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Im Sommer 1914, als der Krieg ausbrach, war ich in Riga. Ich war allein, eine schwere Krankheit hatte mich in der Stadt festgehalten. Elschen verlebte den Sommer in Rußland. Noch wußten wir nicht, was unserem kleinen Heimatlande bevorstand, daß Krieg, Revolution und Vernichtung unser Los sein sollte. Als aber der Krieg zwischen Deutschland und Rußland begann, ahnten wir doch, wenn auch nicht in vollem Umfange, was für uns kommen würde. Ein furchtbarer Druck legte sich einem langsam aufs Herz.
Deutschland war unser Feindesland geworden, unsere deutschen Männer im russischen Heer mußten gegen ihre deutschen Brüder zu Felde ziehen. Die russische Regierung griff ein, die Reichsdeutschen, denen es nicht gelungen war, vor Kriegsausbruch abzureisen, wurden gefangen genommen und nach Sibirien geschickt. Bald sollte dieses Los auch die Frauen treffen. Uns Deutschbalten wurde mit dem größten Mißtrauen begegnet, alle unsere Vereine wurden geschlossen, in den Schulen der deutsche Unterricht verboten, kein deutsches Wort durfte bei strengster Strafe auf den Straßen oder an öffentlichen Orten gesprochen werden, Dienstboten wurden aufgefordert, alle die anzugeben, die sich irgendwie deutschfreundlich geäußert hatten. Mit Mitleid und Entsetzen hörte man von der grausamen Art der Behandlung deutscher Kriegsgefangener. Je näher unser nordischer Winter kam, um so furchtbarer wurden die Berichte über die Lage der Gefangenen, die vielfach aller wärmenden Kleidungsstücke beraubt, barfuß im Schnee endlose Strecken zurücklegen mußten.
Ich wußte nichts von Elschen, glaubte sie beim Vater geborgen, da erschien sie eines Tages unerwartet bei mir. Der Vater hatte sie nach Riga geschickt, sie solle ihre Studien nicht unterbrechen. Keiner dachte an eine lange Dauer des Krieges. Ich begann mit meinen Stunden, die Schüler fanden sich wieder ein, und das Leben in den Häusern ging seinen gewohnten Gang. Ich aber erlebte etwas Unerwartetes. Elschen war leidenschaftlich russisch gesinnt, ich leidenschaftlich deutsch, unser liebevolles Zusammenleben bekam einen Riß. Ich schlug ihr vor, die Politik in unserem Verkehr auszuschalten, doch zeigte es sich bald, daß es ganz unmöglich war. Wie sollte man schweigen von dem, was einen Tag und Nacht erfüllte! Die Gegensätze verschärften sich zwischen uns. Sie fing an, für die russischen Soldaten zu sparen und zu arbeiten. Es kamen die ersten Verwundeten-Transporte nach Riga, sie hatte sich Eintritt zu den Hospitälern verschafft und besuchte die Kranken täglich.
In dieser Zeit erhielt ich von Helene Horschelmann, mit der ich mehrere Jahre in den Mühlenschen Kursen künstlerisch zusammen gearbeitet hatte, einen Brief, in dem sie mich aufforderte, an ihrer Arbeit für die deutschen Gefangenen und Verwundeten in Moskau teilzunehmen. Sie war Witwe geworden und lebte nur für diese Arbeit. Ihr Brief entrollte ein so erschütterndes Bild von der Not und dem Elend, in das sie Einblick bekommen hatte, daß ich mich sofort auf den Weg machte, um in Riga eine Sammlung für die Unglücklichen zu beginnen. Im ersten Hause, in dem ich meine Bitte vortrug, fand ich sofort begeisterte Teilnahme. Schon am nächsten Tage erhielt ich eine völlige Ausstattung für sechs Kriegsgefangene zugeschickt, es fehlte nicht einmal eine Tafel Schokolade und ein Neues Testament. Das war der Anfang.
Ich brauchte selbst keine weiteren Gänge zu machen, denn wie ein Lauffeuer verbreitete es sich durch die Stadt, es wäre eine Möglichkeit, den deutschen Gefangenen zu helfen, und von allen Seiten strömten mir die Gaben zu. Jeder wollte etwas tun, jeder etwas opfern für die deutschen Brüder. Es würde zu weit führen, erzählte ich von all den ergreifenden Erfahrungen, die ich persönlich gemacht habe. Es waren so viele »Scherflein der Witwe«, die mir mit leuchtenden Augen gebracht wurden, man wollte so gerne entbehren und Opfer bringen! Die Sachen türmten sich allmählich bei mir, ich mußte ein leerstehendes Zimmer nur für die Gaben einrichten. Körbe, Koffer, Säcke füllten sich, und viele Tausende von Rubeln flossen in meine Hand.
Ich trug den Schlüssel zu dem Zimmer immer bei mir und dachte oft, was wohl meine russischen Schülerinnen sagen würden, wenn sie hinter die geschlossene Tür schauen könnten. Die Gefahr für mich wurde immer größer. Es kamen heimlich Fremde durch die Küchentür zu mir und warnten mich, ich solle vorsichtig sein, denn mein Name sei in aller Leute Mund. Sie erzählten von Spionen, namentlich von Damen, die mit Paketen und Geldgeschenken in die Häuser der Verdächtigen kämen. Nahm man die Geschenke an, so hetzten sie einem die Polizei ins Haus. Ich war mir keiner Unvorsichtigkeit bewußt und ging getrost meinen Weg, wie getragen von dem Gedanken, wenn es sein müßte, mein Leben zu lassen für die Brüder. Manche kamen mit ihren Gaben, nannten ihre Namen nicht – oft waren es nur ein Paar Handschuhe oder ein paar Rubel, die sie mir in die Hand drückten – und sagten ganz leise: »Gott wird Sie schützen, Sie brauchen sich nicht zu fürchten.«
Es bewegte mich sehr, daß Elschen auch einmal kam und mir aus ihrem Vorrat einige warme Sachen gab. »Für deine Deutschen,« sagte sie. Ich begleitete sie dafür zu ihren geliebten Kosaken. Es war stillschweigend eine Brücke zwischen uns geschlagen. Nun aber mußten die Sachen aus dem Hause und an ihren Bestimmungsort. Ich zerbrach mir den Kopf, wie das zu bewerkstelligen wäre, und sah keinen Ausweg.
Da erschien eines Tages ein fremder, junger Mann bei mir, um mir beim Transport der Sachen zu helfen. Er legitimierte sich, fragte mich dann: »Haben Sie Mut?« »Ich denke,« sagte ich lächelnd.
»Je kühner wir sind, desto sicherer sind wir. Mein Vater ist Leiter einer Sanitätskolonne des russischen Roten Kreuzes. Ich bekomme von ihm ein Rotes Kreuz-Auto und hole mit einigen Beamten der Kolonne alle Ihre Sachen ab. Was später mit ihnen geschieht, dafür lassen Sie mich sorgen. Kommt es aber heraus, dann sind Sie verloren.«
Ich überlegte keinen Augenblick und griff zu. Am anderen Tage erschien er mit den Beamten, als ich gerade einer Klasse meiner Schüler Deklamationsunterricht erteilte. Ich machte, als ob alles in Ordnung sei, setzte meine Stunde scheinbar ruhig fort, während Koffer auf Koffer aus dem Nebenzimmer entfernt wurde. Dreimal mußte das Auto wiederkommen. Als endlich das letzte Stück aus meiner Wohnung fort war, spürte ich doch eine merkwürdige Schwäche in den Knieen. Nach einigen Wochen erfuhr ich, daß alle Sachen glücklich an ihren Bestimmungsort gelangt waren. In den ersten zwei Kriegsjahren sind achtundsechzigtausend deutsche Verwundete und Kriegsgefangene von den Balten gekleidet und versorgt worden.
Ich konnte nun wieder etwas aufatmen und ausruhen. Da erfuhr ich, daß ein Brief, den ich in dieser Angelegenheit geschrieben hatte, durch ein Unglück in falsche Hände geraten war, daß die Polizei ihn suchte und den Schreiber ermitteln wollte. Es waren mehrere Menschen in die Angelegenheit hereingezogen, die alle von der Polizei aufgefunden und befragt wurden, ich war allein noch übrig. Ich konnte meinem Verhängnis nicht entrinnen, wohl war der Brief vernichtet, aber nicht seine Spur. Es waren furchtbare Tage, die ich durchlebte. Jeder Glockenklang, der in meine Stunde hineintönte, ließ mich vor Schreck erstarren.
Da wurde ich eines Tages ins Vorzimmer gerufen, ein Beamter sei da und wolle mich sprechen. Zu allem bereit, ging ich hinaus, ein hochgewachsener Herr in Uniform stand vor mir. Er stellte sich mir vor, es war ein kurländischer Aristokratenname, den er nannte.
»Ich habe gehört, daß Sie in Not sind,« sagte er schlicht. »Bei meiner Stellung kann ich einiges durchsetzen. Wenden Sie sich an mich, wenn Sie Hilfe brauchen.«
Ein fester Händedruck und er ging. Alle Angst war von mir genommen. Es war nicht der Schutz, den dieser edle Mann mir anbot, es war mir, als hätte Gott zu mir gesprochen: »Fürchte dich nicht!«
Wenige Tage nachher stand ich im Untersuchungszimmer der Gendarmerie. Da ich kein Russisch konnte, begleitete mich eine liebe, alte Freundin, die für mich redete. Sie verstand ihre Sache großartig, aber wir waren auch an den Richtigen geraten. Es war ein junger Beamter, der aus einem russischen Städtchen gekommen war und der von nichts wußte. Dieser schwierige Fall war seine erste Untersuchung in Riga.
Seine Fragen waren die eines unwissenden Kindes. Meiner Gefährtin war es gelungen, ihn auf einen Nebenweg zu führen, auf dem beharrte er getreulich, griff sich an den Kopf und rief immer wieder:
»Das ist ja alles ein Unsinn, Sie haben nichts getan, das kann doch jeder sehen.«
Dann schrieb er ein endloses Protokoll, las es uns vor, fragte freundlich, ob wir mit ihm zufrieden wären, erklärte, die Sache sei für immer abgetan, schüttelte uns herzhaft die Hand und entließ uns mit den Worten: »Auf Wiedersehen.«
Als wir auf der Straße standen, sagte meine Gefährtin leise: »Gott war mit uns.«
Die Zeiten wurden immer schwerer, fast unerträglich für uns Deutsche. In mein Leben kam eine große Stille, wie ich sie kaum je gekannt. Jede Geselligkeit hörte auf, die Straßen waren dunkel, man lebte hinter verhängten Fenstern, denn es durfte kein Lichtschein aus den Häusern auf die Straße fallen. Nach Eintritt der Dunkelheit rührte man sich nicht aus seiner Wohnung. Lia, als Reichsdeutsche, mußte nach Deutschland abreisen, Elschen wurde vom Vater nach Petersburg abgeholt. Kurland wurde von den Deutschen eingenommen, am 1. August 1915 zogen sie in Mitau ein, unsere Lage wurde dadurch immer schwerer und zugespitzter. Aber ein heller Hoffnungsstrahl war in unser Leben gedrungen, wir warteten von Woche zu Woche auf die Befreiung durch die Deutschen. Dieser Gedanke erfüllte unsere Herzen Tag und Nacht. Es sollte aber noch zwei ganze Jahre dauern, bis die Erlösungsstunde auch für uns schlug.
In diesen Jahren der Stille und des Wartens fing ich an zu schreiben. Mein Vetter, Hermann Hesses Vater, hatte mir schon öfter geraten:
»Du sollst schriftstellern. Du mußt deine Lebenserinnerungen schreiben, denn du hast den Menschen etwas zu erzählen.«
Meine erste kleine Erzählung war »Herr Fink«, die ich später in den »Menschen, die ich erlebte« erscheinen ließ. Damals aber dachte ich mit keinem Gedanken an Veröffentlichung. Es war eine Zeit stillen Glückes, die mir aus dieser Arbeit erwuchs. Der ersten Erzählung waren mehrere andere gefolgt, dann wandte ich mich an eine größere Aufgabe. Es waren Erinnerungen aus meiner Jugendzeit, die sich um die Gestalt meines alten Onkel Hermann woben.
Mein Vetter, dem ich den Anstoß zum Schriftstellern verdanke, hat keine meiner Arbeiten kennen gelernt. Er starb in der Kriegszeit, die uns jede Verbindung mit Deutschland nahm.
Inzwischen waren die Zustände in Riga immer unerträglicher geworden. Überall gab es Einquartierung, auch das Haus, in dem ich lebte, war voller Soldaten. Es begannen Haussuchungen. Ich war allein mit meinem Mädchen in meiner großen Wohnung, es wurde mir unheimlich. Ich entschloß mich, meine Wohnung aufzugeben und zog zu einer alten, mir befreundeten Lehrerin, Anna Bock. Wer kennt sie nicht bei uns, diese echte Vertreterin alt-rigascher Art?
Einen Teil meiner Sachen stellte ich dort im Hause ab, wir lebten still und friedlich miteinander, teilten getreulich Freude und Leid, Furcht und Hoffnung. Meine Stunden gingen regelmäßig weiter, wenn sie auch sehr zusammengeschmolzen waren, doch meine schönste Freude blieb immer meine Schriftstellerei. Ich fing an, hin und wieder etwas von meinen Sachen vorzulesen, und der unerwartete Erfolg, den ich hatte, ermutigte mich, damit fortzufahren.
Dann kam der September 1917, und unsere Befreiungsstunde schlug. Das russische Heer zog ab, schnell, fluchtartig, und deutsche Kanonen donnerten in der Ferne. Es war ein Sonntagmorgen voll Sonne und Herrlichkeit, da stand meine Freundin Mary von Gruenewald vor mir im Festkleide, und ihr Gesicht leuchtete:
»Zieh dein bestes Kleid an, es ist ein großer Tag. Wir wollen in die Kirche gehen, die Deutschen kommen!«
Die Kirche war wenig besucht, die Menschen waren ängstlich und hielten sich still in den Häusern. Für meine Erinnerung liegt über diesem Gottesdienst ein wunderbarer Glanz. Es war, als sei unsere schöne Kirche voll strahlenden Lichtes gewesen. Der Pastor sprach über den Kampf Jakobs mit dem Engel: »Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.« – »Und als er die Stätte des Kampfes verließ, ging die Sonne auf,« so schloß er tiefbewegt. Wir faßten uns an den Händen und sagten immer wieder: »Daß wir das erleben dürfen!« Dann gingen wir an die Düna und sahen dem endlosen Zuge des flüchtenden Heeres nach, das in düsterem Schweigen über die Brücke zog.
Alles das sollte uns nun nie mehr schrecken und ängstigen, dachten wir. Wie wenig ahnt der Mensch von seiner Zukunft!
Dann kamen die Deutschen.
Durchs offene Fenster rief es uns jemand zu, der vorüberlief: »Sie sind da, sie sind da!«
Wir stürzten auf die Straße ohne Hut, ohne Mantel. Immer weiter in die Stadt hinein liefen wir.
»Sie kommen, sie sind da,« hörte man von allen Seiten rufen.
»Wo, wo?«
»Längs dem Dünaufer kommen sie.«
Wir liefen weiter über Glasscherben, an brennenden Häusern vorbei. Nun kamen wir an die Holzbrücke der Düna, sie stand in Flammen, die Eisenbahnbrücke war zerstört. Wir eilten am Dünakai entlang, von oberhalb sollten sie kommen. Nun befanden wir uns am Bahndamm, wir kletterten ihn empor, von da hatten wir einen freien Blick. Da kamen sie, die Feldgrauen in endlosem Zuge! So weit das Auge reichte, graue Helme mit Blumen geschmückt. Es war wie ein wandelnder Blumengarten, der uns entgegenzog, sogar im Lauf ihrer Flinten steckten Blumen und grüne Zweige. Ich mußte mich an meiner Begleiterin halten, sonst wäre ich umgesunken. Die Deutschen! Nun waren sie da!
Überall öffneten sich Fenster, Menschen winkten, stürzten auf die Straße, liefen neben den Soldaten her, suchten ihnen die Hände zu schütteln, viele weinten.
Auf dem Platz vor dem brennenden Bahnhof lagerten sie sich, man brachte Kaffee, und bald fingen sie an zu singen: deutsche Volkslieder!
Durch die Straßen, in denen noch vor wenigen Tagen jedes deutsche Wort mit Gefängnishaft bestraft wurde, klang es nun:
»In einem kühlen Grunde
Da geht ein Mühlenrad.«
Und wir sangen alle mit. Als ich am Abend todmüde, verstaubt, hungrig, noch immer ohne Hut und Mantel heimkehrte, sagte ich zu meiner alten Hausgenossin:
»Dieser Tag war die Leiden der drei letzten Jahre wert!«
Tage voll Festglanz und Herrlichkeit, die nun folgten!
Der nächste Sonntag fand uns alle in der Kirche, die von einer dichten Menge, auch deutschen Soldaten und Offizieren gefüllt war. Kopf an Kopf stand und saß man. Als der Pastor an den Altar trat, erhob sich ganz spontan die Gemeinde. Es ging wie ein großes Flügelrauschen durch die Kirche, und alles sang:
»Nun danket alle Gott.«
Mit vor Bewegung fast versagender Stimme las der Pastor dann den 126. Psalm:
»Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, werden wir sein wie die Träumenden.«
Wir sahen den deutschen Kaiser durch unsere Straßen fahren und die Truppenparade auf unserem Exerzierplatz. Wir sangen uns heiser beim »Heil dir im Siegerkranz«, wir liefen uns die Füße wund, um noch irgendwo den Kaiser zu erblicken. Jeder Soldat auf der Straße, jeder Offizier, dem man begegnete, war ein Freund. Nur wer unter einem so furchtbaren Druck gelebt hat, wie wir seit langen Jahren, kann begreifen, was es für uns bedeutete, daß man jetzt frei atmen durfte. Es gab keinen Zwiespalt mehr, wir durften sein, was wir waren – Deutsche. Ein Liedervers ging von Mund zu Mund:
»Was der alten Väter Schar
Höchster Wunsch und Sehnen war.
Und was sie geprophezeit,
Ist erfüllt in Herrlichkeit.«
Im Dezember hatte ich die große Freude, Eva Lißman wiederzusehen. Es war um die Weihnachtszeit, als sie in Mitau ihren Liederabend gab. Ihre Schlußnummer bestand nur aus Weihnachtsliedern, das Podium war mit Tannenbäumen geschmückt, in der Pause wurden die Weihnachtskerzen angezündet. Als Eva Lißmann dann auf dem Podium erschien, zögerte sie erst einen Augenblick, überrascht von dem unerwarteten Anblick. Dann stand sie im strahlenden Lichterglanz im schimmernden weißen Kleide und sang:
»Es ist ein Ros entsprungen
Aus einer Wurzel zart.«
Sie wirkte wie die holdselige Verkörperung der frohen Botschaft.
Zwei Konzerte in Riga folgten dann. Es waren die ersten deutschen Liederabende nach der langen Zeit völligen Abgeschnittenseins von Deutschland. Für uns alle waren es daher ganz besondere Erlebnisse. Eva Lißmann wohnte bei mir, und es war wie in alten, schönen Zeiten.
Auf einem Waldspaziergang im Kaiserwald gestand sie, die Vielumworbene, mir, daß sie sich mit Gerhard Jekelius verlobt habe. Ich hatte es schon geahnt, denn es lag diesmal wie eine stille Glückseligkeit über ihrem ganzen Wesen.
Im Sommer darauf konnte ich auf einige Wochen nach Berlin gehen. Ich fand nicht das Deutschland, von dem wir Balten geträumt hatten, und das uns tapfer und mutig erhalten hatte durch Jahre des Drucks und der Erwartung.
»Die Leute reden, als wollten sie Revolution machen,« sagte ich ganz erschrocken zu Eva, als ich von einem Ausgange heimkehrte.
»Ach, du weißt, die Berliner müssen immer reden,« war ihre sorglose Antwort.
Sie rüstete sich zu ihrer Hochzeitsreise nach Siebenbürgen und sah alles im Licht dieses großen Glückes. Als wir uns trennten, ahnten wir nicht, wie lange es bis zu unserem Wiedersehen dauern würde und wie vieles dazwischen liegen sollte.
Als ich wieder nach Riga kam, war das Leben dort schon nicht mehr so voll Freude und Jubel, wie ich es im Frühling verlassen hatte. Das deutsche Militär und die deutschen Beamten, die wir mit größtem Vertrauen begrüßt hatten, waren im Kriege verwildert – manch schmerzliche Enttäuschung hatte man bei uns erleben müssen. Unheimliche Gerüchte über Deutschlands Lage tauchten auf, man wollte sie nicht glauben. Es konnte und durfte doch die übermenschliche Anstrengung all der furchtbaren Kriegsjahre nicht umsonst gewesen sein! Dann aber kam es plötzlich Schlag auf Schlag: die Revolution, der vollständige Zusammenbruch, der Sturz des Kaiserhauses. Deutschland, das sich so tapfer gehalten hatte gegen die gewaltige Übermacht, war nun doch völlig unterlegen. Damit war aber auch unser Schicksal hier besiegelt. Das deutsche Heer hatte uns gleich bei Ausbruch der Katastrophe verlassen, ohne jeden Schutz von außen waren wir den heranrückenden Bolschewikenscharen preisgegeben. Die englischen Kriegsschiffe, unsere letzte Hoffnung, verließen uns im Augenblick der größten Gefahr. Es war gerade um die Weihnachtszeit, ein traurigeres Fest haben wir in unserer Heimat wohl nie begangen. Alles, was fliehen konnte, floh, vor allem ein großer Teil der deutschen Bevölkerung.
Ich habe keinen Augenblick dem Gedanken an eine Flucht Raum gegeben und es trotz allem Entsetzlichen, das folgte, nie bedauert, daß ich geblieben war. Es gab so Unzählige unter denen, die mir nahestanden, die gar keine Möglichkeit hatten, zu fliehen, und die ich nicht verlassen wollte.
Unaufhaltsam, schreckenerregend rückte das Heer der Bolschewiken auf Riga zu, wie ein unentrinnbares Verhängnis. Wie sollte unsere soeben gebildete Landeswehr, die zum größten Teil aus ganz ungeübter Jugend bestand, sich ihm entgegenstellen?
Es war am 3. Januar. Wenige Stunden nachdem die englischen Kriegsschiffe den Rigaer Hafen verlassen hatten, lichteten die letzten großen Dampfer, überfüllt mit Flüchtlingen, die Anker. Sie wurden von den bereits einrückenden Bolschewiken beschossen, und nun waren wir Zurückgebliebenen dem Schreckensregiment der Roten ausgeliefert. Anna Bock, meine liebe Hausgenossin, sagte mir am Tage des Einzuges:
»Wie es auch kommen mag, wir wollen tapfer sein!« Wir haben getreulich miteinander durchgehalten. Jeden Abend, wenn sie mir gute Nacht sagte, war ihr letztes Wort:
»Eine Mauer um uns baue,
Daß dem Feinde davor graue.«
Die Zeiten, die nun kamen, waren voll Entsetzen, aber auch voll hohem Mut, wunderbarer Leidenskraft und herrlichem Sterben, ich möchte sie nie aus meinem Leben streichen. Zu meinem Erstaunen gingen meine Stunden immer fort, wenn sie auch sehr zusammengeschmolzen waren. Ich habe gehungert, gedarbt, gefroren und habe das Grauen gelernt. Die Not wuchs von Tag zu Tag: Haussuchungen, Verschleppung in die Gefängnisse und Ausraubung gehörten zur Tagesordnung. Immer wieder begegnete man Zügen von Gefangenen, unter denen viele Bekannte waren, deren Schicksal man nicht wußte. Ich habe mich gewundert, wie meine Schüler in dieser Zeit singen konnten, aber man rettete sich aus der Welt des Grauens und Sterbens hinaus, wenn auch nur für kurze Stunden, in eine Welt voll Schönheit und Freude. Die gab es doch noch irgendwo und wird es auch für uns noch geben.
Ich habe es erlebt, daß Schülerinnen, nachdem sie eben aus der Gefängnishaft entlassen waren, blaß und auf schwankenden Füßen zur Stunde kamen und zu singen versuchten. Sie sorgten auch für mich, so viel sie irgend konnten: bald holten sie aus ihrer Notenmappe ein Stück Brot oder etwas Speck heraus, das sie mir strahlend übergaben. Eine meiner Schülerinnen brachte mir jede Woche eine Flasche Milch, eine der seltensten Kostbarkeiten dieser Zeit. Rührend war mir eine kleine Lettin, die mit einem Sack voll Schnittkohl auf dem Rücken in der Stunde erschien.
Öfter wurden meine Stunden durch plötzliche Haussuchungen unterbrochen. Das erste Mal steht mir noch so lebendig in der Erinnerung.
Ich sitze am Klavier und gebe eine Gesangstunde. Hell und klar klingt die junge Stimme meiner Schülerin durch den Raum. Es ist etwas Reines und Heiliges in ihr, die wie losgelöst vom Irdischen schwingt. Da höre ich ein Brüllen und Schreien, Stampfen und Zanken im Nebenzimmer. Ich weiß, nun sind sie da. »Singen Sie ruhig weiter,« flüsterte ich ihr zu. Die Stimme schwankt einen Augenblick, dann hebt sie wieder ihre reinen Silberschwingen. Das Gebrüll im Nebenzimmer verstummt, die Tür zu meinem Zimmer wird vorsichtig geöffnet, wilde bewaffnete Gestalten stehen auf der Schwelle. Sie singt weiter. Acht Mann füllen das Zimmer, aber sie schweigen und horchen und gehen dann auf Fußspitzen an mir vorüber ins Nebenzimmer. Das Lied ist zu Ende, ich gehe ihnen nach. Sie stehen vor meinem Schreibtisch, rohe Hände reißen die Schubladen auf, greifen hinein, und schleudern ihren Inhalt auf den Boden. »Was wollen Sie hier?« frage ich. »Wir brauchen einen Schreibtisch,« ist die in fast höflichem Ton gegebene Antwort. Einer von ihnen winkt mir mit den Augen zu, ich folge ihm ins Nebenzimmer: »Seien Sie ruhig, ich will Ihnen Ihren Schreibtisch retten.« Er tritt wieder zu den anderen: »Der Schreibtisch ist zu klein,« sagte er befehlend. »Gehen wir in ein anderes Haus.« Er grüßt und wendet sich zum Ausgang. Sie zögern, sehen sich betreten an. »Hört ihr's nicht!« ruft ihnen ihr Führer ungeduldig zu. »Ich kann den Schreibtisch nicht brauchen, gehen wir.« Da grüßen sie und gehen einer nach dem anderen hinaus, Wir Hausgenossen sehen uns sprachlos an. Von einer solchen Haussuchung hatten wir noch nie gehört. Was machte sie so still, was schüchterte sie so ein? War es die schöne klare Stimme, die ihnen von einer heiligen Welt sprach, die hoch über dem stand, was ihr blutiges Leben erfüllte? Lag auch in diesen rohen Menschenseelen doch noch ein Fünkchen, das aufleuchten konnte und von einem Leben erzählte, das verschüttet war?
Die letzte Haussuchung endete mit einem sofortigen Aussiedelungsbefehl.
Es war an einem Vormittag. Wildes Geschrei erfüllte unser Haus. Kommissare der Bolschewiken waren da und stürmten die Wohnungen. Sie fluchen und schreien, heben ihre Flinten gegen wehrlose alte Damen, reißen Sachen aus den Schränken, Uhren und Schmuckgegenstände den Menschen vom Leibe. »In zwei Stunden müssen Sie Ihre Wohnung verlassen« ist das Ende der Verhandlungen. Jeden Augenblick müssen sie auch bei mir sein. Ich hatte meine Schülerinnen fortgeschickt und harrte der Dinge, die kommen sollten. Da wird geklingelt, ich öffne. Eine Dame, in kostbare Pelze gehüllt, steht vor mir. Sie nennt ihren Namen, es ist eine bekannte Varietésängerin, deren Mann eine furchtbare Rolle beim Bolschewikentribunal gespielt hat, sie gilt für eine gefährliche Persönlichkeit. Sie will bei mir Gesangstunden nehmen.
»Ich kann Sie eben nicht empfangen,« sage ich, »Sie hören selbst, was im Hause vorgeht. Die Kommissare sind da, ich erwarte sie jeden Augenblick!« Sie richtet sich auf und horcht, in dieser Bewegung liegt etwas von einer Schlange. Wilder Lärm dringt aus der Nebenwohnung, in der eine alte Dame von neunzig Jahren lebt. »Ich bleibe,« sagt sie dann entschlossen, »ich will Ihnen helfen!« Ich bin so überrascht, daß ich kein Wort sagen kann. Sie tritt bei mir ein und wir versuchen, eine Unterhaltung zu führen. Da ertönt ein wilder Schlag mit Flintenkolben gegen die Türe, sie springt auf und ins Zimmer stürzen drei Bewaffnete. Der Anführer brüllt wie ein wildes Tier, sein Gesicht ist verzerrt, er stampft mit den Füßen und schlägt mit dem Kolben seiner Flinte auf den Boden: »Heraus, heraus!« schreit er, »in zwei Stunden müssen Sie Ihr Haus verlassen! Zwei Taschentücher, zwei Handtücher, ein Kleid, ein Kopfkissen dürfen Sie mitnehmen, alles andere bleibt hier!« Erstarrt sitzen wir da.
Die Sängerin ist ganz still. Plötzlich erhebt sie sich und nähert sich dem Anführer der Rotte. Sie steht vor ihm, schlank und elegant, in ihren kostbaren Pelzen, mit funkelnden Brillanten in den Ohren. Sie streckt ihm die Hand entgegen: »Guten Tag, Genossen,« sagt sie lächelnd. Das Geschrei verstummt, sprachlos erstaunt sieht der Kommissar sie an: »Guten Tag!« sagt er dann verwirrt und nimmt ihre Hand. »Kommen Sie ins Nebenzimmer,« sagt sie kurz und geht voraus, noch immer sprachlos folgen ihr die Männer. Sie schließt die Tür, ich höre sie eine Weile miteinander verhandeln. Ich höre eine zornige Männerstimme sich erheben, aber die helle, kalte Frauenstimme bleibt Siegerin. Die Männerstimmen schweigen, es wird still; da öffnet sich die Tür des Nebenzimmers, sie steht auf der Schwelle, ihre Augen funkeln. »Er ist fort,« sagt sie und lacht. »Ihre Wohnung müssen Sie wohl verlassen, aber nehmen Sie Ihre persönlichen Sachen ruhig mit, einen Koffer dürfen Sie haben. Er wollte nicht nachgeben und auf nichts eingehen, aber ich nannte ihm einen Namen – da hat er gezittert!«
Ich fasse ihre Hand und danke ihr, da geht eine merkwürdige Veränderung in ihrem Gesicht vor: es wird weich, fast lieblich, und mit einem plötzlichen Impuls streckt sie ihre Arme aus, umarmt mich und küßt mich: »Ich bin so froh, daß ich Ihnen helfen konnte,« sagte sie warm, »wenn Sie mich weiter brauchen, bin ich jederzeit für Sie da.« Sie gibt mir ihre Adresse und geht fort.
Nun muß ich aufs Kommissariat, um die Adresse der mir bestimmten Wohnung zu erhalten. Es ist ein Gang in die Hölle, und ich fürchte mich. In einer vornehmen Wohnung ist sein Bureau eingerichtet. Ich gehe durch verwüstete Räume, zertrümmerte Möbel, zerbrochene, kostbare Sachen stehen und liegen umher. Ich stehe vor einem roh aussehenden Mann, der vor einem Schreibtisch sitzt, er fragt nach meinem Namen, und schreibt dann einige Worte auf einen Zettel, den er mir zuschiebt. Es ist die Adresse meines neuen Wohnortes. Ich lese den Namen einer Halbinsel an der Düna, die fast nur von Arbeitern bewohnt ist. Sie liegt weit aus der Stadt.
»Dort kann ich nicht hinziehen,« sage ich ruhig, »die Wohnung liegt zu weit aus der Stadt. Ich bin Lehrerin, dort kann ich meine Arbeit nicht tun. Ich bitte Sie, mir zu erlauben, in folgendes Haus zu ziehen.« Ich nenne die Adresse meiner Verwandten.
Er lacht höhnisch, lehnt sich in seinen Stuhl zurück und scherzt: »Dort ist die Luft besser, die Vögel werden bald singen, der Frühling kommt, Sie können spazieren gehen und Blumen pflücken, es ist mir eine Freude, Sie dort zu wissen!« So höhnt und spottet er, rohes Lachen seiner Gefährten lohnt jeden wüsten Scherz. Ich stehe mit Anna Bock mitten im Geschrei und Gelächter. Ihr weißes Haar umrahmt ihr Gesicht; ein Leben voll Arbeit für ihre Nebenmenschen liegt hinter ihr, sie wird verhöhnt wie ich. Endlich ist der Witz des Kommissars erschöpft, nach einigem Zögern reicht er uns neue Wohnungszettel; unsere Wünsche sind erfüllt, wir können in der Stadt bleiben, in den Wohnungen, um die wir gebeten. Es liegt aber solch ein böses Lachen in seinen Augen, daß mein Herz erschrickt. Nun müssen wir noch eine Unterschrift vom obersten Kommissaren haben, dazu müssen wir in einen anderen Raum, und stehen vor einem Manne, bei dessen Anblick mir der Atem stockt. Das ist kein Menschenantlitz, das mich anblickt. Grausame, blutige Wolfsaugen sind es, in einem gedunsenen Gesicht, ein furchtbarer Mund mit spitzen Raubtierzähnen und einem Ausdruck von Haß – der nicht mehr menschlich ist. Nun erkläre ich mir auch das böse Lachen des ersten Kommissars. Mir ist, als könnte ich kein Glied rühren, keinen Laut hervorbringen, dann reichen wir ihm unsere Zettel. Er sieht sie an und reißt sie mitten durch: »Sie werden nicht hier bleiben, Sie sollen fort,« schreit er. »Ich will es so! Und was ich will geschieht! Und wenn es mir gefällt, jage ich Sie auch von dort fort und noch viel weiter!« Ich schweige, aber meine Gefährtin bittet. Mit ruhiger Würde spricht sie: »Ich habe über vierzig Jahre hier in der Stadt gelehrt« – er läßt sie nicht weiter sprechen, er schlägt auf den Tisch, er brüllt wie ein Tier: »Ja, mit Gottes Wort? So haben Sie gelehrt, und dafür gesorgt, daß Dummheit und Dunkelheit verbreitet werden! Dafür sollen Sie gestraft werden! Und dafür sollen Sie büßen!«
Es ist, als würden seine Augen blutunterlaufen, rot vor Haß, er wirft sich im Stuhl hin und her, er krümmt sich vor Wut, dann schreibt er einige Worte auf ein Papier, schiebt uns die Zettel zu und kehrt uns den Rücken. Wir gehen und stehen bald auf der Straße. Was nun beginnen? »Ich gehe zur Sängerin,« sage ich entschlossen, »vielleicht hilft sie!« Wir suchen sie in ihrer Wohnung auf und finden sie sofort bereit, für uns einzutreten. Sie hüllt sich in ihre Pelze und bittet uns, sie zu erwarten.
»Das wird ein Kampf!« sagte sie lachend und siegesgewiß. »Das ist ein Böser, ich kenne ihn. Nun, wir werden ja sehen, wer stärker ist.«
Nach einer halben Stunde ist sie wieder da, strahlend und triumphierend; sie hat die Erlaubnis für die erbetene Wohnung erhalten.
Wir danken ihr, sie küßt mich und sagt wieder, wie glücklich sie gewesen sei, mir helfen zu können.
Ich gehe heim, taumelnd vor Mattigkeit und Hunger, denn seit dem Morgen habe ich weder gegessen noch getrunken. Welch ein Anblick aber erwartet mich, als ich heimkomme! Es leben in unserem Hause viele alte Lehrerinnen. Alle müssen bis zum Abend hinaus. Kranke werden aus ihren Wohnungen getragen, auf Handkarren werden sie fortgeführt, alte Damen laufen verwirrt treppauf, treppab, mit kleinen Bündeln in den Händen, die ihre Habe enthalten.
Mit einem Herzen voll Müdigkeit stehe ich in meinem Heim, das ich nun verlassen muß.
Alles, was ich mir in meinem Leben voll Arbeit erworben, alles, was von Urvätern her mein liebes Eigentum war, mußte ich zurücklassen. Was ich mitnehmen durfte, lag bald auf einem Karren, der von einem Edelmann und von einem Magister der Theologie gezogen wurde, die sich jetzt auf diese Weise ihren Unterhalt verdienten. Ich ging hinterher, meinem neuen Heim entgegen.
Am Morgen dieses Tages war mir der Spruch in die Hände gefallen: »Wer verläßt Häuser oder Brüder oder Schwestern oder Vater oder Mutter oder Äcker um meines Namens willen, der wird es hundertfältig nehmen und das ewige Leben erwerben« (Matth. 19, 39). Ich hatte drum gebangt, ob ich dieses Opfer würde bringen können, ohne Klagen. Nun war es von mir gefordert, und mein Herz war voll Dank, daß ich es freudig bringen konnte, denn über allem stand hell die Erkenntnis: »Was dem Leben den höchsten Wert gibt, das können sie einem doch nicht nehmen.«
Die Lage wird von Woche zu Woche unerträglicher. Jeden Morgen kommen neue Schreckensberichte: Der oder die sind im Gefängnis ermordet. Oft haben die Gefangenen das Wimmern der Sterbenden vor ihren Fenstern gehört, und wußten nicht, ob es nicht Sterbeseufzer ihrer nächsten Verwandten oder Freunde waren; andere sind fortgebracht worden, man weiß nicht wohin. Menschen sterben, man erhält keine Erlaubnis, sie zu beerdigen, die Leichen stehen wochenlang in den Wohnungen. Kommt die Erlaubnis, so erhält man keine Pferde für den Leichenwagen. Die Angehörigen spannen sich davor, und bringen ihre Toten zu Grabe.
Legt man sich abends in sein Bett, macht man sich jedesmal bereit, es in der Nacht wieder verlassen zu müssen.
Menschen werden wie wahnsinnig durch diese grauenhafte Unsicherheit des Lebens. Man hört von einer ganzen Familie, die in einer Nacht durch den geöffneten Gashahn diesem Leben ein Ende gemacht hatte, das sie nicht mehr tragen konnte.
Man ging wie mit einem Joch auf dem Nacken durch sein mühsames Leben. Aber neben diesem mühsamen Leben, oder vielmehr über ihm, erwachte ein Leben, still, groß und herrlich, wie wir es nie gekannt. Es ging von den Gefängnissen aus, es strahlte durch die Mauern, es brach durch die vergitterten Fenster, ich kann es nicht anders nennen, als ein Leben im ewigen Licht.
Es kamen dazwischen aus den Gefängnissen Berichte durch bestochene Wärter. Alle erzählten von wunderbarer Kraft, wie die Leiden ertragen werden, wie groß und still die Opfer in den Tod gehen. Sogar manche der rohen Wärter wurden davon erfaßt. In Schmutz und Elend, in Hunger und Kälte leiden die Gefangenen unverzagt, ja es stärkt einer den anderen. Abends halten sie Andachten in ihren Zellen und singen ihre Lieder miteinander. Von einer Zelle zur anderen klingt es, tröstend und hell durch die Dunkelheit.
»Ich habe einen Brief von meinem Mann aus dem Gefängnis,« sagt mir eine junge Frau mit strahlenden Augen, in denen dabei Tränen stehen, »er schreibt glücklich! Das Leben dort hat so große leuchtende Schwingen. Bin ich nicht eine selige Frau? Ich habe einen Mann, der im Gefängnis glücklich sein kann!«
Schlichte Menschen werden zu Helden, helfen, trösten, führen. Kräfte erwachen und teilen sich den anderen mit. Wir, die wir noch in der Freiheit sind, fühlen das Licht, das aus dem Kerker strahlt, tief in unser mühseliges Leben hineinscheinen. Auch wir versuchen unser Leben, so voller Gefahr und Not, in das ewige Licht zu stellen, auch wir versuchen ihm Schwingen zu geben. Einer steht für den anderen ein, man gibt nicht nur, sondern man teilt, was man hat. Es ist wie in den Zeiten der ersten Christenverfolgung. Unsere Pastore sind alle im Gefängnis, in unseren Kirchen werden Meetings abgehalten, Sonntags aber treten Laien vor den Altar, lesen aus der Bibel oder aus Predigtbüchern vor.
Wir fühlen, es ist eine große Zeit, wir erleben einen persönlichen Gott.
Ein hohes Zeugnis gaben uns ungewollt unsere Peiniger. Einer der haßerfülltesten Führer der Bolschewiken sagte in einem Ausbruch schäumender Wut: »Man kann an diese deutschen Balten nicht herankommen! Man nimmt ihnen alles, sie klagen nicht! Man treibt sie aus ihren Häusern, sie gehen schweigend. Man führt sie in die Gefängnisse, ja, man treibt sie in den Tod, klaglos und gefaßt gehen sie auch da
Es wurde Frühling, man fühlte es nicht. Die Sonne strahlte, man sah sie nicht.
Da, ein Ton! Woher kam er? Leise pflanzt er sich fort, einer flüstert es dem anderen zu: »Die Rettung naht, die Befreier kommen!« Wer hat es gesagt? Wo kam die Nachricht her?
Man hebt sein Haupt, horcht – man sieht die Sonne wieder, sieht den Frühling, der die Bäume und Sträucher in lichtgrüne Schleier gehüllt hat. Sollte es möglich sein? Dürfen wir es glauben?
Eine Unruhe hat auch die Bolschewiken erfaßt, man fühlt es! Sie packen, sie bringen die geraubten Sachen in Autos und Wagen fort, sie rüsten zum Abzug!
Ja, ja, es ist Wahrheit! Aber nun Vorsicht, daß man nichts ahnen läßt von dem Jubel, der einem die Brust zersprengen will. Auf der Straße wagt man es kaum, seine Bekannten zu grüßen, aus Furcht, etwas von der namenlosen Freude, die einen erfüllt, zu verraten, denn man ist von Spionen umgeben.
Die Wut der Bolschewiken steigt. Sie schleppen in die Gefängnisse, was ihnen unter die Hände kommt, Kinder und Greise.
Da bricht sie plötzlich über uns herein, die Stunde der Erlösung!
Wie ein Sturm kommen sie, es ist unsere Landeswehr, verstärkt von Deutschen und geführt von deutschen Offizieren.
Der Donner der Geschütze braust über unsere Stadt: »Sind sie es wirklich, sind wir gerettet?«
Ja, ja, sie kämpfen schon an der Brücke! Sie dringen in die Stadt!
Was sich ihnen widersetzt, wird niedergemacht!
Man läuft auf die Straße und denkt nicht an die Gefahr. Wir glauben nicht, daß deutsche Kugeln uns treffen können! Da braust ein Auto heran, ja, nun sehen wir es mit unseren eigenen Augen, sie sind da! Kopf an Kopf stehen sie drin, unsere Feldgrauen, mit den Stahlhelmen über den jungen, strahlenden Gesichtern, die Gewehre im Anschlag.
»Zurück in die Häuser! Fenster und Türen zu! Es wird geschossen!«
»Hurra! Hurra!« ist die jauchzende Antwort.
Man stürzt in die Häuser zurück, aber sofort ist wieder alles vor den Türen! Man will sie sehen, immer wieder sehen, unsere Retter!
In wilder Hast fliehen die Bolschewiken, ein furchtbares Gericht bricht über sie herein. Im Augenblick hat sich eine Sicherheitspolizei von unseren Herren gebildet; sie binden ihre Taschentücher um den Arm, entreißen den Toten ihre Gewehre und ziehen als Patrouillen durch die Straßen, für Ordnung sorgend.
Es ist Abend geworden, ein heller, wunderbarer Frühlingsabend. Es ist still, hie und da fällt noch ein Schuß. Alles ist auf der Straße, und von Mund zu Mund geht die bange Frage: »Sind unsere Gefangenen befreit?« Um die Gefängnisse hat der Kampf am wildesten getobt, nun ist's auch dort still. Ich gehe mit meiner Freundin hin, wir wollen die Befreiung der Gefangenen erleben. Eine Wache will uns zurückweisen, wir achten nicht auf sie.
Jetzt stehen wir vor den Toren des Frauengefängnisses. Es ist ganz still, kein Wächter vor der Tür, nur dunkle Blutlachen überall. Und da sieht man sie auch liegen in ihrem Blut, die stumm gewordenen Männer und Frauen, die unser Leben mit Entsetzen erfüllten. Das Gefängnistor ist halb geöffnet, der Vorraum ist leer. Wir gehen weiter und stehen bald im großen Korridor, auf den die Zellen alle münden.
Ein Wogen von Menschen, ein Schluchzen, ein Jauchzen, ein Grüßen und Händeschütteln! Man kann die Hände nicht alle fassen, die sich einem entgegenstrecken, man stürmt aus einer Umarmung in die andere.
Ich blicke in die Zellen. Auf den Pritschen sitzen noch einige, die still wie die Träumenden blicken. Sie können es nicht begreifen, daß sie frei sind und rühren sich nicht.
Ich bin in der Zelle einer, die ich lieb habe. Schmal und grau ist ihr Gesicht, nur ihre Augen strahlen in hellem Licht. Ich helfe ihr, ihre Sachen zusammensuchen. Wir machen ein Bündel daraus und schweigen beide. Nun wollen wir die Zelle verlassen. An der Tür wendet sie sich noch einmal um, und ihre leuchtenden Augen umfassen den engen Raum. Sie zögert; es ist mir fast, als würde ihr das Scheiden schwer. Und da bricht es von ihren Lippen in Lob und Dank für all das Große, was sie hier erlebt.
»Ich habe Gott erlebt,« sagt sie immer wieder, »ich habe Gott geschaut. Ich fürchte mich vor dem Leben da draußen, ich fürchte mich, das wieder zu verlieren, das ewige Große, das ich hier errungen! Helfen Sie mir, ach, helfen Sie mir, daß ich's in meiner Seele bewahre, bis der Tod mich ruft! Nie, nie möchte ich diese Zeit aus meinem Leben verlieren! Ich habe hier Menschen in ihrer Größe kennen gelernt! Wie schön und herrlich sind doch Menschenseelen, ich habe es ja garnicht gewußt!«
Schluchzend wendet sie sich dem Ausgang zu, ich folge ihr erschüttert.
Im langen Zuge gehen wir durch die Gefängnisräume in die Freiheit! Nun stehen wir draußen, Frühlingsluft umfängt uns. Alles bleibt stehen. Sie stellen ihre Bündel auf den Boden, sie stehen wie berauscht. Sie heben ihre Hände empor, dem scheidenden Lichte entgegen.
Frühling, Frühling und Freiheit!
Ich gehe mit mehreren befreiten Freunden heim. Wir gehen durch die Anlagen, immer wieder bleiben sie stehen, stellen ihre Bündel auf den Boden und strecken ihre Arme in die laue Luft. Junge Mädchen kommen uns nachgelaufen, wollen den Gefangenen ihre Sachen tragen, andere folgen unserem Zuge, es ist wie ein großes Ehrengeleite.
Man trennt sich endlich! Die Stimmen verklingen, jeder sucht sein Heim auf. Ach, mancher findet eine völlig zerstörte Stätte.
Ich mag noch nicht heimgehen, die Straßen sind voll froher Menschen. Jeder will jeden sehen, jeder will dem anderen die Hand drücken. Man ist wie eine große, glückliche Familie.
Deutsche Posten in Stahlhelmen stehen an den Straßenecken, Sicherheit, Friede, Freude liegen über der noch eben so verstörten Stadt. Da, ein Gerücht taucht auf, man flüstert es nach und schweigt dann mit erblaßten Lippen. Nicht alle Gefängnisse sind zur rechten Zeit geöffnet worden. Das Auto, das die Retter ins ferner gelegene Zentralgefängnis bringen sollte, erlitt einen Aufenthalt unterwegs. Dadurch kamen die Retter zu spät.
Früh am Morgen wandern die hinaus, die liebe Angehörige dort hatten. Das Gerücht, daß ein großes Blutbad im Gefängnishof gewesen ist, bestätigt sich.
Da liegen sie noch alle, wie der Tod sie ereilt, mit zerfetzten Gesichtern und Körpern. Männer, darunter acht Pastoren, Frauen und junge Mädchen. Aus nächster Nähe sind die Geschosse auf sie gerichtet gewesen und haben sie in Stücke zerrissen. Manche von ihnen erkennt man nur noch an den Kleidern.
Gott hat den Jammer der verwaisten Kinder, Mütter, Männer und Frauen gesehen, und er hat ihre Tränen gezählt.
Aber Märtyrerblut ist nie umsonst geflossen. So wird auch diese blutige Saat aufgehen und ihre Früchte tragen.
Anna Bock und ich zogen nun wieder in unsere Wohnung. Einen Teil unserer Sachen fanden wir vor, den anderen Teil gelang es uns allmählich wiederzufinden. Es war oft wie ein Wunder, daß man doch noch zu dem Seinigen kam. Man wanderte durch die entlegensten Häuser, in denen die Bolschewiken ihre Bureaus eingerichtet hatten und fand bald hier, bald dort ein vermißtes Stück seines Eigentums wieder.
Die liebevolle Einladung einer Freundin, Pastorin Seesemann, rief mich diesen Sommer nach Tabor bei Mitau.
»Ich habe Vorräte,« schrieb sie mir, »komm, ruh dich bei uns aus und iß dich einmal wieder satt.«
Sie war die jüngste Tochter des Pfarrer Schlosser in Frankfurt am Main, bei dem ich in meiner Studienzeit gelebt hatte. Ihr Mann, der unendlich gütig und gastfrei war, leitete die große kurländische Irrenanstalt Tabor. Die Zeit, die ich in diesem Sommer bei ihnen verlebt habe, ist mir eine wundervolle Erinnerung. Ich nahm meine schriftstellerischen Arbeiten wieder auf und schrieb weiter an meinem »Onkel Hermann«. Über ein Jahr hatte diese Arbeit geruht, nun war die Lust dazu aufs neue erwacht. Niemals habe ich wieder, so getragen von den Verhältnissen, arbeiten können wie damals. Meine Freunde hatten mir ein wunderschönes Zimmer im oberen Stock ihres Hauses eingeräumt, das mit alten Birkenmöbeln eingerichtet war. Die Tür, die zu meinem Balkon führte, stand immer weit offen: Heuduft, Tannenduft, sommerliches Schwalbenschwirren, drangen zu mir herein. Ungestört lebte ich in meiner Welt, die Wirklichkeit versank, und nur die Vergangenheit war da und war Wirklichkeit geworden. Es war eine unendlich reiche Zeit, reich an Glück und an Sehnsucht. Ich war wieder jung, und alle lebten um mich, die ich so sehr geliebt. Ich hörte ihr Lachen, sie sprachen zu mir, und auf den sonnigen Sommerwegen, auf denen ich in Gedanken wanderte, schritten ihre Füße neben mir, und ihre Hände hielten die meine. Oft bin ich von meiner Arbeit aufgestanden, bin auf den Balkon hinausgetreten und habe die Arme nach ihnen ausgestreckt, die mir eben so nahe gewesen, lebendig und wirklich.
Ich habe »Onkel Hermann« nicht geschrieben, ich habe ihn gelebt.
Damals dachte ich noch nicht daran, daß ich für die Öffentlichkeit schreiben könnte.
Vielleicht ist das alles eine Erklärung für die Wirkung, die das Buch auf seine Leser gehabt. Mein »Onkel Hermann« ist das einzige Buch, das ich ungehindert mit eigener Hand schreiben konnte. Eine Nervenerkrankung meines rechten Armes machte mich für meine weiteren Bücher von fremder Hilfe abhängig.
In dieses abgeschlossene Leben kamen plötzlich Briefe aus Berlin von Freunden und Verwandten, die mich für den Winter dringend zu sich riefen. Ich wies dieses Ansinnen zuerst vollständig zurück.
»Warum willst du diese Einladung nicht annehmen?« fragte meine Freundin erstaunt.
»Ich will die Heimat nicht verlassen,« war meine Antwort. »Es ist mir, als müßte ich mich an sie klammern, wo ich so unendlich viel in ihr erlebt und gelitten habe.«
»Du bist sentimental,« sagte sie in ihrer klaren, klugen Weise. »Die Heimat bleibt dir doch. So was Schönes läßt man nicht vorübergehen, greif zu.« Endlich war mein Entschluß gefaßt, ich schrieb nach Berlin, daß ich käme.
Ich weiß nicht, warum mir dieser Entschluß so schwer geworden war, vielleicht ahnte ich im tiefsten Unterbewußtsein, welche einschneidende Folgen diese Reise für meine Zukunft haben würde.
Anfang September reiste ich ab.
Die billigste und bequemste Art, damals nach Deutschland zu reisen, bot der Anschluß an einen Flüchtlingstransport.
Ich beabsichtigte erst nur für einen Winter hinauszugehen, es wurden aber drei und dreiviertel Jahre daraus. Wenn ich diese ganze Zeit überblicke, die ich fern von der Heimat war, muß ich an ein Wort eines alten Waldbauern in Roseggers Erzählungen denken. Der sagt gedankenvoll über ein Erleben, über das er selber staunte: »Es mußte alles so sein, es war mir wohl so aufgesetzt.«
Wenn ich an die Jahre zurückdenke, die damals vor mir lagen, so ist es mir, als hätte mein Leben unter einem höheren Willen, der oft dem meinen entgegen war, gestanden. Ich habe immer wieder Entschlüsse fassen müssen, gegen die ich mich anfangs sträubte, ich bin oft Wege gegangen, die ich nicht wollte, die ich aber dann doch freudig ging, weil ich sie für richtig erkannte.
Es lag in meiner Art, niemals zurückzublicken, wenn ich einen Entschluß gefaßt hatte, so bestieg ich denn auch guten Mutes den Flüchtlingswagen, der mich meinem Ziel entgegenführen sollte. Es war ein Pferdewaggon, den die deutsche Regierung uns zur Verfügung gestellt hatte. Eine Menge Familien: Männer, Frauen und Kinder füllten den Waggon, auch einzelne alte Damen, die sich von Entbehrungen und Schrecken in Deutschland erholen wollten. Drei Tage und drei Nächte waren wir unterwegs, schliefen auf dem Boden oder auf unseren Koffern, aßen von unseren mitgebrachten Vorräten, kochten uns Tee, teilten bald alles miteinander, so wie es Baltenart ist, und waren wie eine große Familie. Oft wurde der Waggon auf einen toten Strang geschoben, wo er Stunden und Stunden lag; dann kletterten wir heraus, gingen spazieren, wuschen uns an einem vorüberfließenden Bach, suchten Milch für die Kinder in den umliegenden Dörfern zu bekommen, kletterten dann wieder in unseren stoßenden, rasselnden Waggon zurück.
Abends, wenn die unruhigen Kinder schliefen, rückten wir unsere Koffer vor die offene Waggontür, sangen, blickten in die Sterne oder schwiegen, viele von uns wohl mit sorgenschweren Gedanken.
Es war ein heller Sonntagmorgen, als ich in Berlin ankam. Sehr wohltuend berührte es mich, daß kein Träger etwas von uns nehmen wollte für das Heraustragen der Sachen.
Ich wurde von niemand erwartet, nahm meinen Weg zu Eva Lißmann, die jetzt Jekelius hieß, und stieg die wohlbekannte Treppe zu ihrer Wohnung hinauf. Bald stand ich unerwartet vor dem Ehepaar, das ich am Kaffeetisch fand. Sie waren fast stumm vor Bewegung. Unter meinen Freunden hatte es mehreremal geheißen, ich sei ermordet, nun stand ich lebendig vor ihnen, wir weinten.
Als ich endlich auf einem Stuhl saß, blickte ich mich um. Wie wunderbar war es, das alles zu erleben: das schöne, gepflegte Heim voller Blumen, die strahlenden jungen Menschen in ihrem Glück, die Atmosphäre, die sie umgab, voll Schönheit, Reinheit und Frieden; und dagegen die Zeit, aus der ich kam, auf der die Schatten des Todes lagen! Ich versuchte mehreremal zu sprechen, aber kein Laut kam über meine Lippen. Und plötzlich war es mir, als trennte mich eine Welt von diesen Glücklichen, und ich könnte den Weg nicht mehr zu ihnen finden. Doch schwand dieses Gefühl bald.
Welch ein Wiedersehen gab es mit den alten Freunden, die mich wie eine vom Tode Erstandene begrüßten, und das war ich auch. Erst allmählich lernte ich mich wieder ins Leben der Großstadt hineinfinden. Ich lebte bei Freunden und Verwandten, machte viele Konzerte mit und fing an, alles so lang Entbehrte zu genießen. Langsam trat das Erlebte zurück und lag im tiefen Grunde meiner Seele. Es war eine Furcht in mir, daran zu rühren; ich wußte, wenn das emporsteigen würde und mein Leben erfüllen, dann müßte es mich trennen von Licht und Freude, von Musik und allem Schönen, ja selbst von meinen Freunden und Verwandten.
Bald nach meiner Ankunft kam bei Jekelius' ein Töchterchen an. Als ich mich über das kleine Geschöpfchen beugte, das so ahnungslos in einem Korbe schlummerte, war mein Herz sehr bewegt. Die Mutter hatte ihr eine Nelke in den Arm legen lassen, die sie mir zur Begrüßung »überreichen« sollte. Es war ein kleines, rundes Gesichtchen, in das ich schaute, mit einem merkwürdig entschlossenen Ausdruck. Was wird der kleinen Eva Monika für ein Weg beschieden sein: wird sie die leidensfähige Seele ihrer Mutter oder die sonnige ihres Vaters mitbekommen haben?
Am 1. November zog ich zu Mühlens Freundin Trude Maas, dort sollte ich bis zu meiner Heimreise bleiben. Sie bewohnte damals noch ihr schönes Heim, wenn auch die glänzenden Verhältnisse, in denen sie bisher gelebt hatte, bescheideneren gewichen waren. Für mich war es nach den erlittenen Entbehrungen noch immer ein glänzendes Leben.
In mein sorgloses Genießen kamen Nachrichten aus Riga von der Beschießung der Stadt durch die Bermondt-Truppen. Da kam der Jammer des Heimwehs über mich, und ich schämte mich, daß ich hier mein Leben genoß, während sie daheim in den Kellern saßen und für ihr Leben zitterten. Es war aber doch ein Glück für mich, daß ich diese Zeit nicht in der Heimat verleben mußte, ich glaube nicht, daß meine Nerven durchgehalten hätten. In dem ruhigen, schönen Leben, das ich nun führte, begannen die ersten Anzeichen meiner Nervenerkrankung sich zu zeigen. Sie äußerten sich im Versagen der rechten Hand: ich konnte nicht schreiben und spielte falsch Klavier. Da der Zustand wechselte, beruhigte ich mich immer wieder. Eine ganze Schar Schüler hatte sich um mich gesammelt, frühere aus der Heimat und auch neue.
Das Leben mit Trude Maas war sehr schön. Sie umgab einen mit viel Liebe und verstand die große Kunst, nicht nur an den Leiden, sondern auch an den Freuden ihrer Freunde teilzunehmen. Sie trug geduldig die große Unruhe, die durch mich in ihr Haus gekommen war, denn durch meine Schüler und Freunde war ein ungewohntes Leben um sie entstanden. Sie interessierte sich aber mit ihrem warmen Herzen für alles, am meisten aber doch für meinen »Onkel Hermann«, den ich ihr vorlas. Sie riet mir dringend, an seinen Druck zu denken, und erbot sich, die ganze Erzählung abzuschreiben, manche stille, reiche Abendstunde entstand dadurch für uns, ich diktierte und sie schrieb. Nun war das Manuskript für den Druck fertig, aber wie sollte ich zu einem Verleger gelangen? Da faßte ich einen kühnen Entschluß, den ich ihr eines Morgens mitteilte.
»Ich schreibe meinem Neffen Hermann Hesse und bitte ihn, mein Manuskript zu beurteilen. Findet er es gut, so wird er mir auch einen Verleger nennen, vielleicht sogar mir eine Empfehlung an ihn geben.«
Trude Maas begeisterte sich für diesen Gedanken.
Ich kannte meinen Neffen nur wenig, einmal hatte ich ihn, als er noch ganz jung war, in seinem Elternhause gesehen, als noch niemand in ihm den berühmten Schriftsteller ahnte. Aber er war doch der Großsohn von meinem Onkel Hermann, und darum schrieb ich ihm, wenn auch etwas zaghaft, doch voll Vertrauen, und bat ihn, ob ich ihm mein Manuskript zur Beurteilung schicken dürfte.
Seine Antwort war so warm, wie ich es kaum erwartet hatte. Ich brauche ihm mein Manuskript nicht zu senden, schrieb er, er wüßte auch so ganz sicher, wie es sei und würde mir eine Empfehlung an einen Verleger geben. Nur solle ich mich nicht grämen, wenn es mit dem erstenmal nicht gelänge, niemals könne ein namenloser Autor damit rechnen, gleich einen Verleger zu finden. »Aber wir suchen schon so lange, bis wir einen gefunden, darüber mache dir keine Gedanken,« schloß er herzlich. – Das war ein Anfang, wie ich ihn mir nur wünschen konnte. Sehr gehoben nahm ich alsbald mein Manuskript unter den Arm, steckte Hermann Hesses Empfehlung zu mir und begab mich auf die Redaktion Velhagen und Klasings. Es war doch ein sehr merkwürdiges Gefühl, als bescheidene Anfängerin einen ganz neuen Weg zu beschreiten, wenn ich an die künstlerische Stellung dachte, die ich schon seit Jahren in der Heimat eingenommen hatte. Aber wer hat das Glück, einen neuen Weg gleich mit einer Empfehlung von Hermann Hesse in der Tasche anzutreten? Und ich betrat ganz ruhig die Redaktion. Ich schickte meine Empfehlung hinein, fast im selben Augenblick stürzte ein Herr heraus. »Sie haben eine Empfehlung von Hermann Hesse,« rief er.
»Ja,« sagte ich kühl, als wäre es etwas Alltägliches für mich.
Er nahm sofort mein Manuskript entgegen und versprach mir aufs liebenswürdigste, daß ich bald einen Bescheid haben sollte.
Nach einigen Tagen kam mein Manuskript zurück. Sie hätten es gar nicht gelesen, schrieb man mir, da sie ihren Verlag wegen Papiermangel aufgäben.
Ich schrieb es gleich Hermann Hesse.
»Nur nicht den Mut verlieren,« war seine Antwort. »Es ist möglich, daß wir umsonst bei zehn Verlegern anfragen. Nun gebe ich dir eine Empfehlung an Eugen Salzer, das könnte der richtige für dich sein.«
Wieder war seinem Brief eine Empfehlung an Salzer beigefügt, die wir sofort mit dem Manuskript und ein paar Zeilen von mir abschickten.
Nun kam eine Weile des Wartens, und dann lag die Antwort eines Morgens unter meinen Postsachen. Ich riß das Kuvert hastig auf – Salzer nahm mein Buch an! Mit einem Jubelschrei rannte ich durch alle Zimmer zu Trude Maas, den Brief wie eine Siegesfahne in der Hand schwenkend.
»Dein Manuskript ist angenommen,« rief sie, und wir sanken uns in die Arme. Es war ein großer Augenblick.
Mein Verleger hatte einige kleine Änderungen vorgeschlagen, die ich bald gemacht hatte. Dann begann er sofort mit dem Druck.
Welch ein wunderbares Erleben, sein erstes gedrucktes Buch in der Hand zu haben! Jeder Satz, jedes Wort, das dem Herzen nahe stand, wird einem plötzlich fremd. Das eigene Werk rückt von einem ab, es wird ein Buch, ein Kunstwerk, das in kritische Beleuchtung tritt. Es dauert, bis es einem wieder nahe kommt und man es als eigenes Kind empfindet.
Mein Verleger wünschte dringend, ich solle Hermann Hesse um ein Vorwort bitten, das würde dem Buch seinen Weg erleichtern, meinte er. Ich ging sehr schwer an diese Bitte: ich hatte viel in dieser Zeit mit meinem Neffen korrespondiert, ihn in allem um Rat gefragt, und er hatte mir aufs bereitwilligste aus seiner reichen Erfahrung geholfen. Wir waren uns auch persönlich näher gekommen, er hat mir manchen Einblick in sein Leben geschenkt, und nun sollte ich wieder mit einer Bitte kommen! Doch ließ mein Verleger nicht nach, so entschloß ich mich denn zu diesem Schritt. Hermann Hesses Antwort war, wie immer, freundlich und eingehend.
Es sei gegen seine Überzeugung, Vorworte zu schreiben, ein Buch müsse sich selbst empfehlen, wenn es das nicht könne, hülfen alle Vorworte nichts. Doch wolle er in diesem besonderen Falle sehen, ob er etwas schreiben könne; er verpflichte sich aber zu nichts, ich solle ihm den ersten Abzug senden lassen.
Wer meinen »Onkel Hermann« gelesen hat, kennt seine Geleitworte. Manchmal lese ich sie für mich, sie rühren in ihrer Schlichtheit immer wieder an mein Herz, ich weiß es mit dankbarem Herzen, was Hermann Hesses Geleitwort meinem Büchlein auf seinem Lebensgang genützt hat.
Ich wußte gar nicht, daß Bücherschreiben ein Leben so reich machen kann. »Mein Onkel Hermann« brachte mir nur beglückende Erfahrungen, freundliche Kritiken, unendlich viel liebe Briefe aus der Heimat, aus England, aus Deutschland, aus der Schweiz, ja sogar aus Indien. Viele schreiben mir immer wieder dasselbe:
»Es ist, als träte aus Ihrem Buch unsere eigene Jugend uns entgegen, so Ähnliches haben auch wir erlebt.« – Seltsam war es auch, daß dieses Buch häufig die Menschen anregte, mir ihre eigene Geschichte zu schreiben. In manchem Leben hatte auch ein alter Onkel oder ein Großvater gestanden, um dessen greises Haupt sich die schönsten Erinnerungen woben. Wie wunderbar viel Gleiches liegt im rein Menschlichen, wie stark müßte uns das doch mit der Menschheit verbinden!
Ein ganz besonders warmes Freundschaftsgefühl verbindet mich mit der Schweiz, da haben meine Bücher mir eine ganze Menge unbekannter Freunde und Freundinnen gebracht. Wie viele Päckchen, wie manche Geldsendung mit der Bitte, mir oder anderen damit eine Freude zu machen, gelangten von dort in meine Hände. Ein Pfarrer sandte mir Geld, ich solle die Summe für eine kleine Reise gebrauchen. Auf diese Weise habe ich den Bodensee kennen gelernt und die Insel Mainau. Die schöne, wollene Strickjacke, die mich an kühlen Sommerabenden wärmt, ist von der fleißigen Hand einer meiner Schweizer Freundinnen eigens für mich gestrickt, Einmal erhielt ich einen Brief von einer Lehrerin aus Deutschland. Sie schrieb: »Da das Postporto ins Ausland so unerschwinglich teuer geworden sei, solle ich eine Freundin nennen, die das Postporto nicht selbst bezahlen könne. Sie würde ihr Postmarken schicken, damit ich die Freude hätte, von ihr Briefe zu erhalten.« Sie hat diesen besonders lieben Gedanken wirklich ausgeführt.
Es ist mir, als ruhte auf diesem meinem ersten Buch der ganze, starke Segen, der von Onkel Hermanns Leben ausging, und daß ich diese seltene Menschenseele übers Leben hinaus habe festhalten dürfen, ist mir immer wieder ein neues Geschenk, das mein Herz mit Dank erfüllt.
Der Sommer war zu Ende, ich bereitete mich zur Heimreise vor, da erhielt ich einen Brief von meinen Freunden Mary und Otto von Gruenewald, die eben in Schwerin lebten. Sie luden mich auf vier Wochen in den kleinen Herrnhuterort Königsfeld im Schwarzwald ein. Reise und Aufenthalt dort sollten ihre Sorge sein.
Mein Blick aber war in die Heimat gerichtet, ich wollte mich von meinem Wege nicht wieder ablenken lassen. Wohl tauchte wie ein verlockendes Bild der Schwarzwald im Herbstsonnenschein vor mir auf und das Leben mit den beiden Freunden in Stille und Schönheit. Doch wies ich es ab und schrieb ein »Nein«, denn ich wollte in die Heimat. Nach wenigen Tagen kam eine Antwort, sie waren beide fest entschlossen, mein Nein nicht anzunehmen, schrieben mir den Termin unserer gemeinsamen Abreise aus Schwerin, kurz, die Schlinge der Freundschaft war mir um den Hals gelegt, die beiden hielten fest.
Ich machte zuerst einen langen Spaziergang am Meeresstrande, irgend etwas in mir fürchtete sich, dem Ruf zu folgen. Es war mir, als verließe ich sicheres Land und täte einen Schritt ins Ungewisse. Aber dann mußte ich doch selbst über mich lächeln: war ich nicht ein Tor? Wenn etwas so Schönes an einen herantrat, griff man einfach zu und war glücklich. Ich schrieb ein jubelndes »Ja«. Kurze Zeit danach befand ich mich auf der Reise nach Schwerin, bald ging es in den Süden, dem Schwarzwald zu. Wir nannten uns »die drei armen Pracher«, denen das Glück in den Schoß gefallen war. Dazu war draußen eine goldene Herbstsonne, die Luft klar, die Welt, durch die wir fuhren, wurde immer schöner und wir immer froher; am Abend des zweiten Tages kamen wir an.
Der Wagen, der uns von der Station abholen sollte, war durch ein Versehen nicht gekommen. Wir entschlossen uns schnell, den Weg, der dreiviertel Stunden dauerte, zu Fuß zurückzulegen und wanderten frohen Mutes, Arm in Arm, durch den dunklen Wald. Welch eine Luft voll Tannenduft und Frische, hier war es eine Lust zu atmen!
Als wir aus dem Walde traten, lag das kleine Königsfeld vor uns mit seinen funkelnden Lichtern. Wir blieben einen Augenblick stehen und freuten uns an diesem Anblick. »Es wird eine schöne Zeit, die vor uns liegt,« sagten wir uns; »wir wollen sie von Grund unseres Herzens genießen!«
Meine Freundin und ich wohnten im Sanatorium Luisenruh. »Unser Bruder« zog wieder zum Doktor des Sanatoriums, bei dem er schon früher gelebt hatte.
Wir drei waren viel zusammen, wanderten, lasen, machten Musik, denn Otto von Gruenewald war ein sehr feiner Pianist und bot uns Stunden hohen künstlerischen Genusses. Zu uns gesellte sich bald der Doktor, so viel es ihm seine Zeit erlaubte; er war eine Natur voll Leben und impulsiver Aufnahmefähigkeit.
Aus den vier Wochen wurden sechs. Als meine Freundin abreiste und ich mich ihr anschließen wollte, ließen der Doktor und die Oberin des Sanatoriums mich nicht fort. »Wir brauchen Sie für uns und unsere Kranken,« hieß es; »in die Heimat kommen Sie immer noch zeitig genug nach Weihnachten!«
Wieder blieb ich, zuerst mich sträubend, dann freudigen Herzens.
Eine schöne friedvolle Zeit begann. Der Herbst dort oben wurde immer schöner, langsam kam der Winter heran, es war, als würde das Leben immer friedlicher, immer abgeschlossener in den verschneiten Wäldern.
Die erste Zeit hatte ich still und ausschließlich mit den Freunden gelebt; nun fing ich an, mit den Patienten zu verkehren. Ich besuchte sie in ihren Zimmern, las mit ihnen und wanderte mit ihnen durch die Wälder. Abends ging ich oft zu Otto Gruenewald, vergrub mich in einen Lehnstuhl und ließ mir von ihm vorspielen. So mußte man ihn hören, im Konzertsaal verschloß diese leichtverletzliche Künstlernatur oft ihr bestes.
Ich lernte durch den Doktor die Schriften von Angelus Silesius kennen und arbeitete an einer Herausgabe seiner Aussprüche unter Gesichtspunkten, wie: Gott und die Seele, Bilder aus der Natur, Liebe usw. Zwei der Patientinnen halfen mir beim Schreiben und Ordnen des Materials. Welch reiche Stunden verlebte ich an meinem Schreibtisch, in den stillen Krankenstuben meiner Gehilfinnen, im Verkehr mit diesem frommen Mystiker, dessen Seele ganz in Gott lebte.
Unter den Kranken am Ort lebte ein Dr. Stockhausen mit Frau und Tochter. Es war ein Sohn meines alten Professors aus Frankfurt. Ich erinnerte mich seiner genau, wie manches Mal hatte ich mit dem stillen, bescheidenen Fritzchen auf Ausflügen mit der Familie Käfer gesucht. Er war als Knabe ein Käfersammler und trug immer eine Büchse bei sich, in die er seine unglücklichen Opfer sperrte. Nun hörte ich, er sei schwer leidend und seit einigen Wochen fast völlig gelähmt. Ich ließ anfragen, ob ich ihn besuchen dürfe und wurde sofort auf das freundlichste eingeladen. Als ich mich zu ihm aufmachte, war ich ein wenig erregt, denn alles, was mit Stockhausen zusammenhing, faßte mich noch immer innerlich an. Seine Frau, ein sonniges, fröhliches Menschenkind, und ihre Tochter empfingen mich, sie führten mich sofort zum Kranken.
Es war ein schöner, edler Männerkopf, der auf den weißen Kissen lag, mit einem unendlich melancholischen Ausdruck. Viel Kämpfe, schwere Leiden standen auf diesem Gesicht geschrieben, aber auf der Stirn lag doch ein klarer, stolzer Ausdruck. Er begrüßte mich wie eine alte Bekannte und behauptete, mein Name sei ihm vertraut, da er oft in seinem Elternhause genannt worden sei. Ich fragte ihn nach seinem Leiden, doch hatte ich sofort den Eindruck, daß er nicht gern davon sprach.
»Zwanzig Jahre,« sagte er, »kämpfe ich gegen meine Krankheit. Nun scheint's, daß ich erliege.«
Ich habe ihn oft besucht, zuletzt lebte ich zwei Wochen ganz in seinem Hause; sie nannten mich dort »Schwester Monika«, ein Name, der sich allmählich in Königsfeld verbreitete und der mir sehr lieb war. Ich war froh, wenn ich dem Kranken einige kleine Handreichungen machen konnte, am liebsten aber hatte er es, wenn ich mir einen Stuhl zu Füßen seines Bettes heranholte und aus meinem Leben erzählte. Oft kamen auch die Frau und die Tochter hinzu. Wenn ich von meinen Stunden bei seinem Vater sprach, vom Leben und Treiben der Schülerinnen, von den Festen und der Musik in seinem Elternhause, von den Leiden, die wir dem unglücklichen Unterlehrer bereiteten, dann vergaß er für Augenblicke sogar seine Schmerzen. Oft haben wir alle so herzlich dabei gelacht, daß der Doktor, der zufälligerweise hinzukam, voll Staunen sagte: »Soll das hier ein Krankenzimmer sein?«
Der Kranke litt seine Qualen immer geduldig, immer freundlich, er hielt sich in eiserner Disziplin und gestattete sich niemals ein Entgleisen. Als ich ihm dies einmal bewundernd aussprach, war seine Antwort:
»Ein Kranker darf nie vergessen, welch eine Last er für seine Umgebung ist. Die darf er nicht noch vergrößern.«
Er war ein prachtvoller Mensch, der mit großer Klugheit, einem scharfen Verstande eine unendliche Herzensgüte verband. Mit Stolz fühlte ich, daß er mein Freund war. Manchmal ließ er mich in sein Leben hineinschauen, aber er sprach nicht viel von sich. Oft fragte er nach meiner Mutter, die auch ein jahrelanges, schweres Leiden getragen hatte.
Einmal saß ich bei ihm, wir waren beide allein. Ich hatte ihm von meiner Mutter erzählen müssen, nun schwieg ich. Er lag ganz still da, draußen war es Winter, und der Schnee lag schwer auf den hohen Tannen, hinter dem Walde verglühte das letzte Abendrot, und die Dämmerung legte sich sacht auf das schöne Gesicht und die edlen Hände des Kranken, die so müde auf der Decke lagen.
Da unterbrach er die Stille:
»War Ihre Mutter geduldig?« fragte er plötzlich.
»Nicht so geduldig wie Sie,« war meine leise Antwort.
Er schwieg, und dann klang ein Laut durch die Stille wie ein Schrei oder ein Schluchzen. Aus ihm, dem eisern Beherrschten, brach eine Verzweiflung wie eine Sturmflut, die alle Dämme niederriß; ich verstand nur die Worte:
»Ich – geduldig!« Dann kam ein Weinen, wie ich nie in meinem Leben habe weinen gesehen. Ich saß ganz still, wie gelähmt. Es war, als ob alles in mir erstorben wäre außer dem einen Gefühl des Mitleids mit dem Manne, dessen Seele in Schluchzen vor mir zerbrach.
Nichts macht so einsam wie ein großes Leiden, es trennt wie ein breiter Strom den Leidenden von allen, oft von seinen Liebsten, und nichts dringt hinüber in diese Einsamkeit.
Stumm und ehrfurchtsvoll stand ich von ferne, fühlte schweigend den ganzen Jammer dieser Menschenseele vor mir und konnte ihr nicht helfen!
Wenn ich das Wort lese von denen, die in weißen Kleidern aus großer Trübsal gekommen sind, und die keine Qual mehr anrührt, dann denke ich an ihn.
Inzwischen war es Adventszeit geworden. Ganz besonders schön waren die Festzeiten im kleinen Königsfeld. Es gab so viele alte Herrnhuter Sitten, an denen das Städtchen festhielt, und die dem Leben dort ein eigenes Gepräge gaben. Aber von allen Festzeiten war Advent und Weihnacht mir dort die liebste Zeit. Am Abend vor dem ersten Advent versammeln sich alle Patienten des Sanatoriums im großen Speisesaal, Berge von Tannengrün haben sie aus dem Walde geholt. Wir winden Adventskränze und singen dazu die alten Adventslieder:
»Macht hoch die Tür, die Tor macht weit.
Es kommt der Herr der Herrlichkeit.«
Jedes Krankenzimmer bekommt seine Tannenkrone, die an bunten Bändern von der Decke herabbängt. Diese ganze Zeit steht unter einer besonderen Weihe; jedes Haus hat seinen Stern, seine Kränze, und überall hört man Adventslieder singen. Oft wandere ich abends durch die stillen verschneiten Straßen, sehe die farbigen Sterne, die von der Zimmerdecke herabhängen und horche auf das Singen, das gedämpft hinter geschlossenen Fenstern zu mir herüberklingt.
So kommt das Weihnachtsfest heran. Ich habe den Patienten versprochen, am ersten Feiertag ein »livländisches Weihnachten« mit ihnen zu feiern, verrate aber nicht, welcher Art das Fest sein wird.
Tagelang bin ich im Wald umhergestreift und habe endlich nach langem, vergeblichem Suchen einen kleinen Tannenbaum gefunden, der frei dasteht in der verschneiten Winterwelt. Diesen Baum will ich zu Weihnachten mit Lichten schmücken und sie anzünden, wenn es dunkel geworden ist. So haben wir's in der Heimat öfter gemacht.
Der erste Weihnachtsfeiertag ist gekommen. Die Luft ist still und kalt, die Tannen stehen tief gebeugt unter ihrer Schneelast. Ich bin vorher allein in den Wald gegangen und habe mein Bäumchen über und über mit Lichten geschmückt, nun warte ich auf die andern. Eine von den Patienten ist eingeweiht, sie führt die ganze Schar durch die tiefverschneiten Waldwege, alles ist voll feierlicher Erwartung.
Ich zünde die Lichte an, denn ich höre sie kommen. Durch den stillen Wald klingt hell und lieblich das alte Weihnachtslied:
»Es ist ein Ros entsprungen
Aus einer Wurzel zart.«
Mein Bäumchen steht auf einer kleinen Lichtung, mächtige Schwarzwaldtannen halten ringsum die Wacht. In der regungslosen Luft steigt die Flamme still und gerade empor, darüber der Nachthimmel voll funkelnder Sterne.
Nun biegen sie um die Waldecke, und vor ihnen liegt das strahlende Wunder in verschneiter Winternacht.
Das Singen verstummt, schweigend kommen sie näher und umstehen den Baum. Ich stimme an: »Stille Nacht, heilige Nacht.«
Alles singt mit; wie wunderbar das klingt in dem großen Schweigen der Wälder!
Das Licht der Weihnachtskerzen fällt auf die Gesichter der Versammelten, es ist ein feierlicher Ausdruck, den sie alle tragen, und wir erleben in unseren Herzen »stille Nacht, heilige Nacht«.
Als ich im Januar nun wirklich Königsfeld verließ, um über Berlin heimzureisen, fragte mich der Doktor beim Abschied, ob ich nicht wiederkehren und als seine Gehilfin im Sanatorium arbeiten wolle. Das geschah am letzten Morgen, und ich war erschrocken und entschlußlos. Da sangen die Patienten hinter meiner Tür: »Jesu, geh voran auf der Lebensbahn.« Schweigend erhob sich der Doktor und verabschiedete sich, ich aber fuhr mit dem Klang des Liedes im Herzen nach Berlin, wo ich dieses Mal bei meinen Freundinnen Nina und Gertrud Tode lebte, die schon vor Jahren Riga verlassen hatten, und nach Berlin übergesiedelt waren.
Nur zu ihnen sprach ich vom Vorschlag des Doktors, sie beeinflußten mich mit keinem Wort.
»Du mußt selbst wissen, was du tust,« sagten sie.
Ich aber konnte nicht zur Klarheit und zur Ruhe kommen. Wochen dauerte mein Kampf. Warum konnte ich nicht Nein sagen, wie ich doch wollte?
Es war wieder die seltsame Macht, die mich gegen meinen Willen zwang, der ich mich schließlich doch fügen mußte.
Von der einen Seite rief die Heimat, die zerstörte, fremdgewordene, der alte Beruf, von der anderen Seite war ein noch ungeklärter Weg, auf dem aber so viele standen: Kranke, Ratlose, und des Doktors Stimme sagte: »Wir brauchen Sie.«
Eines Tages war die Klarheit da, und mit ihr kam ein freudiger Mut, ich sah meinen Weg und war entschlossen, ihn zu gehen: er führte nach Königsfeld. Sobald mein Entschluß gefaßt war, schrieb ich dem Doktor: »Ja, ich käme!
Im April reiste ich zurück. Als ich in den Zug der Schwarzwaldbahn stieg, kam es plötzlich wie eine namenlose Angst über mich, es überfiel mich ein Heimweh, wie ich es nie gekannt. Ich litt fast körperliche Schmerzen. Es war, als müßte ich aus dem Zuge springen und zu Fuß gehen, immer weiter, bis ich in die Heimat käme! Ich sah nicht das blühende Land, durch das ich fuhr, nicht den wunderbaren Frühling des Südens, ich sah nur die Fremde und ein neues Leben, in das ich nicht hinein wollte.
Als ich auf der Station Peterzell ankam, hatte ich mich wieder gefunden. Der warme Empfang, der auf mich wartete, nahm mir bald die Angst. Und dann war meine alte Freundin Adel Lang gekommen, das war eine große Hilfe. Sie hatte ihre Schüler in Stuttgart im Stich gelassen, um mir beim ersten Einleben zu helfen.
Der Anfang war nicht leicht, bis ich meine Arbeit fand und überblickte, denn ich sollte eine Stellung einnehmen, eine Arbeit leisten, die bisher noch nicht dagewesen war. Da fiel mir ein Wort ein, das ich einmal gelesen hatte: »Habe nur Liebe im Herzen, dann kommt das andere ganz von selbst.« Dieses Wort half mir, ich fand mich bald zurecht.
Ich habe mich gut mit dem Doktor in der Arbeit verstanden, denn sein Wollen war gut und rein. Wir haben uns zeitweise wundervoll in die Hände gearbeitet.
Ich lebte zuerst in einem Zimmer, das ich mir gemietet hatte, den Tag über war ich im Sanatorium. Im Juni siedelte ich ins Landhaus des Doktors über, das zwanzig Minuten vom Ort entfernt am Waldrande lag.
Der Umzug dorthin wurde von sämtlichen Patienten besorgt, sie kamen mit kleinen, bekränzten Handwagen und schleppten stückweise meine Habe hin. Eine von ihnen hatte ein Umzugslied gedichtet auf eine bekannte Volksmelodie, das wurde beim Transport gesungen.
Mit Liebe denke ich an die zwei Zimmer in des Doktors Landhaus, die mein Reich waren. Die Wände waren holzgetäfelt, auf dem breiten Tritt vor dem Fenster stand ein altertümlicher Lehnstuhl, der Blick ging über den Blumengarten hin zum Walde. Welch ein Frieden, welch ein Duft war um mich her, wenn ich am Fenster saß und hinausblickte. Es war eine glückliche Zeit. Ich fühlte immer mehr, daß ich meinen Kranken etwas sein konnte, ich gewann sie lieb, denn ich lernte unter ihnen feine Menschen kennen. Doch lag auch manches Leid, manches dunkle Menschenschicksal lastend auf mir. Unter den Freunden des Doktors lernte ich auch so manche ungewöhnliche Persönlichkeit kennen; manchen von ihnen trat ich sehr nahe, sie wurden auch meine Freunde. Am vertrautesten wurde ich mit zwei Frankfurterinnen, Frau Professor Dreyfus und Frau Else Adler.
Beide verstanden, Freunde zu sein, das habe ich oft erfahren.
Als der Sommer in Königsfeld zu Ende war und sie wieder nach Frankfurt heimreisen mußten, luden sie mich auf vierzehn Tage zu sich ein.
Im Oktober machte ich mich frei und reiste auf zwei Wochen zu ihnen. Ich wohnte bei Professor Dreyfus. Es war so eigen diese Stadt wiederzusehen, wo ich so viel Schönes und so viel Schweres erlebt hatte. Sie war mir doch sehr fremd geworden, und von meinen alten Freunden und Bekannten lebte niemand mehr dort. Es war eine Zeit voll konzentrierter geistiger und künstlerischer Genüsse, die ich hatte. Am Vormittag holte Frau Else mich ab und brachte mich in die Bildergalerien, sie war eine ideale Führerin, für die nur das Beste und Feinste existierte. Sie verstand es, voller Ehrfurcht vor großen Kunstwerken zu schweigen. Abends besuchte ich mit Frau Professor Dreyfus die Oper oder Konzerte, unter denen für mich nur das Schönste ausgesucht wurde.
Professor Dreyfus, eine Autorität für Nervenleiden, interessierte sich für meinen kranken Arm und nahm mich in Behandlung. Er konnte mich nicht gesund machen, aber in seiner klugen, gütigen Art hat er mir unendlich geholfen. Er gab mir Gesichtspunkte und lehrte mich, mein Leiden zu bekämpfen, damit ich ihm nicht unterliege.
Eine große Freude wurde mir zuteil, ehe ich wieder heimreiste. Ich hatte im Hause Dreyfus Fräulein Dessow kennen gelernt, die geniale Dirigentin des von ihr gegründeten berühmten Frauenchors. Sie hatte mich aufgefordert, eine Probe mit anzuhören, mit großer Freude folgte ich dieser Einladung. Sie studierte gerade einen mehrstimmigen Chor von Cherubini. Wie ein Feldherr stand die stolze, schöne Erscheinung vor ihrem feingeschulten Chor. Wie hatte sie ihn in der Hand!
Als die Probe beendet war, erhoben sich die Sänger auf einen Wink ihrer Dirigentin noch einmal. Es gab eine Überraschung für mich, sie begannen: »Der Holdseligen sonder Dank,« ein Frauenchor von Brahms folgte dem andern. Ich hörte mit bewegter Seele zu. Wie oft hatten wir diese Chöre unter Stockhausen gesungen, und nun durfte ich sie hier in Frankfurt wieder hören. Es war, als woben sich goldene Fäden aus der Vergangenheit in die Gegenwart, ich fühlte plötzlich die ewigen Werte, die ein Kunstwerk hat. Da ist kein Gebundensein an Zeit und Raum, nur wir waren jung und wurden alt, aber in unvergänglicher Schönheit strahlten die Lieder heute wie vor vierzig Jahren. Wir, die wir sie einst mit großer Begeisterung gesungen, sangen nicht mehr, aber an unsere Stelle waren wieder andere junge, frohe Sänger gekommen, und unter ihrem Singen erstanden die Lieder wieder neu. Zum Schluß erklang der »Bräutigam« von Brahms:
»Von allen Bergen wieder
So fröhlich Grüßen schallt.«
Es wurde mit wundervollem Schwung vorgetragen und in einem Tempo, an dem auch Stockhausen sich hätte freuen müssen.
Sie hatten geschlossen, ich sah freudige Gesichter, die erwartungsvoll ihre Blicke auf mich richteten. Da erhob ich mich und wollte einige Worte des Dankes zum Chor sprechen, aber die Erinnerung überwältigte mich so stark, daß ich in Tränen ausbrach.
»Das war unser schönster Lohn,« sagte die Dirigentin leise zu mir, als ich schluchzend ihre Hand ergriff.
Anfang und Ende; und dazwischen lag das Leben mit seiner Schönheit und seinem furchtbaren Ernst.
Ich halte jeden Sonntag vormittag mit den Patienten des Sanatoriums eine Andacht. Ich lese mit ihnen einen Abschnitt aus der Bibel und eine Predigt, dann singen wir. Wenn der Sommer kommt, ziehen wir in den Wald. »Waldgottesdienste« nennen wir diese Zusammenkünfte, und wir hängen sehr an dieser Sonntagsfeier. Sehr bescheiden hatte ich angefangen, nur mit zweien, jetzt sind wir eine große Schar geworden.
Man hat mir die Nachricht gebracht, daß die »Ginsterhalde« in voller Blüte steht. So nennen wir einen Berg, der abgeholzt, frei in der Sonne liegt und über und über mit Ginsterbüschen bewachsen ist. Wenn er in voller Blüte steht, strahlt und leuchtet er im Sonnenschein wie lichtes Gold.
Es ist ein wunderbarer Sonntagmorgen, alles hat sich vor dem Sanatorium versammelt. Wir wollen zur »Ginsterhalde«, wo ich heute die Morgenandacht halten will. Als das Städtchen hinter uns liegt, beginnen wir zu singen:
»Schönster Herr Jesu, Herrscher aller Enden.«
Es ist das alte Kreuzfahrerlied, und man sieht in ihm die Scharen dem heiligen Lande entgegenwandern. In diesem Liede schaut man alles, was ihre sehnsüchtigen Augen an Schönheit unterwegs erblicken:
»Schön sind die Wälder, schöner die Felder
In der schönen Sommerzeit.«
Wir wandern durch eine Birkenallee, die im ersten Sommergrün prangt. An unserem Wege liegen blühende Wiesen in einer Blumenpracht, wie ich sie sonst nirgendwo gesehen. Dann tauchen wir in den Waldesschatten, ein kurzer Weg noch, der Wald ist zu Ende, vor uns liegt die Ginsterhalde in leuchtender Schönheit, in goldener Fülle.
Für mich ist bald ein Baumstumpf entdeckt, auf dem ich etwas erhöht sitzen kann, um mich lagern sich meine Begleiterinnen. Neben mir sitzt mein »Küsterlein«, eine junge Patientin, der ich diesen Namen gegeben habe, denn sie trägt mir immer die Bücher zu den Waldgottesdiensten.
Ich lese auch heute ein Kapitel aus der Bibel, und dann eine Predigt von Rittelmeyer. Ich habe die Predigt gewählt über Markus 2,1–12 von Jesus, dem Lichtboten. Ich liebe sie, weil sie voller Helligkeit ist. Sie redet von der Sehnsucht der Deutschen nach Licht, die sich in ihren Sagen, ihren Dichtungen so ergreifend ausspricht. Der Verfasser zeigt uns Christus als die höchste Erfüllung dieses Sehnens und macht uns Mut, die Sehnsucht in Taten umzusetzen. Und dann singen wir, Lied auf Lied.
Ich lasse meinen Blick über die Versammelten gleiten, meine Kranken, denen mein Lieben und Sorgen gehört. Wie liebe ich sie! Wie viel habe ich immer wieder mit ihnen zu teilen, sie zu trösten, ihnen zu helfen und sie über die dunklen Tage, die im Krankenleben so oft vorkommen, hinüberzutragen. Mit jeder von ihnen verbindet mich ein Band mehr oder weniger stark.
Nun habe ich sie alle verlassen, und jede geht ihren Weg, aber meine Gedanken suchen sie oft in der weiten Welt.
Wie schön sind die stillen Sommerabende in Königsfeld, das so weltfern, abgeschlossen, von keiner Eisenbahn berührt, mit seinen bunten Wiesen mitten unter ernsten, dunklen Wäldern in den Bergen liegt!
Ungefähr zwanzig Minuten entfernt vom Städtchen, hoch am Waldrand gelegen, steht ein kleiner Pavillon: er gehört zum Doktorshause und ist vollständig eingerichtet; im Sommer läßt der Doktor sein Klavier hintragen, wir musizieren dort viel des Abends.
Vom Pavillon aus hat man einen herrlichen Blick über den Garten, über weite, grüne Felder und unermeßliche Wälder.
Die Türen des Pavillons stehen weit offen. Den Weg von Königsfeld herauf über die Wiesenpfade und Waldwege sieht man Menschen heraufpilgern. Am Saum des Waldes – auf der Wiese vor dem Pavillon – am Wegrande haben sich viele gelagert. Sie sitzen einzeln oder in Gruppen beisammen; und immer neue Scharen ziehen nach. Die ganze Landschaft ist belebt durch dieses bunte, reizvolle Bild.
Wir haben einen Musikabend mit Rezitationen angesagt, der im Pavillon stattfinden soll; die Wiese davor ist der Konzertsaal. Der ganze Ort ist eingeladen, daran teilzunehmen, und jeder ist willkommen.
Die untergehende Sonne liegt schimmernd auf den Wiesen, aus den fernen Tälern steigen Nebel, der Himmel ist klar und hell.
Nun ist alles versammelt, und das Konzert beginnt: auf die Veranda des Pavillons tritt eine Geigerin, eine schlanke, vornehme Erscheinung. Sie steht eine Weile still da, mit ihrem Instrument im Arm. Dann hebt sie die Geige und, vom Klavier begleitet, erklingt durch den lauen Sommerabend das »Air« von Bach. Wunderbar edel, dunkel und stark ziehen die Töne durch die Abendstille. Ist es auch keine Künstlerhand, die den Bogen führt, so ist es doch eine Künstlerseele und ein warm empfindendes Künstlerherz, das aus den Tönen der Geige spricht. Die Geigerin fühlt die Schönheit, das Licht und die Ruhe um sich; und alles, was ihr Auge schaut, redet lebendig aus ihren Tönen. Es ist, als sollte man Bach nur so hören, unter dem lichten Abendhimmel, in einem Konzertsaale, dessen Boden von grünem Rasen und Blumen gebildet ist, dessen Wände hohe, ernste Schwarzwaldtannen sind, und dessen Decke der Sternenhimmel.
Dann folgen Präludium und Fuge von Bach und ein Satz aus einer Sonate von Beethoven für Klavier. Da man die Pianistin nicht sieht, wirkt diese Musik merkwürdig geheimnisvoll und losgelöst vom Menschentum.
Mich rührt das Spiel zu Tränen; denn die da spielt, ist meine alte Jugendfreundin Annie Sokolowski aus Riga, die auf einige Zeit zu mir in den Schwarzwald gekommen ist. Jeder Ton berührt mich bekannt und vertraut, wie ein Gruß aus Heimat und Jugendzeit.
Es folgen noch einige alte Italiener für Violine und Klavier; und der erste Teil des Konzerts ist zu Ende.
Die Musik schweigt; aber niemand spricht; alles horcht den verklungenen Tönen nach.
Nun steht die Rezitatorin auf den Stufen der kleinen Veranda; sie ist noch jung, ihr Gesicht blaß, ein Heimatkind, eine meiner Schülerinnen, die mir auf einige Sommerwochen hierher gefolgt ist, um weiter zu studieren.
Die Sonne ist hinter den fernen Tannenwipfeln versunken, ihr letzter Abglanz liegt noch auf der hellen Stirn, dem weißen Kleide des jungen Mädchens, das ernst und gesammelt dasteht. Wir haben das Programm sorgfältig zusammengestellt und der Stimmung des Abends angepaßt. Sie beginnt mit Hölderlins »Abendphantasie«. Ihre Stimme klingt klar und ruhig und voller Wohllaut; eine Seele liegt in ihr:
»Vor seiner Hütte ruhig im Schatten sitzt
Der Pflüger. Dem Genügsamen raucht sein Herd!
Gastfreundlich tönt dem Wanderer im
Friedlichen Dorfe die Abendglocke.
Ein Gedicht folgt dem anderen. Die junge Stimme erzählt von Wandersehnsucht und Frühlingslust, von Sommerstille und dunklen Wäldern. Sie erzählt von silbernem Mondschein und rauschenden Mühlen, von Sehnsucht und Schmerzen und schließt mit der »Abendandacht« von Hermann Hesse.
»Jeden Abend sollst du deinen Tag
Prüfen, ob er Gott gefallen mag.«
Unterdessen ist die Dämmerung herangekommen. Ein Stern nach dem anderen leuchtet am Abendhimmel auf, und über dem Walde steht der Mond. Es ist, als hörte man die Stille. Und nur die Grillen zirpen im Grase.
Da erhebe ich meine Stimme und beginne zu singen:
»Der Mond ist aufgegangen.
Die gold'nen Sternlein prangen
Am Himmel hell und klar.«
Eine Stimme nach der anderen fällt ein; zuletzt singt alles mit. Es ist ein schöner, voller Chor, der über die Wipfel der Bäume zu den Sternen emporsteigt.
»Wie ist die Welt so stille,
Und in der Dämm'rung Hülle
So traulich und so hold.
Wie eine stille Kammer,
Da ihr des Tages Jammer
Verschlafen und vergessen sollt.«
– – Nun ist alles heimgegangen, nur der Mondschein liegt auf dem Rasenplatz, auf dem eben noch so buntes Leben herrschte. Ich sitze allein auf den verlassenen Stufen des Pavillons.
Schwer strömt der Duft der Sommerblumen aus dem Doktorsgarten zu mir herüber. Die ganze Welt ist in Mondlicht getaucht; und in mir klingt das Lied nach, das wir eben gesungen.
Und plötzlich erwacht die Erinnerung in mir an einen Abend vor vielen, vielen Jahren. Es war auch ein Sommerabend voller Mondschein, wie heute. Wir wanderten über die Landstraße in der Heimat und ich war jung! Weite, stille Wiesen und Felder, ein lauschendes Flüßchen, Abendnebel auf den Wiesen, und vor uns lag das Städtchen Weißenstein im stillen Mondlicht. Meine junge Mädchenhand lag in Onkel Hermanns alter, treuer Hand, und wir sangen:
»Wie ist die Welt so stille – –
Wie eine stille Kammer,
Da ihr des Tages Jammer
Verschlafen und vergessen sollt.«
Wie hell hatte damals meine Stimme geklungen! Wie ahnungslos!
»Des Tages Jammer«, ja, was ahnte meine junge Seele damals davon? Nun hatte ich ihn kennen gelernt, unermeßlichen Jammer, eigenen und fremden. Wie fern lag die Heimat, die geliebte! Zerstört und verloren war sie, und tot waren die, mit denen ich damals gewandert und gesungen.
Da stand meine Jugendfreundin Annie vor mir. Sie hatte mich unter den Heimkehrenden vermißt und war umgekehrt, mich zu suchen. Ich erhob mich und ging mit ihr heim.
Ihre Nähe hatte etwas in mir geweckt, das schlummerte und nun erwacht war: das Heimweh.
Würde mein Weg mich jemals wieder in die Heimat zurückführen? Es war ein weiter Weg von hier bis zu ihr hin. Aber in diesem Augenblicke wußte ich es: ich würde ihn wiederfinden und ihn gehen!
Zu Ende des Sommers erhielt ich einen Brief von Tempe Seng, in welchem sie mir ihren Besuch auf zwei Tage ankündigte. Ich hatte lange Jahre kaum etwas von ihr gehört, der Krieg hatte uns getrennt. Nur das wußte ich, daß sie viel krank gewesen war und ihr Singen zeitweise ganz aufgeben mußte. Sie schrieb mir kurz, daß sie seit Jahren in der Schweiz lebte und bei Cairati wieder angefangen hatte zu singen; nun aber wollte sie nach Heidelberg zu ihren Eltern zurück und dachte daran, ihren Beruf wieder aufzunehmen. Welch eine Freude war das für mich, sie auf dem kleinen Bahnhof in Peterzell zu erwarten. Wir hatten uns acht Jahre nicht gesehen.
Als sie mit mir die Schwelle des Doktorhauses überschritt, wußten wir beide nicht, daß sie ihre zukünftige Heimat betrat.
Am Tage nach der Ankunft hatten wir ihr zu Ehren einen Musikabend in der »Luisenruh« arrangiert. Ich habe sie kaum jemals so schön singen gehört wie an dem Abend; ihre Stimme war durch die Studien bei Cairati frei und klangvoll geworden, man hatte sonst so leicht in ihr einen leisen Zwang gespürt. Sie sang so selbstverständlich und gab sich auch seelisch ganz frei, dabei sah sie so schön und eigenartig im weißen Kleide aus, alles wirkte harmonisch, daß ich meine ungetrübte Freude an ihr hatte. Meine Kritik, die auch bei meinen früheren Schülern nie schwieg, hatte an diesem Abend kaum etwas zu tun.
Als wir nach dem Konzert nach Hause gingen, sprach der sonst so redefrohe Doktor kein Wort – sein Schicksal war besiegelt. Als Tempe das nächstemal wiederkam, war sie seine glückliche Braut, gleich nach Weihnachten war die Hochzeit.
Wie seltsam verbinden sich doch die Menschenwege untereinander!
Ich hatte das Doktorhaus verlassen, lebte im Städtchen und widmete mich nun ganz meinen Kranken.
In diesem Winter entstanden »Menschen, die ich erlebte« und »Meine Weihnachten«. Immer waren liebe Hände bereit, für mich zu schreiben, zu flicken und zu nähen, so daß ich die Hilflosigkeit meiner Hand nicht so stark empfand. Das Leben war jedoch nicht so harmonisch wie im ersten Winter; es gab Kämpfe und Streitigkeiten, die einem das Atmen mühsam und die Seele matt und traurig machten. Wir hatten auch sehr schwere Patienten, deren Leiden manchmal wie eine dunkle Last auf mir lagen. Immer wieder mußte ich es lernen, daß man im Grunde den Menschen doch nur wenig helfen kann. In diesem Winter war ich auch viel krank, und trotz liebevollster Pflege konnte ich mich von diesen Krankheitsanfällen nur langsam erholen. Irgend etwas zehrte an mir, ich wollte es nicht aufkommen lassen und unterlag ihm schließlich doch, es war das Heimweh. Meine Wurzeln lagen zu tief im Heimatboden, da war nichts zu machen.
Der Sommer kam heran, so reich an Blüten, so wunderschön wie auch im vorigen Jahr, mir aber war's klar geworden, daß ich fortmüßte. Diese Erkenntnis wuchs aus den Verhältnissen heraus, denen ich mich nicht mehr gewachsen fühlte. Ich sprach mit keinem davon, bis mein Entschluß ganz fest stand. Dann schlug mir die Stunde des Abschieds von dem Ort, den ich liebgewonnen, und der mir doch keine Heimat geworden war. Meine Aufgabe dort war erfüllt, und mein Weg führte mich fort aus den stillen Wäldern von meinen lieben Kranken, noch wußte ich nicht wohin. Meine Sehnsucht rief mich in die Heimat, aber noch boten sich mir dort keine Existenzmöglichkeiten, noch mußte ich warten, »bis die Zeit erfüllet würde«, wie eins meiner Lieblingsworte aus der Bibel heißt. Doch war ich auch bereit, in Deutschland zu bleiben, wenn sich da ein Weg für mich finden sollte.
Am letzten Abend in Königsfeld, als ich mein Spruchbüchlein öffnete, fand ich für den Tag folgenden Spruch: »Ich, der Herr, habe dich aus Ägyptenland geführt und werde dir das Land zeigen, wo du hingehen sollst.«
Da war wieder die starke Hand, die mich die letzten Jahre so spürbar geführt, und ich sah der Zukunft voll Ruhe entgegen.
Zuerst ging ich auf einige Tage nach Stuttgart zu Adel Lang. Sie empfing mich mit der Nachricht, daß Edith Wehner, unsere Londoner Freundin, eben in Stuttgart sei. Sie wußte nichts davon, daß ich eben angekommen war. Das war eine Überraschung und ein frohes Wiedersehen! Wie viel gab es zu erzählen, denn seit dem letzten Sommer in Neuhäuser hatten wir uns nicht gesehen. Abends gingen wir miteinander in die Oper, wo wir Rhoda von Glehn als Traviata sahen; sie war in den Felliner Kursen Mühlens Schülerin gewesen, und nun war sie der Stern der Stuttgarter Oper.
Nach der Aufführung vereinigten wir uns in einem Restaurant, wo die »Valutafürstin«, wie wir Edith Wehner nannten, uns ein köstliches Festessen gab, an dem Rhoda von Glehn und deren Mann auch teilnahmen. Nun war ich wieder mit einem Schlage in meiner alten Welt und fühlte mit Freuden, wie stark sie doch die meine geblieben war.
Von Stuttgart ging ich auf einige Wochen nach Heilbronn ins Haus meiner Verwandten. Meine Nichte war ein fröhliches Menschenkind, und über ihrem Hause lag's wie Sonnenschein. Mein Neffe ließ sie in allem gewähren, und wenn er am Abend aus seinem Geschäft nach Hause kam, war's als atmete er Behagen und Ruhe aus. Sie hatten nur einen Sohn, der Musiker werden wollte und mit eiserner Energie nur diesem einen Ziel entgegenstrebte. Wir sind die beiden einzigen aus unserer großen, musikalischen Familie, die die Musik zu ihrem Lebensberuf gemacht haben. Möchte der Weg dieses schön veranlagten jungen Menschen so reich werden, wie es der meine war.
In Heilbronn habe ich auch öfter das Haus meines Verlegers, Eugen Salzer, besucht. Ich fühlte mich dort wohl und heimisch in der schlichten Häuslichkeit bei den warmen Menschen, die mir mit einer großen Herzlichkeit entgegenkamen. Ich habe die Empfindung, als ob die Süddeutschen in ihrer Art sich zu geben, uns Balten viel verwandter wären als die Norddeutschen, mir scheint's, als lebten sie viel mehr aus dem Gemüt heraus, man fühlt sich unter ihnen bald heimisch. Mit Frau Salzer ging es mir eigen, als ich sie zum erstenmal sah, war mir's, als hätte ich sie längst gekannt. Als ich das gegen sie aussprach, lächelte sie:
»Mir ist's mit Ihnen genau ebenso gegangen.«
Es war ein klarer Herbstnachmittag, als ich dem Ehepaar auf einem Spaziergang begegnete. Sie sagten, sie wären auf dem Wege zu ihrem Weinberg, ob ich sie nicht begleiten wolle. Mit Freuden schloß ich mich ihnen an. Ein Weinberg ist für einen Nordländer etwas ganz Besonderes, ich war noch in keinem gewesen. Mit großer Freude bin ich in ihm umhergewandert und habe mich an den großen blauen Trauben gefreut, wie sie so schwer an den Weinstöcken hingen. Von der stillen Höhe hatte man einen weiten Blick auf Heilbronn, das tief unten im Tale lag, und in die Ferne, wo sich bewaldete Berge im blauen Duft verloren. Es war ein wundervoller, kleiner Besitz! Auf der Höhe des Weinbergs zogen sich Gemüsebeete hin, Obstbäume, schwer an Früchten, standen im Gelände und ein Baum mit goldfarbigen Quitten beladen, den Herr Salzer den »Baum der Hesperiden« nannte. Überall führte er mich umher, machte mich auf alles Schöne aufmerksam. Unterdessen holte Frau Salzer einen Liegestuhl für mich aus dem Gartenhäuschen, den sie an einer Stelle des Gartens aufstellte, von wo ich einen wunderbaren Blick in die Ferne hatte. Dann brachte sie eine Flasche selbstgekelterten Wein, ein Glas und einen Teller mit köstlichen Trauben; alles das stellte sie auf ein Tischchen, das sie an den Stuhl heranrückte, auf den ich mich legen mußte. Mein Blick ging in die Ferne, um mich blühten und dufteten Herbstblumen, die Sonne war hinter dem Berge verschwunden, und es war, als hätte sie ihr goldenes Licht auf dem »Baum der Hesperiden« liegen lassen.
Die Dämmerung wob einen zarten Duft um Heilbronn, sie hüllte die Dächer, die alten Türme und Mauern in ihre sanften Schleier, so daß die Stadt in unwirklicher Schönheit, der Erdenschwere entrückt, wie ein Traumbild erschien. Da begann das Abendläuten; zuerst war's eine Glocke, dann läuteten sie alle, durch die schwere Herbstluft kam der Klang nur gedämpft zu mir; hinter den Bergen glühte es noch golden-rot.
Ob die Frau mit den fleißigen Händen und der schönheitsdurstigen Seele das sieht? mußte ich denken. Ich suchte sie mit den Blicken – ja, sie sah alles! Hochaufgerichtet stand sie da und blickte mit den dunklen Augen auf das wunderbare Bild, das vor ihr lag. Sie hielt die Hände gefaltet, und über die stille Gestalt hinweg zogen die gedämpften Glockentöne, die aus der Tiefe klangen.
Anfang Oktober ging's weiter nach Berlin, froh und geborgen fühlte ich mich, als ich mit meiner Nichte und meinem Neffen im Auto saß. Es war schon wie ein Stückchen Heimkehr.
Ich lebte gern in der schönen Villa meines Neffen, die in Steglitz vornehm in einem großen Garten lag. Den Tag über war es sehr still in dem großen, kinderlosen Hause. »Wie in einem Sanatorium,« sagten wir. Ich stand meiner Nichte sehr nahe, sie war ein klarer, wahrhaftiger Mensch und eine mustergültige Hausfrau. Ihre schöne, vornehme Erscheinung paßte in den Rahmen des Hauses, das sie mit natürlicher Würde leitete. Alles um sie her war geordnet, und es tat mir wohl, eine Weile in Reichtum und Schönheit zu leben. Abends kam mein Neffe aus der Stadt, und mit ihm sprudelndes Leben. Er war ein genialer Kaufherr im großen Stil und ist der einzige in seinem Beruf, der mir begegnet ist, dem ich stundenlang zuhören konnte, wenn er über seine Arbeit sprach. Er faßte sie mit einem weiten Blick und fast künstlerischem Schwung auf, neben dem eine kluge Nüchternheit Platz fand. Durch ihn gewann ich für den Kaufmannsstand eine ganz andere Wertschätzung als früher. Ich begriff seine historische Bedeutung und seine Kulturaufgabe für die Völker. Doch waren es nicht nur kaufmännische Interessen, die er pflegte, sondern auch künstlerische, vor allem musikalische, die seine Frau getreulich mit ihm teilte.
Einige Monate blieb ich in Berlin, genoß das Zusammensein mit meinen Verwandten und Freunden und arbeitete an diesem Buch, das ich schon in Königsfeld begonnen hatte. Öfters ging ich für den ganzen Tag zu Jekelius', hörte ihre Stunden an, freute mich an ihrem Singen und ließ mich von Eva-Monika beherrschen. Sie war nun fast drei Jahre alt, ein großes, starkes Kind, klug und aufgeweckt weit über ihre Jahre. So klein sie war, regierte sie eigentlich das Haus, denn ihr Wille war gewaltig. Ich nannte sie nur das »Löwenkind«. Wenn sie sich unbeobachtet glaubte, sang sie bei ihren Spielen mit süßer Vogelstimme Lieder und Händelsche Koloraturen, die sie in den Singstunden ihrer Eltern gehört hatte. Einmal versuchte ich dazu die zweite Stimme zu singen, sie schwieg sofort, und sah mich vernichtend an.
»Du singst ganz falsch,« sagte sie, »so darf man nicht singen.«
»Wollen wir noch einmal zusammen singen,« sagte ich überredend, »dann wirst du hören, wie hübsch das klingt.«
Sie schüttelte energisch ihren blonden Lockenkopf.
»Nein,« sagte sie, »nein, du singst falsch, und falsch darf man nicht singen.«
In dieser Zeit erhielt ich eine Nachricht, die mich schmerzlich traf. Mein alter Freund Hans Schmidt war schwer erkrankt, und der Arzt gab keine Hoffnung mehr auf Genesung. Für ihn, den Lebensfrohen, war es ein unendlich qualvolles Sich-losreißenmüssen von seiner Arbeit, von jedem Verkehr und vor allem von seiner Musik.
Weihnachten war herangekommen, und da kam für mich das schönste Weihnachtsgeschenk: der Weg zur Heimat wurde plötzlich frei. Freunde riefen mich, Freunde ebneten mir die Wege, ein Freundeshaus öffnete sich mir und bot mir Heimat und Zuflucht.
»Die Zeit war erfüllet,« ich konnte heim.