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Der Wagen hielt vor dem Goethe-Theater.
Graf Zeinfeld wunderte sich über die Reihe von Autos, die hier schon standen, während noch mehr vorfuhren, denen Schauspieler, Bühnenarbeiter, Regisseure, Kassierer entstiegen, aus denen reizende, hellgekleidete Frauen heraushüpften, um schnell, mit Wichtigkeit in Miene und Gebärde, im Portal unter den Arkaden zu verschwinden.
»Ich habe mir Ihre Erlaubnis, jegliche Mittel anzuwenden, gleich zunutze gemacht, Herr Graf. Während wir noch im Präsidium verhandelten, hat Braun die Direktion hier angerufen, sie solle telephonisch oder wie immer alle ihre Bühnenangehörigen und Theaterleute mit Auto herkommen lassen – so werden wir hoffentlich schnell unseren Zweck erreichen ...«
Der Graf drückte dem Doktor die Hand.
»Sie denken an alles, lieber Freund! Mein Gott, da werd' ich sie am Ende bald wieder haben!«
Wenn es möglich gewesen wäre, in des Kommissars Miene zu lesen, so wäre der Graf jetzt auf einen starken Zweifel gestoßen.
Im Theater wurde natürlich zunächst der Direktor zu Rate gezogen. Er war ein ritterlicher, liebenswürdiger Herr, der in Ausdrücken einer fast übertriebenen Verehrung von Ilona Sebraczety sprach. Aber was und wer bei ihrem rätselhaften Verschwinden mitgewirkt hatte, darüber hatte er auch nicht die leiseste Vermutung.
Er rief seinen Regisseur, der brachte gleich Fritz Heersfels mit, Ilonas Partner im Lustspiel »Frau von Müller geb. Schulze«. Der konnte schon ein bißchen mehr erzählen. Nachdem er den Grafen begrüßt und sich gefreut hatte, den »berühmten Herrn Doktor-Kommissar« kennenzulernen, sagte er in seinem österreichischen Dialekt:
»Ja, mir is scho a bisserl wos aufg'fallen ... Im dritten Akt, wie dör grad anfangen tut, un i komm' heraus, da steht die Ilona doch schon a poor Minuten allein auf der Bühne. Sie spintisiert über ihren Mann und daß 's doch am liebsten wieder mit ihm zusammensein möcht!« No, und da komm' i denn halt so ganz zufällig hereing'schneit und da steht's da un soll mir Red' und Antwort steh'n! Aber i, i, sog' halt, was i z'sagen hob, i spring' umher, wie an Frosch, i sog noch mehr und die Ilona steht vorn an der Rampen un starrt egal runter ins Publikum! I hob schon glaubt, nu is aus, nu schmeißt's uns die ganze Komödi! Und der Herr Inspizient fragt aus derer Kulisse, ob denn die Ilona schlaft? – Sie verzeih'n schon, Herr Graf! – Und i improvisier' immer frisch darauf los, aber a mal, da geht einen doch der Vorrat halt aus! Un da tret' i noch mal dicht an d' Ilona heran und sag': »Sie verzeih'n schon, meine Allergnädigste, aber schlafen's denn am hellichten Tag? –« Und da wacht's auf! Ja, wahrhaftig, 's war, als ob der Traum direkt von ihr abg'fallen is, un so glei' ganz voll Geistesgegenwart:
»Wos, Sie san noch da, mein lieber Freund? Na, schaun's, mei Schweigen hätt' Ihna doch scho zeigen kenn', das i nix von Ihna wissen will!«
»Un dann spielt sie weiter, die Ilona, als wär halt gar nix gewesen. I hob's nacha noch fragen woll'n, aber's Theater is dann do glei ausgewes'n, und da denkt man halt gar nimmer an so was!«
»Und haben Sie zufällig gesehen. Herr Heersfels, ob es eine bestimmte Person war, auf die Fräulein Sebraczety so stark hingeblickt hat?«
»Ah na! Dös hab i halt gar nöt sehen kenn'! Dös is ja alles viel z'schnell gangen!«
Die Damen, die nachher gefragt wurden, Ilonas Kolleginnen, hatten zwar alle die tiefgründigsten Beobachtungen gemacht, hatten »auch etwas geahnt« oder es sogar »längst kommen sehen«, weil Ilona in der letzten Zeit »gar soviel sinniert und herumgeschaut« hätte, aber mit Tatsachen konnte keine aufwarten.
Bis eine Choristin plötzlich ausrief:
»Aber die Malli, die muß es wissen! Die weiß alles!«
Und als hätte sie nur darauf gewartet, auf dieses Stichwort, erschien plötzlich im Vorbühnenraum, der voll von schwatzenden Männlein und Weiblein stand, eine korpulente Frau mit fröhlichen Augen und blankem Gesicht, im lila Waschkleid, das prall die volle Form umschloß – Frau Amalie Weißgerber.
Sie hatte schon vom Portier gehört, was sich zugetragen, und wußte als Berlinerin sofort, worauf es ankam.
Der Kommissar ging mit ihr, dem Grafen und dem Direktor in dessen Zimmer; der machte seinen nachdrängenden Angestellten die Tür vor der Nase zu.
»Jawoll«, sagte die Weißgerber auf des Kommissars Frage, »nach dem dritten Akt war Fräulein Ilona wie ausgewechselt. Sie is raufjekommen in ihre Jarderobe un hat jesagt: »Mach zu, Weißgerber! Riejele ab und laß bloß keinen rein! Dabei war se so weiß wie der Kalk an de Wand un hat jezittert und jebebt, wie son Kind, wenn's was rauskriejen soll! Ich habe se jleich jefragt, aber se hat immer bloß mit'n Kopp jeschittelt und hat jesagt, »zieh mir um, Weißgerber!« hat se jesagt, »und frage ja nich, ich kann dir nicht sagen!« Un wie se det jrade jesagt hat, da kloppt's, und da is de Bauke, der olle Logenschließer, der schon unter die vorije Direktion hier war, und hat 'n Brief für Fräulein Ilona. Und wie se den sieht un liest die Aufschrift, da fängt se laut zu weinen an un sagt immer bloß: »Nein, Nein! Ich will'n nich lesen!« Un denn mußte se doch, un macht's Kuwer uff und liest und wird wie ohnmächtig!«
Einen Augenblick hielt sie inne, um Atem zu schöpfen.
»Und da – 's ja hoffentlich keine Sünde nicht und kein Verbrechen – da hab' ich rasch reinjekuckt, wie ich ihr die Stirne mit Odekollonch jerieben habe und da stand ... wahrhaftijen Jott! ... da stand bloß een eenziches Wort drin: »Komme!« – Weiter nischt, och nich 'ne Silbe!« ...
»Auch keine Unterschrift?« fragte Dr. Splittericht Frau Weißgerber.
»Nee, jarnischt, Herr Kommissar! Keene Unterschrift un keene Überschrift, bloß »Komme!«
»Und weiter, weiter!« drängte der Graf angstvoll.
»Ja«, sagte die alte Weißgerber, und man sah ihr noch jetzt den Schrecken an, den sie in jener Stunde empfunden hatte, »wie ich se jerade wieder so zu sich jebracht hatte, da kloppt's nochmal! Un ich denke, 's is der olle Bauke un will erst jar nich aufmachen, aber da sagt der dadraußen: »Mach' auf, Ilona!« Und da fällt se hin auf de Knie und denn krabbelt se sich wieder hoch un schwankt un wackelt hin und her, un macht die Türe auf – ich stand dabei dicht hinter se und da sah ich ihm ...«
»Wie sah er aus?« fragten die beiden Männer wie aus einem Munde.
Frau Malli zuckte die Achseln.
»Und wenn Se mir totschlagen, ick kann et nich sagen. Ich habe weiter nischt wie ne dunkle Jestalt jesehen. Nu brennen doch uff den Jarderobenkorridor ooch man bloß zwee so 'ne kleenen, schustrigen Flammen. Und wenn die Tiere von unse Jarderobe, wo Fräulein Ilona drin is, wenn die offen steht, denn sind de beeden Lampen ooch noch verdeckt ... so hab ick weiter nischt jesehn wie'n Mann ...«
»War er groß?« fragte Dr. Splittericht.
»Ja, jroß war er woll ...«
»War er so groß wie der Herr Graf?«
Graf Zeinfeld erhob sich, und der viel kleinere Kommissar stellte sich neben ihn.
»War er so groß wie ich bin?«
Frau Weißgerber sah den Kommissar zweifelnd an und zuckte abermals die Achseln.
»Ich kann's wahrhaftig nicht sagen ... da draußen in de Dusternis stand einer ... 'n weißes Frackhemd mit'n blitzrigen Brillantknopp drin, dis hab' ick jesehn, un ooch n' Zylinder, den hielt er vors Jesicht ...«
»Hatte er denn Abendtoilette an, ich meine Frack oder Smoking?« fragte der Doktor.
Die Garderobiere erhob abwehrend ihre rundlichen Arme und Hände.
»Ick versteh schon, wo druff se rauswoll'n, Herr Kommissar, aber ick weeß doch nich ... Stellen Se sich doch det mal vor, in was for'ne Angst ick jeschwebt habe! ... den Schreck! ... Ick dachte doch, et jet nu los, det Abjemurkse, un sah mir schon mit abjeschnittenen Kopp in de Stube rumfejen ...«
Auf den Gesichtern der Anwesenden erschien ein Lächeln. Die Frau sah es, ließ sich dadurch aber nicht irremachen.
»Ja, ja, Sie haben jut lachen, meine Herrens, aber ick, ick bin 'ne alleinstehende Frau un det Fräulein det is ooch jrade keen jroßer Schutz vor mir!«
»Na, was tat er nun, der Mann, wie er Sie beide sah?« fragte Dr. Splittericht.
»Er sagte: »Jehen Sie! un schob mir raus aus det Zimmer.
»Und das haben Sie sich ruhig gefallen lassen?«
»Na, wat soll ick'n machen? ... Wie ick mir rumdrehe, da steht Fräulein Ilona hinter mir, wie 'n Jeist so blaß un verfarben und wie ick se jrade noch ansehen wollte, da war ick ooch schon draußen!«
»Aber dabei müssen Sie sich doch den Mann angesehen haben!«
»Na wat soll ick Ihnen denn nu immer wieder sagen: nee, ick hab'n mir nich anjesehen! ... Ick war froh, wie ick draußen war! ... Det is doch keene Anjenehmlichkeit nich mit son Verbrecher in eene Stube!« ...
»Und nun warteten Sie draußen?«
»Ja, ick habe jehorcht! ... Ick scheniere mir jarnich, det ick det sage!«
»Na, da hörten Sie doch, was drin gesprochen wurde?«
»Jeheert hab ick et woll, aber nich vastanden!«
»Wieso? Sprachen sie so leise?«
»Nee, janz laut, man bloß in 'ne ausländische Sprache ...«
»In welcher denn?«
»Na, det weeß ick doch eben nich! Ick spreche Deitsch un Berlinisch, det is allens! ... Wie soll ick'n det vastehn?? ... Ick bin in de Pantinenschule jejangen, wie ick kleen war, da lernt man keene sone fremden Sprachen nich! ...«
»Aber er kam doch wieder heraus, der Mann ... Da hätten Sie ihn doch eigentlich sehen müssen?!«
»Müssen? Wat heeßt müssen? Mit eenmal jing die Tiere uff, mit son Ruck, det ick beinah hinteniber floch, un da war er ooch schon wieder bei mir vorbei, immer den Aaltopp vor de Nase jehalten, det ick ihm nich sehen sollte ... Un denn kiekt ick doch ooch man jleich nach meen Fräulein! – – Wat jeht mir denn der Kerl an? ... Ick sage Ihnen, der war wech, wie der leibhaftige Deibel! ... un wissen Se, Herr Kommissar, so hat er ooch ausjesehn! Ick hab nachher noch driber nachjedacht, da dacht' ick, et war am Ende wirklich sowat Ibernatürlichet!«
»Wie kamen Sie denn dazu, so etwas zu glauben?«
»Na so, Herr Kommissar ... un denn, wissen Se, wie ick nachher wieder drin war bei Fräulein Ilona, bei's Ankleiden, da fragt' ick ihr doch ... Und wissen Se, wat se da sagt? – Ick soll doch nich sone dummen Redensarten machen! sagt se, es wäre ja ieberhaupt keener nich dajewesen! ... Na, da dacht ick, nu schlägt's aber dreizehn! ...«
»Was sagten Sie denn darauf?« fragte der Kommissar dazwischen.
»Ja, wat soll ick denn gesagt haben dadruff? ... Ick bin stille jewesen! ... Bei's Theater jewehnt man sich an manches, Herr Kommissar! Da heißt's: Halt's Maul un sing de Wacht am Rhein, wenn de lange beibleiben willst!«
Der Kommissar nickte freundlich.
»Ich denke, wir entlassen Frau Weißgerber jetzt ... Ich werde Sie ja wohl später noch einmal vernehmen. Vorläufig danke ich Ihnen! Und schicken Sie uns gleich den Logenschließer Bauke!«
Der kam, ein weißköpfiger Alter und offenbar keine Geistesleuchte, vielleicht hatte er auch kein ganz reines Gewissen. Jedenfalls wußte er weiter nichts, als daß ein elegant gekleideter Herr ihn mit einem Briefe an Fräulein Sebraczety geschickt hätte. Wie jener es fertig bekommen hätte, in den doch stets verschlossenen Bühnenraum und so nach der Garderobe des Fräulein Sebraczety zu gelangen, dafür konnte oder wollte der Alte keine Erklärung geben.
Dr. Splittericht fragte und mühte sich noch mit ihm, als das Telephon ging und Graf Zeinfeld an den Fernsprecher gerufen wurde.