warnte, so oft warnte, daß Ihr nicht auf mich bauen, daß Ihr Euch nicht so an mich hängen solltet! – Ihr lachtet! – Ha, nun ist's an mir zu lachen!
»Ich bin nicht im Fieber, Allwina;« –
– Allwina? rief Henriette ... Sie wankte, das Blatt fiel ihr aus der Hand. – Gott! seufzte sie trostlos, Gott! – so verlassen mich dennoch meine Kräfte! –
Neuer Muth belebte sie. Sie nahm das Blatt auf und las weiter.
»O, ich bin so wach, bin nur zu gut bey Verstande! – Aber Dir zu entdecken, was ich habe – Es ist unmöglich. Auch Henriette erfährt es nicht, mein Bruder nicht, Niemand soll es erfahren! Aber, ja, es ist mir etwas begegnet – Etwas ... Ich habe entdeckt, daß alle Freundschaft, alle Liebe nur Wahn ist, Narrheit ist – ausgenommen dem Narren ... Ich preise sie wohl einmal wieder, so Gott will und ich lebe!
»Ihr werdet Mitleiden mit mir haben, in mich dringen, um mein Geheimniß zu erfahren und mich zu trösten – Ich bitte, ich beschwöre Euch, thut es nicht! O, kein Mitleiden! keine Tröstungen! Ihr könntet Meere weinen, und meinem lechzenden Herzen käme nicht ein Tropfen davon zu gut. – O, thut es nicht! Ich würde rasend werden über Euer Mitleiden, Euren Trost, Euer Weinen –
»Daß in den Menschen das gelegt werden mußte: jenes Sehnen, jene brennende Begierde nach – Menschen-Herz – die am Ende doch nur falsche Lust, kranker Heißhunger ist, der allein des Geruchs bedarf, und es folgt Ekel! – – Aber nein! Nicht falsche Lust, nicht kranker Hunger; sondern daß die Befriedigung nur Blendwerk, der Geruch nur Anstrich war: darin das Elend!
»Woher die Sage unter die Leute gekommen seyn mag – das allgemeine Gerücht von Liebe, von Freundschaft? – – Es ist wie mit den Gespenstern, deren überall so viele gesehen worden sind. Gerade so!
»Doch giebt es Beyspiele von beständiger Ergebenheit, von alles überwiegender Treue – Ja! Nur daß man nie sich frage: Wie geht es zu? Was bindet, was hält da, wo es so ist?
»Ach, es ist nicht der Rede werth, alles was macht, daß Menschen sich an einander hängen; es ist so an tausend Enden zu fassen und zu lassen, von so zweydeutigem, betrüglichem, zufälligem, unwesentlichem Wesen, daß man nie weiß, Was man hat, oder: Ob man nur was hat. – Schrecklich! Schrecklich! Worauf der Mensch allein einen Werth legen kann, das ist nicht! – –
»Bist Du es, Du holde Du, woran ich dieses schreibe? – Laß mich, o, laß mich, unglückliche Allwina! und Gott erbarme sich Deiner!«
Schrecken und Unwillen erfüllten, zerrissen Henriettens Seele. Todtenblaß, aber nicht mehr bebend, verließ sie das Cabinet, und blieb vor Woldemar, der sich auf sein Canapee gesetzt hatte, in einiger Entfernung stehen.
Woldemar! sagte sie, ich sehe kein Ende – und gehe – wie ich nie, wie ich am wenigsten heute von Ihnen zu gehen dachte. Ich kam voll Vertrauen und mit größerer Liebe zu Ihnen im Herzen, als jemals. Ich kam, um ein drückendes Bekenntniß abzulegen, um gewisse Verzeihung zu holen – – – Ich war so voll Hoffnung – – –
Bey den Worten Bekenntniß, Verzeihung, Hoffnung verwandelte sich Woldemars ganze Gestalt, als hätten so viele Zauberschläge ihn berührt. Henriette sah und fühlte die mächtige Veränderung, die in ihm vorging; und auch ihre ganze Gestalt wurde anders.
Hoffnung ... Verzeihung ... Bekenntniß – stammelte Woldemar – ... O, Henriette!
Mit dieser Ausrufung sprang er auf von seinem Sitz, sank wieder zurück, verbarg in dem Einen Arm sein Gesicht, streckte den andern furchtsam aus gegen Henriette, und fing an zu weinen, daß er schluchzte.
Henriette ergriff mit Inbrunst die ihr gebotene Hand.
Woldemar! rief sie; ich habe dich wieder! – O, sey wieder dein, wie du wieder mein bist!
Lieber! Du hast mir viel zu verzeihen; ich habe dich unaussprechlich elend gemacht; dich und mich. Aber was ich litt, war nur Büßung. Ich hatte wider die Stimme meines Herzens gehandelt; hatte ein heiliges Gefühl in meinem Innern – jenes, wovon die Tugend lebt, wodurch sie ist – soll ich sagen überwunden?
Ich ließ mich überreden zu thun, was ich verheimlichen mußte! – Nur dir verheimlichen, aber dir! – Es war am Sterbebette meines Vaters, und der Sterbende flehte. Ich kämpfte, Gott weiß mit welchem unsäglichen Schmerz – kämpfte bis zur Todesangst.
Dieß entschuldigt, aber es reiniget mich nicht: denn ich hörte noch immer die warnende Stimme in meinem Innern, und folgte dennoch einem andern Zuge – sündigte! ...
Sündigte? ... (Thränen erstickten auf einen Augenblick ihre Stimme) – Ich that – das war meine Sünde – ich that, was ich verheimlichen, was ich dir verbergen und verschweigen mußte – dir wenigstens verborgen und verschwiegen habe ... Daher die schreckliche Verwirrung – sie war mein Werk – in der du untergehen, verderben konntest – Du, und Allwina, und Biderthal, der Treue ...
Woldemar ertrug es nicht langer. Er wendete sich gegen Henriette, faltete seine Hände gegen sie mit dem Ausdruck eines unaussprechlichen Flehens: daß sie seiner schonen möchte! – Er konnte nicht reden.
Keine Feder beschreibt, was in diesem Augenblick in Woldemar vorging. Der Himmel war ihm aufgethan in Henriettens Seele; in seiner eigenen die Hölle. Er sah nicht einen Schatten mehr von Schuld an ihr; alle Sünde nur in sich; alle Sünde, und lauter Verdammniß. – Sie stand nun so hoch über ihm, so hoch und herrlich; Sie, die er vor einer Stunde noch so tief unter sich geachtet hatte!
So hoch und herrlich! – Dieß war himmlische Wonne!
Er, der Verstoßene! – Dieß war Höllenqual!
Aber die Wonne überwog.
Henriettens sanftes Zureden fand allmählig Eingang. Der arme Zerrüttete überließ sich ihrer Huld; er hörte wieder, sie durfte wieder reden.
Nun erzählte sie ihm, wie sie gestern schon ihn mit Gewalt zu einer Erklärung hätte nöthigen wollen; wie sie durch wiederholte dringende Botschaften von Luise daran wäre verhindert worden; in welchem Schrecken sie bey Biderthal Alle gefunden; den Contrast ihrer Freude über Luisens Bekenntniß; Biderthals Entsetzen; was sich hierauf weiter zugetragen hätte; das Wesentliche der Unterredung; endlich, wie beruhigt und hoffnungsvoll sie auseinander geschieden wären.
Einige Male stockte Henriette in ihrer Erzählung, und wurde verlegen, weil sie über Biderthals angstvollen Zustand nicht ganz deutlich werden mochte. Woldemar aber bat sie wiederholt, ihm doch nichts zu verschweigen, nichts zurück zu behalten, und versprach so treuherzig, auch von seiner Seite nichts zu verschweigen, nichts zurück zu behalten, daß Henriette ihre Scheu überwand, und nach und nach ihm alles entdeckte: Biderthals ganze Sorge; seine frühere Unterredung mit ihr; ihr eigenes Verhalten dabey; ihre geheimsten Empfindungen und Gedanken; was sie gestärkt, ihr immer wieder aufgeholfen, den Glauben an Woldemar nie in ihr habe untergehen lassen.
Woldemar wurde im höchsten Grade gerührt; er vergaß sich selbst, und fühlte nur Henriettens Schönheit und Größe. Wie in dieser Stunde hatte er noch nie in seinem Leben genossen.
»Liebe Henriette,« sagte er, »es ist nicht auszusprechen was ich fühle! Laut vor der ganzen Welt könnte – möchte ichs bekennen, daß ich der schuldigste unter allen Menschen bin; in meiner ganzen Verworfenheit möchte ich gesehen seyn, es offenbar machen, wie ich ohne alle Rechtfertigung bin vor dir, du reines himmlisches Wesen! – Sähest du mich, wie ich mich selbst sehe – du könntest mir nicht verzeihen – Aber du verzeihst mir, und ich nehme deine Verzeihung an: du wirst noch himmlischer dadurch!
– – »Wie ihr alle mich noch so milde beurtheilt habt! – Ich war verderbter als ihr es glauben konntet – Tausend Gräuel waren in meinem Herzen!«
Henriette erblaßte.
»Fürchte nicht, sagte Woldemar; höre mich!
»Mein aufgebrachter Sinn konnte nie deine Unschuld mir ganz aus den Augen rücken; noch weniger, meine gerechte Liebe gegen dich zerstören. Das Gefühl deines Werths nahm vielmehr zu mit meinem Groll. Denn die Ursache meiner Erbitterung war nicht in Dir, sie war allein in mir selbst.
»Gott hat den Menschen aufrichtig gemacht. Er kann sich täuschen; aber nur äusserlich, nur auf der Oberfläche seines Wesens; nicht in der Tiefe seines Herzens: da fühlt er seine Tücke.
»Dich wollte ich hassen, und wurde mir selbst feind.
»Auch das ist wider die Natur, daß der Mensch sich selbst feind sey. – So entstand in meinem Inwendigen die gräulichste Verwirrung. Nichts war mehr von allem Gewesenen. Das allein blieb, daß ich nicht von dir lassen konnte.
»Du wirst meinen Zustand ahnden, wie verworren ich mich auch ausdrücke. Höre weiter!
»Ich konnte dich nicht lassen, konnte dich nicht halten. Meine Verzweiflung nahm mit jedem Tage zu: Was mich von mir selbst schied, schied mich auch von dir: Da war keine Hülfe, kein Rath, keine Zuflucht! Das Vergangene erschien mir wie ein Traum.
»Biderthal hatte mir einmal geschrieben, da ich mich auf dem höchsten Gipfel des Glücks fühlte: Wenn dieß alles nur ein Traum wäre!
»Ich erinnerte mich dieser Worte; erinnerte mich seiner verschmähten früheren Warnungen. In den Finsternissen, die mich umgaben, standen jene Warnungen vor mir, wie ein Gespenst –
... »Du schauderst? – Mich schaudert auch! – – Fürchte nicht; Höre mich zu Ende!
»Ich konnte dich nicht halten, konnte dich nicht lassen!
Dich nicht lassen zu können: dieß Gefühl war über alle andre. Ich ergrimmte wider dieses Gefühl – Wider mich selbst! – Dann zerrann ich wieder in Wehmuth ... Meine Seele verschmachtete. – Ich kämpfte um nur immer mehr zu unterliegen.
»Liebe Henriette, es ist unaussprechlich, was ich gelitten habe!
»Ich erzählte dir ehmals von meinem Vormunde, dem ehrwürdigen Terlub, der irre wurde: wie ich ihn einmal ein Licht vom Tische nehmen und damit ins Nebenzimmer gehen sah, wo er lange herum suchte; und da ich ihm endlich nachging, und ihn fragte: was er suchte? mir mit einem tiefen Seufzer antwortete: ... » Ich weiß nicht« ... Und fortsuchend mit verstörter Miene, und tiefer seufzend ... » Ich suche mich selbst.«
»Dieß war mein Zustand: Ich suchte mich selbst; suchte mich, wo ich mich immer gefunden und wieder gefunden hatte: Bey Dir. Du warst nicht mehr! Wo anders sollte ich mich suchen? – Du würdest wiederkommen! hoffte ich. Hoffte, und suchte immer von neuem, immer vergeblich!
»Du hast es genug wahrgenommen, wie ich mit meinen Blicken in deinen Augen wühlte, in allen deinen Zügen forschte nach meiner Verlorenen ...
»Ich erholte mich wohl auf kurze Zeit; und so süß war mir die Ruhe, die ich dann genoß, so erquickend, daß ich mich geheilt glaubte – wenigstens genesend.
»Käme nun Henriette, dachte ich, so sähe ich mich einmal heiter; ich schaute sie wieder an wie ehmals; sie schaute mich so wieder an; ihre mir wiedergegebene Gestalt behielt ich im Auge; ich wollte sie fest halten im Auge, im Innersten des Auges, daß sie mir nie mehr daraus verschwände!
»Kamst du dann, und ich hörte nur von weitem deinen Fußtritt, so war schon alles wieder anders. Ein Schauer überlief mich, mir klopfte das Herz; mein Auge, das nur hatte anschauen wollen, wurde sehlos. Es konnte nur strahlen, und erblindete wenn es nicht strahlte. Verlegen, gedrückt, angstvoll standest du vor mir; ein fremdes Wesen – und dennoch Henriette!
»Dann wünschte ich, du möchtest nur wieder fern seyn. – Gingst du, so wollte ich dich wieder halten. – Du gingst, und es rann mir kalt durch alle Glieder. – – Die Thüre schloß sich; ich war wieder allein – Gott! In welchem Zustande? ...
»Ach! die fürchterlichen Beklemmungen alle; wie sie mich nicht getödtet haben? ...
»Staunend habe ich hier oft vor deinem Bilde gestanden, gesessen, und mich gefragt und es ergründen wollen: Woher die Gewalt über mich in diesen Zügen, dieser Bildung? – Was ist das? fragte ich mich selbst; Was ist das? – – Ein Leben ausser mir drängt sich in dieser Gestalt an die Stelle des eigenen Lebens in mir, und verzehrt es. – Ich kann mein Daseyn nicht retten vor diesem fremden Wesen; es überfüllt alle meine Sinne und zerstört sie – entwendet mir alle meine Sinne! Jenes Wesen regt mit jedem Nerv, mit jeder Muskel sich fühlbarer in mir, als in sich selbst. Von seiner Nähe erbebe ich bis ins Schwarze vom Auge – Da fühle ichs! Da raubt es mir das Licht! – – Sah ich eine andre Gestalt ehmals, da es nicht so war? Bin ich selbst ein Andrer geworden? – Das Gewesene, was war es? Das Gegenwärtige, was ist es?«
Hier unterbrach Henriette Woldemarn, indem sie mit angstvoller Geberde aufstand, weinend sich von ihm wendete, und ihm mit der Hand winkte, ihr nicht zu folgen.
»Henriette!« rief mit milder Stimme Woldemar; »O, bleibe; komm zurück; sieh mir ins Auge: Deine Angst wird verschwinden!«
Der Ton seiner Stimme ergriff Henriette. Sie stand, sie wendete sich – erblickte auf Woldemars Angesicht eine Heiterkeit, eine Zuversicht und innere Ruhe, wie es der Klang seiner Stimme ihr verheißen hatte: So war sein Auge, so war seine ganze Geberde.
Henriette faßte Muth. Sie drückte ihrem Freunde die Hand: – Ich will nicht mehr fürchten, sagte sie; rede frey, laß mich alles wissen.
Du sollst, du mußt alles wissen, antwortete Woldemar, damit du ganz und auf immer Friede habest. Den Schrecken, den du gefühlt hast, durfte ich dir nicht ersparen. Höre nun auch was dich beruhigen wird.
»Wie sehr es auch nach dem von mir Gebeichteten das Ansehen hat, daß meine Freundschaft zu dir in leidenschaftliche Liebe ausgeartet, oder jene Freundschaft selbst von Anfang an nur eine versteckte Liebe gewesen sey; so kann ich dennoch dir betheuern: es war nicht so. Mein leidenschaftlicher Zustand gründete sich einzig auf den Zwist, in den ich insgeheim mit dir gerathen war.
»Ich sagte vorhin: Biderthals verschmähte Warnungen wären mir jetzt schrecklich wieder ins Gedächtniß gekommen.
»Das ist wahr; und ich muß noch hinzusetzen, daß ich es in Augenblicken schmerzlich bereute, so hartnäckig widerstanden zu haben; ich wäre so dem tiefen Elende, worin ich mich befand, entgangen.
»Aber dieser Wunsch war nur ein Wunsch der Verzweiflung, der schnell vorüberging, und die Wahrheit stehen ließ: Daß ich mich nicht über mich selbst getäuscht, Biderthalen nicht mit Unrecht widerstanden hatte. Was war, wäre nicht gewesen, wenn ich ihm hätte glauben, ihm nachgeben können. Also hatte ich nichts zu bereuen.
»Nach allen Prüfungen, unter allen Anfechtungen, kam das Gefühl meiner reinen unschuldigen Liebe zu dir immer glänzender wieder hervor. Ich hatte selige Stunden, wo ich mich in diesem Bewußtseyn wie verklärt fühlte!
»Aber eine tiefe Unart war in meinem Herzen, und zerbrach es!
»Ihr saht diese Unart nicht, und kränktet mich an einer Seite, wo ich unschuldig war. Dadurch gelang es mir, mich selbst zu täuschen.
» Dich! – jene Henriette! – in meinem Gewissen so beschämt zu sehen! Darauf bezog ich alle meine Leiden, und verbarg mir den großen Antheil, den häßlicher Stolz und wüste Eigenliebe daran hatten.
»Doch erhob sich die Stimme des Gewissens mehrmals wider den Heuchler ...
»Sieh – Da wurde der Heuchler tückisch; erbitterte sich; verstockte sich – wollte lieber mit der Gottheit und der Menschheit brechen, als mit seinem Satanisch gewordenen Selbst –«
Nicht weiter, lieber Woldemar! rief Henriette, indem sie ihrem Freunde um den Hals fiel; nicht weiter, lieber Woldemar! – »Höre, Lieber! Wir vergessen deinen Bruder, die edle treue Seele! Willst du ihm nicht eine Zeile schreiben, daß er komme.« – Woldemar sprang auf und schrieb:
»Die Himmlische, die Reine hat gesiegt. Komm und sieh!«
Da Woldemar dem Bedienten dies Billet zum Wegtragen gereicht hatte, fing er unmittelbar an, mit Henriette von Allwina zu reden, und legte die pünctlichste Rechenschaft ab von dem, was in Absicht ihrer in seinem Gemüthe diese Zeit über vorgegangen war.
Er versicherte: Was ihn dem Wahnsinne so nahe gebracht hätte, wäre das immer steigende Gefühl des Contrastes zwischen Allwinens reiner Seele und seinem verwüsteten Gemüth gewesen. Die Gegenwart dieser reinen Seele aber hätte ihn nicht untergehen lassen.
»Ich mußte,« sagte er, »entweder alles Gute hassen lernen, oder mich selbst bis zur Raserey verwirren.
»Mit dir, mit euch allen konnte ich zürnen; konnte in der Bosheit meines Herzens Lästerungen wider euch ersinnen: Aber Allwina! – Wie hätte ich mit Allwina zürnen – Gott! wie hätte ich sie lästern können? –
»Es ist über allen Ausdruck, über alle fremde Ahndung, wie ihr Anblick, oder der Gedanke an sie, auch in den wildesten Momenten, mich ergriff, mich zurückbrachte! Durch kein anderes Wesen ist je eine solche Empfindung von Ehrfurcht in mich gekommen; durch kein andres Wesen eine solche Empfindung von Liebe – die mir gegeben wurde ohne alles Verdienst, und die ich eben so rein, unbegreiflich, wieder geben konnte. – Ich mußte anbeten; ich mußte aufschauen zu Gott ... Ich konnte, so lange noch ein Funken von Vernunft in mir blieb, neben Allwina nicht ganz verderben.«
Hingerissen von innigstem Wonnegefühl, stürzte Henriette vor Woldemar sich auf die Kniee, umfaßte ihn mit aufgehobenen Händen und aufgerichtetem Angesicht:
Woldemar! sagte sie mit einem Tone, in dem ihre ganze Seele erklang – Woldemar! – Ich bin wieder ganz glücklich!
Sey glücklich, antwortete Woldemar, indem er Henriette aufrichtete, und sie fest in seine Arme schloß; seyd Alle glücklich; aber stört meine Reue nicht; seyd billig.
Biderthal flog in diesem Augenblick die Treppe herauf, war in der Thüre, und schnell wie der Blitz, auch schon in den Armen seines Bruders.
Verzeihung, Lieber! sagte Biderthal – Verzeihung! – Henriette hat mir verziehen; Du wirst mir auch verzeihen – Ja, du wirst!
Woldemar fuhr, wie vor Schrecken, zusammen bey diesen Worten. Auffallend veränderte sich seine Geberde.
Was widerfährt dir? fragte voll Verwirrung und betroffen Biderthal. – Hast du mich nicht gefodert? – »Ich sollte kommen und sehen« – Wie finde ich dich? – O, Lieber, sprich!
Mit gebrochener Stimme antwortete Woldemar: – Ich soll dir verzeihen! – Wie ein Donnerschlag hat es mich getroffen, mich zerschmettert, dieses Wort. – Ich dir verzeihen! – – Ach, ich verdiente nicht unter euch zu leben ... Ihr schätztet an mir, was nicht mein, was eine freye Gabe des Schicksals war. Mein Eigenes ist böse ... Ich bin ein nichtswürdiger Mensch. Mir selbst, euch allen habe ich geheuchelt. Ich sehe das nun so klar – Ich bin mir ein Abscheu!
Er sprang mit Heftigkeit auf. Seine Stimme hob sich – »Es trifft mich,« sagte er, hin und her gehend – »es trifft mich, Schlag auf Schlag immer tiefer – – Ja, es war eine Lüge was ich Biderthalen schrieb: – Henriette hätte gesiegt. – Ich habe gesiegt; nicht Henriette. – – Sie sprach von einem Bekenntnisse das sie ablegen, von Verzeihung, die sie bey mir suchen wollte: Da frohlockte mein Hochmuth, legte sich mein Wuth. Darum allein hatte ich ja gewüthet, daß meinem Eigenwillen, meiner Selbstsucht dies Opfer gebracht würde ...«
Angstvoll blickte Biderthal auf Henriette – Sie bebte.
Schnell wendete sich Woldemar gegen Biderthal – Bruder! sagte er mit verstörtem Gesicht – – Ich vergaß! Du mußt es auch lesen, was ich für Allwina in dieser Nacht geschrieben habe. – Der Brief liegt noch ungesiegelt auf meinem Schreibtische. Ich begrüßte Henriette heute früh mit dieser Mittheilung. – Du verdienst gleichen Empfang! Geh in mein Cabinet!
Henriette widersetzte sich; aber Woldemar bestand auf seinem Sinn.
Da Biderthal ging, sprang auch Henriette auf, und warf sich, mit abgewendetem Gesicht in einen Sessel an der andern Seite des Zimmers. – Ach, es ist wahr, sagte sie, mit erstickter Stimme – Es ist wahr! – Nein, ich habe nicht gesiegt!
Woldemar rief Biderthal zurück, und ging ihm entgegen an die Thüre des Cabinets.
Da ergriff ihn eine neue heftigere Beklemmung.
Er wankte, stützte sich mit dem Kopf an den Thürpfosten. – Biderthal umfaßte ihn, und brachte ihn auf das Canapee zurück, wo er sich neben ihn, verstummend, niederließ, und voll Rührung sich an ihn schmiegte.
»Ich kann das nicht von euch wenden, sagte Woldemar, daß ihr mich verachten müßt.
... »Hätte ich mich aufgerieben in meinem Wahnsinn, hätte ich den Untergang, um den ich buhlte, gefunden ...
»Sieh! (er deutete auf ein bey dem noch unangerührten Frühstücke liegendes Messer) – Von ungefähr fühlte ich einmal in der brennenden Hand, daß der Stahl sie kühlte. Es erquickte mich. Ich genoß die Kühlung, und erfrischte, wechselsweise, bald die eine, bald die andre Hand. Mein Auge wurde wacker. – – »Auf der entblößten Brust diese Labung!« – Ha, mir schauderte vor Lust! – » Tiefer! Tiefer!« kam ein Sehnen. – Mein Herz entbrannte, loderte von verzehrendem Durst, hob sich anzusaugen, in sich zu schlürfen diese Kühlung. – – – Gott! Wie entkam ich!« – –
Woldemar stürzte sich in des Bruders Arme –
»Ja, es verdiente zu bluten, sagte er, dieß verächtliche Herz – das von jeher mich nur weich gemacht hat gegen mich selbst, nachgiebig nur gegen mich selbst – das mich alle Tugenden zu umgehen, meinen Eigendünkel über alles zu erheben lehrte – das um alle Vernunft, um allen Seelenadel mich bringen wollte, mich darum brachte!«
Henriette weinte laut.– Schluchzend, die Hände ringend, gen Himmel flehend wiederholte sie: Allwina! – O, Allwina! Allwina!
Es ergriff Woldemar. Er blickte auf, todtenblaß; blickte auf Henriette. – Sie stürzte nach ihm hin. –
Woldemar! stammelte sie, mit durchdringender Wehmuth – O, sieh mich an! ... Du warst ehmals ein so guter Mann! – ein so edler Mann! – Das warst du ...
Die Stimme verließ sie.
Woldemar reichte Henrietten die Hand. Das Herz schmolz, zerrann ihm im Busen.
... »Ich will Demuth lernen,« sagte er. – »Du erinnerst mich! – Was jetzt in mir so todt wider mich selbst ... Auch das ist Stolz! Immer noch derselbe harte, unbiegsame Stolz –
»Ich war nicht gut, Henriette! – Ich will es werden –ich will Demuth lernen; ich will Euer seyn ... O, nehmt mich an!«
Wer schildert diesen Augenblick – Biderthals, Woldemars, Henriettens Seele? – Wer öffnet die Himmel?
Die Fromme hatte wahrhaft gesiegt, und der Sieg blieb ihr.
Da Biderthal seinen Bruder beruhigt, heiter gelassen sah, eilte er zu Luise, hierauf zu Dorenburg, um seine Freude allen mitzutheilen. Er kam zurück zum Mittagsessen mit Luise. Henriette hatte schon ausgemacht, daß auf den Abend auch Dorenburg und Caroline kommen sollten.
Um die Zeit, wo man diese erwartete, sagte Woldemar, daß er hingehen wollte, sie abzuholen.
Seine unvermuthete Erscheinung machte auf Mann und Weib einen gleich lebhaften, durchgreifenden Eindruck. Wie Sonnenaufgang strahlte hinter ihren Augen innige helle Freude. Woldemar drückte beyde an sein Herz, wurde von beyden umschlungen, festgehalten: Keiner brauchte dem Andern zu sagen, daß was er fühlte nicht auszusprechen wäre.
Es war eine neue Rührung, da die Geschwister, in Woldemars Hause nun alle versammelt, sich die Hände drückten, sich umarmten. – Aber es fehlte Allwina!
Ach, Allwina! rief, sehnsuchtsvoll, Henriette aus; und alle wiederholten den Ausruf: Ja, Allwina! Allwina!
Nur von ihr wurde geredet; abgebrochen, und wieder geredet – so lange der Abend dauerte.
... Was? sagte Woldemar ... Wird schon aufgetragen? – sah nach der Uhr und lauschte.
Unmöglich! antwortete Henriette – – Aber sie hörte das Geräusch.
Alle hörten es! – fuhren auf innerlich – hielten sich – schwiegen – –
Das Geräusch wurde leiser und kam näher.
Woldemar sprang auf, öffnete die Thür – Allwina war in seinen Armen!
O, des Mannes und seiner Gefühle!
Alle erfuhren eine Erschütterung; eine Wonne und Wehmuth; eine frohe und tiefe Andacht, wie noch nie in ihrem Leben.
Gott! sagte Allwina, so bald sie reden konnte – Ich finde dich gesund! Ihr alle seyd es! Seyd alle da! – Wohl und heiter! ... Ach! mir ist so bange gewesen! – Woldemars, noch mehr, Henriettens Briefe – ich weiß nicht, was darin mich so beklemmte, so unerträglich ängstigte? Ich konnte nicht bleiben. Die gute Tante begriff nicht, was ich hatte. Endlich sagte ichs; wir brachen auf; reisten mit der schrecklichsten Eile – Und nun finde ich euch alle versammelt, als hättet ihr gewußt von meinem Kommen; und zu meinem Empfang ein Fest angestellt! ... O, Ihr guten köstlichen Gesichter miteinander! – Du, und Henriette, und Alle – Alle, wie ich euch verließ!
Froher und glücklicher als da du uns verließest! sagte Woldemar, indem er Allwina fester an sich herzte. Es stand eine finstre Wolke über mir. Du erblicktest vor Monaten den Nebel, aus dem sie sich zusammen zog, und ich verhieß dir, der Nebel würde fallen. Nun ist er gefallen ... Morgen, du Gute, Liebe, Herrliche! Morgen erzähle ich dir alles.
Ungeduldig sein Herz vor Allwina auszuschütten, konnte Woldemar am andern Tage kaum es erwarten, daß sie ruhig sich zu ihm setzte, um ihn anzuhören.
Er fing bey der unglücklichen Entdeckung die Luise ihm gemacht hatte, an; erzählte, in welche heftige Gemüthsbewegung er dadurch gerathen war; wie ihm aber eine bessere Besinnung, nach wenigen Stunden, wieder aufgeholfen, er vor sich selbst sich geschämt, und nun auch bald alles Mißvergnügen über diese Sache so ganz in sich zu unterdrücken gewußt hatte, daß ohne einen neuen Anlaß derselben Art, gewiß nie wieder etwas davon in ihm aufgekommen wäre.
Hierauf setzte er diesen neuen Anlaß ins Licht, und entwickelte die ganze Geschichte seines Herzens bis auf den gestrigen Tag, mit einer Klarheit und mit einem Leben, daß Allwina durch und durch davon gerührt wurde, alles mit ihm fühlte, und ihm nur da nicht folgen konnte, wo er, voll Erbitterung, seine eigene Schuld recht böse zu machen suchte. Er that ihr weh mit seinem Eifern wider sich selbst; ihre Liebe zu ihm empörte sich dawider – schalt ihn, zürnte mit ihm.
Aber es hatte Woldemar ein neuer Schrecken, während er noch redete, ergriffen.
Er hatte nichts verheimlichen wollen; wußte nicht anders, als daß er sein ganzes Inneres darlegte; und doch war einiges von dem, was in ihm vorgegangen war, und er gestern Henrietten mit einem Feuer dargestellt hatte, daß sie vor ihm zurück bebte, jetzt, vor seinem edeln Weibe, ausgeblieben – Nicht aus Ueberlegung! Nicht mit Vorbedacht! Es hatte ihn diese Zurückhaltung gleichsam überrascht. Darum erschrak er in seinem Innern; entsetzte sich vor dem sonderbaren Geheimnisse, das in ihm waltete.
Er durchforschte jede Falte seines Wesens, und entdeckte bald, mit zerknirschender Beschämung, daß er auch an der Stelle, wo er sich ganz rein geachtet hatte, nicht mehr sich rein achten durfte. Ihm schauderte vor dem Abgrunde – an dem er noch stand: vor den Tiefen seines Herzens!
In dieser Angst beschloß er, was ihm bey Allwina begegnet war, und er hierauf in sich noch entdeckt hatte, unverzüglich Henrietten zu offenbaren. Aber sein guter Geist trat zu ihm, lehrte ihn anders; richtete ihn auf.
Nur Biderthalen vertraute er sein Innerstes ganz, und beyde wurden Ein Herz und Eine Seele, wie sie es vorher nie gewesen waren.
Bey jeder Gelegenheit wiederholte nachher Woldemar: es stünde mit strahlender Schrift, obgleich ihm nur sichtbar, an allen seinen Wänden geschrieben: Wer sich auf sein Herz verläßt, ist ein Thor – Richtet nicht!
Henriette sagte dagegen: sie läse auf ihren Wänden, auch mit Strahlen geschrieben, jenen Spruch des Fenelon:
Vertrauet der Liebe. Sie nimmt alles; aber sie giebt alles.