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Vor dem Portal des Präsidiums hielt die schöne, blaue Limousine des Grafen Zeinfeld.
Der klagte sich, während der Chauffeur den Wagen ankurbelte, selbst bitter an:
»Ich versteh' mich ja auch nicht, wie ich dazu gekommen bin, ein Mietauto zu nehmen, gerade gestern ... aber das ist, wenn man allzuviel Rücksicht nimmt auf seine Leute! Ich hatte meinen Chauffeur in den letzten Tagen oft auf dem Sitz, da dacht ich: laß ihn heute zu Hause! ... Und das hab' ich nun davon! ...«
Dr. Splittericht schüttelte den Kopf:
»Hier handelt es sich offenbar um ein von langer Hand vorbereitetes Verbrechen. Wären Sie gestern in Ihrer Limousine mit Fräulein Sebraczety vom Theater heimgefahren, so hätte der Entführer einen der nächsten Tage zu seinem Werk gewählt ... Aufgegeben hätt' er seine Absicht darum nicht ... Und ich meine, er hatte Bundesgenossen, die ihm den Erfolg verbürgten ...«
»Also glauben Sie, daß mehrere Leute ...?«
Dr. Splittericht schüttelte den Kopf, dessen kurzgeschnittenes, dunkelblondes Haar an den Schläfen schon ein wenig grau wurde.
»Nein, Herr Graf ... Ich bin der Ansicht ... es liegen im Wesen, in der Art der jungen Dame, soweit ich mir davon bis jetzt ein Bild machen kann, und dann auch in der allerdings recht mysteriösen Vorgeschichte ... da sind gewisse Zeichen ersichtlich oder, besser gesagt, Bedingungen vorhanden, die dem Entführer seine Arbeit recht leicht gemacht haben dürften ...«
Der Graf hatte schnell etwas erwidern wollen, aber er schwieg, ja, er biß sich auf die Lippen und nagte an seinem Schnurrbart. Man merkte, er war von neuem verletzt.
Dr. Splittericht, dem das nicht entging, fügte gleichwohl nicht ein Wort hinzu. Er sah in das Gewühl der belebten Königstraße, durch deren lebhaften Wagenverkehr sich langsam das Auto wandte, das wie ein starkes, laufgewohntes Tier seinen Unmut brummend hervorstieß.
Bald schien Graf Zeinfeld einzusehen, daß er seiner Empfindlichkeit in diesen wirren, wie von jagender Hast gepeitschten und von trauriger Finsternis überdeckten Lebensstunden ganz entsagen müsse; er erkannte immer mehr, daß nur rückhaltloses Vertrauen zu dem, der jetzt an seiner Seite saß, ihn aus der pfadlosen Oede führen könne, in der sein Herz tausend Qualen erduldete. Und dieser Mann besaß die Noblesse, sein Unrecht nicht nur einzusehen, nein, es auch dem anderen mit offenem Wort zu sagen.
Ueber Dr. Splitterichts Antlitz glitt jene leise Helligkeit, die sein Lächeln war. Er sagte:
»Es ist mir doch lieb, Herr Graf, in Ihnen den Mann zu finden, als den ich Sie von vornherein angesehen habe. Es geht ja sonst auch gar nicht! Hier liegen eben bestimmte Tatsachen in der Vergangenheit. Wenn ich diese nicht erwähnen und erwägen darf, verbaue ich mir selbst die Zugänge zur Lösung. Ich will Sie deshalb auch gleich noch fragen: Fräulein Sebraczety war, ehe sie hier ans Goethe-Theater kam, am Varieté ... Wissen Sie vielleicht an welchem?«
»Zuletzt am ›Kristallpalast‹ in Leipzig und vorher, glaube ich, im ›Odeon‹ in Budapest ...«
»Als was trat sie dort auf?«
»Als Charakterleserin.«
»Mit einem Manager?«
»Nein, sie forderte geschriebene und versiegelte Briefchen vom Publikum, die auf dem Kuvert mit einem Kennwort versehen waren. Diese Briefe wurden durch einen Diener eingesammelt, während Ilona sich hinter die Bühne zurückzog, und die übergab man ihr dann.«
»Und aus dem Briefe deutete sie nachher den Charakter des Schreibers?«
»Ganz recht, und sie hatte enormen Erfolg. Sie hat Gagen bis zu 6000 Mark den Monat gehabt und hatte Engamentsanträge auf Jahre hinaus.«
»Und doch ist sie nicht dabeigeblieben?«
»Nein. Einmal ist sie überhaupt eine ideale Natur, für die das Geld gar keinen Wert hat, und dann, ihre Liebe zum Theater, zur Schauspielkunst ...«
»Aber der hatte sie doch schon Valet gesagt, als sie ans Varieté ging?«
»Ja, daran ist dieser Mensch schuld gewesen.«
»Von dessen Person Ihnen jede Kenntnis fehlt?«
Der Graf nickte.
»Jawohl.« Und fügte hinzu: »Ich glaube auch nicht, Herr Doktor, daß wir in Ilonas Schreibtisch auch nur eine Zeile finden werden, die uns darüber Aufschluß geben könnte. Ich erinnere mich jetzt, wo ich mir selbst klar darüber bin, daß wir den Schleier, der über Ilonas Vergangenheit liegt, daß wir das alles ohne jede Rücksicht aufhellen müssen, jetzt fällt mir ein, daß sie einmal sagte, diese Zeit wäre so fürchterlich gewesen, sie hätte da so entsetzlich gelitten, daß sie alles, alles vernichten wollte, was damit zusammenhing ...«
»Aber ob das auch tatsächlich geschehen ist, das wissen Sie nicht?«
Der Graf zuckte nur die Achseln; er war offenbar ganz bei der, die er liebte.
»Aber daran ist wohl kein Zweifel. Dieser Unbekannte ist mit der Dame zusammen am Varieté gewesen?«
»Nein, das glaub' ich auch nicht. Es ist wohl so gewesen, daß der Mensch, der wahrscheinlich von einer besonderen, wenn auch abnormen Intelligenz ist, daß der Ilona zu einer Art Medium herangebildet hat ...«
»Dann war sie also doch unter seiner Leitung auch schon beim Varieté?«
»Ich glaube kaum ... Eher wohl haben Veranstaltungen im eigenen Hause stattgefunden, wo Gäste Zutritt hatten und ...«
»... und die dann dort oder anderswo ausgeplündert wurden, nicht wahr, Herr Graf? Sie haben versprochen, mir alles zu sagen!«
»Ja, das mutmaß' ich ebenfalls ... es ist nur so gar nicht leicht, so ... solche abscheulichen Dinge zu sagen.«
»Aber trotzdem!« Dr. Splitterichts Stimme hatte einen harten Klang: »Ich werde Ihnen sagen, Herr Graf, was Ihnen selbst nicht über die Lippen will: dieser Mensch war damals schon ein Verbrecher! Und zwar einer jener ganz gerissenen Kunden, die sich fast immer mit der Schönheit einer Frau drapieren und so überall Vertrauen finden ... außerdem arbeitete er jedenfalls unter einer besonderen Maske. Ich muß da an einen Kerl denken, den ich vor acht Jahren ganz im Anfang meiner kriminalistischen Tätigkeit festbekam. Es war in Frankfurt am Main. Ein großer Spiritistenprozeß, von dem Sie vielleicht auch gehört haben. Diese Zirkel gibt es ja überall; es wird da viel Unfug getrieben, aber schließlich, wenn es den Leuten Spaß macht und niemand direkt geschädigt wird ... wir sind ja nicht dazu da, auch noch die ›Geister‹ zu kontrollieren. Nur da drüben, in Frankfurt, hatte man ein regelrechtes System daraus gemacht ... die Geister forderten regelrecht Geld. Natürlich durch das Medium, das mit einem gewissen Salvioli zusammenarbeitete. Und die Gläubigen opferten Tausende, um irgendeinen verstorbenen Angehörigen wiederzusehen, um auf ein Geheimnis zu kommen, ja, es wurden sogar Lotterienummern und Rennbahntips von dieser angenehmen Kohorte verlangt und prompt ausgegeben. Ein Skandal, der erst 'rauskam, als schwer Geschädigte sich an die Polizei wandten. Die Fäden der sehr verzweigten Geschichte zogen sich auch nach Berlin, und ich wurde 'rübergeschickt nach Frankfurt. Na, das Medium, übrigens auch ein sehr hübsches Weib ... namens Grothe, das hatten wir gleich, und bei ihm fanden wir Briefe, die mit Salvioli unterzeichnet waren.«
Eines Abends wurden wir antelephoniert aus einem Weinlokal, Salvioli wäre dort mit einer Dame. Wir natürlich sofort hin! Und nun machte der Frankfurter Kollege eine große Dummheit: Der Besitzer der Weinstube, dem wir die Nachricht verdankten, der hatte nämlich gebeten, wir möchten doch den Skandal in seinem Lokal vermeiden und den Menschen draußen festnehmen. Und das hatte der Kollege leider versprochen. Wir schickten also jemand hinein, mit der Aufforderung, Herr Salvioli möchte mal herauskommen, es hätte ihm jemand etwas Wichtiges mitzuteilen. Das war ja an sich auch gar nicht so dumm. Denn daß die Polizei vor einem Lokal haltmacht, das wird der Gauner nicht ohne weiteres annehmen.«
Der Graf wiegte leise das Haupt, als zweifle er daran.
»Sie meinen: nein? ... Gott, wie man's nimmt. Im allgemeinen ist der Trick, als wolle jemand, der sich selbst aus guten Gründen nicht ins Lokal hineintraut, den Verbrecher sprechen, nicht so schlecht. Aber wir hatten es hier mit einem ganz gerissenen Kunden zu tun. Das sollten wir sofort erfahren: fast mit unserem Boten zugleich kam ein Herr heraus, der sich nicht schlecht wunderte, wie wir ihm die Armbänder um die Handgelenke legten. Er sagte immerfort: »Aber nein, nein! Das stimmt ja nicht, das bin ich ja gar nicht ... lassen Sie ... mich los!« ... Und wie dann der Frankfurter Kommissar die mitgebrachte Droschke heranpfiff, die in der Nähe gehalten hatte solange, da wehrte sich der Mann wie ein Rasender, schrie immerfort: »Sie verhaften ja einen falschen! Ich bin's ja gar nicht! Ich bin nicht Salvioli!« und erging sich in wüsten Beschimpfungen gegen uns! Na, es war noch nicht zehn Uhr und in der belebten Gegend hatte sich schnell eine Menge Menschen angesammelt; wir schoben und hoben also unseren Arrestanten mit vereinten Kräften in die Droschke, wo der Kerl sofort eine Scheibe kaputt schlug. Mittlerweile kamen auch Gäste aus dem Lokal. Und als wir eben im Abfahren waren, drängte sich der Wirt durch den Menschenknäuel, sah in die Droschke, sah uns an und schüttelte mit dem Kopf. Da schrie der Verhaftete, der sich immer weiter wehrte: »Bin ich etwa Salvioli?«
»Nein,« sagte der Wirt, »aber Sie haben mit ihm zusammen am Tisch gesessen!«
»Na, ja, und da kam der junge Mann 'rein: »Salvioli möchte mal 'rauskommen!«, und da sagte Salvioli zu mir, ich sollte doch mal sehen, was denn wäre ... da bin ich 'rausgegangen und da haben Sie mich verhaftet.«
»Es war in der Tat so; wir waren diesem Erzgauner auf den Leim gegangen! Natürlich, als wir nun wieder 'reinkamen ins Lokal, war der Herr mit dem italienischen Namen längst verduftet ... Uebrigens erwies sich nachher unser Fang als doch nicht so schlecht: der, den wir festhatten und den wir schon aus Aerger vorläufig nicht losließen, das war ein lange gesuchter Hochstapler und Hoteldieb, dem sein Vorwitz ziemlich teuer zu stehen kam.«
»Und Salvioli selber?« fragte der Graf.
»Ja, Salvioli ...« Dr. Splittericht sah nachdenklich in das lichte Grün der Tiergartenbäume, an denen das Auto schnell und geräuschlos vorüberglitt, »die Steckbriefe sind ihm jahrelang gefolgt. In Paris, wo sich eine ganz ähnliche Spiritistengeschichte abspielte, ist ein recht mysteriöser Todesfall passiert: Eine Dame aus der ersten Gesellschaft, die fand man in ihrer Wohnung tot auf, das Herz mit einer Hutnadel durchbohrt, ob von der eigenen Hand oder von einer fremden – das hat sich nicht feststellen lassen. Aber Salvioli hat nachweislich, und zwar damals als Monsieur Gaston bei ihr verkehrt. 1912 taucht er dann hintereinander in New York, Boston und Philadelphia auf, und zwar immer in Begleitung eines Mädchens, das ihm als Medium diente. Seine Kreise sind immer wieder die spiritistischen Zirkel, in Amerika auch die Christian Science, diese Gesundbetergesellschaft, die drüben einen kolossalen Einfluß ausübt.«
»Ist es denn niemals gelungen, ein Bild von ihm zu bekommen, Herr Doktor?«
»Doch ja. Die Erkennungsdienste der verschiedenen Länder haben Bilder von ihm, die sämtlich von seiner eigenen Hand in einer sonderbar steilen, großen und kantigen Schrift mit dem Namen Salvioli gezeichnet sind. Und diese Unterschrift ist zweifellos echt ... nur die Bilder, die Bilder stellen lauter verschiedene Personen dar. Von denen ist wahrscheinlich auch nicht eines der Herr Salvioli selber. Im Gegenteil ... dieser Galgenstrick hat es gut verstanden, alle hinters Licht zu führen. Daß er sich auch der verschiedensten Verkleidungen bedient, ist wahrscheinlich. Die Beschreibungen von seiner Person lauten immer anders. In Paris ist er als Abbé in der Soutane, mit Tonsur und Käppchen aufgetreten, in Amerika als Inder im Kostüm eines Hindu der Perikaste. Ich glaube aber kaum, daß es sich immer um denselben Mann handelt, denn er wird einmal als klein und mager, dann wieder als überschlank und groß, auch als Mensch von besonderer Stärke und voluminöser Figur geschildert. Auf das allerdings recht zweifelhafte Renommee solcher Leute reist für gewöhnlich noch eine ganze Anzahl anderer, ebenso lichtscheuer Elemente, die nur nicht denselben Witz und nicht die große Geste des Originals besitzen. Aber trotzdem, irgendein Polizeimann hätte sich diesen Herrn schon geangelt, wenn ihm nur nicht die okkultistischen Kreise immer wieder Deckung gewährten. Ein besseres Arbeitsfeld, als die geradezu lächerliche Naivität dieser Leute kann es ja für so einen Gauner überhaupt nicht geben.«
Der Graf strich unruhig über seinen Schnurrbart:
»Und Sie sind der Meinung, Herr Doktor, daß dieser Salvioli ... daß das der Mann ist ... der ...«
»Der für uns in Frage kommt, meinen Sie, Herr Graf? ... Ja und nein ... Nein, denn ich sagte Ihnen schon: auf den Namen Salvioli reisen meiner Ueberzeugung nach mehrere – ja, weil die Sache mit Fräulein Sebraczety die Faktur eines ganz ungewöhnlichen Gesellen zeigt. Die Art, in der der Mensch auftritt, die Gewalt, die er sofort wieder auf die Frau, die in seiner Hand ist, ausübt ...«
Ein leises Stöhnen, mit dem Graf Zeinfeld den Kopf neigte, ließ den Kommissar innehalten.
Der sah, wie die Vorstellung, jener Salvioli, oder wer sonst der Verbrecher sein mochte, hielte das Leben und die Ehre der Schauspielerin in seiner Hand, den Grafen körperlich peinigte. Dr. Splittericht hatte keine Familie; und war es der gänzliche Mangel an Zeit, von der ja die Liebe so viel nötig hat, oder ging dieses dreimal verschlossene Herz dem Weibe, als der Zerstörerin aller Mannesenergie, instinktiv aus dem Wege – es gelang dem Kriminalisten nicht, sich die Größe eines solchen Schmerzes, wie ihn der Verlust der geliebten Frau für den Grafen bedeutete, klarzumachen. Er sah nur den stillen Jammer des Aristokraten, und er bewunderte die Kraft, mit der jener sein blutendes Herz zusammenpreßte.
So äußerte er auch sein Mitgefühl mit keiner Silbe, aber er nahm sich vor, alles zu tun, was in seinen Kräften stand, um dem vornehmen Menschen, der so ernst, mit erkalteten Zügen an seiner Seite saß, zu helfen ...